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1

Der alte Lentz und Miken Dannappel, die Köchin, die schon den Eltern des Grafen Malte in Treue gedient hatten, standen auf der Freitreppe des Vellahner Schlosses und erwarteten die Heimkehr ihres jungen Herrn. Zwei lange Jahre hatte er sich da unten in Afrika umhergetrieben, und die beiden alten Leutchen waren oft in banger Sorge gewesen, ob er aus all den Fährnissen mit wilden Völkerschaften und reißenden Tieren heil zurückkommen würde. Der älteste Sohn des Schloßgärtners Parbs nämlich, der als Steward auf einem Woermanndampfer gefahren war und in allen afrikanischen Fragen wohl als Sachverständiger gelten durfte, erzählte die gruseligsten Geschichten. Da holten sich die Löwen fast allnächtlich ihren Neger aus dem Karawanenlager, wie hier die Füchse einen feisten Gockel aus dem Hühnerstall, und wenn auch der alte Lentz den Gärtnerssohn einen lügenhaften Aufschneider nannte, Miken Dannappel schüttelte dazu nur mißbilligend und sorgenvoll den weißhaarigen Kopf. Löwen gab es in Afrika, das wußte sie noch von der Schule her, und wie leicht konnte so ein unvernünftiges Vieh sich in stichdunkler Nacht vergreifen? Einen mecklenburgischen Edelmann zum Fraß fortschleppen statt eines heidnischen Negers, an dem schließlich nicht allzuviel gelegen war ... Sie schlief erst wieder ruhig, als eine Depesche dem Verwalter gemeldet hatte, der junge Herr wäre wohlbehalten in Europa gelandet, in einer italienischen Stadt, deren Namen sie sich nicht zu merken vermochte und in der er sich nach dem Rate des Arztes einige Wochen aufhalten sollte, um nicht gar zu unvermittelt aus dem heißen Klima Afrikas in den kühlen mecklenburgischen Frühling zu kommen. Je mehr aber diese Wochen sich ihrem Ende näherten, desto beklommener wurde es ihr um das alte Herz. In dem stillen Winkel, in dem das Leben sonst so ruhig seinen Gang ging, hatte sich vieles geändert, und gar manches war geschehen in den zwei Jahren, was dem jungen Grafen Malte die Heimat wohl ebenso verleiden mochte wie damals, als er zum ersten Male in die Fremde zog. Damals hatte er fortgehen müssen nicht ohne eigene Schuld, heute aber zog sich über ihm ein Schicksal zusammen, für das er nichts konnte und das er wehrlos erwarten mußte. Alter Haß hatte es ihm gewoben und eine Feindschaft, die in längst vergangene Jahre zurückreichte ...

»Wat hei woll dartau seggen ward?« sagte Miken und hob die glanzlosen Augen von dem ewigen Strickzeug zwischen den zitterigen Händen. Der alte Lentz aber seufzte bekümmert auf. Seine Gedanken gingen tagaus, tagein ja auch nur um diese einzige Frage ...

»Che, wat ward hei woll dartau seggen?« Und ingrimmig fügte er hinzu: »Ah pfui Deuwel ward hei seggen, und das is mich ja 'ne schöne Überraschung! Was soll denn aus mir werden, wenn das Kleine, was in Hohenrömnitz erwartet wird, sich nun als einen männlichen Knaben ergibt? Und hatte der griese Esel es überhaupt nötig, sich auf seine alten Tage noch 'ne junge Frau zu nehmen?«

»Um Gottes willen, Lentz« – Miken legte erschrocken die Hand auf die Brust –, »in so einer respektlosen Art und Weise sprechen Sie von Seiner Exzellenz, dem Herrn Erblandmarschall?«

Der Alte entschuldigte sich ein wenig jesuiterisch.

»Ich hab' natürlich nur gemeint, so würd' vielleicht unser Graf Malte sich über seinen Herrn Onkel ausdrücken, wenn man ihm nämlich die unangenehme Neuigkeit mitteilt. Ich aber möchte mit aller schuldigen Subordinatschon befürworten, daß er sich von Rechts wegen so ausdrücken dürft'! All die Jahre ist er zu dem Hohenrömnitzer Majorat der nächste Erbe gewesen und hat sich sozusagen auf diesen Beruf eingerichtet. Soll er vielleicht mit eins umsatteln und Geld verdienen lernen, bloß weil in Hohenrömnitz der Storch unterwegens is? Und das kleine Bündel fängt an zu quäken, du Großer, steh mal auf, jetzt setz' ich mich auf deinen Platz?«

Miken spie rasch hintereinander dreimal aus.

»Möchten Sie's vielleicht noch beschreien, Sie alter Dröhnbartel, Sie? Mich heben sowieso schon die Ängste, aber ich tröst' mich, unser himmlischer Vater wird das Unrecht nich zulassen in seiner Gnade.«

»Fräulein Dannappel,« sagte der alte Lentz gekränkt, »deswegen is man noch kein Dröhnbartel nich, wenn man von was spricht und man zersorgt sich Tag und Nacht darüber. Und neben dem lieben Gott regiert leider auch der Deuwel die Menschheit, namentlich, was die weibliche Hälfte angehen tut. Nichts als Hinterlistigkeiten haben diese Rackers im Kopf, und wie sie die Männer am besten wohl betrügen können! Davon wär' noch manches zu sagen, aber ich nehm' Rücksicht, daß Sie doch noch immer eine ledige Frauensperson sind, und verkneif' mich das also.«

»Das möcht' ich mich auch ausgebeten haben,« erwiderte Miken, und in ihr verschrumpeltes Altweibergesichtlein, kaum wie zwei Fäuste so groß, trat eine flüchtige Röte. »Die Moden wollen wir doch nich anfangen, Herr Lentz, daß Sie in Beisein von 'nem unschuldigen Mädchen über unpassende Sachen sprechen!«

Sie rückte energisch die weißgestärkte Haube zurecht und klapperte in emsigem Stricken mit den stählernen Nadeln. Nach einer kurzen Weile aber hob sie wieder den Kopf und fuhr mit der Zungenspitze neugierig über die schmalen Lippen.

»Oder haben Sie vielleicht von dem Kammerdiener Paalzow aus Hohenrömnitz was Neues gehört über die junge Frau Gräfin? Sie brauchen sich ja nich auf einer ordinären Art und Weise auszudrücken, sondern können mich das auf einer mehr verblümten Manier mitteilen. Ich werd' Sie schon verstehen.«

Lentz zuckte mit den Achseln.

»An Ihrem Verständnis, Fräulein Dannappel, zweifel' ich nich, Sie sind ja kein Kind mehr, sondern mit Gottes Hilfe mehr als siebzig Jahre auf der Welt. Aber den Krischan Paalzow hab' ich seit drei Wochen nicht gesehen, und was er mir damals erzählt hat, wissen Sie ja. Ein richtiger Herr Geheimer Medizinalrat ist bestellt für den Tag, aus Berlin, weil die hiesigen Doktoren dem Herrn Erblandmarschall nich klug genug sind.«

»Na ja,« sagte Miken, »auf die Unkosten kömmt es ja wohl nich an, wenn es sich um einer so wichtigen Sache handelt. Aber kleine Kinder sind anfällig, auch wenn ein Herr Geheimer Medizinalrat neben ihnen steht, aus Berlin. Wieviel kleine Kinder hab' ich nich schon sterben gesehen! An Masern oder Keuchhusten, an Bräune oder Zahnkrämpfen ...«

»Oder Scharlach,« fügte Lentz mit einem fast freudigen Nachdruck hinzu. »Dem Schlachter Röper in Moltzahn sind vergangenes Jahr drei Kinder an Scharlach gestorben, in einer Woche. Aber ich will natürlich nich gesagt haben, daß ich dem Kleinen, was sie drüben in Hohenrömnitz erwarten, so was anwünschen täte. Wenn's ein Mädchen gibt, kann es meinetwegen hundert Jahre alt werden?«

»Von meinetwegen erst recht,« erwiderte Miken, »denn ein Mädchen kann unserem Herrn Grafen ja wohl nich das Majorat nehmen. Und überhaupt, wenn man von so was spricht, muß man sich nich gleich was Böses 'bei denken ... es is vielmehr nur so im allgemeinen. Wenn es einen Jungen gibt, wird der liebe Gott schon wissen, wie er alles am besten lenkt ...«

»Che,« sagte Lentz, »das wird er wohl wissen in seinem unerforschlichen Ratschluß ...«

Danach schwiegen die beiden Altchen, standen fröstelnd in der Abendkühle und hingen ihren langsamen Gedanken nach, die unablässig um eine einzige Sorge kreisten. Um die Sorge, ob dem einen, den sie betreut hatten vom ersten Tag, der ihnen teuer war, als stammte er aus ihrem eigenen Fleisch und Blut, an seinen Rechten kein Abtrag geschehe. Und halb unbewußt ballte sich in ihnen ein kalter Haß gegen den andern, der noch nicht geboren war, dessen erster Atemzug aber alles einstürzen ließ, was sie an Hoffnungen und Wünschen für den Rest ihrer Tage aufgebaut hatten ...

Am andern Ende der Dammallee, die von der Schloßinsel zum festen Lande führte, ließ sich das Rollen von Wagenrädern vernehmen.

»Jetzt kömmt er,« sagte Miken mit einem tiefen Atemzug, und Lentz wiederholte: »Che, jetzt kömmt er!« Zwei Augenpaare blickten angestrengt in den dichten Abendnebel hinaus, der in breiten Schwaden vom See her über die noch kahlen Erlen der Dammallee gezogen kam, und zwei treue Herzen begannen in freudiger Erregung rascher zu schlagen. Auf diesen Augenblick hatten sie zwei lange Jahre gewartet ...

Das Rollen des Wagens kam näher, schon konnte man das Schnauben der vier Rappen vernehmen, die der alte Leibkutscher Fuhbel noch wie ein Jüngling vom Sattel aus fuhr. Mit einem kurzen Bogen lenkte er um den Vorgarten in die schmale Auffahrtrampe, und auf einen leisen Zungenschnalzer standen die Gäule mit einem einzigen Ruck, so daß der Wagenschlag genau vor der Mitte der Freitreppe hielt. Aus dem leichten Gefährt schwang sich ein hochgewachsener junger Mann und nahm die drei Treppenstufen mit einem einzigen Satz. Miken griff mit zitternder Hand nach seiner Rechten, um sie an die Lippen zu ziehen, er aber umfaßte das alte Weiblein und schwenkte es in überströmender Wiedersehensfreude hoch in die Luft.

»Ne, Jungfer Miken, das wollen zwei Liebesleutchen wie wir doch nicht einführen,« rief er übermütig und küßte sie mitten auf den Mund.

»Ach Gott nein, Herr Graf, nich so stürmisch,« kreischte sie beglückt und verlegen zugleich, der alte Lentz aber stand dabei, fuhr sich mit dem Handrücken verstohlen über die Augen.

»Ich freu' mich doch bannig, daß der Herr Graf wieder zu Hause sind. Und daß der Herr Graf wieder ganz gesund sind. Wie früher, eh' daß Sie nach Afrika gingen!«

»Ja gottlob, Alter, wieder ganz gesund,« sagte Malte mit einem Aufatmen. »Da draußen fällt vieles von einem ab, was man hier als große Wichtigkeit ansieht!« Er schüttelte dem Getreuen die Hand und sah ihm fest in die Augen. Beide wußten sie, wie es gemeint war, denn der alte Weißbart hatte ja vor zwei Jahren die verhängnisvolle Liebesgeschichte mitgemacht vom vergnügsamen Anfang bis zum traurigen Ende. Hatte schon früher immer die heimlichen Brieflein getragen nach Alten-Krakow und zurück, und wer weiß, was damals geschehen wäre, wenn er nicht in jener mondhellen Mainacht plötzlich dagestanden hätte unter den drei Eichen auf dem Krakower Galgenberg? ... Wie aus dem Boden gewachsen stand er mit einem Male da, denn er hatte sich ohne Zaudern aufgemacht, als er im Schreibzimmer des Grafen Malte den versiegelten Brief gesehen hatte mit der Aufschrift: »Morgen früh Seiner Exzellenz dem Herrn Erblandmarschall Grafen Römnitz auf Hohenrömnitz durch reitenden Boten zu bestellen.« Hatte einen Gaul aus dem Stalle gerissen und das Tier halb zuschanden gejagt, bis er mit seinen scharfen Augen erkennen konnte, daß die beiden auf der Bergkuppe noch aufrecht standen. Da sprang er ab und pirschte die letzten paar hundert Schritte sich kriechend heran, kam gerade noch zur Zeit, Gott sei Dank! Mit einem gewaltigen Satze warf er sich dazwischen, wand seinem jungen Herrn die Waffe aus der Hand ... Einen Faustschlag mitten ins Gesicht bekam er zum Dank, daß ihm das helle Feuer aus den Augen spritzte, aber das gefährliche Schießeisen gab er nicht wieder her. Und inzwischen hatte die Krakower Baroneß es wohl mit der Angst bekommen. Laut aufweinend lief sie den Berg hinab, band ihr Reitpferd los und jagte von dannen, als graute ihr plötzlich vor dem Tode, den sie doch noch eben gesucht hatte. Denn von ihr nämlich war der Vorschlag ausgegangen, allem Herzeleid ein rasches Ende zu bereiten ... Graf Malte aber sah ihr wie geistesabwesend nach, und plötzlich lachte er laut auf, lachte und lachte, bis das Lachen in ein Schluchzen überging. Danach ließ er sich willig den Berg hinunterführen, und schweigend ritten sie nebeneinander nach Hause. Am Hoftor verhielten sie, denn Lentz mußte die beiden Pferde in den Stall bringen. Und sein Herr sah ihn mit einem Verzeihung heischenden Blick an.

»Hat's sehr weh getan, Alter?«

»Nein, Herr Graf, ich hab's in der Aufregung gar nicht gespürt. Und viel wichtiger is es wohl, daß Sie jetzt den Brief zerreißen werden, der wo im Schloß auf dem Schreibtisch liegt.«

Da blickte der junge Herr eine ganze Weile vor sich hin auf den Boden.

»Lieber ist's mir schon, du bleibst noch ein paar Stunden bei mir. Aber, nicht wahr, du sprichst zu keinem Menschen darüber, was eben geschehen ist? Auch zu mir nicht.« Und ein wenig zögernd fügte er hinzu: »Oder vielleicht ist es besser, du nimmst meinen Wotan, weil der noch frischer ist als deine abgetriebene Kragge, und reitest nach Alten-Krakow hinüber. Es könnte doch sein, daß dort vielleicht ein Unglück passiert wäre, und ich gebe dir mein Wort, ich warte ... also ich warte bestimmt, bis Du wieder zurück bist.«

Da sagte Lentz nur: »Zu Befehl« und schwang sich in den andern Sattel. An einem Worte seines jungen Herrn war nicht zu zweifeln, und er konnte ruhig reiten. Nach zwei Stunden berichtete er wahrheitsgemäß, im Alten-Krakower Schlosse wäre alles ruhig, der Nachtwächter machte seine Runde wie sonst, und kein Fenster wäre hell. Woraus man also wohl auch schließen dürfte, daß nichts Besonderes vorgefallen wäre ... Graf Malte aber nickte nur, stand auf und verbrannte den Brief Blatt für Blatt an der auf dem Schreibtisch stehenden Kerze ... Und weil sie nach der Aufregung doch nicht schlafen konnten, mußte der Alte erzählen. Von einem andern Ritte, den er vorzeiten mit dem Vater seines jungen Herrn ausgeführt hatte. Er erzählte die Geschichte nicht zum ersten Male, aber darauf kam es im Augenblicke ja nicht an, sondern mehr auf den Zeitvertreib. Und sie hatte zudem eine Nutzanwendung, die ein wenig auf den vorliegenden Fall paßte ...

Am 16. August war es gewesen, bei Rézonville, und den Hinweg hatten sie mit brausendem Hurra gemacht, an der erschöpften eigenen Infanterie vorbei, über die feindlichen Schützenschwärme hinweg, bis der glorreiche Angriff an der feststehenden Mauer einer noch frischen Zuavenbrigade zerschellte. Da jagten die Trümmer der beiden Husarenregimenter über das mit Toten und Verwundeten besäte Schlachtfeld zurück, der Unteroffizier der Reserve Lentz neben seinem Rittmeister, dem Grafen Römnitz. Und mit einem Male brach der Gaul des Unteroffiziers zusammen, begrub seinen Reiter unter sich – eine Chassepotkugel hatte ihm, von hinten her im Bogen einschlagend, das Rückgrat zerschmettert. Da parierte der Graf seine Grauschimmelstute auf der Stelle.

»Hallo, Lentz, lebst du noch?« schrie er hinab, denn er duzte seinen Unteroffizier, weil er doch mit ihm zusammen in Hohenrömnitz aufgewachsen war.

»Zu Befehl, Herr Graf,« schrie der Unteroffizier zurück und arbeitete sich mit Schmerzen unter dem verendenden Gaule hervor. »Aber ich kann nicht aufstehen, ich glaube, ich habe mir das rechte Bein gebrochen.«

»Na, dann muß es eben anders gehen!«

Graf Römnitz beugte sich hinab und hob mit einem Griff seiner eisernen Faust den Unteroffizier Lentz vor sich in den Sattel. »Ein Hohenrömnitzer Kind soll nicht sagen dürfen, seine Herrschaft hätte nicht zu ihm gehalten!«

Und weiter ging's im Schritt, bis die zersprengten Schwadronen hinter der zum letzten Angriffe vorgehenden preußischen Infanterie sich wieder sammeln konnten. Die brave Grauschimmelstute Arabella – ihr in Silber gefaßter rechter Vorderhuf stand als ein Erinnerungszeichen da drüben auf dem kleinen Rauchtische – hatte willig die doppelte Last getragen. Und als Graf Römnitz seinen Unteroffizier einem Lazarettgehilfen übergab, sagte er bloß: »Na schön, das hätten wir bis so weit glücklich geschafft. Nun mach, daß du wieder gerade Beine kriegst, und wenn du mich mal ebenso in Dreck und Speck liegen siehst, reit auch nicht vorbei.«

»Zu Befehl,« hatte er erwidert, dabei aber in seinem Innern einen heftigen Schwur getan. Nur bot sich keine Gelegenheit, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, denn er mußte bis zum Ende des Feldzugs an seinem zersplitterten Bein im Lazarett liegen, und der Herr Rittmeister kam heil zurück. Bloß die brave Arabella war unter ihrem Reiter im Dezember vor Orleans bei einem Rekognoszierungsgefecht gefallen. Und als der Unteroffizier Lentz wieder leidlich zu Wege war, trat er vor seinen ehemaligen Eskadronchef hin.

»Halten zu Gnaden, Herr Graf, ich hätt' eine Bitte. Eigentlich nämlich bin ich ja gelernter Tischler und hab' soweit in Moltzahn bei meinem Meister das Auskommen. Aber wenn der Herr Graf mich als Diener annehmen wollten, möcht' ich's vielleicht noch ein büschen besser haben.«

»Na schön,« sagten der Herr Graf, »wird gemacht, und man hat doch eins um sich, wo man mal ab und zu von Kriegsgeschichten klöhnen kann und so ...«

Der Alte machte eine kleine Pause, denn jetzt kam die Nutzanwendung seiner Geschichte, nur fand er nicht gleich die rechten Worte dafür ...

»Che, da bin ich denn 1872 hier eingetreten, aber es war nich so sehr wegen dem guten Leben als wegen dem 16. August. Und immer hab' ich drauf gelauert, daß mein Herr Graf mal so recht in Gefahr kommen sollt', weil ich mich doch wegen Rézonville bei ihm revanchieren wollte. Aber es is leider Gottes nie nich dazu gekommen, denn sie sind ja einen soweit ganz schönen Tod im Haus gestorben. Erst heute hab' ich mich ein büschen revanchieren können, und es war sehr gut für mich, denn stellen Sie sich mal vor, Herr Graf, was mir da oben wohl passieren würd', wenn ich zu der großen Armee einrück. ›Zur Stelle,‹ sag' ich, und mein sel'ger Herr Rittmeister darauf: ›Na schön, Lentz, da bist du ja endlich, und wenn es dir paßt, kannst du wieder bei mir eintreten. Aber, schwere Not nochmal, weshalb hast du nicht aufgepaßt, als mein einziger Junge drauf und dran war, unter den Schlitten zu geraten?‹ Da müßt' ich denn doch wohl die Augen unter mich schlagen – nich? – und als ein Schubbjack dastehen, der sich wegen Pflichtvergessenheit genieren muß? ...«

Der helle Morgen drang schon durch die Ritzen der Fensterläden, und draußen in den dichten Efeuranken und hohen Linden lärmten die Spatzen, als Lentz mit seiner Geschichte zu Ende war. Graf Malte stand auf, öffnete die Tür und trat auf den kleinen Erker hinaus, von dem man einen weiten Ausblick hatte über den Vellahner See und die grünenden Saaten bis zu dem Hohenrömnitzer Walde, der wie ein dunkler Saum am fernen Horizont stand. Und mitten aus diesem dunkeln Saume ragte ein trutziges Bauwerk in die Höhe, ein aus Findlingssteinen festgefügter runder Turm, über dem ein bunter Farbenfleck im hellen Sonnenlicht schwamm, die Wappenfahne der Römnitze, die hoch über dem Schlosse im Morgenwind flatterte ... Da stand er eine ganze Weile schweigend, und als er sich endlich zurückwandte, hob sich seine Brust unter einem tiefen Atemzuge.

»Ist gut, Alter, und ich danke dir. Wenn's aber ans Schämen ginge, müßte ich wohl zuerst damit anfangen – die Flinte ins Korn zu werfen und sich feige zu drücken, ehe es überhaupt zum Kampf gekommen ist! Der Alten-Krakower wird sein einziges Kind doch nicht unglücklich machen, nicht wahr? Und schließlich bin ich immer noch der Erbe von Hohenrömnitz, da sollte ihm wohl die Wahl nicht schwer fallen zwischen mir und dem alten Nußknacker in Hinrichshagen? Und die Streitigkeiten aus längst vergangenen Zeiten, noch von meinem seligen Papa her, die sind doch mit einem guten Wort aus der Welt zu schaffen? Ich brauche ja nur das Wildgatter an der Grenze wieder abreißen zu lassen, und alles ist in Ordnung?« ...

So sprach er noch eine Weile fort mit leuchtenden Augen, und der Alte nickte dazu, redete eifrig zum Guten. Wer noch an einer Hoffnung hing, tat sich so leicht nicht ein Leid an. Die eigentliche Gefahr kam erst wieder, wenn es mit dieser Hoffnung vorbei war, und dann galt es, die Augen offen zu halten ...

Am selben Vormittage noch fuhr Graf Malte zur Werbung nach Alten-Krakow, und zwei Stunden später kam er heim. Das Gesicht bleich wie ein Leintuch und die blauen Augen wie erloschen vor Schimpf und Gram.

»Um Gottes willen, Herr Graf, was ist bloß geschehen?« fragte Lentz, als er ihm den Wagenschlag öffnete; der junge Herr aber wehrte nur mit einer müden Handbewegung ab, und Fuhbel, der Leibkutscher, jagte mit den vier Rappen wieder die Dammallee entlang, daß der leichte Wagen in den Geleisen schleuderte. Eine Stunde später kehrte er mit dem Herrn von Lewenitz aus Tüschow zurück, der mit dem Grafen Malte als Reserveoffizier in demselben Regimente stand, bei den Friedeberger Dragonern. Die beiden jungen Herren schlossen sich im Schreibzimmer ein, besprachen sich eine ganze Weile lang, und da wußte Lentz, daß es sich um eine Ehrenangelegenheit handelte. Vor jenen langen Jahren, als sein seliger Herr Rittmeister sich mit dem Moltzahner Amtshauptmann schoß, hatte es ähnliche Vorbereitungen gegeben. Was aber zwischen dem Baron von Köhnemann auf Alten-Krakow und dem Grafen Malte eigentlich geschehen war, war nicht in Erfahrung zu bringen. Der Leibkutscher Fuhbel, der mit seinem Gespann auf der Freitreppe gehalten hatte, wußte nur zu berichten, es müßte etwas Fürchterliches gewesen sein. Die junge Baroneß hätte geweint, daß es draußen zu hören war, der Alten-Krakower immer dazwischen mit seiner groben Stimme, daß die Fenster klirrten, und mit einem Male hätte auch Graf Malte aufgeschrien, so unnatürlich und laut, daß es ihm draußen im Sattel ganz kalt über den Rücken lief. Und eine kleine Weile später wäre der junge Herr herausgekommen, mit dem Taschentuche vorm Gesicht, und es hätte ausgesehen, als könnte er sich nicht recht auf den Füßen halten. Ganz mühsam wäre er in den Wagen gestiegen, und da hätte der Baron von Köhnemann den Fensterflügel aufgerissen und dem Davonfahrenden noch etwas nachgeschrien, aber weil die Räder über das holperige Steinpflaster rasselten, wäre es, Gott sei Dank, nicht zu verstehen gewesen.

Das war alles, was der Leibkutscher Fuhbel zu berichten wußte, aber Lentz meinte, es wäre mehr als genug, damit die beiden Herren sich am nächsten Morgen mit der Pistole in der Hand gegenübertreten müßten. Und im allerletzten Grunde eigentlich um nichts anderes als um ein paar wertlose Knochen, um ein plundriges Hirschgeweih, das der Baron von Köhnemann vor jenen langen Jahren nicht hatte herausgeben wollen, obwohl zwischen Vellahn und Alten-Krakow seit ewigen Zeiten eine gerechte Jagdfolge bestand, wie es sich unter anständigen Nachbarn gehörte. Damit hatte es angefangen. Aller Haß und alle Wirrnis stammte aus dieser lächerlich kleinen Ursache ... Der Hirsch hatte auf Vellahner Gebiet die Kugel bekommen, war, schwerkrank, über die Grenze gewechselt und in einer Alten-Krakower Kiefernschonung verendet. Nach altem Brauch und Herkommen gehörte das Geweih dem Schützen, aber weil es ein ganz braver Vierzehnender war und der Hirsch nicht von dem Vellahner Gutsherrn selbst erlegt worden war, sondern nur von seinem Revierjäger Schwarz, verweigerte der Baron von Köhnemann unter allerhand nichtigen Ausreden die Herausgabe der Trophäe. Der Revierjäger Schwarz, dem der Abschuß des Hirsches von seinem Herrn als Belohnung gewährt worden war für das Abfassen eines Schlingenstellers, beschwerte sich in einem respektvollen Schreiben und erhielt keine Antwort. Da machte der Vellahner Herr die Sache des Revierjägers zu der seinigen, ritt persönlich nach Alten-Krakow hinüber, um die leidige Angelegenheit mit einer kurzen Aussprache in Ordnung zu bringen, denn was Recht war, mußte Recht bleiben. Der Nachbar konnte nicht willkürlich die alte Jagdfolge brechen, nur weil der Schütze auf der andern Seite kein Herrenjäger war. Aber sei es, daß der Baron von Köhnemann an dem Tage mit dem linken Fuße zuerst aus dem Bett gestiegen war oder bei Tisch zu viel Rotwein getrunken hatte, statt der gütlichen Einigung gab es eine gröbliche Auseinandersetzung, und der Vellahner Herr kam mit leeren Händen wieder heim.

Zuerst ärgerte er sich darüber, dann aber lachte er, daß seine ganze schwere Gestalt schütterte; er hatte ein Mittel gefunden, dem Alten-Krakower die »Jagdgnietschigkeit« gründlich und für alle Zeiten zu versalzen. Dem Revierjäger Schwarz schenkte er zum Troste den Abschuß eines andern braven Hirsches – es gab ja genug davon in der Vellahner Wildbahn –, am nächsten Tage aber begann am Grenzrain ein eifriges Arbeiten. Zweieinhalb Meter hohe Eichenpfähle wurden in kurzen Abständen eingegraben und dazwischen feste Eisendrähte gespannt, ein Gatter wurde errichtet, das dem Alten-Krakower für immer den freien Wildwechsel abschnitt. Damit war es auch mit seiner Hirschjagd vorbei, denn sein Revier war nur klein, umfaßte knapp tausend Morgen. Als ein schmaler Zipfel schloß es sich an die ausgedehnten Vellahner und Hohenrömnitzer Waldungen, die wiederum mit den großherzoglichen Staatsforsten einen meilen- und meilenweiten Komplex bildeten. Von der andern Seite aber war keinerlei Zuzug zu erwarten, denn hinter der Alten-Krakower Feldmark lagen drei große Dörfer, und der emsige Wirtschaftsbetrieb der Bauern behagte dem edlen Rotwilde nicht, das schon gegen geringfügige Störungen empfindlich war und gar leicht seinen Standplatz wechselte.

Als nun der Baron von Köhnemann sah, daß es mit dem Gatter Ernst wurde, zog er andere Saiten auf und schickte das einbehaltene Geweih des Vierzehnenders mit einem höflichen Entschuldigungsschreiben zurück, das Ganze wäre nur ein bedauerliches Mißverständnis gewesen. Der Vellahner Herr jedoch erwiderte ebenso höflich, zu seinem Leidwesen könnte er die verspätete Entschuldigung samt dem Geweih nicht annehmen. Auf dem Heimwege damals nach der fruchtlos verlaufenen Unterredung hätte er sich das Wort gegeben, soviel an ihm läge, würde er dafür sorgen, daß sein Herr Nachbar keine Hirsche mehr zu schießen bekäme, und sein Wort müßte man halten. Der Alten-Krakower wiederum revanchierte sich mit einer gerichtlichen Klage wegen Besitzstörung, aber er wurde in allen Instanzen abgewiesen, obwohl er unter Beweis stellen konnte, daß er vor Errichtung des Gatters mehr als zwanzig jagdbare Hirsche alljährlich abgeschossen hätte und das Vierfache an Kahlwild. Und das verhielt sich in der Tat so, denn seine tausend Morgen Wald bestanden fast ganz aus dichten Kiefernschonungen, weil er vor Jahren bereits wegen drückender Schulden die alten Buchen und Eichen hatte herunterschlagen lassen, und das Hochwild zog sich namentlich zur Winterzeit nach den Dickungen, da es dort reichliche Gelegenheit zum Schälen an den saftigen Kiefernsprossen hatte. Um die Zeit aber lud der Baron von Köhnemann sich ein halb Dutzend Moltzahner »Schützenbrüder« ein – anständige Jäger gaben sich zu so unweidmännischer Hantierung nicht her –, die Schonungen wurden mit hohem Jagdzeug umstellt, und es hub ein Morden an, daß am Abend nach solchen »Jagdtagen« zuweilen mehr als dreißig Stück Rotwild auf der Strecke lagen. Und dieser nicht unlohnende Betrieb hatte mit einem Male ein Ende, als an der Vellahner Grenze das feste Gatter stand, denn der Revierjäger Schwarz leistete sich zuweilen noch eine kleine Extrarache. Von Zeit zu Zeit setzte er seine beiden Teckel Waldmann und Waldine nächtlicherweile in die Alten-Krakower Schonungen, und die scharfen kleinen Racker machten ganze Arbeit. Was an Rot- oder Schwarzwild noch in den Dickungen steckte, rückte aus, salvierte sich vor den bösartigen Kläffern ins Vellahner Revier, durch die »Einsprünge«, die man wohlweislich im Gatter angelegt hatte; eine Art von großen Mausefallen, die dem Wilde wohl das Einwechseln, aber nicht mehr die Rückkehr gestatteten ...

So kam es, daß schon nach wenigen Monaten der Baron von Köhnemann, wie man zu sagen pflegte, »keinen Schwanz mehr« in seinem Revier besaß, auf seiner nächsten Winterjagd kamen ein kümmerliches Stück Damwild und ein räudiger Fuchs zur Strecke. Der Vellahner Herr lachte nur, wie es seine Art war, ein herzhaftes schütterndes Lachen, als ihm das klägliche Ergebnis berichtet wurde. ... Vielleicht aber, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, weiter in die Zukunft hinauszusehen, daß er dann das Gatter wieder abgerissen hätte. Etliche Jahre später zahlte es ihm der Nachbar an dem einzigen Jungen heim ...

Der Alten-Krakower war ein leidenschaftlicher Jäger. Ein »Schießer« mehr als ein Weidmann, aber das sind bekanntlich die Schlimmsten! Als es nun im eigenen Revier nichts mehr zu erlegen gab, hing ihm die Büchse untätig im Schranke, denn von den Nachbarn wurde er aus Rücksicht auf den Vellahner nicht eingeladen. In seine Seele aber fraß sich ein dumpfer Groll, und nicht bei sich selber suchte er die Schuld, sondern bei dem andern, der ihm durch sein böswilliges Vorgehen die herrlichste aller Lebensfreuden, die Betätigung der Jagdpassion, geraubt hatte. Wenn er den Namen des Grafen Römnitz hörte, spie er aus, und allmählich entwickelte sich zwischen den beiden Nachbargütern eine Feindschaft, wie sie ingrimmiger wohl kaum ersonnen werden konnte. Alle Tage gab es Streitigkeiten wegen irgendeiner geringfügigen Grenzverletzung, jeden kleinen Anlaß benutzte der Alten-Krakower zu einem Prozesse, die Forstbeamten schossen sich wechselseitig die Hunde tot, und wenn die Knechte auf dem Tanzboden zusammentrafen, setzte es blutige Köpfe. Da riß auch dem sonst so gutmütigen Vellahner Herrn der Geduldsfaden.

Eines Tages traf er den Alten-Krakower an der Feldgrenze, beide Herren waren allein, und was zwischen ihnen sich abgespielt haben mochte, wußte kein Mensch zu erzählen. Nur als der Vellahner heimkehrte, sagte er mit seinem schütternden Lachen zu seinem Vertrauten: »Du, Lentz, heute hab' ich's dem da drüben« – den Namen Köhnemann sprach er nicht gern aus – »unter vier Augen gründlich besorgt. Prozesse kann er mit mir führen, so viel er will, hoffentlich aber unterläßt er's von jetzt an, mir über die Grenze hinweg Schimpfreden an den Kopf zu schmeißen.« Von dem Alten-Krakower aber wurde erzählt, er wäre von dem Zusammentreffen nur ganz mühselig nach Hause gekommen und hätte unter dem Vorwande eines Hexenschusses drei Tage lang das Bett hüten müssen. Und in der ganzen Umgegend gab es ein Schmunzeln, denn so ziemlich jedermann gönnte ihm wegen seiner ewigen Stänkereien die unfreiwillige Bettruhe –

So spann sich die Feindschaft von Jahr zu Jahr und hörte nicht auf, selbst als der Vellahner Herr eines Tages das Zeitliche gesegnet hatte. Nur die Prozeßakten des Barons von Köhnemann bekamen ein anderes Aktenzeichen. Nicht mehr gegen den Grafen Römnitz lauteten sie, sondern gegen die Vellahner Gutsverwaltung. Alles andre aber blieb wie sonst, die Kühe wurden gepfändet, wenn sie einmal über die Grenze liefen, die Förster schossen sich gegenseitig die Hunde tot, und die Knechte verprügelten einander, wenn sie auf dem Tanzboden zusammenstießen. Und nur zwei Menschen gab es, die sich an die alte Feindschaft nicht kehrten. Ein blondhaariges Mädchen, das frisch aus der Strelitzer Pension in das freudlose Vaterhaus zurückgekehrt war, und ein schlanker junger Mann, der eben bei den Friedeberger Dragonern sein Jahr abgedient hatte und nun auf dem väterlichen Gute sich ein wenig um die Wirtschaft kümmern sollte, um später einmal das Hohenrömnitzer Majorat zu übernehmen, zu dem er aller menschlichen Voraussicht nach der nächstberechtigte Erbe war. Die Ehe seines Oheims, des Erblandmarschalls Grafen Römnitz, war schon seit mehr als siebzehn Jahren kinderlos ...

Beim ersten Male, als die beiden Nachbarskinder sich an dem Gatter auf der Grenzscheide trafen, er mit der Büchse über der Schulter und sie hoch im Sattel, musterten sie einander wohl verstohlen, aber ohne Gruß zogen sie weiter, denn das Gatter und die alte Feindschaft standen ja zwischen ihnen. Als sie jedoch am nächsten Nachmittage sich genau zu derselben Stunde und an derselben Stelle trafen – ganz zufällig natürlich – lächelten sie heimlich, und es kam wohl von selbst, daß sie in ein Gespräch gerieten. Wie dumm es von den Vätern gewesen, sich in eine so abgründige Feindschaft zu verstricken, statt in friedlicher Nachbarschaft zu leben. Und noch ganz gut entsannen sie sich der Zeiten, da sie als kleine Kinder im Vellahner Schloßparke gespielt hatten ...

Danach trafen sie sich öfter, nur als der Alten-Krakower Baroneß aus väterlichem Mißtrauen zu den allnachmittäglichen Ausflügen ein Reitknecht beigegeben wurde, verlegten sie die Zusammenkünfte auf den späten Abend. Da pflegte der Baron von Köhnemann mit einigen gleichgestimmten Herren im Strelitzer Hof zu sitzen in Moltzahn und, wenn er die Karten in der Hand hielt, fand er selten vor zwei Uhr morgens heim. Die junge Baroneß Gertrud aber schlüpfte dicht vermummt zum Parktürchen hinaus, stiefelte unverdrossen den Galgenberg hinauf. Dort oben war vor jenen uralten Zeiten die Richtstätte gewesen. Das Landvolk mied den Platz in abergläubischer Scheu, sie aber fürchtete sich nicht, denn unter den drei Eichen stand einer, der in Sehnsucht ihrer harrte. Der brave Wotan wieherte leise auf, ein starker Arm umfaßte sie, und zwei rote Lippen suchten verlangend ihren Mund; denn von dem Bedauern über die alte Feindschaft waren sie längst zu heißer Liebe gekommen. Und bei jedem Abschiede erneuerten sie den Schwur, in Treue auszuharren, bis bessere Zeiten kämen, bis Malte im Besitze des Hohenrömnitzer Majorates als ein vollwichtiger Werber vor den alten Widersacher seines Vaters hintreten dürfte ...

So ging das heimliche Verhältnis schon ins dritte Jahr, die beiden wurden einander jedoch nicht müde. Je weiter das Ziel ihrer Sehnsucht sich hinausschob, desto inniger wurde ihre Liebe, und sie waren ja jung, was verschlug es ihnen, wenn sie noch eine Weile länger warten mußten? Eines Tages aber kam die Baroneß in Tränen aufgelöst zu dem abendlichen Stelldichein. Etwas Schreckliches war geschehen, der Vater hatte ihr eröffnet, binnen jetzt und vier Wochen hätte sie den Kammerherrn Baron von Perkwald auf Hinrichshagen zu heiraten. Das wäre sein unabänderlicher Entschluß, und sie sollte nur eilends mit dem Beschaffen der Aussteuer anfangen, denn vier Wochen wären gar bald herum. Sie warf sich ihm zu Füßen, aber kein Bitten und Flehen half ihr. Je heftiger sie weinte, desto mehr geriet er in Harnisch, und schließlich stieß er sie von sich, schlug schmetternd die Tür hinter sich zu. Und er ließ ihr die Wahl. Ob sie den eigenen Vater in Not und Schande sehen wollte oder die Gattin eines angesehenen Herrn werden, an dessen Seite sie ein Leben im Überfluß führen könnte ...

Da gab es natürlich keinen andern Ausweg als ein rasches Ende, und Malte war ganz und gar damit einverstanden. Was bot ihm denn die Zukunft, wenn er auf die Vereinigung mit dem Liebsten verzichten mußte, was er auf Erden besaß? ...

Unter Tränen und Küssen beschlossen sie, gemeinsam zu sterben, und malten sich im Überschwange der Trostlosigkeit aus, daß es besser wäre, tot zu sein, als ein langes Leben voll Kummer zu tragen. Weil sie aber keine Waffe bei sich hatten, verschoben sie die Ausführung ihres Entschlusses auf den nächsten Abend. Malte zudem hatte noch allerhand Anordnungen vor seinem Hinscheiden zu treffen, den Oheim in Hohenrömnitz zu benachrichtigen, daß das Majorat nach Gottes unerforschlichem Ratschlusse nunmehr wohl an die märkische Seitenlinie der Römnitze übergehen müßte. Die Baroneß aber wiederum war gewissermaßen verpflichtet, ihrer treuesten Pensionsfreundin über das letzte so traurige Kapitel ihres Liebesromans im voraus Bericht zu erstatten. Von dieser falsch beurteilt zu werden, wäre ihr schrecklich gewesen, den Vater hingegen beschloß sie ohne eine Zeile des Abschiedes zu verlassen. Wer seine einzige Tochter als ein Handelsobjekt bewertete, verdiente es nicht anders! ...

Also vorbereitet trafen sie sich zum letzten Beisammensein, und wer wollte es den beiden Kindern verdenken, wenn sie mit dem Abschiednehmen immer und immer wieder zögerten? Die Maiennacht war lau und warm, am blassen Himmel über den hohen Eichen schwamm der volle Mond, und in dem niedrigen Buschwerk sang ohne Aufhören eine Nachtigall. Sie beide aber hatten sich vor der Trennung noch so vieles zu sagen ...

Endlich war es Zeit, denn es ging wohl schon auf Mitternacht, und von irgendwoher drang klappernder Hufschlag durch die Stille. Eine Störung war unterwegs, es galt, sich zu eilen. Nur eine kurze Weile verging noch, denn sie vermochten sich nicht zu einigen, wer zuerst den dunkeln Pfad beschreiten sollte. Ein jedes wollte vor dem andern dieses Jammertal verlassen, und ein gleichzeitiges Sterben war leider ausgeschlossen, denn eine einzige Waffe besaßen sie nur. Und da, plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, stand ein Dritter zwischen ihnen, warf sich auf Malte und begann mit ihm lautlos zu ringen. Die Baroneß aber schrie laut auf vor Schreck, rannte in sinnloser Angst den Berg hinab und jagte mit verhängten Zügeln davon. Erst als sie fiebernd in ihrem Bette lag, fing sie wieder an zu denken, und immer raunte eine Stimme an ihrem kleinen Ohr: »Wer weiß, wozu es gut war, vielleicht gab es doch noch eine allerletzte Hoffnung?« Der liebe Gott, zu dem sie in dieser Zeit so innig gebetet hatte, konnte sie doch nicht ganz im Stich lassen ...

Am andern Tage aber, gegen Mittag, war es mit dieser Hoffnung vorbei. Da saß sie als eine Gefangene in ihrem Zimmer, weinte still vor sich hin und rang die Hände. Neben ihr standen zwei stumpfsinnige Küchenmägde, glotzten sie aus großen Augen an und paßten, ob sie irgendeine verdächtige Bewegung machte. Dann nämlich hatte die eine den strengen Befehl, sie festzuhalten, die andre aber sollte an die Treppe eilen und laut um Hilfe schreien ... Und im Erdgeschosse ging der Vater auf und ab, sprach laut mit sich selbst und lachte dazwischen: »Das war für das Gatter und für die Hirsche und für etwas, wovon niemand was weiß« ...

Immer wieder schrie er die höhnischen Worte gegen die Wände, indessen ihr Liebster den Weg zurückfuhr, den er gekommen war. Nur hatte er auf dem Hinwege noch nicht den unauslöschlichen Makel im Angesicht getragen ... Da biß sie sich die Lippen wund in unsagbarem Weh. Was gestern noch eine halb kindische Torheit gewesen, war heute ein unentrinnbares Gebot. Danach konnte ein Mensch doch nicht weiter leben ... Mit gerungenen Händen flehte sie die Mägde an, sie nur eine einzige Minute allein zu lassen, aber die beiden ungeschlachten Frauenzimmer zeigten grinsend die weißen Zähne: »Nee, Baroneß, dat geiht nich, de gnä' Herr Baron hätt et verbaden. Un wenn wi nich hören daun, dann göfft et Schacht!« ...

Da gab sie es auf und fügte sich anscheinend in ihr Schicksal – – – –

Um die Kaffeezeit kehrte Herr von Lewenitz von Alten-Krakow nach Vellahn zurück. Graf Malte war ihm vor Ungeduld ein Ende weit auf der Dammallee entgegengegangen. Fuhbel hatte in den Hof zurückkehren müssen, um das Gespann zu wechseln, das schon seit dem frühen Vormittag auf den schweren Lehmwegen in den Sielen ging, und aus den Gesichtern der beiden Herren war nicht zu erkennen, wie der Baron von Köhnemann die Forderung wohl aufgenommen haben mochte. Nur wollte es dem alten Lentz bedünken, als wäre der Herr von Lewenitz in seinem Benehmen weit förmlicher als noch vor wenigen Stunden. Nach kurzer Zeit schon fuhr er wieder nach seinem Gute Tüschow zurück, Graf Malte gab ihm auf die Freitreppe hinaus das Geleit, und es war eigentlich auffallend, daß sie sich ohne Händedruck voneinander verabschiedeten. Das aber war wohl nur ein Zufall, der Tüschower mochte es eilig haben, wieder nach Hause zu kommen. Und im übrigen ging alles seinen Gang, wie es bei solchen Gelegenheiten wohl Brauch war. Graf Malte schrieb einige Briefe, die er sorgfältig siegelte und in der Schublade verwahrte, gegen Abend zog er seine Leutnantsuniform an und ließ den Wotan satteln, um nach Moltzahn hinüberzureiten. Er hätte in einer dienstlichen Angelegenheit mit dem Herrn Bezirkskommandeur zu sprechen, und da wußte Lentz genau Bescheid, daß es am andern Morgen in aller Herrgottsfrühe mit dem Baron von Köhnemann einen Zweikampf geben würde. Sein seliger Herr Rittmeister hatte damals auch dem Bezirkskommandeur eine Meldung abgestattet, ehe er den Moltzahner Amtshauptmann anschoß. Nur, es wurmte ihn doch mächtig, daß sein junger Herr diese Duellgeschichte so geheimnisvoll behandelte, ihn nicht ein bißchen ins Vertrauen zog. Damals war das anders gewesen, bei seinem seligen Herrn Rittmeister. Der hatte ganz gemütlich mit ihm geplaudert, als er sich am Nachmittage im Park eine Stunde lang »im Pistolenschießen überhörte«, wie er sagte, um zu sehen, ob Auge und Hand noch in der gehörigen Übung wären. Und als ein Schuß nach dem andern im Schwarzen saß, lachte er auf, sein gutmütiges schütterndes Lachen: »Es geht immer noch, Lentz, und da wollen wir's morgen früh glimpflich machen, den Herrn Amtshauptmann nur ein bißchen am Bein ankratzen. Das ist für ein paar ungebührliche Redensarten in der Betrunkenheit schließlich Strafe genug« ...

Als Malte in den Sattel stieg, trat Lentz hinzu und hielt ihm den Bügel.

»Verzeihen, Herr Graf, aber ich möchte um den Schlüssel zu dem untern Schubfach im Gewehrschrank bitten. Der Pistolenkasten ist schon ein paar Monate nich nachgesehen, und morgen früh soll alles doch wohl in Schick und Ordnung sein, nich?«

Der junge Herr hob erstaunt den Kopf.

»Morgen früh der Pistolenkasten?« ... Gleich danach flog eine jähe Röte über sein Gesicht, und er zog die Augenbrauen finster zusammen.

»Kümmer dich gefälligst nicht um Dinge, die dich nichts angehen! Verstanden?«

Da erwiderte er nur: »Zu Befehl« und trat gekränkt zurück. Als sein junger Herr aber in die Dammallee einbog, rief er ihm vorsorglich nach, er möchte sich doch beim Reiten in acht nehmen, bei dem Gaule schiene ein Eisen lose zu sitzen.

»Hab's schon gemerkt,« rief Malte über die Schulter zurück, »aber für dieses eine Mal wird's wohl noch halten!« Wotan bekam die Sporen eingesetzt, so daß er aus seinem gemächlichen Trab in gestreckten Galopp fiel, und der alte Lentz kehrte bekümmert und niedergeschlagen auf die Diele zurück. Eine plötzliche Angst hatte ihn überfallen, daß bei der Duellaffäre irgend etwas nicht in Ordnung wäre, und er wußte ja, wie heikel die Herren in diesen Fragen dachten. Wenn einer von ihnen darin einen Verstoß beging, mieden die andern ihn wie einen Pestkranken, taten ihn mit seinem ganzen Hause in Acht und Bann. Und das mußte wohl so sein, denn die Herren hatten sich ja selbst diese Gesetze gegeben ... Soviel er aber auch grübelte und nachdachte, er konnte nicht finden, wie sein Graf Malte gegen diese Gesetze verstoßen haben sollte. Der Baron von Köhnemann hatte ihn am Vormittage schwer beleidigt, am Nachmittage kriegte er prompt seine Forderung, am nächsten Morgen aber wurde er über den Haufen geschossen. Und das von Rechts wegen. Wenn dieser alte Stänker von der Welt war, gab es wieder Frieden im Land, und daß Graf Malte bei diesem Zweikampfe etwa den kürzeren ziehen sollte, war ausgeschlossen. Seine Hand war sicher und sein Auge scharf, und oft genug hatte er's ja mit angesehen, wie er von dem kleinen Erker aus, der vor dem Schreibzimmer lag, die auf dem See ziehenden Haubentaucher schoß. »Lentz, zähl mal, fertig, eins, zwei, drei« ... Auf das Kommando eins hob sich schon die Pistole, im selben Augenblicke krachte der Schuß, und der Taucher zeigte die weißschimmernde Brust, paddelte im Verenden mit den schwärzlichen Schwimmern in der Luft. Woher also diese plötzliche Angst, die ihm fast das Herz abdrückte und die ihn jedesmal überfiel, wenn Menschen, die ihm nahestanden, ein Unheil drohte? Und fast immer war diese Vorahnung eingetroffen, auch beim Tode seines Herrn Rittmeisters. Noch am Vormittage hatte der ihn scherzend gefragt: »Na, Lentz, was machst du heute für ein beteppertes Gesicht? Hast du Zahnschmerzen, oder plagen dich vielleicht wieder deine Ahnungen?« Da hatte er ausweichend geantwortet, es wäre ihm nicht gut, wohl wegen einer Erkältung, am Abend aber kam die Erfüllung. Der Herr Rittmeister setzte sich in der heitersten Laune zu Tisch, führte ein Glas Rotwein zum Munde, und mit einem Male sackte er auf dem Stuhle zusammen, das Glas fiel aus seiner Hand, zerschellte klirrend auf der Diele. Er sprang eilends hinzu, aber es war nichts mehr zu helfen. Sein Herr Rittmeister seufzte tief auf, streckte sich noch einmal, und es war zu Ende – – –

Die alte Miken kam aus der Küche herauf, fragte ängstlich, was all das Hin und Her am Tage wohl zu bedeuten hätte, der Besuch des Herrn von Lewenitz und die beiden Fahrten nach Alten-Krakow. Da brummte er sie erst mißmutig an, das wären Männersachen, die neugierige Frauenzimmer nichts angingen, als er aber sah, daß in dem Gesicht seiner treuen Dienstgefährtin die bange Sorge stand, erbarmte er sich und erzählte das wenige, was er wußte. Und danach setzten sie sich zusammen, sprachen flüsternd, was den Baron von Köhnemann wohl bewogen haben mochte, seine Tochter dem Kammerherrn von Perkwald auf Hinrichshagen zu versprechen, der mit ihm beinahe im selben Alter stand und sein verschworener Saufbruder und Spielkumpan war im Strelitzer Hof in Moltzahn. Und sie fanden keine andere Erklärung, als daß der Alten-Krakower durch seine liederliche Wirtschaft bis an den Hals in Schulden geraten wäre und nun an der Hand seines einzigen Kindes einen Ausweg suchte; denn der Hinrichshagener war schwerreich, und alles, was er anfaßte, wurde zu Gold. Dieses neumodische Düngemittel, das man Kali nannte, wurde auf seinem Gute gefunden, eine Aktiengesellschaft aus Berlin befaßte sich damit, es tief aus der Erde zu graben. Die Eisenbahn wurde gebaut von Moltzahn nach Waren, die ganze Gegend, durch die sie ging, war schwarze Erde, Lehmboden und Mergel – das einzige Kieslager weit und breit besaß der Hinrichshagener! Und ebenso verfolgte ihn das Glück am Spieltische in Moltzahn. Tausende gewann er zuweilen in einer Nacht, und es war ein offenes Geheimnis – in so einem kleinen Städtchen bleibt auf die Dauer ja nichts verborgen –, daß der Graf Hacknitz auf Waschow und Zühr sich erschossen hatte, weil er dem Herrn von Perkwald die ins Ungeheure angewachsenen Spielschulden nicht zahlen konnte. Also war wohl auch der Alten-Krakower bei ihm in die Kreide geraten und zahlte nun mit dem jungen Leibe seiner Tochter. Man wußte ja, daß der Hinrichshagener seit dem Tode seiner Frau wieder auf Freiersfüßen ging und sich auf allen Edelhöfen in der Runde einen Korb nach dem andern holte. Der Reichtum wäre ja ganz schön gewesen, wenn er nur nicht diese ekle Beigabe gehabt hätte: ein vertrocknetes und verhutzeltes Männchen mit kahlem Kopf, dem mitten im Gesicht eine kupferne Nase brannte ...

So klöhnten die beiden Altchen fort und fort, gruselten sich gegenseitig ein mit längst vergangenen Geschichten, bis mit einem Male die Wanduhr zwölf Schläge tat. Da erschraken sie heftig, denn nun war es klar, daß bei der heikeln Ehrenangelegenheit irgend etwas nicht stimmte. Ihr junger Herr hätte doch sonst schon längst wieder zu Hause sein müssen ... Und plötzlich schoß es Lentz durch den Kopf, der Alten-Krakower hatte sich geweigert, für die schwere Beleidigung Satisfaktion zu geben, Graf Malte aber war nach den strengen Anschauungen der andern Herren ein Ehrloser, der von nun an auf der Welt nichts mehr zu suchen hatte! Verrückt war das, wenn man genauer hinsah, aber der junge Herr war doch in diesen Anschauungen aufgewachsen und wartete das Urteil der andern gar nicht erst ab, sondern vollzog es an sich selbst mit eigener Hand ... Miken schrie hell auf vor Angst, sie eilten beide auf die Freitreppe hinaus und bohrten die Augen ins Dunkle, als müßte irgendwoher die schreckliche Gewißheit kommen. Aber nichts regte sich in der tauschweren Frühlingsnacht, nur vom See her kam der gurgelnde Werberuf der Taucher und ab und zu das Streiten und Zanken der Wasserhühner, die glucksend in dem jung sprossenden Schilfe fischten ...

Fern im Osten über dem Hohenrömnitzer Walde zeigte sich schon der erste bleiche Schimmer des kommenden Tages, das glatte Wasser des Seespiegels erschauerte in krausen kleinen Wellen, als endlich am andern Ende der Dammallee Hufschläge erklangen. Von einem im Galopp einherrasenden Pferde, und an dem klappernden Eisen konnte man's deutlich hören, daß es der Wotan war. Da rieb Miken die vor Frost erstarrten Hände und atmete tief auf.

»Gottvater, hebb Dank, hei lewt noch!« Und Lentz fügte hinzu: »Che, noch hat hei sich nix andahn. Äwerst wat nu?«

»Ton lewen Herrgott beden, dat hei helpen möcht. Un uppassen as 'n Schäperhund, dat hei keen Dummerhaftigkeiten nich anrichten kann. Uns' jung Herr Graf nämlich« ...

Der Reiter hielt auf schaumbedecktem Gaule vor der Freitreppe, zwang seine von heftigem Trunk und Gram verstörten Züge zu einem Lachen.

»Wat denn? Dat is doch nachtslapende Tid, wo ohle Lüd int Bedd gehören? Äwerst dat dröfft sich good: Du, Lentz, könnt'st mi mal de Flint runnerhalen. Hinner den Schapstall lungert 'n Voß 'rümmer, könnt sien, dat hei noch dor is un eck emm wat up 't Ledder brennen könnt!« Wie öfter die Herren tun, sprach er so recht gemütlich im heimischen Platt, um ja keinen Argwohn aufkommen zu lassen, aber der alte Lentz hatte wohl verstanden, was eigentlich gemeint war. Zunächst einmal galt es, den jungen Herrn ins Haus zu bekommen, damit man ihn besser unter Aufsicht hatte ...

»Chewoll, gliek,« erwiderte er und stieg mit zitternden Knien die Treppe empor. Oben aber öffnete er das Fenster und rief hinunter: »Es geht nich, der Gewehrschrank is zu, und Herr Graf haben den Schlüssel ja wohl in der Tasche.«

»Himmeldonnerwetter noch einmal,« fluchte Malte und schwang sich aus dem Sattel, gab Miken die Zügel in die Hand. »Jetzt wird mir der Fuchs wohl durch die Lappen gehen, und ich hab' mich umsonst auf seinen Balg gefreut.«

Schwerfällig und mit unsicherem Tritt tastete er sich von der im Dunkel liegenden Diele die Treppe zum Herrenzimmer empor, oben aber gab es einen unerwarteten Widerstand. Der alte Lentz stand breitbeinig vor dem Gewehrschrank und rührte sich nicht von der Stelle.

»Mit allem schuldigen Respekt, Herr Graf, aber wenn Sie hier 'ranwollen, müssen Sie mich schon umbringen. Auf alles, was gestern und heute passiert is, hab' ich mir meinen Vers gemacht, und ich geh' nich von der Stelle. Ich will an meinem sel'gen Herrn Rittmeister nich zum Hundsfott werden und nachher da oben alle Tage die gerechten Vorwürfe hören!«

»Unsinn,« sagte Malte, »du phantasierst dir da was zusammen, was in Wirklichkeit nicht existiert. Unterdessen läuft mir der Fuchs am Schafstall fort, und ich hab' das Nachsehen!«

»Ah nein, Herr Graf,« erwiderte der Alte hartnäckig, »der Fuchs sitzt nich am Schafstall, sondern drüben in Alten-Krakow. Und ich seh' ordentlich, wie er sich eins lacht in seinen weißen Bart, daß Sie ihm in die Falle gehen. Auf den Augenblick freut er sich ja bloß, wenn er mal da oben im Vorbeifliegen zu meinem sel'gen Herrn Rittmeister sagen kann: »Na siehst du, da hast du's! Jetzt hab' ich's dir doch ausgezahlt wegen dem Gatter und den Hirschen, aber anders, als du's dir wohl gedacht hast?« ...

Malte zog unschlüssig das blonde Schnurrbärtchen zwischen die Zähne, mit Gewalt war nichts auszurichten. Der Alte da vor dem Gewehrschrank hob noch immer einen Zentnersack mit der rechten Hand, der Ausgang eines Ringkampfes wäre zum mindesten zweifelhaft gewesen, inzwischen aber lief das ganze Haus zusammen. Also verlegte er sich aufs Parlamentieren, versuchte der treuen alten Seele auseinanderzusetzen, wie sehr er sich gegen die Anschauungen seines seligen Herrn Rittmeisters auflehnte, wenn er hier den Zugang zum Gewehrschranke versperrte. Der Vater wäre der erste gewesen, der in diesem trostlosen Falle dem eigenen Sohne die Waffe in die Hand gedrückt hätte. Und ohne es zu wissen, gebrauchte er fast dieselben Worte, die am selben Tage eine andre gesprochen hatte.

»Sieh mal, Lentz, und hör mir vernünftig zu, gestern war's eine halbe Kinderei, aber heute ist's Ernst, nach dem, was mir geschehen ist, kann ein Mann von Ehre nicht weiterleben. Der Baron von Köhnemann hat mich heute vormittag tätlich beleidigt und verweigert mir jetzt die Genugtuung. Ich habe den Vorfall meinem vorgesetzten Bezirkskommandeur gemeldet. Er gab mir den Rat, meinen Gegner mit der Reitpeitsche zur Satisfaktion zu zwingen, und als ich darauf sagte: ›Herr Oberstleutnant, das geht nicht, ich kann mich doch nicht an dem Vater des jungen Mädchens vergreifen, das ich bis heute als meine Braut ansehen durfte,‹ zuckte er mit den Achseln. ›Ja dann, Herr Graf, bleibt Ihnen nichts andres übrig, als den Spruch Ihrer Kameraden anzurufen. Aber ich kann Ihnen jetzt schon sagen, wie dieser Spruch lauten wird: Wer einen Fleck am Frack hat, muß ihn ausziehen. Das überlegen Sie sich wohl recht gründlich, ehe Sie weitere Entschlüsse fassen‹ ... Damit ging ich in den Strelitzer Hof, traf die ganze Umgegend so ziemlich, denn heute war ja Fohlenmarkt gewesen, und es war ein toller Betrieb in der alten Bude. Alles trank mir zu, niemand hatte eine Ahnung, was mir passiert war. Und ich trank mit. Die andern brauchten ja nicht zu wissen, daß es für mich ein Abschied war. Aber nach der ersten Flasche Sekt wollte es mir scheinen, als wäre alles gar nicht so schlimm. Irgendwo mußte es doch ein Mittel geben, aus der Verschmetterung mit Anstand herauszukommen ...

»Als die andern sich zum Spielen hinsetzten, nahm ich mir den Panschenhagener Bredow beiseite – den Älteren, weißt du, der auch mit mir in der Reserve von den Friedeberger Dragonern steht –, erzählte ihm die ganze Geschichte und bat um sein Urteil. Der Bezirkskommandeur hätte mir zwar schon seine Meinung gesagt, der Tüschower heute nachmittag ebenfalls, aber die wären ja wegen ihrer überschroffen Ansichten bekannt. Und ich bat ihn, es nicht als Feigheit anzusehen. Wenn man dreiundzwanzig Jahre alt ist, so sagte ich ihm ungefähr, bäumt sich's doch einem da innen auf, wenn man so hundföttisch Schluß machen soll. Man hofft, es könnte vielleicht doch noch einen anständigen Ausweg geben ...

»Also der Panschenhagener hört mir zu, nur seine Augen werden immer größer. Wie ich fertig bin, fragt er, ob sich das alles wirklich so zugetragen hätte, und als ich natürlich ja sage, steht er auf: ›Dann, Herr Graf Römnitz, wundere ich mich nur, daß Sie sich erlaubt haben, heute abend noch in unserer Gesellschaft zu erscheinen. Ich gebe Ihnen die Versicherung, da ist niemand darunter, der nicht ganz genau wüßte, was er in einem solchen Falle zu tun hätte‹ ...

»Ich sagte nur: ›Scharmant, Herr von Bredow, das wollte ich von Ihnen hören. Grüßen Sie mir die andern Herren, ich reite jetzt nach Hause und werde Sie nicht mehr behelligen, außer noch bei einer Gelegenheit, bei der Sie nicht persönlich zu erscheinen brauchen. Sie können es mit einer Visitenkarte abmachen und einem Kranz an die Adresse meines Herrn Onkels in Hohenrömnitz.‹ Damit ließ ich meinen Wotan vorführen, bezahlte meine Rechnung, und hier bin ich jetzt, hab' dir alles genau erklärt. Wenn du nicht so eine treue alte Seele wärst, hätte ich nicht den langen Sermon gehalten, aber jetzt ist's genug. Jetzt gib den Platz frei, oder ich muß – so leid es mir täte – Gewalt anwenden.«

»Herr Graf,« erwiderte der Alte respektvoll, es is das erstemal in meinem Leben, wo ich gegen meine gnädige Herrschaft in Ungehorsam dastehe. Aber es bleibt dabei! Von diesen Ehrensachen verstehe ich nichts, nur befürworte ich, die Herren, die so den Mund aufreißen, urteilen wie ein Ochs über den Geschmack von einer Muskatnuß. Ausprobieren taten sie es noch nich, wie es schmecken mag, wenn man als ein junger Mensch aus dem Leben gehen soll, und man hat noch nichts davon gehabt. Und ich frage weiter, wie kann ein Mensch dem andern die Ehre abschneiden, wo er selber keine hat? Der Herr Baron von Köhnemann aber hat keine Ehre mehr, denn damals, als ihm mein seliger Herr Rittmeister unter vier Augen das Fell vergerbte wegen seiner Niederträchtigkeiten und so, hat er sich ganz ruhig verhalten hinterher und keine Forderung nach Vellahn geschickt, sonst müßte ich's doch wissen. Also, wenn man urteilt, wie die Herren urteilen, hat er keine Ehre mehr, und wenn er einen beleidigt, gilt es nich. Das is, als wenn ein Dorfköter bellt, hat immer mein sel'ger Herr Rittmeister gesagt, und wenn der Herr Graf das dem Herrn Bezirkskommandeur und dem Panschenhagener unter die Nase reiben wollten, möchten sie wohl klein beigeben und nich mehr so großspurig mit Menschenleben um sich schmeißen. Mit Menschenleben! Als wenn man die sich auf dem Markt neu kaufen könnte wie ein Paar Stiefel, und die alten taugen nichts mehr und so!« ...

Lentz hatte sich in einen heiligen Eifer gesprochen, sein junger Herr aber zuckte nur mit den Achseln.

»Das sind billige Ausflüchte, wird jeder sagen, die mir hinterher eingefallen sind, aber, schließlich hast du recht. Man kann mal probieren, ob die andern nicht drauf anbeißen. Und jetzt wollen wir schlafen gehen, morgen ist ja auch noch ein Tag.« Er tat, als wenn er müde wäre, hielt gähnend die Hand vor den Mund. Und fast wäre der Alte ihm darauf hereingefallen. Schon wollte er sich mit kurzem Gruße zurückziehen, als es ihm plötzlich auffiel, daß Graf Maltes Augen mit einem Male aufleuchteten. Und solche flackernden Augen hatte keiner, der müde war ... Da kehrte er wieder um, stellte sich, ohne ein Wort zu sprechen, auf seinen alten Platz. Graf Malte aber ging auf und ab; man konnte deutlich hören, wie er vor Zorn mit den Zähnen knirschte. Und plötzlich kam ein dumpfer Wehlaut aus seiner Brust, er warf sich auf den Widerspenstigen, der ihm den Weg versperrte, es gab ein heftiges Ringen. Er hatte den Untergriff, der Zorn verlieh ihm schier übermenschliche Kräfte, und es dauerte nur ein paar Augenblicke, bis sein Gegner mit dem Kopfe gegen die Schreibtischkante flog. Er aber durchwühlte mit fliegenden Händen seine Taschen nach dem Schlüssel zum Gewehrschranke. Da fing Lentz an, laut zu rufen: »Zu Hilfe, Miken, zu Hilfe!« Denn allein wußte er sich keinen Rat mehr ...

Die Alte aber war längst schon zu Bett gegangen, hatte dem Wotan einen Klapps gegeben, daß er sich die Dammallee entlang zum Stalle trollte. Auf der zugigen Freitreppe war es bitterkalt geworden, und die beiden oben im Schreibzimmer wurden wohl auch ohne sie fertig, vielleicht hatte Lentz nur wieder einmal Gespenster gesehen. Als sie jedoch den lauten Hilferuf vernahm, ließ sie sich kaum Zeit, in den Unterrock und die Filzpantoffeln zu schlüpfen, hastete eilends die Treppe empor. Graf Malte schrie sie heftig an, als sie mit dem Lichte in der Hand auf der Schwelle stand, sie aber konnte kein Wort hervorbringen vor Schreck, blies nur das Licht aus und schlich zitternd zum nächsten Stuhle. Und was Männerworten und Vernunftgründen nicht gelungen war, schaffte sie mit ihrem schier fassungslosen Weinen. Wie ein Häufchen Unglück saß das jammernde alte Jüngferlein in dem tiefen Ledersessel neben dem Schreibtische, in einem Aufzuge, in dem sie sich vor Mannsaugen wohl noch nie in ihrem Leben gezeigt hatte. Unaufhaltsam rannen ihr die Tränen über das runzelige Gesicht, und weil sie in der Angst und Aufregung das Taschentuch vergessen hatte, putzte sie sich die Nase mit ihrem flanellenen Unterrocke. Graf Malte aber mußte trotz allem Kummer und Zorn mit einem Male auflachen bei dem rührend-komischen Anblicke, und weil inzwischen auch die bösen Weingeister verflogen waren, schlug sich von diesem Lachen eine Brücke zu ruhigerer Überlegung. Und wer wollte es ihm mit seinen dreiundzwanzig Jahren verdenken, daß sich in seinem Herzen zugleich eine ganz leise Hoffnung zu regen begann? Wenn das Wahrheit war, was der Alte vorhin erzählt hatte, daß der Baron von Köhnemann schon seit Jahren einen Schimpf herumtrug, den er nicht abgewaschen hatte, gab es vielleicht doch noch einen mit Ehren zu beschreitenden Weg, der aus aller Not wieder ins Helle zurückführte. Wenn aber nicht, war es ja immer noch Zeit, die unabweisbare und nach altem Herkommen vorgeschriebene Schlußfolgerung zu ziehen. Verargen konnte es ihm niemand, daß er nicht leichtfertig und halb im Rausche an die Ausführung des letzten Entschlusses gegangen war, den ein Mann auf dieser Welt zu fassen hatte. Und wer mochte wissen, wie all die aufrechten Herren, die über seinen Fall so kühl aburteilten, sich wohl benehmen würden, wenn sie das Schicksal in die gleiche Lage versetzte? Ob sie nicht auch vielleicht nach einem rettenden Auswege suchten, der ihnen das Weiterleben ermöglichte, und ob sie wohl nicht die Neigung verspüren würden, im eigenen Falle milder zu richten als in einem fremden? Zurückgekommen war ja noch keiner, der an sich selbst das Urteil vollstreckt hatte, um zu erzählen, ob er ohne Zaudern die ins Dunkle führende Straße beschritten hatte ... Außerdem aber, und das war wohl der triftigste aller Gründe, sein Leben gehörte ihm ja nicht allein! Da drüben in Alten-Krakow saß eine, der er sich angelobt hatte und die ohne Schutz zurückblieb, wenn er von dannen ging. Zum mindesten hatte sie doch den Anspruch, daß er ihr noch einen letzten Gruß schickte und ihre Verzeihung erbat, wenn er das Gebot der Ehre höher stellen mußte als alle übrigen Pflichten ...

Lentz hatte sich mühselig nach dem schmerzenden Sturze erhoben, wischte sich die blutende Stirn und trat, ohne ein Wort zu sprechen, vor den Gewehrschrank, sperrte den unheilvollen Weg mit seinem breiten Rücken. Ganz selbstverständlich war es, daß er wieder an diesen Platz ging, und kein Vorwurf war in seinem Gesichte zu lesen. Wie ein wachsamer alter Hofhund stand er da, der von seinem ungerechten Herrn für einen guten Dienst der Treue mit einem Fußtritte belohnt worden ist. Das tat sehr weh natürlich, aber deswegen durfte man doch nicht aufbegehren oder gar seine Pflicht versäumen ...

Graf Malte fühlte es heiß in die Augen steigen, er ging auf den Alten zu, und es gab ein paar Minuten, in denen alle von Geburt und Rang gezogenen Grenzen verschwanden. Mit einem aus tiefstem Herzen kommenden Aufschluchzen schlang der Jüngling seine Arme um den Hals des Greises und schmiegte den Kopf an die treue Brust. Miken aber trat hinzu, klopfte ihm fürsorglich den Rücken, damit er sich an den Tränen nicht verschluckte, und sprach allerhand beruhigende Worte. Das war vielleicht ein recht lächerliches Bild, der junge Offizier in Dragoneruniform, der in den Armen eines alten Dieners seinen Kummer ausweinte, indessen ein verschrumpeltes Weiblein ihm begütigend den Rücken klopfte. Den dreien aber war es recht feierlich und heilig zumute, und sie schämten sich nicht, denn als Menschen standen sie da, bei denen es auf Äußerlichkeiten nicht ankam. Wie bei dem Bauernjungen, der zum Begräbnis seiner Großmutter eine rote Weste angezogen und das Mißfallen des Küsters erregt hatte. »Wenn 't Hart man swart is,« hatte er erwidert, »und uns' lewen Herrgott hätt scharpe Oogen. De Kledasch deiht em nich schenieren, denn hei kiekt ja dörch und dörch« ...

Malte trocknete sich die Augen.

»Na, ist gut, ihr Leutchen, und jetzt wollen wir schlafen gehen. Ich verspreche euch, ich werde vernünftig sein.«

Die beiden Alten aber trauten ihm nicht, brachten ihn ins Schlafzimmer hinüber wie vor jenen langen Jahren, als er noch eine vater- und mutterlose Waise gewesen war. Und er ließ es sich ruhig gefallen. Ganz heimelig wurde es ihm dabei zumute, als die beiden an seinem Bette saßen und wie früher immer auf sein Einschlafen warteten. Alte Erinnerungen standen auf, er fing an zu plaudern, als hätte es die beiden Tage mit all ihrer Not und Pein nie gegeben, und allmählich gewannen Jugend und Ermüdung ihr Recht. Die Augen fielen ihm zu, und mit einem Lächeln schlief er ein, denn er war ja in sorgsamer Hut ...

Der alte Lentz stand auf, nickte der treuen Dienstgefährtin zu, sie sollte Wache halten, bis er zurückkäme. Er wollte nur mal nach Moltzahn hinüberreiten zum Herrn Justizrat Stahmer, um für den kommenden Tag eine zuverlässige Unterstützung zu haben. Der Herr Justizrat war ein alter Freund des verstorbenen Vaters, und man konnte wohl annehmen, daß er für alles, was zu sagen war, eindringlichere Gründe finden würde, als ein einfältiger Diener. Und da geschah es zum ersten Male seit schier vierzig Jahren, daß Miken keine Eifersucht verspürte gegen ihren männlichen Widerpart in der Gunst der Herrschaft, sondern so etwas wie Fürsorge. Sie hob den Kopf mit der weißen Nachtmütze, unter der ein paar dünne graue Zöpflein über den Rücken hinabhingen, unten mit einem schwarzen Fitzelbande prall eingeflochten, so daß sie wie steife Rattenschwänze in die Luft ragten.

»Mooden Sei sick ook nich to veel to? Gistern all dat Gerooder, un hüd wedder? Sei sünn doch keen Jüngling mehr, un laten Sei doch lewer den Fuhbel rieden?!« ...

Da lachte er nur, »Unkraut verdarwt nich, wenn't ook up 'n Meßhupen smeeten ward,« als er aber die Treppe hinunterstieg, wurde ihm ganz eigentümlich zumute. Die alte Miken mußte wohl dicht vor ihrem seligen Ende stehen, daß sie sich auch um andre Leute zu kümmern anfing, als nur um ihren geliebten jungen Grafen Malte?! Und er schüttelte noch mit dem Kopfe, als er längst schon im Sattel saß, auf einem widerspenstigen Ackergaule nach Moltzahn trabte, um den Herrn Justizrat Stahmer zu alarmieren ... Und endlich kam ihm die Erleuchtung. Sie war nur deshalb so besorgt, weil sie befürchtete, er hielte die Anstrengung nicht aus, könnte unterwegs zusammenklappen, und ihr junger Herr müßte ohne wirksamen Zuspruch bleiben. Da war er zufrieden, daß er für ihr seltsames Verhalten die zukömmliche Erklärung gefunden hatte, vergönnte dem im tiefen Lehme einherkeuchenden Gaule ein Ende Schritt und fing an zu überlegen, wie er dem Herrn Justizrat die Störung der Nachtruhe wohl plausibel machen würde. In einer so heimlichen Familienangelegenheit hätte er doch eher nach Hohenrömnitz reiten müssen, zum Herrn Erblandmarschall, der seinem jungen Herrn als Vatersbruder doch eigentlich am nächsten stand. Aber er wußte nicht, ob der Herr Justizrat sich in den alten Geschichten auskannte, die da mitsprachen. Vor jenen langen Jahren hatte die schöne Melitta von Hollen den jüngeren Grafen Römnitz dem älteren vorgezogen. Nur zwei wußten noch um all die aufregenden Kämpfe in der Familie, der Herr Erblandmarschall auf Hohenrömnitz und der vertraute Diener des Vellahner Herrn. Die übrigen waren längst weggestorben im Laufe der Zeit, grüner Rasen wuchs über stillgewordenen Herzen, nur der Haß in der Brust des Verschmähten lebte immer noch. Stand mit jedem Jahre neu auf, mit jedem Jahre, das gekommen war, ohne ihm aus eigener Ehe den heißersehnten Leibeserben zu bringen. Da war es also wohl geratener, die Hilfe an einem andern Orte zu suchen. Der Herr Erblandmarschall hätte bei dem Neffen vielleicht Öl in das brennende Feuer gegossen, statt es mit besonnener Hand zu dämpfen, hätte in der schwierigen Ehrenangelegenheit vielleicht noch schroffer geurteilt als der Herr Bezirkskommandeur in Moltzahn und die Herren von den Friedeberger Dragonern ...

Am andern Morgen in aller Frühe kam der Justizrat Stahmer nach Vellahn heraus, und er brachte einen vortrefflichen Bundesgenossen mit. Einen herrlichen Maientag mit leuchtendem Sonnenschein, der das Herz jeglicher Kreatur vor Lebensfreude höher schlagen ließ. Diesen Bundesgenossen aber nützte er weidlich aus, verlegte die Unterredung mit dem jungen Schloßherrn nicht auf die immer im Halbdunkel liegende Diele, sondern in den im ersten Frühlingsgrün prangenden Park. Da schritten sie auf den sauber geharkten Wegen dahin, bunte Blumen blühten in dem gepflegten Rasen, rings um die Insel blaute der See, und allenthalben in Buschwerk und Gezweig jubilierte ein frühlingstrunkenes Konzert. Die Amsel und Singdrossel flöteten, die Schar der Finken fiel ein mit schmetterndem Schlag, und im sprossenden Schilf die Haubentaucher knarrten den Baß. Da hatte der Herr Justizrat es nicht sonderlich schwer, den Jüngling an seiner Seite zu überzeugen, daß es besser wäre, sich noch eine Weile im Sonnenlichte zu freuen, als im dunkeln dorthin zu fahren, von wannen es keine Wiederkehr gab ... Zudem aber war er nicht mit leeren Händen gekommen. Noch vor der Ausfahrt hatte er mit dem Bezirkskommandeur eine gewichtige Rücksprache gehalten, und unter dem Gesichtspunkte, daß der Alten-Krakower es seinerzeit verabsäumt hätte, sich für eine gröbliche Beleidigung Genugtuung zu holen, bekam der leidige Ehrenhandel ein wesentlich anderes Aussehen. Wenn auch vor dem Gerichte der Kameraden nicht auf einen bedingungslosen Freispruch zu rechnen wäre, so würde wohl niemand unter ihnen es dem Vellahner jungen Herrn verargen, wenn er diesen Spruch nicht erst herausforderte, sondern vorher und freiwillig ein Kleid ablegte, das bei ihm doch nur eine Äußerlichkeit wäre. Ein passender Vorwand für das Abschiedsgesuch ließe sich wohl finden, und man dürfte annehmen, daß es nicht allzu streng auf die Triftigkeit seiner Begründung geprüft werden würde.

Graf Malte warf unmutig ein, das wäre ein wenig rühmlicher Rückzug. Und er könnte sich doch nicht auf den Marktplatz stellen in Moltzahn und jedem vorbeikommenden Standesgenossen seinen Entschuldigungsvers hersagen! Aber auch dafür wußte der Herr Justizrat ein gutes Auskunftsmittel. Er brauchte nur eine Weile von der Heimat fortzugehen, bis sich das Gerede beruhigt hätte, indessen würden seine Freunde schon dafür sorgen, daß ihm dieses Fortgehen nicht als ein feiges Ausweichen gedeutet würde. Und der Zufall wäre günstig. Ein entfernter Verwandter hätte ihm vor einiger Zeit geschrieben, eine deutsche Handelsgesellschaft bereitete eine Expedition ins Innere von Afrika vor, um am Oberlaufe des Kongo die reichen Kautschukwälder auszubeuten. Alles wäre schon beisammen, nur ein paar Herrenjäger fehlten noch, die vielleicht aus Passion mitziehen wollten und für das zu erwartende Jagdvergnügen einen Teil der Expeditionskosten tragen. Da leuchtete es in Maltes blauen Augen auf, in seinen Adern regte sich das Abenteurerblut seiner Vorfahren, gleich danach aber ließ er den Kopf wieder sinken. Was sollte hier wohl aus seiner Herzallerliebsten werden, wenn er nur an sich selbst dachte und in die lockende Ferne zog? Doch auch diese Sorge wußte der Herr Justizrat ihm auszureden. Mit teilnahmsvollem Gesichte legte er ihm die Hand auf die Schulter.

»Mein lieber Herr Graf,« sagte er, »dieses ritterliche Gefühl ehrt Sie ganz besonders, aber ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß Sie an dem Schicksal der Baroneß von Köhnemann nichts ändern werden, ob Sie nun fortgehen oder hierbleiben. Ihr Vater hat sich durch eigene Schuld in eine schwere Gefahr verstrickt – die amtliche Diskretion verbietet es mir, mich näher darüber zu äußern –, aber ich glaube Ihnen die Versicherung geben zu dürfen, daß die junge Dame selbst Sie bitten wird, ein Verhältnis zu lösen, das zu einer Vereinigung nie und nimmer mehr führen kann. Sie muß ihrem Vater das eigene Glück opfern, oder sagen wir mal, dem Spielteufel, der ihn so weit gebracht hat. Das ist sehr traurig, gewiß, aber glauben Sie einem alten Manne, der in einem langen Leben vieles gesehen und einiges auch selbst durchgemacht hat: alles geht vorüber! Erst glaubt man, es wäre nicht zu tragen, um ein weniges später fügt man sich, und schließlich verdrängen neue Schmerzen die alten, kaum daß eine Erinnerung von ihnen bleibt. Und es ist gut so. Was sollte aus uns armen Menschenkindern wohl werden, wenn ein gütiges Geschick uns nicht die Fähigkeit des Verwindens in die Wiege gelegt hätte?« ...

Der alte Herr brach ab und sah mit schwimmenden Augen in den lachenden Frühlingstag hinaus. Und das junge Gräflein zu seiner Seite schwieg still, denn das eigene Schicksal wollte ihm plötzlich nicht mehr so übermächtig groß erscheinen wie noch vor wenigen Stunden. Dem weißhaarigen Manne da hatte ein grausames Geschick die Gattin geraubt und drei blühende Söhne. Im Zweikampf war der eine gefallen, der andre als ein Opfer seines ärztlichen Berufes, und der jüngste irgendwo in der Fremde als ein Taugenichts verdorben, gestorben. Ganz allein war der alte Herr zurückgeblieben und hatte weitergelebt. Hatte sich nach den schweren Schlägen wieder aufgerichtet, wie ein fest verwurzelter Eichenstamm, über dessen Wipfel die Windsbraut dahingefahren war. Ein paar Äste lagen abgebrochen am Boden, aber der Stamm selbst war unversehrt ...

Der Justizrat Stahmer fing wieder an zu sprechen, aber alle bisher erörterten Fragen schienen für ihn abgetan. Von einer Reise erzählte er, die er vor einigen Jahren mit dem Schiffe Meteor an den Küsten Italiens und Dalmatiens ausgeführt hätte. Und wie ihm dabei das schmerzliche Bedauern gekommen wäre, daß es nun schon zu spät wäre, auch alle andern Herrlichkeiten dieser schönen Erde zu genießen. Und weiter sprach er von der Geist und Körper erfrischenden Jagdpassion, der auch er in seinen wenigen Mußestunden huldigte. Welch ein Hochgefühl es schon wäre, einen braven Hirsch zu strecken, wieviel köstlicher aber wohl ein Sieg sein müßte, den man über ein wehrhaftes Wild davongetragen, über einen Löwen etwa oder einen jener mächtigen Sumpfbüffel, die den Schützen annehmen, wenn die angetragene Kugel nicht tödlich gewesen war. So sprach er noch eine Weile lang fort, bis er plötzlich nach einem Blicke auf die Uhr erklärte, er müßte schleunigst ins Städtchen zurück, einen wichtigen Termin wahrzunehmen, der für den Vormittag vor dem Amtsgerichte anstände. So eilig hatte er's mit dem Aufbruche, daß Graf Malte ihm kaum noch das Versprechen abnehmen konnte, sich telegraphisch zu erkundigen, ob die Expedition ins Innere Afrikas nicht inzwischen vielleicht schon abgegangen wäre ...

Das wollte der Herr Justizrat natürlich gerne besorgen. Sein leichter Wagen rollte auf der Dammallee davon, und Malte blieb in einer seltsamen Erregung zurück. Noch vor einer Stunde hatte er an diese afrikanische Jagdreise nicht gedacht, jetzt aber wäre es ihm fast als ein nicht wieder gut zu machendes Unglück erschienen, wenn er sie hätte aufgeben müssen. Prüfend trat er vor seinen Gewehrschrank, hielt strenge Musterung, welche der zahlreichen Waffen wohl den Strapazen einer tropischen Expedition standhalten dürfte. Und da diese Musterung nicht zu seiner Zufriedenheit ausfiel, mußte Lentz eine telephonische Verbindung mit Berlin herstellen, mit einem Waffengeschäft, dessen Inhaber in Ausrüstungen für afrikanische Jagdausflüge eine vielgerühmte Erfahrung besaß. Da gab es denn eine umfangreiche Bestellung, und eine zweite Verbindung sorgte für die weitere Ausrüstung in einem andern Geschäfte. Natürlich nur bedingungsweise, denn ganz sicher wäre die Reise noch nicht, eine Beruhigung war es aber immerhin, daß bei der Leistungsfähigkeit der Geschäfte die Ausführung der Bestellung kaum drei Tage in Anspruch nehmen würde.

Der späte Nachmittag brachte endlich die Gewißheit, einen telephonischen Anruf des Herrn Justizrats Stahmer, ein Platz bei der Expedition wäre noch frei, nur das Vergnügen nicht ganz billig. Zwanzigtausend Mark hätte er zu erlegen, wofür ihm allerdings später ein gewisser Anteil an der zu erwartenden Kautschukausbeute überlassen würde. Aber er müßte sich rasch entscheiden, denn in acht Tagen führe die Gesellschaft von Genua ab. Da rief er zurück, er hätte sich schon entschieden und der Kostenpunkt könnte in diesem besondern Falle wohl keine Rolle spielen. Seines Wissens hätte Vellahn in den letzten Jahren reichliche Überschüsse gebracht, im übrigen aber wäre das die Sache des Gutsverwalters Bergemann. Der hätte die benötigte Summe einfach bereitzustellen. Darauf meinte der Justizrat Stahmer, dann wäre es wohl am besten, noch mit dem Nachtzuge nach Berlin zu fahren, um andern Tags mit dem Leiter der Expedition alles Nähere zu besprechen, und er wünschte von Herzen eine glückliche Reise und gesunde Wiederkehr. »Heißen Dank,« sagte Malte und hängte den Hörer an. Schon lange nicht mehr hatte er ein solches Frohgefühl verspürt wie in diesem Augenblicke. Ein verschlossenes Tor tat sich vor ihm auf, das in die Freiheit führte. Weit dehnte sich die Straße im Sonnenlicht, und in blauender Ferne lockten Abenteuer und Gefahren ...

Mit fiebernder Eile betrieb er die Vorbereitungen zur Abreise. Um elf Uhr des Nachts hielt der Berliner Schnellzug in Waren, aber zwei Stunden brauchte man zum mindesten dorthin bei den vom Frühjahrsregen aufgeweichten Landwegen, und vorher waren noch allerhand zeitraubende und wenig erquickliche Angelegenheiten zu erledigen. Zunächst einmal der Brief an den Bezirkskommandeur mit einem ausführlich motivierten Abschiedsgesuch – schon der bloße Gedanke an die widerwärtige Schreibarbeit trieb ihm den Schweiß auf die Stirn! Und daß er erdichtete Vorwände zusammentragen mußte, denn von den eigentlichen Beweggründen durfte doch in dem Schriftstücke keine Rede sein ... Dann aber kam das Unangenehmste von allem, der leider nicht zu vermeidende Abschiedsbesuch in Hohenrömnitz. Daß der Onkel Christoph als Oberhaupt der Familie gegen die geplante Reise etwas einzuwenden haben würde, war kaum anzunehmen, er kümmerte sich ja auch sonst nicht um das Tun und Treiben seines Neffen und Erben. Immerhin aber war es doch möglich, daß er nach den Beweggründen für diese plötzliche Reise fragte, und dann mußte man unter den kalten grauen Augen zu berichten anfangen. Wunden entblößen, die schon bei der leisesten Berührung wehe taten, den Schleier von Dingen reißen, die am besten verhüllt und zugedeckt bleiben für alle Zeiten. Denn wie man's auch drehen und wenden mochte, diese so hastig beschlossene Reise war eine Flucht. Feige Flucht vor einem Schicksal, das er sich selbst bereitet hatte, als er die tätliche Beleidigung unerwidert ließ ... Ein unbändiger Zorn fiel ihn an, daß er in dem schmachvollen Augenblicke den Schimpf nicht heimgezahlt hatte mit Zinseszinsen. An dem andern wäre es dann gewesen, sich die vorgeschriebene Genugtuung zu holen, und sie wäre ihm nicht verweigert worden, weiß Gott! Er hatte ja auch schon die Hand erhoben, aber ein geller Aufschrei ließ ihn innehalten. Die Tochter hatte sich vor den Vater geworfen, umschlang ihn mit klammernden Armen, als wollte sie ihn schützen oder zurückhalten – der Teufel mochte wissen, was sie wollte! Nur man selbst kam wieder zur Besinnung, sah drüben nicht den Gegner stehen, sondern einen weißhaarigen, in sinnlosen Zorn geratenen Greis, und nachher war es zu spät. Nachdenken durfte man in solchen Augenblicken nicht ...

Wie Feuer brannte die Stelle, und sie wies einen andern Weg als zu bunten Abenteuern. Aber für diesen war es jetzt zu spät. Den hätte er beschreiten müssen, als der Herr von Lewenitz da draußen auf der Freitreppe sich ohne Händedruck verabschiedete. Alles übrige, was er hinterher unternommen hatte, war feige Ausflucht gewesen, blasse Todesfurcht hatte ihn nach Moltzahn gejagt zu dem Bezirkskommandeur und nachher zu der Aussprache mit dem Panschenhagener Bredow. Überall hatte er heimlich auf Rettung gehofft, wenn er sich ganz streng auf Herz und Nieren prüfte, und wer mochte wissen, ob er gestern mit dem alten Lentz so gröblich umgesprungen wäre, wenn er nicht anderthalb Flaschen Sekt im Leibe gehabt hätte ... Heute lief ihm schon ein kalter Schauder über den Rücken bei dem bloßen Gedanken, was geschehen wäre, wenn die treue Seele, die Miken, sich gestern nacht auch nur ein paar Minuten verspätet hätte ... Das war blanke Feigheit, gewiß, aber der brutale Hang zum Leben war stärker als all die ungeschriebenen Gesetze, die den Angehörigen seiner Kaste das Todesurteil sprachen bei Verfehlungen, die andre vielleicht mit einer Beleidigungsklage vor dem Schöffengericht sühnten ... Ganz schimpflich und ehrlos kam er sich vor, daß er das bißchen Mut zu dem raschen Entschlusse nicht mehr finden konnte, aber er vermochte sich nicht zu helfen, diesen Mut brachte er bei nüchterner Überlegung nicht auf. Da raunten allerhand werbende Stimmen an seinem Ohr, was hast du denn mit deinen dreiundzwanzig Jahren schon gehabt vom Leben, daß du es fortwerfen willst? Tausend Freuden birgt die Zukunft im Schoße, die du noch nicht gekostet hast, und da sollst du dich still davonschleichen, während die andern an der reich besetzten Tafel sitzen? Nur damit ein paar in den engen Anschauungen ihrer Kaste verstrickte Herren nicht die Achseln zucken, wenn dein Name in ihrer Gegenwart genannt wird? ... Einen toten Gaul freut kein Hafer mehr, heißt es in dem alten Sprichwort, und was hast du davon, wenn diese Herren nach deinem Hinscheiden mit einer gewissen Anerkennung sagen: »Der Malte Römnitz? Ah, das war ein braver Kerl! Hatte es nicht verdient, daß ihm der Ziegelstein auf den Kopf fiel, aber er wußte wenigstens, was er danach als ein echter Edelmann zu tun hatte« ... Indessen aber weiden sich an deinem blühenden Körper längst schon die Würmer, du hörst diese schmeichelhaften Worte nicht mehr, und drüben in Alten-Krakow der räudige alle Wolf lacht sich eins in die gelben Zähne ...

Das waren ketzerische Gedanken, bei denen der letzte Sproß eines ureingesessenen mecklenburgischen Adelsgeschlechtes sich eigentlich scheu umsehen mußte, ob ein Fremder sie ihm nicht von der Stirn las. Aber sie waren da, und Gott allein mochte wissen, woher sie kamen ... Ob es daran lag, daß er seit seinem zwölften Jahre ohne rechte Führung gewesen war nach dem allzu frühen Tode des Vaters? In den Händen von vielleicht schlecht gewählten Erziehern, die ihm allerhand verschrobene Flausen in den Kopf gesetzt hatten, statt seinen Geist in die vorgeschriebenen und zukömmlichen Bahnen zu lenken! ... Da war vor allem einer gewesen, der ihn fast fünf Jahre unterrichtete. Der rotköpfige Siewers, ein ewiger Kandidat der Theologie, der alle Jahr einmal in Rostock zum letzten Examen ansetzte, immer aber vor der Tür des Prüfungszimmers wieder umdrehte. Nicht aus mangelndem Wissen, sondern weil es ihm jedesmal als eine Lumperei erschien, Gesinnungen zu heucheln, die er nicht teilte, das Bekenntnis eines Glaubens abzulegen, den er längst nicht mehr besaß. Da kehrte er nach etlichen Tagen tiefen Trunkes wieder zu dem kärglichen Brote der Hauslehrerei zurück, sammelte Kräfte zu einem neuen Anlaufe ...

Und es war ein gar seltsamer Unterricht, den er seinem Zögling erteilte. Bei gutem Wetter strichen sie im Vellahner Walde umher, lagen irgendwo stundenlang auf einer sonnigen Wiese und sprachen über die tiefsten und letzten Fragen des Menschentums. Das heißt, das junge Gräflein hörte zu, und der rotköpfige Siewers sprach. Sprach sich allerlei Zorn und Ingrimm von der Seele, ohne daran zu denken, was er bei seinem Schüler anrichtete. Vielleicht aber auch trieb ihn dabei eine seltsame Lust, in das Herz dieses Sprößlings aus uraltem Adel allerlei Keime zu senken, die später einmal aufgehen sollten, zu Gutem oder Bösem. Baute auf und zerstörte, zeigte jedes Ding von zwei Seiten, wie es sich ausnahm, wenn man es unter diesem Gesichtswinkel betrachtete oder jenem. Dem Schüler blieb es überlassen, sich aus diesen Widersprüchen einen Vers zu machen, denn der Lehrer meinte, selbständiges Denken wäre die Hauptsache, ein jeder hätte sich in allen Fragen der Politik und Religion, der Moral und Ehre den eigenen Weg zu suchen. Und mancherlei aus diesen Stunden blieb in dem empfänglichen Gemüte des halbwüchsigen Jungen hängen, aber nicht immer das für ihn Bekömmlichste. Von der Religion etwa, daß die erhabenen Lehren des Urchristentums durch einen herrschsüchtigen Klerus verdreht und verfälscht worden wären, bis sie ein handliches Werkzeug zum Knebeln aller freiheitlich gerichteten Geister ergeben hätten; von der Politik, daß es ein Ekel wäre, sich mit ihr zu beschäftigen, weil jede der Parteien, die das allgemeine Wohl im Munde führten, nur darauf aus wäre, den eigenen Wanst an der Staatskrippe zu mästen; und von der Moral endlich, daß es am besten wäre, sich mit ihr überhaupt nicht den Sinn zu beschweren. Nur die Skrupellosen kämen vorwärts in dieser heuchlerischen Welt, die keine Bedenken kennten, außer dem einen, nach außen hin sorgfältig den Schein des Gerechten zu wahren. Und ähnlich verhielte es sich mit dem Begriffe der persönlichen Ehre. Die sie als ein altererbtes Vorrecht ihres Standes verteidigten, hätten zumeist von wirklicher Ehre keine Spur im Leibe, denn nicht darauf käme es an, sein Leben rein äußerlich nach gewissen überlieferten Formeln einzurichten, sondern auf den Adel der Gesinnung. Und ganz töricht wäre es, jeden Quark mit der Degenspitze aufzuheben, immer die Waffe in der Faust zu führen zur Verteidigung seiner Ehre; danach müßte der beste Fechter auch der größte Ehrenmann sein oder ein schlechter Schütze das verächtlichste Subjekt. So sprach der Theologiekandidat Siewers, der das linke Bein nachschleppte wegen einer im Duell davongetragenen Pistolenkugel und dem unter gelichtetem Haar die Hochquarten und Terzen in dichter Reihe saßen. Und in der nächsten Stunde wiederum focht er mit leuchtenden Augen alle seine zahlreichen Mensuren noch einmal durch, erzählte von den gewaltigen Schmissen, die er ausgeteilt, und daß die herrlichste aller Männerfreuden sich im Busen regte, wenn sich drüben im Gesichte des Gegners die ersten blutigen Treffer zeigten ...

Das war ein recht krauser Unterricht, und ein Glück war es nur, daß es zuweilen im Sommer auch Regenwetter gab und man im Winter nicht auf sonnenbeschienenen Wiesenschlenken liegen konnte. In diesen Zeitläuften nämlich wandelte sich der Weltweise in einen strengen Präzeptor, der mit dem jungen Gräflein ernsthafte Wissenschaften paukte. Nur alle Monate einmal, gleich nach dem Ersten, war er verschwunden, da fuhr er nach Rostock hinüber, zu seinen früheren Verbindungsbrüdern. Um sich geistig wieder ein wenig aufzufrischen, wie er sagte, in Wirklichkeit aber, weil dem verbummelten alten Studenten das Geld in der Tasche brannte und er keine Ruhe hatte, bis er es im Kreise gleichgestimmter Kumpane wieder vertan hatte. Und von einem dieser Erholungsausflüge kehrte er nicht wieder zurück. Ein kurzer Brief nur kam nach Vellahn, er hätte aus persönlichen Gründen mit der verhaßten Klerisei einen Waffenstillstand geschlossen. Für kurze Zeit bloß, um das letzte Examen zu bestehen, denn seine sonst so geduldige Jugendliebste wollte nicht mehr länger warten. Der müßte er wohl oder übel das Opfer seiner Überzeugungen bringen, später aber gedächte er das Wort Gottes an einem Platze zu lehren, an dem ihm die Herren des hochwohlweisen und stets infalliblen Consistorii gewogen bleiben könnten. Als Missionar in Afrika, und er freute sich schon darauf, den dickschädeligen Niggern ein Christentum von ganz besondrer Art beizubringen ...

So schrieb der rothaarige Kandidat Siewers, sein Schüler aber trauerte ihm eine ganze Zeitlang nach, bis er ihn über dem Nachfolger vergaß. Das war nämlich ein gar lebenslustiger junger Mann, der einer viel amüsanteren Unterrichtsmethode huldigte. Bei Tage wurde geschlafen, am Abend aber fuhr man nach Moltzahn hinüber oder nach Waren und kehrte erst lange nach Mitternacht wieder heim. In allerhand Spelunken führte dieser Kandidat seinen Zögling, lehrte ihn ungezählte Seidel Bier trinken und feile Mädchenlippen küssen.

Graf Malte aber lachte nur zu den mit allem schuldigen Respekt vorgebrachten Ermahnungen seines alten Dieners, denn das lockere Treiben mit dem lebenslustigen Hauslehrer behagte ihm sehr. Erst als es sich darum handelte, vor der Prüfungskommission in Schwerin das Einjährigenexamen zu bestehen, ging er ein wenig in sich, begann mit seinem Präzeptor ein überstürztes Lernen. Aber es hätte nichts genützt, wenn von dem rothaarigen Theologiekandidaten her nicht eine gewisse Grundlage dagewesen wäre und die Herren Examinatoren bei dem zukünftigen Erben der Hohenrömnitz, der einmal kraft seiner Geburt den Rang eines Erblandmarschalls bekleiden sollte, ein Auge zugedrückt hätten. Nach diesem wenig rühmlichen Ergebnisse jedoch gab er sich selbst einen Stoß, der Hauslehrer wurde entlassen, und das Dienstjahr bei den Friedeberger Dragonern war ihm nicht ohne Nutzen. Das Grüblerische war von ihm abgefallen, von dem Theologiekandidaten her, und die Schlaffheit der allzufrüh gekosteten Genüsse, die ihn dessen Nachfolger gelehrt hatte. Vor einer andern Gefahr aber bewahrte ihn die Baroneß von Alten-Krakow ...

Nur wenigen der jungen Herren von Adel war es gegeben, sich selbst genug zu sein, an den zehrenden langen Abenden in der Stille des Gutshofes sich mit einem guten Buche zu beschäftigen oder den Wirtschaftssorgen für den kommenden Tag. Und nicht die schlechtesten waren es, die die Ungeduld aus der Enge hinaustrieb. Zu allen Rennen, die mit einer Tagesfahrt zu erreichen waren, unter irgendwelchem Vorwande nach dem vom Teufel und seinen Bundesgenossen erschaffenen Berlin oder nach Waren und Moltzahn. Dort saßen noch mehrere, die auch vor dem Alleinsein geflohen waren, und unter ihnen die schlechten Kerle, die nur auf den Augenblick lauerten, den Würfelbecher auf den Tisch zu stülpen oder die lockenden Spielkarten auszubreiten. Vor diesem Zeitvertreib aber war das junge Gräflein bewahrt worden, denn an den langen Abenden hatte es eine bessere Kurzweil, als im Strelitzer Hofe in Moltzahn oder im Hotel zur Stadt Hamburg in Waren unter halbtrunkenen Zechkumpanen zu sitzen. Und der Alte hatte willig die heimlichen Brieflein besorgt von Vellahn nach Alten-Krakow und zurück. Wie ein besonders gutes Werk war es ihm erschienen mitzuhelfen, daß längst verjährtem Hasse die Versöhnung folgte. Bis er sehen mußte, daß von allen Gefühlen, die ein Menschenherz bewegten, der Haß das längste Gedächtnis besaß – – – – –

Wie vom Schlage gerührt standen Lentz und die treue Miken, als Graf Malte ihnen ankündigte, schon am Abende ging es fort zu einer langen Reise, von der er nicht sagen könnte, wann sie wieder in die Heimat zurückführte, und sie sollten sich tummeln, die Koffer herbeizutragen, Kleider und Wäsche bereitzulegen. Im ersten Augenblicke glaubten sie, es wäre ein neuer Versuch, ihre Wachsamkeit zu täuschen; erst als sie hörten, daß der Justizrat Stahmer zu dieser Reise geraten, beruhigten sie sich. Und mit wehem Herzen machten sie sich an die aufgetragene Arbeit, fingen an, in Gedanken schon Abschied zu nehmen von dem einen, der ihnen teuer war. Malte aber trat auf die Freitreppe hinaus; es war Zeit, nach Hohenrömnitz zu reiten. Und ein anscheinend fremder Junge fiel ihm auf, der sich an den Erlen der Dammallee herumdrückte. In Vellahn kannte er alle Tagelöhnerkinder von Gesicht und Namen ...

Er pfiff ihn an: »Hollah, mien Sähn, wat sökst du?« Und der Jungs trat verlegen näher, zog einen verknüllten Brief aus der Tasche.

»Eck si ut Ohlen-Krakow. De Kammerjumfer Merie hätt mi dat gäwen. Eck sull't bloß räwerdragen un utrichten, Antwurt wär nich nödig, hädd de gnä' Baroneß befahlen« ...

Da griff er mit zitternder Hand nach dem Briefe. Es waren nur ein paar mit Bleistift gekritzelte Zeilen und von darüber vergossenen Tränen halb verwischt ...

»Vergiß mich, Liebster, ich muß mich fügen. Gott ist mein Zeuge, es geht nicht anders, es handelt sich nicht um meine armselige Person allein. So viel Schreckliches ist um mich her, und das Schicksal, das auf mich wartet, ist schlimmer als der Tod. Die Augen habe ich mir schon blind geweint, aber es geht nicht anders, ich muß mich fügen. Denk nicht schlecht von mir, ich bitte Dich, lieber Malte! Ich müßte ganz und gar verzweifeln, wenn Du mir nicht glauben würdest. Ich küsse Dein liebes Angesicht und werde Dich niemals vergessen« ...

Er knitterte das schmale Blatt in der Hand zusammen, ein jäher Schmerz flog ihm durch die Brust. Er sah sein blondes Liebchen, wie es sich wehrte und verzweifelt gegen den Vater rang, bis es sich bescheiden mußte und mit verweinten Augen einen kümmerlichen Abschiedsbrief schreiben. Und ein heller Zorn sprang ihn an, nach Alten-Krakow zu reiten und zu guter Letzt noch auszuführen, wozu die andern alle ihm geraten hatten. Den heimtückischen Alten zu Boden schlagen, die Tochter aber vor sich aufs Pferd nehmen und heimreiten in sein festes Haus ... Da mochten sie dann herkommen und Sturm laufen, er lachte nur und schickte sie mit blutigen Köpfen wieder fort. Was er einmal genommen hatte, gab er nicht mehr heraus ...

Aber das waren natürlich leere Hirngespinste, die so rasch wieder verflogen, wie sie gekommen waren. So hatte einmal vor jenen grauen Jahren einer seiner Vorfahren gehandelt, als man ihm die Geliebte ins Kloster gesperrt hatte, und in der Familienchronik war von dessen eigener Hand ein gar ergötzlicher Bericht zu lesen. Wie die Strelitzer Nönnlein geschrien hätten, als er an der Spitze seiner Reisigen vor das Kloster ritt und mit dem Schwertknaufe gegen das verschlossene Tor pochte: »De Jungfer Bredowin schall rutkamen, denn ehr Brüdgam stünn buten un hädd nich veel Tied« ... Der Wächter blies Sturm, die Klosterknechte liefen zusammen, aber es half ihnen nichts, was der Graf Römnitz sich vorgenommen hatte, führte er durch. Ein Dutzend Schädel wurden dabei eingeschlagen, aber was lag daran? Knechte gab es genug, und man löste sich hinterher mit einer Buße. Zehn Rostocker Silbergulden zahlte damals ein Herr für das Leben eines Knechtes, und das war mehr als genug, wenn man in Betracht zog, daß das Leben des Heilands einstmals um eine nur dreifach höhere Summe verkauft worden war ... Der Bericht des Römnitzer Grafen schloß mit der Bemerkung, der Ritt nach dem Strelitzer Kloster hätte die Aufwendungen verlohnt. Vier Söhne wüchsen ihm aus der Ehe mit der gebürtigen Bredowin heran, und jeder von ihnen verspräche, ein Edelmann nach dem Herzen Gottes zu werden ... Und zu ihrem Nutzen und Frommen hätte er das Abenteuer niedergeschrieben, damit sie sähen, daß ein Herr sich stets auf die eigene Faust verlassen müßte ... »Läwer Unrecht dauhn, as Unrecht lieden,« hieß es in der alten Chronik, »un wer dat Metz an rechten Ende hat, de hat ook gewonnen. Wenn uns' lewen Heiland liehrt hat, man müßt ook de annere Back hinhollen nah den ersten Streich, so liggt dat daran, dat hei keen gebürtigen Mecklenbörger west is. Dat is nich good fär de hiesigen Toständ, un doräwer werd eck mi mit emm utenannersetten, wenn wi in himmlischen Höhen uns' Kaltschaal drinken dauhn un de lewen Engelein maken mit Fläuten un Zymbal de Musik dartau« ...

So hatte der Graf Römnitz im Jahre des Heils 1480 geschrieben und etliche Jahre früher gehandelt. Sein letzter Nachkomme aber ließ es bei den bloßen Gedanken, spielte ein paar Augenblicke damit, was die Herrschaften der Umgebung wohl sagen möchten, wenn er eine Gewalttat begehen würde, aber das Grübeln und Nachdenken zerstörten den Entschluß, kaum daß er die Schwelle des Bewußtseins überschritten hatte ...

Er schob das Brieflein, das ihm der fremde Junge gebracht hatte, in die Brusttasche, schwang sich in den Sattel und setzte dem behäbigen Gaul die Sporen ein. Am Ende der Dammallee aber bog er nach links ein. Nach Hohenrömnitz, statt nach Alten-Krakow ... Und während er mit verhängten Zügeln den festen Weg entlang jagte, als wäre er auf der Flucht, schalt er sich selbst mit bittern Vorwürfen. Nach dem ersten Schmerze über den unwiderruflichen Abschied hatte sich in seiner Brust ein leises Gefühl der Zufriedenheit geregt, daß er nun ja auch frei wäre, tun dürfte, was ihm beliebte. Das war vielleicht recht kläglich, aber er war ja mit sich allein wie in jenen Stunden, als er mit verzweifeltem Hoffen einen letzten Ausweg suchte. Aus andrer Wirrsal, aber die Art war dieselbe. Eine gar seltsame Art des Suchens: man brauchte nur ein wenig die Augen zuzudrücken, und der Weg öffnete sich von selbst ... Zudem, beim zweiten Male empfand man nicht mehr dasselbe Schamgefühl wie beim ersten. Viel leichter schon setzte man sich über alle Skrupel hinweg, und viel williger stellten sich die Entschuldigungen ein ... Die Erwägungen, daß man mit dreiundzwanzig Jahren doch nicht schon ein fertiger Mann wäre und daß man für Irrungen immerhin die Entschuldigung der Jugend hätte als mildernden Umstand ... Kläglich, gewiß, aber aller Zorn gegen sich selbst verfing nicht. Ein lockendes Wunderland tat sich auf, weit hinten in der Ferne, köstliche Abenteuer warteten und geheimnisvolle Wege, die keines Menschen Fuß zuvor beschritten. Und nur ein einziges Bangen beschwerte die Brust, daß sich im letzten Augenblicke noch vor diesem Wunderlande ein Hindernis türmen könnte ...

Aber das Glück war günstig, der Abschied in Hohenrömnitz verlief zu Anfang glimpflicher, als er erwartet hatte. Wie immer verging eine geraume Weile, bis der anmeldende Lakai den Bescheid zurückbrachte, Seine Exzellenz wären für den Herrn Grafen zu sprechen. Der Erblandmarschall liebte es, seine Besucher warten zu lassen, und in seinem Hause ging es fast förmlicher zu als am großherzoglichen Hofe.

Mit beklommenem Herzen folgte Malte dem voranschreitenden Diener durch die Flucht der Halbdunkeln Prunkgemächer, in denen die steifen Möbel mit schützenden Überzügen standen. Ein seltsames Bangen überkam ihn jedesmal in dem alten Hause, und er vermochte es sich kaum vorzustellen, daß er hier einmal als Herr stehen sollte. Fremd sahen ihn die Bilder an den Wänden an, ein Frösteln zog durch die Zimmer und Säle, und fremd klang sein sporenklirrender Schritt auf dem spiegelnden Parkett. Drüben aber in Vellahn war es warm und heimelig, jeder Winkel war ihm vertraut, und von überall her grüßten liebe Erinnerungen ...

Über einen hallenden Korridor ging es, der zu dem bewohnten Flügel des Schlosses führte, Hirschgeweihe hingen an den Wänden schier ohne Zahl, alte Waffen dazwischen, und in einer langen Reihe standen die starren Eisenrüstungen der Römnitze aus jenen Zeiten, in denen eine gepanzerte Faust mehr gegolten hatte als ein ganzes Bündel verbriefter und gesiegelter Rechte. Die leeren Armschienen lagen auf dem Kreuzgriffe der hohen Schwerter, und über den geschlossenen Visieren thronte die Helmzier, der auf den Hinterpranken aufgerichtete, zum Angriffe schreitende Bär ...

Der Diener öffnete eine Flügeltür, Malte stand in dem Schreibzimmer seines Oheims. Durch helle Fenster grüßte der im ersten Frühlingsgrün prangende Park herein; an den bis zur Hälfte eichengetäfelten Wänden hingen im Laufe der Jahrhunderte eingedunkelte Bilder von etlichen Römnitzen, die sich in der langen Geschichte der Familie besonders hervorgetan hatten, bis zu jenem sagenhaften ersten Vorfahr hinauf, der als ein Lehnsmann Heinrichs des Löwen den eisenbewehrten Fuß auf slawisches Land gesetzt hatte. Im Burgfried des Vellahner Schlosses hing ein verrostetes Kettenhemd, das er der Überlieferung nach getragen haben sollte. Das Bild aber in Hohenrömnitz war das Phantasieerzeugnis eines höfischen Malers aus dem siebzehnten Jahrhundert. Und er hatte den Lehnsmann des Welfenherzogs gemalt, wie er ihn sich dachte. Als einen Reiter mit hohen Büffelstiefeln, einem blanken Küraß und breitem Federhut; mit einem Knebelbarte, wie ihn der bei Lützen gefallene Schwedenkönig getragen hatte, Spitzenaufschlägen an den Ärmeln und einem Korbdegen an der Seite. Aber unter dem in der rechten Ecke angebrachten Wappen, dem aufrechten Bären im weißroten Schilde, stand mit verschnörkelten Buchstaben zu lesen: » Winifredus Romeniciae comes, obiit anno Domini 1173«

Die Inschrift war das einzige an dem Bilde, was mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Eine urkundliche Überlieferung nämlich besagte, daß der Graf Winifred Römnitz bei der Verteidigung seines festen Hauses Vellahn gegen den aufrührerischen Wendenfürsten Ratis im Jahre 1173 gefallen wäre. Schon hätte er seinen Gegner im ritterlichen Zweikampfe gestreckt gehabt, als ihm ein schwirrender Heidenpfeil die Kehle durchbohrte ...

Unter diesem Bilde stand der Herr Erblandmarschall, wie er es zu tun pflegte, wenn es sich um Entscheidungen in wichtigen Familienangelegenheiten handelte. Gleich als wenn er sich unter den Augen des Ahnherrn eines glücklichen Ausganges im vornhinein versichert halten dürfte. Und keine Miene in seinem bartlosen Predigergesichte verriet, daß er längst schon wußte, was sich am vergangenen Tage zugetragen hatte ...

Mit einem gemessenen Neigen des Kopfes empfing er den Neffen, hörte schweigend zu, als dieser nach einigem Stocken die Erlaubnis zu einer geplanten längeren Auslandsreise erbat. Nach den Gründen fragte er nicht, begnügte sich mit der Angabe, es wären Verhältnisse eingetreten, die das Fortgehen für einige Zeit ersprießlicher erscheinen ließen als das Verbleiben in der Heimat. Danach verbreitete er sich mit einigen wohlabgewogenen Worten über den bildenden Nutzen solcher Auslandsreisen, wünschte dem Neffen mit einem kühlen Drucke der wohlgepflegten Hand eine gute Fahrt und glückliche Wiederkehr. Die Audienz war zu Ende, schon wollte Malte sich mit einem erleichterten Aufatmen zum Gehen wenden, aber es gab noch einen kurzen Aufenthalt. Der Kammerdiener Paalzow erschien in der zum Nebenzimmer führenden Tür, meldete nach einem fragenden Blicke, Ihre Exzellenz ließen um die Erlaubnis bitten, dem jungen Herrn Grafen Adieu sagen zu dürfen. Der Hausherr nickte mit einem Achselzucken Gewährung und wandte sich zum Fenster. Rührszenen liebte er nicht, und seine Gattin hatte leider allzu nahe am Wasser gebaut. Bei jeder Kleinigkeit flössen ihr die empfindsamen Tränen über die Wangen ...

Die Frau Erblandmarschall trat über die Schwelle. Eine kränkliche kleine Dame, die fast immer in Schwarz gekleidet ging. Sie gehörte der schier zahllosen Sippe der Bledows an, und in ausgeprägtem Verwandtschaftsgefühle trauerte sie bei jedem Todesfalle der in allen deutschen Landen verbreiteten Familie mit. Bald kürzere, bald längere Zeit, je nach dem näheren oder entfernteren Grade der Zugehörigkeit. Und im Laufe der Jahre hatte sich in ihrem leidenden Gesichte, das immer noch die Spuren einstiger Schönheit zeigte, ein seltsamer Zug ausgebildet. Als wenn sie immerfort um Entschuldigung bitten müßte, daß sie ihren einzigen Daseinszweck nicht erfüllt hätte. Als die zukünftige Stammutter eines neu aufblühenden Geschlechtes der Römnitze war sie in dieses Haus geholt worden, aber sie hatte die auf sie gesetzten Hoffnungen gröblich enttäuscht. Die Ehe des Herrn Erblandmarschalls war kinderlos geblieben, dem jüngeren Bruder aber wuchs aus glücklichem Herzensbunde ein blühender Knabe heran, nach Gesetz und Recht ein Erbe des Vaters und Oheims zugleich. Und noch ein andres Leid nagte ihr am Herzen. Sie wußte wohl, daß sie ein kümmerlicher Notbehelf gewesen, daß der ältere Römnitz sie nur geheiratet hatte, weil er von einer andern verschmäht worden war. Gegen diese andre hatte sie lange gerungen um die Liebe des Gatten, bis sie sehen mußte, daß aller Kampf vergebens war. Nicht einmal ihr Andenken vermochte sie auszulöschen, und da erschien es ihr zuweilen als eine gerechte Strafe des Himmels, daß ihm die heißersehnte Nachkommenschaft versagt blieb ...

Mit dem spitzenbesetzten Taschentuche in der seinen Hand trat die Frau Erblandmarschall auf den Neffen zu, schloß ihn bewegt in die Arme.

»Mein lieber armer Junge, du willst fort für längere Zeit, hat mir eben der Paalzow gesagt? Und was ist das nur für eine schreckliche Geschichte mit dem Alten-Krakower? Ist das nicht auf irgendeine Weise wieder gutzumachen?«

Der Herr Erblandmarschall wandte den hagern Kopf über die Schulter.

»Keine Emotionen, liebe Elfriede, bitte ich! Das sind Dinge, über die man am besten nicht spricht. Am allerwenigsten aber, wenn man nicht um Rat gefragt wird.«

»Lieber Christoph,« wandte die kleine Dame schüchtern ein, »er hat sich gewiß nur nicht getraut, er kennt ja deine schroffen Ansichten. Aber dein Wort gilt so viel ... versuch es doch einmal bei dem Baron von Köhnemann! Vielleicht stellt er sich, und Malte würde ja wohl vernünftig sein ... es muß doch nicht immer gleich auf Tod und Leben gehen! Ich habe ja schon oft gehört, daß in solchen Fällen eine Art von Komödie ausgeführt wird, bloß damit die liebe Nachbarschaft Ruhe hat?« ... Und da sie keine Antwort bekam, fuhr sie zaghafter fort: »So eine Reise ist schrecklich. Nach Afrika! Das ist doch nicht, als wenn man für ein paar Wochen nach der Riviera fährt ... Tausend Gefahren lauern ringsum, man sagt sich Adieu und weiß nicht, ob man sich jemals wiedersieht?« ...

Der Herr Erblandmarschall hatte sich wieder umgedreht, so daß sein Gesicht im Schatten stand. Und hart wie Steine fielen die Worte von seinen schmalen Lippen.

»Liebe Elfriede, ich wiederhole, ich bin nicht gefragt. Und das ist mir lieb. Ich möchte mich nicht mit dem Ruhme jenes alten Römers bedecken, der in der eigenen Familie Todesurteile sprach. Aber wenn ich meinem Neffen vorhin eine glückliche Wiederkehr wünschte, war das eine leere Redensart. Ich wünsche ihm in Wahrheit, daß er da draußen eine Gelegenheit findet, mit Ehren die Heimfahrt zu vermeiden. Hier ist kein Platz mehr für ihn, auf Hohenrömnitz haben nur Leute gesessen, deren Wappenschild blank war!«

Malte hatte schweigend dagestanden, die Zähne in die Unterlippe gegraben. Und plötzlich fuhr ihm durch die Seele ein heller Strahl, der verborgene Zusammenhänge enthüllte. Noch nie hatte er aus dem Munde des nächsten Verwandten ein Wort der Liebe gehört, und jetzt glaubte er zu wissen, weshalb ... Er richtete sich hoch auf, und seine blauen Augen blitzten.

»Ah nein, lieber Onkel, den Gefallen tue ich dir nicht, ich komme wieder! Mein Recht hier wahrzunehmen ... Fremde Leute waren milder als du, haben mir gezeigt, daß man ein kostbares Gut nicht fortzuwerfen braucht um einen wertlosen Flederwisch. Die Anschauungen der Menschen sind wandelbar, hat mich einer der Lehrer gelehrt, die du mir aussuchtest. Vor ein paar hundert Jahren noch wurde am Scheiterhaufen gesengt, wer anders war als der blöde Haufe ringsum, heute lachen wir darüber. Und wir leben in einer rascheren Zeit. Nach zwei Jahren vielleicht, wenn ich gesund aus Afrika heimkomme, lacht man darüber, daß einer aus dem Leben gehen sollte, weil er zu anständig dachte, die Hand gegen einen Greis zu erheben. Verrotteter Formelkram ist das, aber dir paßt er vielleicht ins Geschäft« ...

Der Herr Erblandmarschall zuckte mit den Achseln.

»Das sind billige Phrasen. Beklage dich bei dir selbst, wenn ich mich nicht freue, in dir meinen Nachfolger zu sehen. Aber ich kann es nicht ändern. Die diesem Hause die Gesetze gaben, konnten nicht voraussehen, daß es mal einem anheimfallen würde, der seine Ehre verwirkt hat!«

»Onkel Christoph,« schrie Malte auf, und die kleine alte Dame stammelte: »Um Gottes willen! Um Gottes willen, das ist ja ein blankes Todesurteil« ...

Der Herr Erblandmarschall wandte sich wieder zum Fenster, als wenn der Fall für ihn erledigt wäre. Malte aber trat dicht auf ihn zu, und heiß ging sein Atem.

»Ah nein, lieber Onkel, mit diesen Sachen habe ich mich abgefunden. Gestern und heute. Du hast deinen günstigen Augenblick verpaßt. Der war gestern nachmittag, als mir der Tüschower Lewenitz aus Alten-Krakow den Bescheid gebracht hatte. Da war es Zeit, und ich hätte vielleicht deinem Urteil gehorcht. Heute lache ich darüber, denn ich glaube zu wissen, woher es stammt. Und ich verspreche dir eins. Wenn ich hier der Herr bin, wird dein Andenken ausgelöscht. Keiner meiner Nachkommen soll erfahren, daß es einen Christoph Römnitz gegeben hat, der seinem Nachfolger den Tod wünschte« ...

Der ältere Graf Römnitz wurde bleich bis in die Lippen; unwillkürlich hob sich seine Hand. Aber der Jüngere stand gespannt und zur Abwehr bereit. Glühender Haß flog aus einem Augenpaar ins andere ...

»Es ist gut,« sagte der Ältere, »zieh hin! Wenn dir die Wiederkehr beschieden ist, kannst du handeln nach deinem Belieben. Herr ist Herr« ...

Malte wandte sich langsam ab. In einem der steiflehnigen Sessel saß die kleine alte Dame, vor Schreck in sich zusammengesunken. Er zog ihre seine Hand an die Lippen.

»Hab Dank, liebe Tante, ich weiß, du meinst es gut« ...

Mit klirrenden Sporen schritt er den langen Korridor zurück an den eisernen Rüstungen vorbei und den vielen Hirschgeweihen, durch die halbdunkeln Prunkgemächer bis zu der säulengetragenen Freitreppe, an der sein treuer Wotan stand, in der Obhut eines weißlivrierten Reitknechtes mit einem roten Kragen über dem langen Rocke. Er schwang sich in den Sattel und hob die Hand gegen den weitgestreckten Bau der Hohenrömnitz, über dem sich der aus Findlingssteinen gefügte Burgfried hob, so alt wie sein Geschlecht.

»Auf Wiedersehen,« sagte er, und in seiner Brust regte sich helle Freude. Wie ein Sieger jagte er die Straße entlang, die heimwärts nach Vellahn führte. Und er wunderte sich, daß er vor dem gefürchteten Oheim so kühne Worte gefunden hatte. Fast war es ihm, als hätte aus seinem Munde ein andrer gesprochen. Einer, der ihm vor Jahren einmal die breite Hand auf den blonden Scheitel gelegt hatte ...

»Mein Junge, nimm dich in acht vor dem Hohenrömnitzer, ich kann dich vielleicht nicht mehr lange bewahren. Zwischen ihm und dir steht etwas ... Das bißchen Erde, das er doch nicht mitnehmen kann; nur hätte er es gerne einem andern vererbt ... Einem, der ihm näher steht ... Denk daran, wenn ich nicht mehr bin, und nimm vorsichtig auf, was er dir rät« ...

Das hatte er mit einem Ohre gehört, zum andern aber war es ihm wieder hinausgegangen in seinem jugendlich-leichtfertigen Sinn; nur heute – Gott sei Dank – war es plötzlich in ihm aufgestanden, ganz wie von selbst. Daß er aber im heißen Zorn die rechten Worte der Abwehr gefunden hatte, dankte er einem andern. Einem rothaarigen kleinen Theologiekandidaten, der beim Gehen das linke Bein nachschleppte, auf sonnigen Waldwiesen aber mit heißem Eifer von allem sprach, was Menschenherzen bewegte. Der hatte ihm die Waffen geliefert zu dem Streit, und ein dankbares Grüßen flog in die Feme, irgendwohin, wo der kleine Rotkopf sein seltsames Evangelium predigen mochte ...

So ritt das junge Gräflein in Siegerfreude dahin, wunderte sich über seinen trotzigen Mut, nur über eines wunderte es sich nicht. Daß einem zur Überzeugung werden konnte, was man selbst vor wenigen Stunden noch als leere Ausflucht angesehen hatte ... Zwei gar tüchtige Advokaten hatten ihm die Überzeugung eingebleut. Die Todesfurcht und die Lust am Leben ...

Es dunkelte schon, als der alte Leibkutscher Fuhbel mit den vier Rappen vor der leichten Kalesche an der Vellahner Freitreppe vorfuhr. Der Leiterwagen mit dem Gepäck hatte sich bereits zwei Stunden früher auf den Weg nach Waren gemacht zu dem Berliner Schnellzuge. Zwei alte Leutchen standen auf der Freitreppe, tauschten leise Worte in dem lauen Frühlingsabend, der wie eine frohe Verheißung sich still über die Lande breitete. Die Rappen scharrten im Kies der Auffahrtsrampe, Graf Malte kam von der Diele her und schüttelte ein paar treue Hände.

»Ist gut, und macht mir das Herz nicht schwer« ...

Er sprang in den Wagen, Fuhbel hielt die Rechte an dem blanken Zylinderhut mit der rotweißen Kokarde. Er schnalzte leise mit der Zunge, und die Rappen zogen an. »Auf Wiedersehen« klang es von hüben und drüben, die beiden auf der Freitreppe standen aber noch lange, bis von dem fortrollenden Wagen nichts mehr zu hören war. Von dem Dorfe am Seeufer klang ein dreifaches Hurra herüber, das der Verwalter Bergemann dem scheidenden jungen Herrn mit den Kätnern ausbrachte.

»Ob hei woll wedderkömmt,« fragte Miken, wischte sich mit der arbeitsharten Hand über die Augen. Aber sie bekam keine Antwort. Lentz mußte plötzlich husten, weil ihm so eine verdammte kleine Seefliege mit eins in die unrechte Kehle gefahren war. Danach gingen sie auseinander, ein jedes an seine Besorgungen. Und es wurde für lange Zeit gar still und einsam auf der Vellahner Schloßinsel ... Wenn aber Graf Malte fern in Afrika unter dem funkelnden Kreuz des Südens die langende Sehnsucht nach der Heimat schickte, stellte sie ihm sich immer in dem Bilde zweier alten Leutchen dar, die auf einer efeuumsponnenen Freitreppe standen. Der Weißbart mit einer verwitterten Husarenmütze auf dem Kopfe, die er einem besondern Tage zu Ehren trug, und das alte Jüngferlein, ein ewiges Strickzeug zwischen den nimmer rastenden Händen. So standen sie wartend, wenn er sich zuweilen verspätet hatte bei der Heimkehr vom Alten-Krakower Galgenberge; zwei Paar treue Augen spähten die Dammallee entlang, die von der Schloßinsel zum festen Lande führte, und barmten sich, ob ihrem geliebten Sorgenkinde nicht ein unvermutetes Unglück zugestoßen wäre – – – –


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