Henryk Sienkiewicz
Ohne Dogma
Henryk Sienkiewicz

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Dritter Teil

Gastein, 23. Juni.

Seit acht Tagen sind wir hier: Anielka, ihre Mama, Tante und ich, und Kromitzki. Wenn ich mein Tagebuch eine Zeitlang ausgesetzt habe, so liegt die Ursache dazu nicht im Mangel an Lust zu dieser Arbeit oder weil ich der mir lieben Gewohnheit überdrüssig geworden sei, sondern daran, weil ich meine Stimmungen nicht in Worte habe kleiden können. Wer gegen eine Macht ringt, die ihn zu erdrücken droht, hat keine Gedanken für etwas anderes und keine Zeit zu etwas anderem. Der Pariser Scharfrichter Sanson erzählt in seinen Denkwürdigkeiten von einem Delinquenten, dem bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen und heißes Blei auf die Wunden gegossen worden sei, und der in seinem rasenden Schmerze in einem fort »da capo! da capo!« geschrieen habe, bis ihn Ohnmacht umfangen habe. So komme auch ich mir vor: ohnmächtig vor rasendem Weh, am Ende all meiner Kraft; mir ist, als lägen Zentnerlasten auf meiner Brust, die ich nicht von mir schütteln könnte. Daß es dem Menschen möglich sei, in dem Gefühl seiner Schwäche und seines Jammers so etwas wie Milderung, Besänftigung zu finden, wenn auch nicht Trost: das war mir damals noch nicht bekannt . . . Ich wünschte, dieser Zustand hielte recht, recht lange an, und kein Trieb zu neuem Ringen erwachte mehr in mir.

24. Juni.

Die wahre Liebe zu des Nächsten Weibe ist das größte Unglück, das einen Menschen treffen kann; als ich diese Worte in Warschau in mein Tagebuch schrieb, habe ich aber wohl kaum gewußt, aus welcher Unsumme von Qual sich dieses Unglück zusammensetzt; denn als ich sie schrieb, war Kromitzki noch nicht wieder zurück . . . An der Gurgel könnt ich ihn packen, an die Wand könnt ich ihn drücken und ins Gesicht schleudern könnt ich ihm die Worte: »Dein Weib liebe ich!« und ich muß alles aufbieten, daß er nicht einmal ahnt, welches Gefallen ich an ihr finde . . . ist das eine Rolle ihr gegenüber! welche Begriffe muß sie von mir bekommen!

25. Juni.

Den Tag von Kromitzkis Ankunft vergesse ich mein Lebtag nicht. Er stieg sans façon bei mir ab. Ich kam erst spät heim, sah im Vorzimmer allerhand Gepäck; aber daß es Kromitzki gehöre, ist mir im ersten Augenblicke nicht eingefallen. Da erblicke ich auf einmal im nächsten Türrahmen seinen mumienhaften Schädel mit den an ein paar Kaffeebohnen erinnernden kleinen funkelnden Augen, und mit dem schwarzen Haarschopfe; dann sehe ich, wie er sein Monocle niedergleiten läßt, wie er die Arme ausbreitet, um mich als neuen Verwandten zu begrüßen. Mir war es ums Herz, als sähe ich den leibhaftigen Tod vor mir; und wie in einem schweren Traume drangen mir die Worte zu Ohren: »Na, wie geht's, Leon?« die mir vorkamen wie das Allerunglaublichste, Allerunwahrscheinlichste von der Welt. Ich mußte mit aller Gewalt an mich halten, denn in dem Grimm, der mich packte, und in dem Schreck, der mich befiel, fehlte nur wenig, so wäre ich über ihn hergefallen und hätte ihn niedergeschmettert. Zorn ist mir so wenig wie Abscheu etwas Neues im Leben, wohl aber war mir die Beimischung von Schrecken neu, die mich berührte nicht wie Angst vor einem Lebendigen, sondern wie Grauen vor einem Gespenste . . . ich war geraume Zeit nicht imstande, ein Wort über die Lippen zu bringen. Daß mich der Mensch wie seinen nächsten Verwandten mit Du anredete, wurmt mich heute noch schändlich. Wohl in der Annahme, daß ich ihn nicht gleich erkannt und deshalb noch kein Wort auf seine Anrede erwidert habe, klemmte er sein Monocle wieder ins Auge, drückte mir nochmals die Hand und fragte neuerdings: »Aber wie geht's Dir denn? was macht denn Anielka? die Mama ist wohl noch krank? wie? und die Frau Tante? äh!« Ich war wieder wie außer mir vor Wut, aus seinem Munde Worte über diese mir so teuren Frauen zu hören, die sich anhörten, als seien sie es ihm nicht weniger; ich dachte wirklich, die Geduld werde mir reißen; um einen Blitzableiter zu haben, rief ich nach der Dienerschaft und bestellte Tee. Endlich fiel es ihm aber doch auf, daß ich ihm gar keine Antwort gab, und er ließ das Monocle wieder fallen, und fragte lebhaft: »Warum sagst Du mir denn gar nichts? was ist denn mit Dir?« – »Es ist alles gesund,« antwortete ich. Da kam mir auf einmal der Gedanke, daß ja meine Erregtheit den verabscheuten Patron in Vorteil gegen mich setzte, und ich tat mir Gewalt an, führte ihn ins Speisezimmer und forderte ihn auf, sich zu setzen . . . Dann fragte ich ihn mit aller Ruhe, die ich über mich gewinnen konnte: »Was hast Du denn Neues? gedenkst Du jetzt längere Zeit hier zu bleiben?« – Er erwiderte: »Darüber kann ich noch nichts sagen. Ich habe mich begreiflicherweise auch einmal nach meiner Frau gesehnt, und sie wohl auch nach mir; wir sind nach der Hochzeit bloß ein paar Wochen zusammen gewesen; für ein junges Ehepaar ist das doch knapp . . . ist das nicht Deine Meinung auch?« er grinste hölzern und machte noch den Beisatz: »Ich habe übrigens auch hier Geschäfte . . . immer Geschäfte, Geschäfte, Geschäfte!«

Als wir den Tee eingenommen hatten, brachte ich Kromitzki nach dem für ihn bestimmten Zimmer, wo er mit dem Diener zusammen seine Sachen auspackte. Dabei schwatzte er in einem fort. Manchmal unterbrach er seine Arbeit, um mir irgend eine Rarität zu zeigen, die er aus Asien mitgebracht hatte; z. B. zwei kleine Fußteppiche, die er aus dem Plaidriemen schnallte. »In Batum gekauft,« sagte er, »hübsch, nicht? will ich zu Bettvorlegern haben: einen vor meinem, einen vor Anielkas Bett.«

Er war inzwischen müde geworden und schickte den Diener fort. Dann ließ er sich in einen Sessel nieder, um über seine Pläne und die Hoffnungen, die er darauf baute, zu schwatzen. Mich interessierte kein Wort von ihm, denn meine Gedanken weilten ganz wo anders; zunächst beschäftigte mich die Frage, ob Kromitzki mit nach Gastein fahren werde oder nicht. »Ich habe Dich bisher nicht genauer gekannt, aber jetzt die Meinung von Dir gewonnen, daß Du Geld machst; Du scheinst kein Atom von Leichtsinn zu besitzen und wirst wegen Herzensrücksichten niemals Wichtiges verpassen.« Er drückte mir mit Wärme die Hand und sagte: »Du kannst Dir gar nicht denken, wieviel mir gerade an Deiner guten Meinung liegt.« – Ich maß diesen Worten keinen besonderen Wert bei; denn ich stand zu sehr unter dem Eindruck des Vorwurfs, den ich mir darüber machte, daß ich dem Menschen gegenüber mich zum Lügner gemacht hatte: ich glaubte an alles andere eher, als daß er geschäftsmännische Begabung besäße, und während ich ihn am liebsten ersäuft oder vergiftet hätte, hatte ich ihm geschmeichelt . . . nichtsdestoweniger gab ich mir auch weiter noch Mühe, ihn von Gastein fern zu halten, watete also weiter in dem moralischen Schlamme. »Die Badereise der Damen kommt Dir also recht ungelegen?« . . . Nun jammerte er, daß seine Schwiegermutter aus ihrer ewigen Krankheit nicht herauskäme, daß ihm diese Reise freilich gar nicht gelegen käme, daß sie ganz ebenso gut unterbleiben könnte, ohne daß jemand Schaden davon hätte, daß alles seine Grenzen haben müsse, auch die Kindesliebe, und daß der Mann doch heirate, um eine Frau zu haben, nicht aber, um sich von der Schwiegermutter fortwährend in aller Gemütlichkeit stören zu lassen. »Na, ich bin nun einmal Kaufmann,« sagte er schließlich, »und bestehe auf dem Kontrakte, den ich abgeschlossen habe.« – »Also fährst Du mit nach Gastein?« – »Selbstverständlich, und zwar aus allerhand Gründen: vor allen Dingen müßt Ihr mich doch alle besser kennen lernen, müßt erst Vertrauen zu mir gewinnen; und da ich vier oder sechs Wochen schließlich noch abstoßen kann, wirst Du wohl einsehen, daß man, wenn einem solch Weib wie Anielka beschert worden ist, auch mal längere Zeit mit ihr unter einem Dache hausen möchte.« Dabei grinste er mich an, daß ich all seine gelben, angefaulten Zähne sehen mußte, und schlug mich mit der Faust aufs Knie, während sich sein Gesicht zu einer Faunsfratze verzog. Mir wurde es zu Mute, als ob mir das Hirn zu Eis gefröre. »Wann fährst Du nach Ploshow?« fragte ich, mich mit Gewalt dazu zwingend. – »Morgen.« – »Gute Nacht!« – »Gute Nacht!« entgegnete er, das Monocle wieder fallen lassend; dann aber hielt er mir beide Hände entgegen und sagte noch: »Ich kann Dir gar nicht sagen, welche Freude mich erfüllt darüber, daß wir einander nun doch näher treten; ich habe ja immer eine Art Faible für Dich gehabt. Jetzt denke ich, wir werden einander ganz gut verstehen.«

Wir einander verstehen! Der Kerl ist doch gräßlich dumm! aber je dümmer er ist, desto gräßlicher ist mir das Bewußtsein, daß Anielka ihm gehört, daß sie weiter nichts für ihn ist als ein Artikel, eine Sache.

Ich habe mich heute nacht nicht ausgekleidet, es auch gar nicht erst versucht . . . es gibt also Situationen, in denen man zu begreifen und zu empfinden aufhört, daß man Qualen leidet, ohne daß sie aufhören? Ich habe das nie vorher gewußt, weiß es jetzt aber sehr genau . . . es steht uns also ein famoses Leben bevor! Wie ein Paradies kommen mir im Vergleich zu heute die Tage vor, die ich für das Nonplusultra von Elend hielt, weil Anielka meine Liebe von sich stieß. Träte heute der Teufel vor mich hin und begehrte meine Seele dafür, daß alles bleiben solle, wie es war, bloß Kromitzki solle nicht sich sehen lassen, so verkaufte ich ihm vom Flecke weg meine Seele. Ein Mann, der sich von einem Weibe abgewiesen sieht, gewinnt unwillkürlich die Vorstellung, daß dieses Weib auf so unerreichbarer Höhe stehe, daß er die Augen gar nicht zu ihr erheben dürfe. Mir wenigstens ist es mit Anielka so gegangen. Mit einem Mal erscheint da ein Kerl, wie dieser Kromitzki auf der Fläche, mit zwei Bettvorlegern, die er in Batum in irgend welchem Trödel gekauft hat, und zerrt sans façon dies Weib von ihrem Piedestal herunter auf seine Bettvorleger . . . sie! die Unerbittliche, die Unbezwingliche, die Vestalin! ein gräßlicher Gedanke, besonders wenn man selber dabei so greulich banal und albern sein kann! Wie habe ich mir den Schädel zermartert, um mir zu beweisen, die Liebe vernichte jeden Ehevertrag, mithin sei Anielkas Liebe mein gutes Recht, und was habe ich jetzt? meine Theorien! und was hat Kromitzki? Anielka!

Das Lamm trägt, wie man sagt, soviel Wolle, wie es Wind vertragen muß, und so meine ich, daß auch dem Menschen die Haut platzt, wenn Stürme darüber hin fegen, auf deren Rauheit sie nicht eingerichtet ist. Wie kommt es, daß mir, seit Kromitzki da ist, Anielka verächtlich wird? Daß eine Frau, die verheiratet ist, ihrem Manne gehört, weiß ich so gut, wie jeder andere Esel, und doch erscheint mir diese Wahrheit als eine Herabwürdigung Anielkas. Warum? Aber was gehen mich Gründe an? Ich verachte sie: und das eben ist es, was ich nicht zu ertragen vermag! das eben ist es, was mir das Leben unleidlich macht, was mir verbietet, unter diesen Umständen weiter zu leben.

Es muß anders werden, vollständig anders werden . . . aber wie? könnte meine Verachtung meine Liebe erwürgen wie der Wolf das Lamm, so wäre das ja die größte Wohltat; aber die Empfindung, daß dies keine so einfache Sache war, ist mir nicht ausgeblieben. Ich verachte sie ja bloß, weil ich sie liebe; solche Verachtung bildet also lediglich ein neues Glied meiner Kette. Für mich hat alles auf der Welt sein Interesse verloren außer diesem Ehepaare und ihrem Verhältnis: mich kümmert weder Licht noch Finsternis: weder Krieg noch Friede, weder Himmel noch Erde. Außer diesem Anteil am Leben dieses Menschenpaares habe ich keine Berechtigung zum Leben; was aber bleibt mir übrig, wenn ich aus ebendiesem Grunde nicht weiter leben kann? Merkwürdig, daß mir das Einfachste, das Nächstliegende – der Tod – nicht früher eingefallen ist . . . welche ungeheure Macht in der Hand des Menschen ist doch diese Möglichkeit, den Faden zu zerschneiden! Schon der Gedanke ist Erleichterung, daß letzten Endes alles abhängig ist vom Selbstwillen. Eine reichliche Stunde blieb ich noch auf dem Sofa liegen, überlegend, wie ich es tun würde, und wann? Der Gedanke lenkte mich ab von Kromitzki und meinem Hasse, und auch das war eine Erleichterung. Wer sich vornimmt, aus dem Leben zu scheiden, muß sich natürlich mit anderen Dingen befassen als mit seinem Elend. Es gibt allerhand zu ordnen, und auch manches vorzubereiten. Mir fiel zunächst ein, daß mein Revolver zu kleinkalibrig sei; ich erhob mich vom Sofa, um ihn mir anzusehen. Dann beschäftigte mich die Frage, wie sich's am besten einrichten lasse, daß alles den Eindruck eines Zufalls mache. Diese Erwägungen waren jedoch alle theoretischer Natur, denn ich konnte mir nicht verhehlen, daß ich heute und morgen an diesen Schritt nicht denken würde, nicht denken könnte . . . aber ich kannte nun doch die Pforte, durch die ich entschlüpfen konnte; jetzt hatte es einen gewissen Reiz für mich, abzuwarten, wie sich das Uebel entwickeln und welche Qual noch über mich kommen werde . . . endlich senkte sich der Schlaf auf meine Lider; aber der Schlaf erquickte mich nicht, wirre Träume peinigten mich von Kromitzki und Kromitzkis Monocle und Kromitzkis Gepäck und meinem Revolver und seinem zu kleinen Kaliber und von allerhand anderen Dingen und Menschen sonst . . . ich erwachte erst spät, und als mich der Diener hörte, meldete er mir, Kromitzki sei schon unterwegs nach Ploshow. Ich ließ vorfahren, denn ich wollte ihm nach, um Zeuge ihres Wiedersehens zu sein; aber kaum saß ich im Wagen, so überkam mich die Empfindung, daß ich durch diesen Anblick den Weg zu jener Pforte am Ende doch zu schnell finden möchte . . . und ich hieß den Kutscher anderswohin fahren.

27. Juni.

Es kommt mir oft der Gedanke, daß einst mir Anielkas Liebe gehört hat, und daß ich sie heute als Frau besitzen könnte . . . o, wie weit hinter uns liegt dies alles! und ich, der ich heut hätte ein sonniges, wonniges Leben führen können, hab' mir dies alles vernichtet mit meiner unglückseligen – Philosophiererei? nein! mit meiner blöden Lebensuntauglichkeit! . . . Aber war mir denn dieses Weib, und sein Besitz, auch wirklich sicher? hätte ich sie wirklich für ewig mein nennen können? oder machen sich vielleicht die Anfänge von Geistesverwirrung bei mir geltend? . . . nicht doch! es ist keine Einbildung, kein Wahn! denn ich habe doch dies alles erlebt, ich weiß doch jede Phase noch vom ersten Moment unserer Bekanntschaft an bis zu dem heutigen Tage . . . und da ich das weiß, ist mir der Gedanke, daß Anielka jetzt mein sein könnte, daß sie mir so treu sein würde wie diesem Kromitzki . . . so treu? nein! treuer, auch im Geiste treu, sein würde, so gräßlich . . . wie gesagt, meiner Lebensuntauglichkeit verdanke ich mein Unglück, aber einer Lebensuntauglichkeit, die mir angeboren ist als einem Nachkommen eines verlebten Geschlechtes . . . Das entschuldigt mich, ist aber kein Trost! . . . Meine Liebe trug den Keim der Tragödie in sich: sie muß schlimm endigen; und dagegen anzukämpfen mag ich gar nicht versuchen, denn auch der Kampf brächte mir Verderben!

28. Juni.

Also wir sind in Gastein, und das Bad sowohl wie die kräftige Luft dieser herrlichen Gegend verrichten Wunderdinge im Zustande von Anielkas Mutter, die sich mit jedem Tage wohler fühlt. Ich erweise ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit, wie der eigenen Mutter, und sie gewinnt mich von Tag zu Tag lieber. Sie empfindet Dankbarkeit gegen mich, wie ja auch Anielka, schon aus Rücksicht auf die Mutter, mir solche bezeigt; ich glaube bestimmt, daß sie auch täglich tiefer bereut, denn sie kann sich doch der Erwägung nicht verschließen, daß wir ganz anders leben könnten, weit zufriedener, weit glücklicher, wenn alles sich so verhielte, wie es sich hätte verhalten können; mir schwindet auch jeder Zweifel in betreff ihrer Liebe zu Kromitzki: treu ist sie ihm und wird ihm auch treu bleiben, aber von Liebe zu ihm weiß ihr Herz sicher nichts. Kromitzki mag ja in sie verliebt sein: das kann man aus den Mienen schließen, die er schneidet, wenn er ihr kosend mit der Hand über das Haar streicht oder sie auf die Stirn küßt, vielleicht freilich auch mit aus dem Grunde, sich als liebenden Gemahl und sein Verhältnis zu Anielka als ein recht glückliches erscheinen zu lassen; aber Anielkas Gesichtsausdruck straft ihn dann immer schmählich Lügen: sie sieht dann wirklich immer aus, als sänke sie lieber in die Erde, statt sich von diesem Manne eine Liebkosung in Gegenwart Fremder gefallen zu lassen. Immerhin erträgt sie sie, ja sie lächelt sogar dazu; ich ertrage es auch und auch mit Lächeln, aber ich vergrabe dabei die Fingernägel in der Brust und kratze mir die Brust blutig dabei. Ich frage mich oft, ob diese Priesterin der Diana gegen ihren Mann nicht am Ende doch freundlicher sein mag, wenn sie allein mit ihm ist, verbeiße mir aber diese Gedanken, weil mir mein Gefühl sagt, der geringste Anlaß reiche aus, dem Fasse nunmehr den Boden auszustoßen und mich um den Rest meiner Gewalt über mich selbst zu bringen. Die Situation ist gräßlich für Anielka und gräßlich für mich. Es quält und ängstigt sie, daß meine Liebe sich in Haß und Verachtung zu wandeln anfängt, und daß ich Ironie zu zeigen liebe; es sieht mir oft so aus, als wenn sie sagen möchte, daß sie doch unschuldig an allem sei, und daß sich das ja auch nicht anders verhält, kann ich ja mir selbst gegenüber nicht in Abrede stellen. Aber trotzdem kann ich mich anders nicht gegen sie benehmen, wenn ich auch recht gut weiß, daß ich damit nicht bloß sie, sondern auch mich kränke, mich wohl noch mehr, denn sie kann mir verzeihen, ich mir selbst aber nie.

29. Juni.

Dieser Kromitzki hat gemerkt, daß zwischen mir und seiner Frau Verstimmung herrscht, und erklärt sich das auf eine seiner so recht würdige Weise: indem er nämlich meint, ich hasse sie, weil sie ihm den Vorzug gegeben habe. In meinem Verhalten erblickt er nichts weiter als gekränkte Eitelkeit: nun, dazu muß man ein – Ehemann sein . . . mir gegenüber benimmt er sich nachsichtig und großmütig à la vornehmer Sieger. Ich meine, so dumm könne bloß ein Mensch sein, der eitel ist wie ein Pfau . . .

Ein wunderlicher Kauz, dieser Kerl! Tag für Tag läuft er ins Hotel Straubinger, um über die Paare, die sich dort in der Wandelbahn ergehen, die erbärmlichsten Kombinationen zu machen: grinsend über die seiner Meinung »gehörnten« Ehemänner, daß man all seine fauligen Zähne sehen kann; und sobald er meint, eine neue Entdeckung auf diesem Gebiete gemacht zu haben, wird er so fidel, daß er reichlich ein Dutzend mal sein Monocle ins Auge klemmt und wieder niedergleiten läßt; und dabei würde dieser selbe Mensch, in dessen Augen eheliche Untreue bei anderen lediglich Ursache zu faulen Kalauern ist, sie für das gemeinste und verabscheuungswürdigste Verbrechen ansehen, sobald sie ihm passierte . . . um Rache zum Himmel schriee er in allen Tonarten; und warum, Du Pinsel? was für ein Kerl bist denn Du? tritt doch vor den Spiegel und guck Dir Deine Kaffeebohnen-Augen an, Dein schwarzes Zottelhaar und Dein langes Knochengerippe, – alles Merkmale dafür, daß Du doch sicher Tatarenblut von irgend einer nach Deinem Heimatsnest in Oesterreichisch-Schlesien versprengten Horde noch in Deinen Adern hast . . . führ' Dir die jämmerliche Seele vor Augen, die in Deinem Kadaver steckt, und dann frage Dich, ob ein Weib wie Anielka dazu verdammt sein könne, Dir auch nur auf Zeit von einer Stunde die Treue zu wahren! Frage Dich doch, auf welche Weise Du zu diesem Weibe als geistiger und physischer Trottel gekommen bist? . . . Ich mußte einhalten, denn so abgestumpft ich auch war, so fühlte ich doch, daß mein Gleichgewicht ins Wanken kam. Aber – er mag sich trösten, denn ich bin ja auch nicht besser als er, meine Handlungsweise ist sogar noch unedler als die seinige, denn er braucht mir gegenüber sich nicht zu verstellen, während ich ihm gegenüber dazu gezwungen bin, denn ich muß mit ihm rechnen, muß mich nach ihm richten. Muß ich mich nicht vor mir selbst schämen, daß ich ihn mit Tinte begeifere, statt ihm die Gurgel umzudrehen? Machen nicht Sklaven ihrem Herrn eine Faust in der Tasche?

30. Juni.

Heute habe ich den Schluß einer ziemlich lauten Auseinandersetzung zwischen Anielka und Kromitzki von der Veranda aus gehört. »Mit ihm rede ich schon,« sagte Kromitzki, »aber Du mußt der Tante sagen, wie die Sachen liegen.« – »Niemals,« erwiderte Anielka. – »Darum muß ich aber doch sehr bitten,« sagte er darauf mit scharfem Nachdruck.

Ich begab mich von meinem Platze weg, um nichts weiter zu hören; aber Anielkas Gesicht verriet einen herben Verdruß, den sie mir jedoch zu verheimlichen suchte; Kromitzki dagegen war bleich vor Wut, reichte mir aber lächelnd die Hand. Zuerst hatte ich gedacht, Anielka habe ihrem Manne bekannt, wie es um uns stände, und es bangte mir nun, wenn nicht vor seinem Zorne, so doch davor, daß er sie anderswohin bringen könne. Was sollte aus mir werden, wenn ich erlöst von meinen Qualen, von meinen Martern wäre? Ohne sie müßte ich seelisch verhungern, denn sie sind ja meine einzige Speise! Lieber alles andere als Anielka nicht mehr sehen! . . . Ich zermarterte mir die ganze Zeit über den Kopf mit der Frage: wovon mochte Anielka mit Kromitzki gesprochen haben? Bezüglich einer Beichte Anielkas mußte ich mich doch geirrt haben, denn wäre es an dem gewesen, so hätte er doch sein Benehmen gegen mich geändert: und ich muß sagen, er ist sogar noch freundlicher geworden . . . Ja, wäre er mir nicht so zuwider, so hätte ich eigentlich keine Ursache, mich über ihn zu beklagen; er ist wirklich so nachgiebig gegen mich wie gegen eine nervöse Frau: er ist sichtlich bemüht, mein Vertrauen zu gewinnen. Schroffe oder ironische Entgegnungen nimmt er mir nicht übel, auch nicht, wenn ich ihn derb fühlen lasse, daß er keine Bildung, kein feines Taktgefühl besitze. Geduldig läßt er es über sich ergehen, daß ich keine Gelegenheit versäume, Anielka von dem geringen Werte seines Geistes und seines Gemütes die richtige Meinung beizubringen. Vielleicht ist dies der Fall aber nur mir gegenüber? Ich vermute, Anielka fürchtet sich vor ihm; aber mir scheint, sie fürchtet sich jetzt vor jedem Manne, auch vor mir . . . ich habe Kromitzki übrigens heute zum ersten Male grob gegen Anielka gesehen: er wurde ganz grün im Gesicht; das soll die Farbe sein, die bei innerlich verbissenen Menschen zutage tritt, wenn sie in Wut geraten. Ich habe mich auch in Anielkas Temperament, wie es scheint, geirrt: sie ist nicht jene passive Natur, die ich meinte unschwer mit mir fortzureißen; ich weiß ja nicht, was Kromitzki ihr zumutete, aber es duldet keinen Zweifel, daß sie es nicht tun wird, denn sie hat es ihm abgeschlagen, wenngleich sie vor Furcht zu zittern schien . . . O, wenn sie doch mein wäre! wie ein Hund wollte ich ihr anhängen, auf Händen wollte ich sie tragen, jedes Stäubchen wollte ich von ihren Füßchen blasen, und lieben – lieben wollte ich sie bis in den Tod . . .

1. Juli.

Es muß zwischen den beiden Menschen doch etwas passiert sein; sie mögen es sich nur nicht merken lassen. Schon ein paar Tage lang widmet er ihr keine Liebkosung mehr: mich freut das ungemein; leider verdirbt mir Anielka diese Freude: es kommt mir vor, als ob sie ihm etwas abbitten wolle, als ob sie alles wieder ins alte Gleis führen wolle. Darüber gerate ich in maßlosen Grimm und lasse ihn Anielka fühlen. So hart gegen sie und gegen mich wie jetzt bin ich noch nie gewesen . . .

4. Juli

Heute habe ich Anielka in der Wandelbahn getroffen. Sie blieb stehen, sprach ein paar Worte, die ich aber nicht hörte, weil die Wasserfälle zu laut rumorten . . . ich führte sie, weil mich das ärgerte, von der Brücke auf den Weg, der zu unserer Villa führt, und herrschte sie an: »Ich hab' kein Wort verstanden von dem, was Du in der Wandelbahn sagtest.« – »Ach, ich wollte Dich ja nur fragen, warum Du so garstig gegen mich bist? Hast Du denn gar kein Mitleid?« Mir jagte alles Blut zum Herzen. »Erkennst Du denn nicht, daß ich Dich liebe? wahnsinnig liebe? Ich verlange nichts von Dir, nichts, darüber sei ruhig, bloß eins, Anielka! sage mir, daß Du mich liebst . . . dann will ich mein ganzes Elend tragen, ohne zu murren, und will Dir dienen, bis der Tod mir naht . . . Dies eine Wort sprich, Anielka! rette mich mit diesem einzigen Worte!« – Sie wurde so weiß wie der Wasserschaum der Kaskade, die Stimme versagte ihr eine Weile, dann stöhnte sie: »Um alles in der Welt nicht solche Rede!« – »Du willst es nie sprechen, dieses Wort?« – »Nie! nie!« – »Aber bedenke doch, daß Du keine Spur von . . .« aber ich hielt inne, denn mir schoß es zu Sinne, daß sie anders, weicher sein möchte, wenn Kromitzki sie um dieses eine Wort bäte . . . und hierüber ging mir alle Besinnung verloren . . . es brauste mir in den Ohren, es wurde mir schwarz vor den Augen . . . ich wußte nicht mehr, was ich machte . . . ich warf ihr gemeine Worte ins Gesicht, rohe, zynische Reden, wie sie kein anderer Mann gegen ein wehrloses Weib zu brauchen gewagt hätte . . . O, was für entsetzte Augen meine Anielka machte! wie ein Traumbild stehen sie mir vor den Augen . . . ach, und mit welchem wilden Schreck sie mir den Arm schüttelte und rief: »Um Gottes willen, Leon, was ist mit Dir?« – Was mit mir sei? verrückt war ich, komplett verrückt! weiter war nichts mit mir . . . ich rannte hinweg, ließ sie stehen. Nur eins begriff ich: die Zeit, ein Ende zu machen, war gekommen! es fuhr mir wie ein Blitz durch das Gehirn . . . wenn ich mich vom Felsen in die Tiefe stürzte, das könnte aussehen wie Zufall, und nach solcher Gelegenheit war ich ja auf der Suche gewesen! Mich in meinem Zimmer zu erschießen, wäre doch einem Mord an der Tante gleichgekommen, denn wie hätte sie diesen Schlag überleben sollen? . . . Aber ich entschied mich nicht dafür! alle Verbindung zwischen Gedanke und Willen und Tat schien zerrissen zu sein . . . und trotzdem ich erkannte, daß die Kugel dem Sturz in die Tiefe nachstünde, rannte ich doch in mein Zimmer, den Revolver zu holen . . . warum? Ich weiß nicht!

Als ich im Zimmer den Kofferschlüssel suchte, um den Revolver zu finden, klangen draußen schnelle Schritte: ha! Anielka ahnt, was du willst! sie kommt, deine Tat zu hindern! . . . Da wurde die Tür aufgerissen, und die Tante stand keuchend auf der Schwelle . . .

»Anielka ist krank geworden! Leon, renne doch zum Arzte!«

Ohne den Hut aufzusetzen, rannte ich die Treppe wieder hinunter, und keine Viertelstunde war verstrichen, so war auch der Doktor zur Stelle. Es war aber schon alles wieder gut, als wir kamen, und mit einigen Worten beruhigte uns der Arzt, als er sich auf der Veranda wieder einfand: »Eine Nervenaffektion, wie wir sie oft zu konstatieren haben in der ersten Zeit nach dem Bädergebrauch. Ich rate, die Dame unterbricht die Kur auf ein paar Tage und bewegt sich recht viel in frischer Luft. Sie ist ja gesund und kräftig und wird die Affektion, die tatsächlich nicht viel auf sich hat, schnell überstanden haben.«

Ich gelobte mir, anders gegen sie zu werden und diesen Kromitzki mit Ruhe zu ertragen . . . Reue, tiefe Reue: das war jetzt mein Gemütszustand . . . o, wie unaussprechlich liebte ich doch dieses Weib! Ich hätte weinen mögen wie ein Kind!

5. Juli.

Auf die Aufregung ist Ruhe eingekehrt: es ist, als ob die Wolken ihren ganzen Vorrat von Elektrizität entladen hätten: ich habe eine Empfindung von namenloser Schwäche: körperlicher sowohl wie seelischer! aber mit Anielka ist es besser geworden. Wir trafen uns auf der Veranda. Wir waren allein. Ich rückte ihr einen Schaukelstuhl heran und gab ihr ein Tuch um: es ist in der Frühe noch recht kühl. Dann bat ich sie wegen der bösen Reden von gestern um Verzeihung. »Vergib und vergiß, meine teuerste Anielka! ich selbst kann's mir nie verzeihen.« Anielka streckte mir die Hand entgegen; sie verstand mich, daß ich mir alle Gewalt antun mußte, um nicht laut zu stöhnen, während ich heiß und innig meine Lippen auf diese Hand drückte, denn sie entzog sie mir nicht; auch ihr ward es nicht leid, die Erschütterung zu verbergen, die sie befiel: denn sie begriff die ganze Stärke meiner Liebe, die so ganz abseits von allen anderen Empfindungen des Menschenherzens sich hielt . . . Es verging einige Zeit: dann fand sie die Herrschaft über sich wieder, ihr Gesicht fand den heiteren Zug wieder und jenen herrlichen Ausdruck unendlicher Güte und unsagbarer Ergebung, der mich so oft schon so tief ergriffen hatte.

»Leon,« sagte sie, »nicht wahr? wir wollen uns wieder vertragen?« – »Ja, Anielka,« antwortete ich, »das wollen wir.« – »Für immer?« – »Was soll ich Dir auf dieses Wort erwidern, mein guter Engel? Du weißt doch, wie es aussieht in meinem Innern!« Es war, als glitte ein Schatten über ihre Augen, aber sie bezwang sich. »Wie gut Du bist!« sagte sie. – »Ich, und gut?« erwiderte ich in ehrlicher Entrüstung, »o, Du weißt nicht, was gestern geschehen wäre, hätte Dich nicht jener Anfall von Krankheit ereilt . . . ich hätte mich . . .« aber ich vollendete nicht, denn es wurde mir im Nu klar, welche niederträchtige Handlung es wäre, sie ausbeuten zu wollen dadurch, daß ich sie in Angst jagte. – »Was hast Du sagen wollen?« fragte sie mich voll Unruhe, einen erschreckten Blick auf mich richtend . . . und ich fühlte, wie mir die Schamröte ins Gesicht schoß . . . »Was wolltest Du sagen?« wiederholte sie ängstlicher als vordem. – »Nichts, nichts,« wehrte ich ihr, »oder etwas, vor dem ich mich schämen müßte, das übrigens heute gar keine Bedeutung mehr hat!« – »Leon, ich muß es wissen,« sagte sie, »denn ich fände sonst keinen Augenblick Ruhe mehr.« – »Anielka,« erwiderte ich, »fordere dies Bekenntnis nicht von mir! ich kann es nicht in Worte kleiden. Aber nimm mein Versprechen an seiner Statt, daß Du keinen Grund mehr haben sollst, auch das Geringste nur zu fürchten.« – »Gibst Du mir Dein feierliches Wort darauf?« fragte sie, den Blick zu mir erhebend. – »Mein feierliches Wort!« erwiderte ich, indem ich ihren Blick erwiderte; »Anielka, was geht denn vor in Deinem kleinen, lieben Köpfchen?«

Der Postbote kam. Er brachte Briefe für Kromitzki aus dem Orient, für Anielka von Sniatynski – ich erkannte seine Handschrift – für mich von Klara Hilst: sie schrieb von sich selbst so gut wie nichts, die gute Seele, bat mich aber um so lebhafter um Auskunft, wie es mir erginge.

Frau Celina, die sich schon so weit erholt hat, daß sie ohne Hilfe gehen kann, trat in die Tür, mit einer Fußbank für Anielka in der Hand. Wir waren gerade mit Lesen fertig. »Aber, Mama!« rief Anielka in vorwurfsvollem Tone, »wie kannst Du bloß . . .« – »Nun, ich dächte doch, Du hättest mich doch auch gerade genug während meiner Krankheit bedient?« erwiderte Frau Celina. Aber ich bat sie, mir den Schemel zu geben, und kniete vor Anielka hin, um erst wieder aufzustehen, als sie die kleinen zierlichen Füße darauf gestellt hatte . . . Diese Sekunde vor ihr gekniet zu haben, machte mich für den ganzen Tag zum glücklichen Menschen.

So geht es nun in dieser armen Welt: der Aermste unter den Armen, der von den Brosamen lebt, dankt noch lächelnd, wenn er sie weinend aufliest.

7. Juli.

Wie kann in der Liebe zu solchem Engel von Weib, auch wenn sie pervers ist, der Keim zum Bösen liegen? Für wahnsinnig hätte ich den erklärt, der mir vor zwei Jahren gesagt hätte, ein Kulturmensch, ausgestattet mit ästhetischen Nerven, könne sich mit Gedanken befassen, wie jetzt ich; und doch ist es nicht anders: ich grüble Tag und Nacht darüber nach, wie ich mich, und sei es durch Mord, eines mir unbequemen Menschen erledigen kann. Ja, soweit ist es mit mir! Für Kromitzki und mich hat die Erde nicht Raum: drum trage ich mich unausgesetzt mit Gedanken an seinen Tod, der ja die einfachste, gründlichste Lösung aller Verwicklungen, das unfehlbare Ende alles Jammers und Elends wäre. Der Hypnotiseur kann ein Medium durch die Gewalt seines Willens einschläfern: warum sollte nicht dieselbe intensivere Macht einen Menschen in Todesschlaf versetzen können? ich beschäftige mich jetzt emsig mit Hypnotismus, und wäre solche Suggestion wirksam, so lebte Kramitzki längst nicht mehr, denn jeder meiner Blicke befiehlt ihm: Schlaf ein und stirb! – Ich hab' ihn längst auch zum Zweikampf zwingen wollen; aber was hätte es für Zweck, ihn auf solche Weise aus der Welt zu schaffen? seinen Mörder könnte doch Anielka nicht heiraten! nein, ich mußte, nach Art des gemeinen Verbrechers, auf etwas anderes sinnen.

Doch nein! es bleibt bei der Theorie, und Kromitzki braucht sich nicht zu ängstigen; meine Gedanken werden sich nicht in Taten umsetzen . . . nein! ich brächte den Menschen nicht um, und wenn wir zusammen auf einer wüsten Insel lebten; und doch zerfrißt mir der Wurm der Mordgier das Gehirn! aber ich bin mit meinen überfeinen Nerven keiner brutalen Tat fähig: das ist die Ursache, daß ich den Mord nicht vollführe, nicht aber das Gebot der Moral und Religion: Du sollst nicht töten! Moralisch morde ich ihn tagtäglich; werde ich für solches Verbrechen einem höheren als menschlichen Gerichte verantwortlich sein müssen? Nicht von außen her kommt mir der Gedanke zum Morde, sondern von innen wächst er heraus und weicht nicht von mir: die Unterlassung ist bloß eine Nervenfrage, denn moralisch bin ich für das Verbrechen reif. Zudem hänselt mich mein Teufel in einem fort und flüstert mir zu, es hinge doch einzig und allein von der Potenz ab: der Wunsch, das Verbrechen zu begehen, sei also ganz ebenso schlimm wie die Tat selbst.

Ich hätte nie gedacht, daß ich an solchen Scheideweg gelangen würde. Grausen befällt mich, wenn ich den Blick in diese Tiefe meines Ichs versenke. Ich weiß nicht, ob mein gräßliches Leid meinen Sündenfall zu sühnen vermag; das aber weiß ich, daß man sein Leben in den Grenzen jenes einfachen Gesetzes halten muß, das Anielka einen so sicheren Halt gibt, wenn man nicht will, daß der Geist überschäume und sich mit Staub und Schmutz vermische.

9. Juli.

Kromitzki erzählte mir heute von einem Engländer, den ich schon oft in Gesellschaft einer hervorragenden Schönheit gesehen habe, wie es sich mit ihm und ihr verhalte: die Dame sei eine Rumänin und mit einem walachischen Bojaren verheiratet gewesen. Der Engländer habe sie dem Bojaren, als dieser vor seinem Ruine stand, einfach abgekauft. Kromitzki wußte sogar die Summe, die der Engländer für die Schönheit an den Bojaren bezahlt hatte. Da fiel mir ein, es sei ja das vielleicht, wenn auch ein schändlicher, so doch ein praktischer Ausweg aus meinem Dilemma, zumal ja die betreffende Frau von solchem Handel gar keine Silbe zu erfahren brauchte und sich die Schicklichkeit nach außen hin ja leidlich wahren ließ. Ich betrachtete den Fall im Hinblick auf diesen Gedanken von beiden Seiten: Anielka gegenüber erschien er mir im Lichte einer Lästerung, Kromitzki gegenüber für nicht untunlich; jedenfalls schuf er meinem Haß und meiner Verachtung vollkommene Befriedigung . . . Ob er darauf eingehen würde? ich mußte mir sagen, daß ich ihn eben darum aller Gemeinheit für fähig hielt, weil ich ihn haßte; immerhin war ich nicht unberechtigt, einem Menschen, der aus Geldgier von seiner Frau die Vollmacht zum Verkauf eines Familiengutes zu erschleichen verstanden hatte, auch solches Abkommens für fähig zu halten. Die Ansicht von ihm, daß er voll Geldgier stecke, hatten außer mir auch Sniatynski, die Tante und Anielkas Mutter, und wen diese krankhafte Eigenschaft befällt, der ist dem völligen sittlichen Zusammenbruche nicht fern . . . Jedenfalls will ich es versuchen, denn auseinanderbringen muß ich diese beiden Menschen.

11. Juli.

Heute habe ich mit Kromitzki von dem ruinierten walachischen Bojaren gesprochen, der seine Frau an den reichen Engländer verschachert hat, und erdichtete, um Kromitzki seinen Standpunkt leicht zu machen, eine richtige Fabel . . . Wir trafen den Engländer bei den Wasserfällen; ich ließ ein paar Worte über die hohe Schönheit der Dame fallen und sagte zu Kromitzki: »Mir hat ein Gasteiner Arzt erzählt, wie es sich eigentlich um den Handel des Bojaren verhalten hat. Hiernach scheint mir, als beurteiltest Du den Mann zu streng.« – »Der Mensch macht mir vor allen Dingen Spaß,« antwortete Kromitzki. – »Ich meine, man darf die mildernden Umstände doch nicht außer Betracht lassen,« versetzte ich, »der Mann ist nicht bloß Bojar, sondern auch Industrieller: er soll mit geliehenem Gelde große Gerbereien betreiben oder betrieben haben. Es soll von Oesterreich die Einfuhr rumänischer Häute wegen einer Seuche verboten worden sein. Infolgedessen stand der Mann vor dem Bankerotte, sofern er sich nicht bis zur Wiederaufhebung dieses Einfuhrverbots halten konnte. Man ist eben entweder Kaufmann oder nicht; und wer einmal diesem Stande angehört, wird sich auch zur Moral desselben bequemen müssen, darf also gegebenen Falles . . .« – »Auch die eigene Frau verkaufen, willst Du sagen? Das ist nun meine Auffassung doch eben nicht; eine Pflicht durch eine andere ersetzen, die heiliger ist als jene, ginge mir wider den Strich.« – Erbost darüber, daß er sich ausdrückte wie ein anständiger Mensch, hätte ich ihn am liebsten stehen gelassen; aber an schönen Redensarten hat ja schließlich auch das erbärmlichste Subjekt immer einen gewissen Vorrat, wenn es ihm darum geht, ein Ziel zu erreichen, und so gab ich die Sache noch nicht auf, sondern erwiderte ihm: »Eins vergißt Du, daß der Mann nämlich auch sein Weib in Mangel und Not hätte bringen müssen, wenn er diesen Ausweg nicht wählte; es will mir als merkwürdige Pflichterfüllung den Angehörigen gegenüber erscheinen, einen persönlichen Grundsatz so starr festzuhalten, daß man das liebe Brot darüber vergißt.« – »In meinem ganzen Leben hätte ich mich solcher nüchternen Denkweise bei Dir nicht versehen,« erwiderte Kromitzki, während ich bei mir dachte: »Esel! merkst nicht einmal, daß ich nicht bloß Ansichten ausspreche, die ich Dir eintrichtern will?« und laut versetzte: »Ich kann mich ganz gut in die Lage dieses Vertreters der Industrie denken. Auch bedenkst Du wohl nicht, daß die verschacherte Frau ihren jetzigen Mann lieber hatte als ihn, und daß er davon ja auch hat wissen können.« – »Na, dann sind sie einander würdig gewesen.« – »Daß der Bojar ein gemeiner Kerl ist, kann ja sein; immerhin weiß ich nicht, ob ein Kaufmann nicht unter solchen Umständen richtig so handelt, wie er gehandelt hat. Man stelle sich doch nur vor: es sitzt jemand bis über die Ohren drin, sieht seinen Ruin vor den Augen, hat aber ein Weib auf dem Halse, das ihn nicht liebt; da tritt nun jemand zu ihm und sagt: Lassen Sie sich von dem Weibe scheiden; dann bezahle ich nicht bloß Ihre Schulden, sondern Sie können auch damit rechnen, daß ich Ihre Frau reich und glücklich machen werde. Kann man so etwas Verkauf nennen? ich meine nicht, wenigstens rettet doch ein Kaufmann, der auf solchen Handel eingeht, all die Leute, die mit ihm gearbeitet haben, vor Verlust, zuweilen wohl gar Ruin, und sichert seinem Weibe eine Zukunft. Wer weiß, ob man solches Verhalten seinerseits nicht richtiger Pflichterfüllung gegen seinen Nächsten nennen sollte.«

Kromitzkis Monocle fiel wieder vom Auge. Er besann sich einen Augenblick; dann sagte er: »Von Geschäften schmeichle ich mir mehr zu verstehen als Du, aber zu disputieren verstehst Du besser . . . Ich sage ohne weiteres: Du hättest Dir schließlich die Millionen, die Du vom Vater ererbt hast, als Advokat verdient! so wie Du den Fall hinstellst, weiß man wirklich nicht, was man von diesem rumänischen Schlingel denken soll. Ob so oder so: verschachert worden ist die Frau, und so etwas bleibt immer eine schäbige Geschichte, man mag darüber denken und reden, wie man will . . . Ich als Kaufmann halte dafür, daß es nur zwei Auswege gibt, wenn man vor dem Bankerott steht: entweder man setzt alle Kräfte ein, um zum zweitenmale Geld und Vermögen zusammenzubringen und seine alten Schulden aus der Welt zu schaffen; oder man greift zum Revolver und schießt sich die erlösende Kugel vor den Kopf. Dann hat man die Schulden mit seinem Blute bezahlt, und die Frau kann nun machen, was sie will: die Möglichkeit zu einem besseren Lose hat man ihr dann wenigstens erschlossen.« Am liebsten hätte ich ihm gesagt: »So liegt der Fall für Dich, denn bankerott bist Du doch in der Hinsicht, daß Deine Frau Dich nicht liebt! Befreie sie von Dir durch einen Sturz in den Wasserfall, der dort in die Tiefe hinunter braust . . . gib ihr die Möglichkeit, in einem neuen Leben aufzugehen, das ihr ein tausendmal höheres Glück eröffnet.« Aber ich schwieg und suchte die herbe Entdeckung zu verbergen, daß Kromitzki doch kein solcher Schurke sei, wie ich gedacht hatte, wenn er sich auch als der richtige Dutzendmensch erwies. Ich stand vor einer neuen Enttäuschung, sah abermals den Boden unter meinen Füßen weichen. Aber noch immer mochte ich die Idee, Kromitzki an den Gedanken einer Trennung von Anielka zu gewöhnen, nicht fallen lassen; freilich wußte ich nicht, wie es um seine Vermögensverhältnisse stand, aber ich sagte mir, jeder Spekulant könne ebenso leicht alles verlieren wie alles gewinnen, und ich klammerte mich an die Hoffnung, er möchte doch noch reif werden für das, was ich wollte . . . darum begann ich wieder: »Ich kann ja nicht abschätzen, wie weit Deine Ansicht mit der kaufmännischen Moral zusammengeht, aber gern räume ich Dir ein, daß sie sich mit derjenigen eines anständigen Menschen deckt; und wenn ich Dich richtig verstanden habe, so hat nach Deiner Auffassung ein Mann nicht das Recht, in den Ruin, der ihm droht, die Frau mit zu reißen.« – »Ich habe weiter nichts gesagt, als daß der Schacher, den dieser Bojare mit seinem Weibe getrieben habe, eine Gemeinheit sei. Sodann meine ich, die Frau habe das Los des Mannes zu teilen, möge es sich gestalten, wie es wolle; denn ich bedankte mich schönstens für eine Frau, der die Scheidung recht wäre, weil ihr Mann sein Geld eingebüßt habe.« – »Ich möchte weiter gehen und sagen, es sei gewissermaßen auch Pflicht der Frau, sich in so etwas zu fügen, wenn sie den Mann dadurch vor dem Ruine retten könnte.« – »Ich meine, es ist schon peinlich, von solchen Dingen zu reden.« – »Wieso denn? oder fühlst Du etwa Mitleid mit diesem Bojaren?« – »Fällt mir nicht ein! ich halte ihn für einen Schuft und werde ihn immer dafür halten.« – »Du siehst den Fall eben nicht objektiv an! Indessen ist das nicht zu verwundern: wem alles nach Wunsch geht wie Dir, der kann sich in die Situation eines Menschen, der vor dem Ruine steht, nicht hineindenken; Philosophie und Jagd nach Millionen läßt sich eben nicht gut unter einen Hut bringen . . .«

Mir wurde dieses falsche Spiel selbst zuwider und ich mochte fürs erste weiter nicht gehen, sondern es an dem Keime genug sein lassen, den ich ausgeworfen zu haben meinte; es konnte doch sein, daß er aufginge. Zudem gab mir eine eigentümliche Wahrnehmung einen wenn auch nur geringen Anhalt, wenigstens meinte ich, einen solchen darin zu erblicken oder doch erhoffen zu können: als ich von seinen Millionen sprach, war es mir, als hatte er etwas wie einen Seufzer hören lassen . . . ich will ja aus diesem geringen Anzeichen nicht schließen, er stünde selbst vor dem Bankerott; aber ich meine doch, Fühler ausstrecken zu sollen. Sollte es etwa schlecht um ihn stehen, so bin ich Willens, alles daran zu setzen, daß er stürzt; ich will doch sehen, ob ein Mensch, der selbst bankerott ist, für gewisse Anerbietungen einen milderen Ausdruck finden wird als Gemeinheit und dergleichen. Wenn die Tante bisher Zweifel an Kromitzkis guten Verhältnissen äußerte, so war mir dies bisher immer unangenehm: ich hatte die Geldfrage in mein Verhältnis zu Anielka nicht mischen mögen; und heute bin ich so weit gekommen, daß ich nach dieser »Waffe« greife, ganz wie ein Bankier, oder ein Mensch, der an Operationen mit Geld gewöhnt ist. Kein Zweifel, meine Gedanken und Handlungen sind schlechter als ich, wenn ich auch nicht verstehen kann, wie das zugeht.

Wer sich nie in einer solchen Situation wie ich befunden hat, hat auch kein Verständnis dafür; wohl wußte ich, daß dem Menschen aus Liebeshändeln Qualen entstehen, aber ich hätte mir nie im Leben gedacht, daß sie so tatsächlich und so unausstehlich werden könnten.

12. Juli.

Es ist heute etwas passiert, was mich noch an allen Gliedern zittern macht. Es war ein wunderschöner Abend, und wir hatten eine Fahrt nach Hofgastein geplant. Bloß Frau Celina wollte zurückbleiben. Am Gartentore wartete ich mit der Tante auf Anielka, während Kromitzki den Wagen aus dem Hotel holte. Anielka ließ auf sich warten; ich wollte ihr entgegengehen und traf sie auf der Treppe, die aus dem ersten Stock nach dem Garten hinunter führt. Die Wendeltreppe ist steil. Anielka ging äußerst behutsam, denn es war schon dunkel, und der Mond erhellte die andere Seite des Hauses. Da kam mein Kopf auf einmal unmittelbar vor Anielkas Füßchen, und wenngleich ich mir im selben Augenblick sagte, daß ich tausend Qualen zu leiden haben würde, so konnte ich doch nicht anders: ich mußte diese Füßchen umfassen und mußte sie küssen. Gott ist mir Zeuge, daß es nur aus tiefer Ehrerbietung geschah, gewissermaßen nur als Ausdruck dafür, daß ich mich für ewig als ihren Sklaven ansähe; und doch entzog sie mir bald die Füße; ich aber rannte hinunter und rief der Tante zu: »Anielka kommt schon.« Jetzt mußte sie kommen. Ich hatte ihr den Weg ja auch frei gegeben. Kromitzki fuhr vor, und Anielka trat zu der Tante: »Ich komme bloß, um Dir zu sagen, daß ich mir die Sache anders überlegt habe. Ich will bei Mama bleiben.« – »Aber Celina war doch ganz munter . . .« bemerkte die Tante, »und sie hatte die Partie doch bloß um Deinetwillen angeregt . . .« – »Das schon, aber . . .« wollte Anielka erklären. Da mischte sich Kromitzki dazwischen und sagte kalt und dürr: »Ich möchte mir ausbitten, daß nicht erst Umstände gemacht werden.« Daraufhin stieg Anielka ein, ohne weiter ein Wort zu sprechen.

Sein Ton fiel mir ebenso auf wie ihr stummer Gehorsam; es war mir den ganzen Tag schon vorgekommen, als ob er noch kühler gegen sie geworden sei, als in den letzten Tagen. Ich stand aber noch zu sehr unter dem Eindruck des eben verlebten Augenblickes, um über die Ursache nachzudenken, die diese gespannte Stimmung hervorgerufen haben mochte. Zudem fühlte ich eine seltsame Befriedigung darüber, daß Anielka dadurch, daß sie es nicht hatte verhindern können, daß ich zu ihren Füßen gelegen, meine Mitschuldige geworden, und daß sie, wenn sie das Einvernehmen der Familie nicht stören wollte, es nicht verraten durfte; denn sie mußte sich doch sagen, daß sonst ein Rencontre zwischen Kromitzki und mir sich nicht mehr vermeiden lassen würde . . . aber will sie ihn schonen? oder mich? Neben der Befriedigung beschleicht mich auch Angst, denn ich sage mir wieder, daß Kromitzki, sobald es ihm einfällt, sie Gott weiß wohin führen kann . . . und der bloße Gedanke hieran jagt mich in Verzweiflung . . . Ich kam mir, wenn ich Anielkas gedachte, vor wie ein Hund, der etwas verbrochen hat und nun seine Tracht Prügel erwartet. Ich bemühte mich, ihr von den Augen abzulesen, was ich zu erwarten hatte. Aber sie sah mich nicht an, sondern hörte den Auseinandersetzungen Kromitzkis zu, der der Tante darüber einen Vortrag hielt, was er aus Gastein herausschlagen wollte, wenn es ihm gehörte. Offenbar war es ihm darum zu tun, der Tante eine gute Meinung von seiner Eigenschaft als Geschäftsmann beizubringen, dem die Fähigkeit in großem Maße innewohnt, aus jedem Dittchen einen Rubel zu machen. Er schwatzte in einem fort. Seine Rede floß wie ein Wasserfall und vermischte sich mit dem Rauschen des Gießbachs zu unseren Füßen. Der Kutscher mußte wiederholt den Hemmschuh anlegen, denn der Weg nach Hofgastein führt in zahlreichen Windungen am Abgrunde vorbei. Hätte nicht die warme, helle Nacht beruhigend auf meine Nerven gewirkt, so hätte mich das ewige Knarren des Hemmschuhs verrückt machen können. Es war eine Mondlandschaft von wundersamer Schönheit: der Gipfel des Bockkogl und die Schroffen des Graukogl erglänzten in mildem Silberlichte, und auf den Spitzen glitzerte in grünlich-weißen Reflexen der Schnee, während alle anderen Partieen mit dem nächtlichen Dunkel zu einer grauen Masse verrannen . . . In der neunten Stunde kamen wir in Hofgastein an. Es war schon alles still und ruhig im Dorfe, bloß in den Gasthäusern war noch Licht. Wir ließen bei Meger halten, wo ein paar leidliche Männerstimmen jodelten. Ich wollte die Sänger bitten, uns draußen im Freien etwas zum besten zu geben; als ich ins Gastzimmer trat, sah ich, daß es Alpinisten aus Wien waren, an die sich schicklicherweise solches Ansinnen nicht stellen ließ. Ich kaufte zwei Edelweiß-Sträußchen, gab eins davon Anielka und ließ das andere, wie aus Unachtsamkeit, ihr vor die Füße fallen. Sie wollte es aufheben; ich bat sie, es liegen zu lassen, ging in die Gaststube zurück und kaufte ein drittes Sträußchen, um es der Tante zu überreichen. Dabei hörte ich aus Kromitzkis Munde die Worte: »Auch hier ließen sich hundert Prozent herausholen: man brauchte bloß eine vernünftige Badeanstalt aufzumachen.« – »Beschäftigt Dich denn wirklich nie etwas anderes als Deine Prozente?« fragte ich ihn in aller Ruhe, doch in der Absicht, Anielka zu zeigen, daß er auch neben ihr an nichts anderes als Geld und Geld denken könne; mochte sie doch seine Denkweise mit der meinigen in Parallele ziehen! . . . Ich glaube bestimmt, daß sie mich verstanden hat.

Auf dem Rückwege bemühte ich mich wiederholt, Anielka in eine Unterhaltung einzubeziehen; es wollte jedoch nicht gelingen; Kromitzki ging, während ich den Kutscher bezahlte, mit den beiden Damen hinauf, und Anielka war, als ich sie erreichte, schon verschwunden, weil sie, wie Tantchen sagte, sich nicht recht wohl fühlte. Nun machte ich mir wieder Vorwürfe, sie gequält zu haben; für jemand, der liebt, kann es keine schmerzlichere Empfindung geben. Diese Empfindung gewann solche Macht über mich, daß ich mir vornahm, am anderen Tage zu verreisen: nach Wien, zum Doktor Chwastowski; dann behielte ja, wie ich mit Bitterkeit dachte, Anielka ein paar Stunden Ruhe vor mir . . .

15. Juli.

Heut abend bin ich von Wien zurückgekehrt, mit mancherlei Neuigkeiten, die Tantchen interessieren werden . . . Dieser junge Chwastowski ist wirklich ein ganz tüchtiger Mensch: tagsüber büffelt er in der Klinik wie ein Arbeitsgaul, und nachts schreibt er eine volkstümliche Gesundheitslehre für seinen Bruder, den Buchhändler, ist bei allen möglichen Vereinen und unterhält allerhand fidele Beziehungen zu Kärnthnerstraße, Kumpfgasse u. s. w. Ich frage mich: wann schläft bloß dieser Mensch? und dabei ist er kerngesund, der reine Herkules! . . . Ich halte mit dem Zweck meines Besuchs nicht hinterm Berge, sondern richte ohne weiteres die Bitte an ihn, mir zu sagen, was ihm über Kromitzkis Verhältnisse bekannt sei . . . »Es ist Ihnen ja nicht fremd, daß meine Tante viel Geld hat, und wenn wir auch nicht nötig haben, uns auf Spekulationen einzulassen, so gehört nun doch einmal Kromitzki zu unserer Familie, und wenn sich etwa ein Geschäft böte, bei dem wir nicht zu Schaden kommen könnten, so wären wir schließlich nicht abgeneigt, ihm durch einen Vorschuß zur Mehrung seines Vermögens behilflich zu sein. Meine Tante wendet sich mit dieser Bitte an Sie, weil sie meint, daß Ihre Familie mit uns länger in Beziehung steht als mit Kromitzki.« – »Bitte, bitte,« erwiderte der Doktor, »ich will an meinen Bruder in der Sache auf der Stelle schreiben. Uebrigens enthält sein letzter Brief an mich einiges, was Ihnen dienen könnte.« Er kramte zwischen einem ganzen Stoße von Briefschaften herum und fand schließlich, was er suchte; aber es waren nur die wenigen Zeilen darin: »Mit Kromitzkis Naphtha ist's doch recht faul, er hätte besser die Hände davon gelassen, denn gegen die Rothschild-Gruppe kann doch keiner was! Wir haben uns ja noch herausgefitzt, aber Haare dabei gelassen. Etwas besser steht's ja um die Lieferungen, für die wir ein Monopol besitzen; aber wenn sie auch Millionen einbringen können, so ist doch andererseits das Risiko sehr bedeutend: es gehört eben Geld und immer wieder Geld in die Affäre, da wir nur zu den Terminen reguliert werden, aber alles mit barer Kasse bezahlen müssen. Eine böse Sache ist es dabei noch mit der Betrügerei, die bei allem Material, das uns geliefert wird, an der Tagesordnung ist. Ich hab' den Kram übersatt.« – »Nun, das Geld könnten wir ja geben,« meinte ich, als ich gelesen hatte, und verließ den Doktor. Auf dem Wege zum Hotel gewannen die edleren Regungen in meinem Herzen die Oberhand. »Wäre es denn aber nicht anständiger, richtiger, einfacher, Kromitzki aus der Patsche zu helfen, statt ihn sitzen zu lassen und zu verderben? Ich denke, Anielka würde es hoch aufnehmen, wenn ich ihrem Manne unter die Arme griffe. Was nun wird, mag der Vorsehung überlassen bleiben. Es kommt ja schließlich doch, wie's kommen soll!« Daß dahinter sich ein bißchen Egoismus mit versteckte, mochte ich mir gar nicht verhehlen; denn wenn Kromitzki Geld hatte, so ließ sich annehmen, daß er sich bei uns nicht lange mehr aufhalten, sondern mich durch baldige Abreise schnell von meinen Qualen befreien würde. Dann wäre ich allein mit Anielka, sie stände unter dem Einflusse meiner Empfindungen, würde vielleicht Dankbarkeit gegen mich wegen des ihrem Manne erwiesenen Dienstes, Groll wider ihren Mann darüber, daß er meinen Dienst angenommen, empfinden; abgesehen von diesen neuen Aussichten, die sich da vielleicht für mich eröffneten, ging es mir in erster Linie darum, den Menschen los zu sein. Ich war mit diesen Erwägungen so sehr beschäftigt, daß ich gar nicht gewahr wurde, schon in Lendgastein zu sein. Dort war alles in wilder Aufregung über das Eisenbahnunglück, das sich auf der Zweigstrecke nach Zell am See ereignet hatte. Ueberall Tote und Verwundete! ich hatte aber kaum meinen Platz im Kutschwagen inne, der mich von Lendgastein weiter fuhr, als ich auch schon nicht mehr an den schauerlichen Vorfall, sondern nur an mein Verhältnis zu Anielka dachte. Endlich meinte ich die Lösung gefunden zu haben: Anielka mußte sich in unsere Liebe finden, etwa so: »Ich bin Dein und gebe Dir Herz und Seele, auf ewig, Du mußt Dir aber daran genügen lassen; unter dieser Voraussetzung sind unsere Seelen von jetzt ab vermählt.« Ich dagegen wollte ihr darauf sagen: »Mir bedeutet diese seelische Vermählung das gleiche wie die bürgerliche Ehe: ich betrachte Dich hinfort als mein Weib.« War solche Abmachung denkbar? und würden durch sie unsere Leiden ihr Ende finden? Mir würde sie eine Art Sonderwelt schaffen, in der Anielka mir ausschließlich gehörte; freilich bedang sie eine erhebliche Kürzung meiner Hoffnungen, Erwartungen, Wünsche . . . aber eine Berechtigung erhielt meine Liebe durch sie bei Anielka, und das bedeutete mir so viel, daß ich hierfür unbedenklich meine Gesundheit einsetzte; daraus erkenne ich abermals, wie tief mir die Liebe zu diesem Weibe im Herzen sitzt.

Bis Gastein stand ich ganz unter dem Eindruck dieses Gedankens: ich sah mich mit Anielka in ewiger Vereinigung, in seliger Wonne, und war nicht wenig stolz auf diesen Ausweg aus dem Dilemma, auf diese Möglichkeit zu beiderseitigem Glück, fühlte auch nicht den geringsten Zweifel, daß Anielka mir hierzu ihre liebe, süße Hand mit Freuden reichen werde. Da sah ich, daß Blut an meiner Hand klebte . . . und im Nu war mein Traum geschwunden. In dem Wagen, in den ich eingestiegen war, hatte man Verwundete gefahren, der Kutscher hatte nicht gesehen, daß an den Seitenpolstern noch Blut sickerte. Ich bin nun nicht Mystiker in solchem Maße, daß ich an die unmittelbare Einwirkung übernatürlicher Kräfte auf das Leben des Menschen glauben möchte; immerhin will ich nicht in Abrede stellen, daß es mich eigentümlich berührte, daß ich mir neues Leben ausgemalt hatte in einem Gefährt, in welchem vielleicht vor wenigen Augenblicken erst ein anderes Leben erloschen war, und daß ich mit Blut an den Händen von Friede und Einigkeit geträumt hatte. Auf den Gedankengang eines nervösen Menschen wirft solches »Vorgefühl« gern finstere Schatten, und wenn ich nicht schon so nahe beim Wildbad Gastein gewesen wäre, dürfte es mir schwerlich anders ergangen sein. Aber als wir jetzt langsam bergan fuhren, kam uns von oben her ein anderer Wagen entgegengerast. Mir bangte schon vor einem neuen Unglück, da es auf diesem abschüssigen Pfade, der nicht sonderlich breit ist, seine Schwierigkeit hat, auszuweichen; da bemerkte ich, daß der Kutscher jenes anderen Wagens mit aller Gewalt bremste, und daß seine Pferde bald nur noch im langsamen Schritte liefen. Im anderen Augenblick aber erkannte ich zu meinem lebhaften Erstaunen die Tante und Anielka, und schon erklang aus beider Munde der freudige Ruf: »Da ist er ja, da ist er! Leon! Leon!« Tante rief: »Gott sei Dank!« und umarmte mich; Anielka nahm meine Hand und hielt sie fest, bis sie mit einem Male ganz erschreckt aufschrie: »Du bist ja verletzt, Leon!« Aber ich beruhigte sie auf der Stelle. »Ich war nicht in dem Unglückszuge; das Blut rührt von Verwundeten her, die in diesem Wagen gefahren worden sind. Ich hab's beim Einsteigen nicht gesehen und der Kutscher vorher auch nicht.« – »Ach, in der Depesche stand,« erklärte die Tante bewegt, »das Unglück sei dem Wiener Zuge passiert; ich bin vor Angst fast umgekommen. Gott sei Dank! Gott sei Dank, daß wir Dich wieder haben.« Sie trocknete sich den Angstschweiß von der Stirn. Anielka war leichenblaß, ließ meine Hand fallen und drehte sich um, damit ich nicht sähe, daß ihr Tränen in den Augen standen.

Ich versuchte nun zu erzählen, was ich unterwegs in Lendgastein gesehen hatte, war aber wenig bei der Sache, denn mich erfüllte der freudige Gedanke, daß Anielka zu Hause nicht die Rückkunft der Tante hatte abwarten mögen, und daß sie mir wohl nicht einzig und allein um der Tante willen entgegengefahren war. Hatte ihr Gesicht nicht von Freude förmlich geleuchtet, als sie hörte, ich sei nicht in dem Unglückszuge gewesen! und war sie nicht auch jetzt noch so ergriffen, daß sie vor Freude zu weinen schien? O, jetzt sah ich auch, daß sie weder Handschuhe trug, noch ein Mantelett umhatte: sie war mithin so eilig und erschrocken gewesen, daß sie alles andere vergessen hatte! Ich legte ihr meinen Paletot über die Schultern, da es empfindlich kühl wurde. Sie wollte es zwar nicht leiden, aber Tante bestand darauf, daß sie den Paletot umnahm . . . und als wir auseinandergingen, da drückte ich ihr die kleine liebe Hand wie ein Liebender, und sie litt es nicht allein, sondern erwiderte sogar den Druck mit Wärme.

16. Juli.

Ich hatte mich kaum angekleidet, da kam die Tante herein. »Du, höre mal: das Neueste! als Du in Wien warst, hat mir Kromitzki den Vorschlag gemacht, mich an seinen Geschäften zu beteiligen.« – »Und Deine Antwort?« – »Rundweg abgeschlagen habe ich es ihm: ich hätte genug, um leben zu können, und wenn ich einmal die Augen zumachte, würdest Du zu den reichsten Leuten in Polen zählen. Also sei es doch Unsinn von uns, wenn wir uns in Abenteuer einlassen wollten. Hab' ich es recht so gemacht?« – »Ohne Frage.« – »Es ist mir erfreulich, daß Du mir beipflichtest,« antwortete sie; »darüber, daß ich seine Unternehmungen über den gleichen Kamm mit Abenteuern schor, war er ja bitterböse; er setzte mir auseinander, wie es sich mit ihnen verhielte, und wenn er mir die Wahrheit gesagt hat, ist's ja nicht ausgeschlossen, daß er Millionen gewinnen wird; na, ich wünsche es ihm von Herzen. Er sagte dann auch noch, es wäre ihm lieber, seinen Profit mit der Familie zu teilen, statt mit fremden Menschen. Darauf sagte ich ihm, das wäre ja sehr nett von ihm, aber es könne an meiner Meinung und meinem Entschlusse nichts ändern. Da fing er zu winseln an, es verstünde bei uns niemand was von Geschäften, es würde bloß alles aufgezehrt, was von den Vorfahren überkommen sei; das sei doch Verbrechen an der Mitwelt. Das wollte mir nun nicht gerade als eine Schmeichelei erscheinen, und darum sagte ich ihm: »Du, weißt Du was? ich hab' freilich bloß so gewirtschaftet, wie es eine Frau verstehen kann; aber ich habe bis jetzt doch noch kein Dittchen verloren; Du aber hast meiner Meinung nach am allerwenigsten ein Recht, von Sünde an der Mitwelt zu schwatzen, denn Du hast unser Gluchow verschleudert! Ich kann's nicht ändern, daß ich Dir die Wahrheit sagen muß: Hast Du es doch nicht anders gewollt . . . Wäre das nicht vorgefallen, dann hätte ich eher Zutrauen zu Dir haben können; so ist mir von Deinen ganzen Worten bloß das klar, daß Du weder nötig hättest, Dich nach Teilhabern umzusehen, noch Dir meine Grobheiten anzuhören, wenn Deine Geschäfte wirklich so glänzend verliefen, wie Du es sagst. Was ich nun einmal vor allem am Menschen gern habe, ist unbedingte Aufrichtigkeit, und daß Du es daran hast fehlen lassen, wirst Du wohl nicht bestreiten wollen.« – »Und was sagte er?« – »Gluchow betreffend, sagte er, es wäre doch wunderlich, daß nun gerade er schuld am Verkaufe tragen solle. Die Schuld träfe bloß die, die das Gut so in Grund und Boden verwirtschaftet hätten. Anielka habe, als er sie heiratete, nichts als Schulden gehabt; er habe ihr mehr gerettet als jeder andere imstande gewesen wäre, und statt Dankbarkeit erntete er von allen Seiten bloß Vorwürfe.« – »Ich unterschreibe diese Darlegung, nicht,« versetzte ich, »sondern behaupte entschieden, daß Gluchow noch zu retten war.« – »Ganz dasselbe habe ich ihm gesagt und auch noch beigefügt, auf Gluchow hätte ich Geld geliehen; er hätte doch bloß Anielka zu schreiben brauchen; dann hätte man die Sache zusammen besprochen. Aber da lachte er: er hätte Anielka ein paarmal aufgefordert, mit mir über seine Geldanliegen zu sprechen, und sie hätte es jedesmal rundweg abgelehnt; Anielka sei eben viel zu fein und vornehm, um sich mit gemeinen Geldgeschichten zu befassen; und wie es ihm mit Gluchow gegangen wäre, wenn er sich erst auf langes Verhandeln eingelassen hätte, ließe sich ja an meinem Verhalten seinem jetzigen Anliegen gegenüber am besten ermessen.« Ich wußte nun, welchen Grund die gespannte Stimmung zwischen ihnen gehabt hatte, über die ich mir solchen Kummer gemacht! Die Tante fuhr fort: »Schließlich, als ich ihm zeigte, wie unaufrichtig er vorhin gewesen, als er mein Geld bloß aus Familienrücksichten zu nehmen vorgab, während ihm doch selber so sehr viel daran gelegen sei, sagte er noch, er habe doch Anielka ohne alle Mitgift geheiratet, da sei es ihm wohl nicht zu verargen, wenn er wenigstens in solchem Falle auf die Beihilfe ihrer Familie rechne, wenn es sich um ein Geschäft handle, bei dem dieselbe noch recht guten Profit machen könne . . . Als ich ihm daraufhin sagte, auch das entspräche nicht der Wahrheit, da ich doch Anielka eine lebenslängliche Rente aussetzen würde, geriet er in richtigen Zorn; ich erklärte ihm nun rundweg, bares Kapital erhielte er nicht von mir, sondern Anielka die Rente, weiter nichts; sollten Kinder kommen, so sollten diese nach dem Tode der Mutter das Kapital bekommen. Darein hätte er sich zu fügen; und wir seien zusammen fertig.«

»Nun, Tante,« warf ich ein, »so schlimm, wie Du es Dir ausmalst, steht es nicht mit ihm; ich war in Wien beim Doktor Chwastowski,« und nun erzählte ich ihr, was ich in Wien ausgerichtet hatte, und betonte nur noch nebenher, daß ich mir schon geraume Zeit gedacht hätte, daß Kromitzki sicher in Geldverlegenheit sei. Die Tante war sehr erfreut von meiner Umsicht, machte wieder ihre Zimmerpromenade, sprach wieder angelegentlich mit sich selbst und brummte einmal über das andere vor sich hin: ein gescheiter Junge in allen Dingen; das muß man sagen! zuletzt erklärte sie, sie gäbe mir Vollmacht; ich möchte die Geschichte ordnen nach meinem Dafürhalten. Dann gingen wir hinunter; wir trafen die Familie beim Tee. Ich sah sofort, daß wieder etwas vorgegangen sein müsse. Anielka, ihre Mutter, die Tante waren allem Anschein nach außer sich; bloß Kromitzki las ruhig seine Zeitung, sah aber sehr schlecht aus, wie wenn er eben eine schwere Krankheit überstanden hätte. Kaum war ich hinter der Tante her in das Zimmer getreten, so zeigte sie mit dem Finger auf Anielka und rief: »Weißt Du, was dem Dinge da in den Sinn kommt?« – Ich setzte mich und sagte: »Ich habe keine Ahnung.« – »Nun, abreisen will sie von Ploshow, in längstens vierzehn Tagen; bloß bis Odessa, weiter nicht, denn mir machte sie mit der Mama doch bloß Umstände, und länger mir zur Last zu fallen, ginge doch wirklich nicht an . . . Na, ich brauche ja auch wirklich auf die alten Tage keine Gesellschaft mehr und für mich wird's ja dann erst recht angenehm sein, wenn Du auch wieder fortreisest und ich dann hier mutterseelenallein hause. In der letzten Nacht ist das wieder von ihnen ausgeheckt worden. Es mag ihnen wohl manche schlaflose Stunde gekostet haben.« Dann fuhr sie wie ein Falke auf Kromitzki nieder und schrie ihn an: »Oder hast Du etwa das ihnen eingetrichtert?« – »Ich?« erwiderte dieser ruhig, »wie käme ich denn dazu? es hat mich kein Mensch dazu aufgefordert. Wenn aber meine Herrin und Gemahlin Ploshow verlassen will, um sich mir enger anzuschließen, so habe ich wohl keinerlei Ursache, ihr darüber zu grollen.« – »Ach,« bemerkte Anielka, »es war ja bloß ein Gedanke.«

Ich hatte keinen Blick von ihr gewandt, ohne mich daran zu kehren, daß mein Benehmen auffallen mußte; aber sie getraute sich nicht, mich anzusehen, und daraus entnahm ich, daß diese neuen Pläne um meinetwillen geschmiedet würden. Ha! wenn ich mir sage, daß sie doch weiß, daß all mein Leben sich allein um sie dreht und daß ich in ihr aufgehe, und daß sie trotz allem mit solcher Ruhe an Abreise denken kann, dann komme ich mir vor wie ein aufgespießter Käfer, ich möchte ihr ins Gesicht schreien: »Du bist ein kaltes, blutleeres Weib, und Deine ganze Tugend und Unnahbarkeit ist weiter nichts als raffinierte Selbstsucht, die der eigenen Ruhe alles zum Opfer bringt. Nicht die kleinste Labung hast Du mir gereicht! sondern alles hast Du mir entzogen, und wenn Du es in Deiner Gewalt hättest, würdest Du auch meinen Augen wehren, Dich anzuschauen. Jetzt endlich durchschaue ich Dich!« Ich verhielt mich während des ganzen Frühstücks stumm; als ich aber in meinem Zimmer war, sank ich auf einen Sessel, vergrub den Kopf in die Hände und suchte, das Wirrsal meiner Gedanken zu ordnen . . . Jetzt haßte ich wirklich Anielka und wenig fehlte, so wäre es mir lieber gewesen, sie hätte ihren Mann wirklich geliebt, bloß um sie weniger verabscheuen zu müssen. Halb außer mir vor Zorn und Grimm, sprang ich auf und griff nach meinem Hute, mich nach Kromitzki umzusehen, denn mir war ganz so zu Mute, als wenn etwas Furchtbares zu erwarten stünde, wenn ich nicht auf diese oder jene Weise meine Rache an Anielka sollte kühlen können. Kromitzki war nicht zu Hause, auch nicht im Garten; ich rannte die Wandelbahn entlang, aber auch dort fand ich ihn nicht; ich blieb einen Moment auf dem kleinen Stege stehen, der über die Wasserfälle führt; ich nahm den Hut ab, und der feine Sprühregen, der mir den Kopf wie mit einer Brause durchfeuchtete, brachte mich einigermaßen wieder zur Ruhe; aber der feste Vorsatz, die Pläne dieses Weibes zu durchkreuzen, blieb in mir haften. Endlich sah ich ihn vor dem Hotel Straubinger sitzen, wieder in die Zeitung vertieft. »Ei,« rief er mir zu, sobald er mich sah, »ich wollte gerade zu Dir.« – »Nun, dann komm mit auf den Kaiserweg,« antwortete ich, und ohne darauf zu warten, was mir Kromitzki sagen werde, begann ich die Unterhaltung mit den Worten: »Die Tante hat mir erzählt, was gestern zwischen Euch beiden gesprochen worden ist.« – »Mir tut's leid, daß wir uns zusammen ausgesprochen haben,« antwortete er. – »Es hat Euch eben beiden an der nötigen Ruhe gefehlt. Die Tante ist die beste Frau von der Welt; man muß sie nur zu nehmen wissen. Sie tut sich gern etwas zugute auf ihren gesunden Menschenverstand und verhält sich gegen Anträge und Vorschläge immer mißtrauisch: die beste Auskunft hierüber könnte Dir der alte Chwastowski geben, dem sie schon manche Nuß zu knacken aufgegeben hat. Vor allem muß man ihr Zeit zur Ueberlegung lassen und darf sie nicht reizen.« – »Ich habe sie doch nicht gereizt!« – »O doch! warum mußtest Du sagen, Anielka habe Dir keine Mitgift gebracht; das ärgert die Tante jetzt noch.« – »Warum mußte sie wieder von Gluchow reden?« – »Das kannst Du ihr doch nicht verdenken,« sagte ich; »ich kann so wenig begreifen wie sie, warum Du Gluchow eigentlich verkauft hast?« – »Ich konnte jemand damit einen Gefallen tun, an dessen Gunst mir viel gelegen sein mußte, und der obendrein einen sehr guten Preis für das bis unters Dach verschuldete Ding bezahlte. Man muß sich schicken, wenn es die Umstände fordern.« – »Reden wir nicht weiter von Gluchow. Die Tante hat sich gerade darum so geärgert, weil sie Anielka zu bedenken vorhatte.« – »Ja, mit einer Rente. Sie sagte es mir.« – »Ach, sie hat Dir das nur im Aerger gesagt. Sie wollte Dich bloß fühlen lassen, daß sie von Deinen geschäftlichen Kenntnissen nicht viel hält. Ich als ihr Erbe muß ja doch am besten wissen, wie die Sache liegt.« – »Als Erbe,« bemerkte Kromitzki, mich scharf ansehend, »würdest Du dadurch im Nachteile sein.« – »Das wohl, aber ich kann meine Einkünfte ja sowieso nicht verzehren. Mithin läßt mich die ganze Geschichte kalt. Mag sein, daß Du Dich darüber als Kaufmann wunderst, daß Du mich als einen schnurrigen Kauz ansiehst, aber denke, was Du willst, bloß laß Dir sagen, daß ich der Tante kein Wort dazwischen reden werde, eher zu Deinen Gunsten, als zu Deinem Nachteile. Anielka wird also keine Rente erhalten, sondern eine Summe in bar.«

Es war mir widerwärtig, den Menschen anzusehen, wie er mit den Armen hantierte, ganz wie eine hölzerne Gliederpuppe. Ganz sicher! er hielt mich wohl noch mehr für ein Schaf als für einen wunderlichen Kauz; aber das war mir jetzt gleichgültig; mir kam es nur darauf an, daß er mir Glauben schenkte, und das durfte er wirklich, denn ich redete doch vollkommen im Ernste mit ihm. Kein Wunder, daß es ihm darum ging, zu erfahren, wann die Tante das Geld geben werde, und in welcher Höhe; aber er mochte wohl fühlen, daß jede direkte Frage im höchsten Grade undelikat erscheinen mußte, und so schwieg er, indem er sich gleichsam wie sprachlos vor Rührung stellte. »Ihr habt eben beide daran festzuhalten, daß alles vom guten Willen oder vielmehr von der guten Laune der Tante abhängt, und ihr legt es doch gerade darauf an, ihr die Laune zu verbittern. Gestern hast Du Dich in dieser Hinsicht bemüht, heute tut es Anielka. Du siehst, ich warne Dich davor, während ich doch als einstiger Erbe mich eigentlich über eure Torheit freuen sollte.« – »Du lieber Gott!« erwiderte er, »ich war eben auch grillig und bekam eine Anwandlung, mich in Gegensatz zu ihr zu sehen. Was Anielkas beständiges Gerede von dem Mißbrauche ihrer Gastfreundschaft angeht, so finde ich das nicht minder unangebracht; mir ist überhaupt nichts so unausstehlich wie Überspanntheit im Leben, und meinen beiden Damen fehlt es daran wahrhaftig nicht. Mit nach Turkestan kann ich sie doch nicht schleppen, und so lange ich in Turkestan bleiben muß, ist es doch für mich völlig gleichgültig, ob sie in Odessa leben oder in Warschau. Bin ich mit meinen Geschäften in Ordnung, werde ich mir natürlich ein Domizil wählen; aber bis dahin muß ich mich drein finden, meine Frauen hier zu lassen. Gäbe es kein Ploshow, so müßte ich es anderswo tun; aber wozu denn in die Ferne schweifen?«

Ich fühlte mich wunderbar erleichtert; denn die Pläne, mit denen Anielka sich trug, waren zunichte gemacht, und ich badete mich schier in Wonne darüber, daß ich meinen Zweck mit verhältnismäßig so geringer Mühe erreicht hatte. Immerhin verriet ich Kromitzki gegenüber keine Spur von Befriedigung; ich meinte im Gegenteil, daß es besser sein möchte, ihm die Sache nicht so leicht zu machen, und so sagte ich noch zu ihm: »Ich kann Dir freilich ein festes Versprechen im Augenblick noch nicht geben; zunächst mußt Du mir doch über Deine Situation und die Art Deiner Geschäfte einige Aufklärung geben.« Das tat er mit Uebereifer, und ich ersah daraus, daß er sich von diesem Thema mit Vorliebe unterhielt. In der Hauptsache sagte er genau dasselbe, was ich bereits durch den jungen Chwastowski wußte. Ich hörte ihm eine Stunde lang geduldig zu, und wenn ich auch erkannte, daß er mir keine Lügen aufband, so erwiderte ich ihm doch: »Von einem Kompagnie-Geschäft, das laß Dir gesagt sein, kann zwischen uns, so wie Du mir die Dinge darstellst, keine Rede sein.« – Er wurde grün und gelb im Gesicht. Dann stieß er die Frage hervor: »Und warum nicht?« – »Es mag Dir mit Vorsicht und Umsicht ja noch gelingen, einen Prozeß zu vermeiden, aber selbst in den Vorstadien eines solchen zu figurieren, hat für uns nichts Verlockendes.« – »Wer solche Ansichten hegt, der kann überhaupt keine Geschäfte machen.« – »Das ist ja auch ganz und gar nicht unser Wille. Zum Leben haben wir, wie Du weißt, übergenug. Wenn wir uns aber beteiligen sollten: wieviel Geld einzuschießen wäre dann nötig?« – »Es scheint mir unter solchen Umständen keinen Zweck mehr zu haben, daß wir über den Fall diskutieren,« erwiderte er, »denn unter 75 000 Rubel hätte es für mich gar keinen Zweck.« – »Für uns erst recht nicht. Wie gesagt, vor allem Kompagnie-Geschäft werden wir uns hüten. Du gehörst nun aber zu unserer Familie, und aus dieser Rücksicht will ich mich entschließen, Dir die Summe, die Du nanntest, auf einen einfachen Wechsel hin zu leihen.«

Er war so betroffen, daß er augenscheinlich seinen Ohren nicht traute und mit den Augen zu zwinkern anfing, war aber schon in der anderen Sekunde der vorsichtige, berechnende Kaufmann, drückte mir schnell die Hand und fragte: »Und der Prozentsatz?« – Diese Frage war mir gegenüber recht überflüssig, ja sie widerte mich so an, daß ich ziemlich schroff erwiderte: »Darüber sprechen wir noch.« Wir trennten uns. Auf dem Wege zur Tante kam mir der Einfall, ob es ihm nicht am Ende doch auffallen werde, daß die Tante sich so schnell anders hätte entschließen sollen; aber es war überflüssig, daß ich mir solche Gedanken machte. Ehemänner sind ja bekanntlich blind weniger aus Liebe zu der Frau, als aus Eitelkeit, obendrein hält Kromitzki mich und die Tante für verschrobene Narren, während wir ihn, so grundverschieden ist er in seinen Anschauungen von uns, tatsächlich für einen Eindringling in unsere Kreise halten müssen.

Anielka stand im Nebengarten und kaufte von einer Bauersfrau Erdbeeren. Als ich an ihr vorbeiging, fuhr ich sie schroff an: »Reisen wirst Du nicht, denn ich will es nicht.« Ich begab mich in mein Zimmer. Bei Tafel machte Kromitzki die Reisegedanken der beiden Damen lächerlich mit jenem geringen Maße von Zartgefühl, das er den beiden Damen gegenüber in der Regel zu zeigen liebte. Ich tat so, als ob mich die Sache gar nicht berührte. Anielka durchschaute jedoch rasch, daß Kromitzki nur eine ihm eingetrichterte Weise nachleierte; sie schämte sich seiner und fühlte sich tief gedemütigt; mir aber war das bei der Stimmung, die mich beherrschte, höchst erfreulich. Immerhin brennt die Wunde nach wie vor, denn für die vielen Opfer, die ich meiner Natur aus Liebe zu ihr auferlege, ist auch das Bewußtsein, diesen Menschen loszuwerden, kein Entgelt; solch schnöde Nichtachtung statt erhofften Lohnes wurmt mich infam.

Irgend eine Lösung muß die Zukunft ja bringen; aber sie zu erraten bin ich zu schwach; vielleicht eine Gehirnkrankheit! Zu verwundern wäre es nicht, denn sie wäre wohl bloß die natürliche Folge der vielen qualvollen Tage und schlaflosen Nächte und der Unmenge starker Zigarren, die ich oft bis zum frühen Morgen hinein qualme.

30. Juli.

Ich bin seit vierzehn Tagen von heftigem Kopfweh geplagt. In Wien habe ich mit Kromitzki die Finanzgeschäfte geordnet, und nach drei Tagen dampfte er ab nach Turkestan. Frau Celina hat ihre Kur beendet; wir verweilen bloß noch in Gastein, weil draußen im freien Lande schreckliche Hitze herrscht . . . Seit Kromitzki fort ist, fühlen wir uns alle seltsam erleichtert. Er machte gar kein Geheimnis daraus, daß er ein Darlehen von mir genommen hatte, denn von dem Verhältnis, das zwischen mir und seiner Frau besteht, hat er wirklich keine Ahnung; Anielka ist diese Sache aber unsagbar peinlich. Sie mag ihn wohl insgeheim, wie auch ihre Mutter, für schlechter halten, als er in der Tat ist. Seit er Gluchow verkauft hat, trauen sie ihm wohl nicht mehr über den Weg. Frau Celina wurde schließlich immer nervös, wenn er ihr vor die Augen kam; ohne Frage ertrüge sie ihn keine Sekunde, wenn er nicht ihr Schwiegersohn wäre.

Anielka habe ich in letzter Zeit nur wenig gesehen: mein Kopfweh hält mich im Zimmer; ich will sie auch fühlen lassen, daß ich böse auf sie bin und ihr aus dem Wege gehen will. Schwer, sehr schwer fällt es mir freilich, denn ihr Anblick ist für meine Augen Bedürfnis wie das Tageslicht.

2. August.

Klara Hilst hat mir geschrieben. Es macht mir den Eindruck, als wisse sie, wie es mit mir beschaffen ist, denn aus ihren Zeilen spricht herzliches Mitempfinden. Ich darf mich darüber nicht irren, daß sie Liebe für mich fühlt, wenn ich auch nicht feststellen möchte, ob es nur schwesterliche oder andere Liebe ist. Ich antworte ihr so wie es einem unglücklichen Menschen möglich ist, der sich mit dem einzigen Geschöpf unterhält, das ihn versteht. Klara will nach Berlin reisen und zu Wintersanfang nach Warschau. Ich möchte, schreibt sie, doch wenigstens auf ein paar Tage nach Berlin kommen. Es ist mir jedoch ganz unmöglich, mich von meinem Kummer loszureißen; aber in Warschau will ich mit Klara wieder zusammen sein.

4. August.

Ich hatte mich eine Zeitlang in die Hoffnung eingelebt, der Groll gegen ihren Mann werde mir Anielka in die Arme führen; aber ich habe mich geirrt. Was vielleicht für überspannte Weiber, die ihre Phantasie mit der Lektüre französischer Romane überhitzt haben, ein Ausweg sein mag, sich Ruhe zu schaffen, ist kein Ausweg für eine Anielka! Keine Phrase, kein falsches Pathos, kein künstliches Drama wird sie mir in die Arme treiben, sondern einzig und allein ihr Herz, und darum wird mir ihr Besitz versagt bleiben für immer . . . Ein Mann, der seines Nächsten Weibe in wahrhafter Liebe zugetan ist, ist auf alle Fälle ein tief beklagenswerter Mensch; der Kelch seines Leidens fließt aber über, sobald dieses Weib tugendhaft ist.

7. August.

Tante, die schon lange nicht mehr böse auf Anielka ist, sagte heute scheltend, es sei unrecht, daß sie sich immer in unserer Villa so ennuyiere, sie hätte wohl außer dem Wege vom Wildbade nach Hofgastein überhaupt noch nichts gesehen; ihr Mann hätte sich schmählicherweise immer bloß allein herumgetrieben; »schade, daß ich so alt bin und verhältnismäßig so schlecht auf den Beinen, sonst wollte ich Dich schon herumführen.« Anielka meinte, es wäre ihr zu Hause am wohlsten; ich aber ließ mir den Fall nicht entgehen, sondern sagte, bemüht, einen recht gleichgültigen Ton zu wahren: »Schließlich könnte doch ich mit Anielka ein paarmal ausgehen; zu tun habe ich ja doch ohnehin nichts. Von Unpassendheit kann wohl keine Rede sein, denn wir sind ja doch Cousin und Cousine.« Anielka sagte nichts dazu; aber die beiden alten Damen gaben mir Recht. Es wird abgemacht, daß es morgen auf die Schreckbrücke gehen soll.

8. August.

Wir sind über einen Pakt einig geworden, der freilich nicht so ganz meine Erwartungen befriedigt, der aber doch wenigstens so viel für sich hat, daß alles hinfort klar und geebnet sein wird. Ich darf weder Schönes noch Neues mehr erwarten, aber ich habe doch ein Dach überm Kopfe.

9. August.

Gestern gegen Abend sind wir alle vier nach der Schreckbrücke aufgebrochen. Die beiden alten Damen sind aber gleich hinter den Kaskaden auf einer Bank sitzen geblieben, und Anielka und ich sind allein weiter marschiert. Ich versuche Anielka auf die schönsten Punkte aufmerksam zu machen, gebe es aber schon auf dem Schareck auf, denn alles außerhalb unseres Denkens und Fühlens erscheint uns leer, hohl, nichtig. Alles andere als schweigen war für uns ausgeschlossen, und so schritten wir eine ganze Zeitlang stumm nebeneinander her. Es gelang mir, jener nervösen Unruhe Herr zu werden, die ernsten Aussprachen vorauszugehen pflegt. Da ich aus meiner Praxis wußte, daß ein Geständnis an Schwere, an Eindruckskraft verliert, wenn der Mann nicht gleich durch sein ganzes Verhalten verrät, daß er etwas Unerhörtes vorhabe oder tue, so hatte ich mir vorgenommen, von der Leber weg zu sprechen, ganz so, als ob meine Liebe eine anerkannte, feststehende Sache sei. Das wurde mir natürlich um so leichter, als ich mein eigentliches Geständnis ja schon gemacht hatte. Ich brauchte also kaum zu befürchten, daß Anielka sich bei meinem ersten Worte erschrecken würde. Aber reden mußte ich, denn so konnten die Dinge nicht weiter gehen. Irgendwelche Verständigung mußte zwischen uns getroffen werden. Ich begann also gleich von dem eigentlichen Thema. »Ich glaube nicht, Anielka, daß Du Dir denken kannst,« sagte ich, »wie schmerzlich mir Deine Reisegedanken gewesen sind, kenne ich doch den eigentlichen Grund, der Dich darauf führte. Es war unrecht von Dir, mich dabei so vollständig links liegen zu lassen. Es wäre nicht am Platze, sagen zu wollen, Du hättest mich durch diese Trennung heilen wollen, denn es wäre die gefährlichste Arznei gewesen.« – Ihre Wangen glühten: ich hatte sie direkt ins Herz getroffen. Ich kann nicht sagen, denn ich weiß es nicht mehr, was sie mir darauf antwortete; der Faden ihrer Gedanken wurde aber plötzlich durch ein Schreckbild zerrissen, das dicht bei uns auf dem Wege, den wir gingen, aus dem Gestrüpp auftauchte: einen jener in der Gasteiner Gegend so häufig vorkommenden Kretins, mit unförmlichem Schädel, Kropf, platter Nase und krummen Beinen, der mit seiner Hand nach uns hin fuchtelte und bettelte. Anielka schrie ganz entsetzt auf. Ich hatte kein kleines Geld bei mir und ehe ich das ihrige fand, verstrichen einige Sekunden. In dieser Zeit wurde sie ruhiger, der Eindruck jener ersten Worte verlor an Stärke, und nachdem sie noch ein paar Minuten still neben mir hergegangen war, erwiderte sie mir mit trauriger, aber süßer Stimme: »Du bist oft ungerecht gegen mich gewesen, doch niemals so sehr, wie gerade jetzt. Du scheinst zu meinen, als ob mir alles leicht würde, als ob ich gar kein Herz hätte; und dabei ist mir um nichts besser zu Mute als Dir!« Wieder schwieg sie, mein Puls schlug heftig; ich hatte die Empfindung, als bedürfe es nur eines geringen Anstoßes noch, ihr ein unumwundenes Geständnis zu entlocken. »Anielka, was bedeuten Deine Worte? bei allem, was Dir heilig ist, sage es mir!« und sie erwiderte schnell: »Leon! lieber unglücklich als ehrlos! ich flehe Dich an, sei barmherzig mit mir, lieber Leon! ich kann Dir nicht sagen, wie elend ich mich fühle . . . alles will ich opfern, alles, bloß meine Frauenehre soll unangetastet bleiben. Diese letzte Zuflucht vergönne mir, denn sie kann und darf ich nicht aufgeben . . . Hab' Erbarmen mit mir, Leon! ich bitte Dich darum aus tiefstem Herzen.« Mit Tränen in den Augen blickte sie zu mir auf und erhob bittend die Hände zu mir; hätte ich sie in diesem Augenblick an meine Brust gezogen, so hätte sie keine Kraft gefunden zum Widerstande, wenn sie vielleicht auch nachher vor Scham und Schmerz gestorben wäre. Aber ich fand die Kraft, mich zu bezwingen, alles, Sinnenglut und Leidenschaft und selbstische Sucht, warf ich ihr vor die Füße: was galt mir dies alles ihrem Flehen gegenüber? Jedem wahrhaft liebenden Manne ist das Weib, das ihre Ehre mit der heiligen Waffe ihrer Tränen verteidigt, unverletzlich, sobald er weiß, daß ihre Tränen aus ihrem Schmerz rühren, und nicht der guten Form wegen rinnen. Ich küßte ihre Hände voll Ehrfurcht und doch auch voll Wonne und sagte tief ergriffen: »Bei meiner Liebe, Anielka, schwöre ich Dir, daß es künftig sein soll zwischen uns, wie Du es willst.«

Und wieder schwiegen wir beide. Mir war es, als hätte mein ganzes Wesen sich geläutert; ein freudiges Bewußtsein schwellte mein Herz, wie es einen beschleicht, wenn man eine schwere Krankheit überstanden hat und sich dem Leben wiedergegeben fühlt. Jetzt sprach ich mit Anielka nicht mehr wie ein Liebender, sondern wie ein ehrlicher und treuer Freund, der über dem Glück seines teuersten Wesens zu wachen für heilige Pflicht erachtet. »Es sei ferne von mir,« sprach ich, »Dich auf Wege zu führen, die Du nicht wandeln magst; denn Du durch mein Leid, und mein Leid durch Dich, haben aus mir einen anderen Menschen gemacht. Du erst hast mich gelehrt, daß Liebe und Begierde zwei ganz verschiedene Dinge sind. Aber Dir versprechen, daß ich aufhören könne, Dich zu lieben, kann ich nicht; denn in Dir, und allein Dir, beruht mein Leben. Und Du darfst sie nicht bloß dulden, diese heilige, wenn auch schmerz- und kummervolle Liebe, sondern Du darfst sie erwidern, denn auch Engel dürfen so lieben, und ich gelobe Dir diese Liebe aus freiem Willen, ernst und feierlich, wie vor dem Altare. Nie werde ich einem anderen Weibe als Dir Leben und Seele weihen; nie ein anderes Weib zur Gattin nehmen. Ich begehre von Dir keine andere Liebe als wie sie einem Toten geweiht wird; sie aber weigere mir nicht, denn an solcher Liebe haftet keine Sünde. Frage den Beichtvater, und er wird Dir sagen, was ich sage. War nicht auch Dante vermählt? und liebte er nicht seine Beatrice so, wie ich es von Dir erflehe? Kannst Du mir solche Liebe schenken, so gib mir Deine Hand darauf: und Friede und Vertrauen mag hinfort Zwischen uns walten!« – »Ich bin Dir immer zugetan gewesen in Freundschaft,« erwiderte sie nach einer Weile, indem sie mir die Hand reichte; »und ich verspreche Dir die treue Freundschaft, die Du von mir begehrst, aus vollem Herzen.«

Das Wort Liebe zu sagen, fiel augenscheinlich Anielka schwer, sie bangte sich wohl auch davor, es auszusprechen, und doch berührte das Wort Freundschaft mich kalt wie Eis. Aber sollte ich den kaum errungenen Frieden um eines bloßen Wortes willen gleich wieder aufs Spiel setzen? Es lohnte wahrlich nicht der Mühe, wir waren beide des Kämpfens müde und der Ruhe bedürftig; darum verhielt ich mich still; war sie nicht trotzdem mein? und mir durch geistige Ehe verbunden? Wer gleich mir Verständnis gefunden hat für alle menschlichen Regungen, der muß auch Verständnis finden dafür, daß nicht immer das rechte Wort für einen Zustand oder Tatbestand über weibliche Lippen den Weg findet oder finden kann, nun gar erst über Anielkas Lippen! es war ja doch alles, was sie gesagt hatte, weiter nichts als ein Einbekenntnis unserer Seelengemeinschaft . . . was also wollte ich mehr?

Auf dem Rückwege von der Schreckbrücke suchten wir uns in unsere neue Lage hineinzufinden, etwa so, wie in eine neue Wohnung; ein wenig ungewohnt war uns die Sache begreiflicherweise, aber daß wir uns noch nicht so recht heimisch fühlen konnten, bereitete mir eigentlich erst recht Freude; ich malte mir aus, das müsse doch etwa so sein wie bei jungen Eheleuten, die sich zwar für das Leben verbunden wissen, aber in den ersten Stunden nach der Trauung noch nicht recht wissen, wie sie zu einander stehen, was sie miteinander anfangen sollen. Wir plauderten kaum von etwas anderem als uns, und ich gab mir, auf die ideale Schönheit unseres Bundes fußend, alle Mühe, sie ruhig zu stimmen und ihr Vertrauen zu wecken; sie dagegen lieh mir Gehör mit verklärter Miene, und aus ihren schönen Augen leuchtete selige Wonne. Ich reichte ihr den Arm. Wir gingen langsam weiter. Da zuckte sie plötzlich zusammen, wurde leichenblaß, und als ich ängstlich fragte, was ihr sei, wollte sie es erst nicht sagen, sagte aber nach einer kleinen Weile, hier sei ja die Stelle, wo sie sich eben noch vor dem Kretin so schrecklich geängstigt habe . . . »Ich muß mich wirklich schämen darüber, daß ich so stark nervös bin; denn wieso das unglückliche Wesen mir ein solches Grauen eingejagt hat, könnte ich nicht erklären, wenn ich danach gefragt würde. Ach, wenn dieses Wesen uns bloß nicht wieder in den Weg kommt!« Trotzdem ich ihr die Versicherung gab, daß das nicht der Fall sein werde, und daß ihr, wenn es der Fall sein sollte, ja doch nichts geschehen könnte, blickte sie sich scheu nach allen Seiten um.

Wir kamen erst wieder zu den Wasserfällen zurück, als die Dämmerung schon eingebrochen war. Es herrschte eine ungewöhnliche Wärme, und vor dem Hotel saßen sehr viel Menschen, denn es spielten mehrere Harfenistinnen. Seltsam, wie lebhaft mich heute diese Gasteiner Promenade an Italien erinnert! wie oft war ich in solcher Dämmerstunde, sehnsüchtiges Verlangen nach Anielka im Herzen tragend, in Rom auf dem Pincio promeniert, und jetzt wandelte Anielka, auf meinen Arm gestützt, an meiner Seite; mir vermählt in geistiger Ehe! Berauscht von seliger Wonne, schritten wir unserer Villa zu . . .

10. August.

Ich habe heute noch einmal nachgesonnen über die Worte, die Anielka auf der Schreckbrücke zu mir gesprochen hat. Vor allem über den in so heftigem Schmerze getanen Ausruf: »Ich kann Dir nicht sagen, wie elend ich mich fühle!« Lag nicht in diesen Worten ein wehmutsvolles Geständnis, daß sie ihren Mann nicht liebte? daß sie diesen Mann niemals würde lieben können?! lag nicht das weitere Zugeständnis darin, daß ihr Herz für mich fühlte?! War Anielka nicht also unglücklich wie ich? ich sage mit Vorbedacht »war«, denn heute ist sie nicht mehr unglücklich, heute ist ihr Gewissen ruhig, heute darf sie bekennen: ich wahre ihm die Treue, meine Frauenehre bleibt unangetastet, alles übrige sei dem lieben Gott anheimgegeben . . .

11. August.

Nein! zu dem Begehren, sie solle mir alles opfern, habe ich kein Recht besessen, denn es ist töricht zu sagen, der Liebe müsse der Mensch, Mann wie Weib, alles opfern. Wie fiele es mir denn ein, Kromitzki Abbitte zu leisten, wenn ich ernsten Zwiespalt mit ihm hätte und Anielka mich im Namen unserer Liebe darum bäte? Schon bei dem bloßen Gedanken an solche Zumutung empört sich mein ganzer Sinn . . . Nein, nein! Du hast recht, Anielka! gewisse Dinge kann und darf man nicht zum Opfer bringen, auch nicht um der Liebe willen.

12. August.

Heute bin ich mit Anielka auf der Windischgrätz-Höhe gewesen. Wir hatten einen Zelter gemietet, den Anielka ritt und ich führte. Als sie sich in den Sattel schwang, hatte sie sich meiner Hand als Stütze bedient, und sofort hatte sich wieder der alte Mensch in mir geregt. Was soll ich tun dagegen? Mich meiner Sinne entäußern kann ich doch nicht: das hieße doch aufhören zu atmen; und wenn ich Anielkas Hand berühren könnte ohne alle Empfindung, wie ein Stück Holz, nun, dann hätte ich mich doch überhaupt nicht zu verpflichten brauchen, meine Sinne im Zaume zu halten! Ich habe sie ja nicht belügen wollen, als ich ihr sagte, sie habe mich zu einem anderen Menschen gemacht; ich habe mich da bloß nicht ganz korrekt ausgedrückt. Wer je ein Weib wahrhaft geliebt hat, wird den Sinn meiner Worte verstehen. Ein Dichter hat von unseren Passionen gesagt, sie seien Hunde; nun gut, dann habe ich »meine Hunde« eben angebunden und lasse sie hungern; aber ihnen das Zerren und Winseln auszutreiben, geht über meine Kräfte. »Ultra posse nemo obligatur

Aber das Wort Freundschaft hat mich doch getroffen wie ein Nadelstich, der zuerst nicht sehr beachtet wird, sich aber mit der Zeit entzündet und zur schmerzenden Wunde wird. Was bei ihr Freundschaft heißt, heißt bei mir Seelenliebe, und besagt mir doch mehr, wesentlich mehr. Der Ausdruck Freundschaft kommt mir jetzt zu vorsichtig gewählt vor, zu klug begrenzt. Es ist doch recht bezeichnend für die weibliche Natur, daß keine Frau die Dinge beim rechten Namen nennen mag. Anielka hat doch recht gut verstanden, was ich will und was ich sagte, und doch gebraucht sie dieses bemäntelnde Wort! Ich muß wirklich zusehen, daß mir das scheue Vögelchen nicht noch wegfliegt.

Ich könnte ja mit vollem Rechte zu ihr sagen: »Während ich die Hälfte meines Wesens für Dich hingebe, willst Du mir die Worte zumessen?« Liebe ohne Großmut, ohne Opferwilligkeit ist doch ein Unding, und im Geiste mache ich ihr diesen Vorwurf unzählige Male. Ich hätte doch eben nach solcher Regelung unseres Verhältnisses gemeint, daß ich innerhalb der Vertragsgrenzen volle Freiheit genießen würde, von früh bis Abend in dem lieben Wort »ich liebe« schwelgen und meine Ohren auch an dem lieben Wort aus ihrem Munde würde laben können. Ich hatte gemeint, daß mir dieser bescheidene Genuß die Entschädigung sein sollte für all das Leid, das ich gelitten hatte, und hatte geträumt, daß es mir vergönnt sein würde, König zu sein in diesem meinem Reichlein. Das ist aber nicht allein nicht der Fall, sondern dessen enges Gebiet wird immer enger und enger, und zweifelnd lege ich mir die Frage vor: was hast du denn nun eigentlich profitiert?

Nun, etwas doch, und deshalb sei es mir ferne zu murren: ich sehe doch, daß ihr liebes Gesichtchen wieder von Glück strahlt, daß ihre Augen wieder leuchten, ihre Lippen wieder lächeln! und der Eindruck der Enge, der Unbehaglichkeit, den mir die neuen Räume machen, ist wohl zurückzuführen darauf, daß ich mich noch nicht hineingewöhnt habe . . . und sollte ich wirklich nicht viel profitiert haben, so muß ich mir doch sagen, daß ich ja doch gar nichts zu verlieren hatte! Und das, das vergesse ich nie!

14. August.

Die Tante beschäftigt sich ernstlich mit dem Gedanken an die Rückreise; sie kommt schier um vor Heimweh nach Ploshow. Auch Anielka will gern wieder heim. Ich fragte sie, und da sagte sie es. Ich war lange der Meinung, eine Ortsveränderung würde Wunder bewirken, aber auch ich sehe ein, daß sich an Ploshow der lieben Erinnerungen gar zu viele knüpfen. Ich freue mich gleichfalls darauf, wieder dort zu sein.

18. August.

Gestern habe ich wieder einmal nicht schlafen können. Lange habe ich mich ruhelos hin und her geworfen, bis ich endlich Trost in der Einbildung fand, Anielka sei mir erschienen: das ist immer wie Balsam für mein wundes Gemüt . . . ich kann sie mir so lebendig vors Auge zaubern, daß ich mich in den Gedanken hinein lebe, sie sei wirklich bei mir, und ich könne mit ihr sprechen. Zuerst stand sie vor mir wie damals auf dem Balle, als ich sie zum ersten Male als erwachsenes Fräulein sah und sie mir ihre Tanzkarte zum Einschreiben gab. Ich sah sie ganz deutlich vor mir, wie sie neckisch zu mir sagte: »Schreib ein, was Du willst.« Ich sah sie ganz deutlich in dem weißen, mit Veilchen geschmückten Kleide, und in den entblößten Schultern; ich sah es ganz deutlich, das liebe Gesichtchen mit seiner an den Morgentau erinnernden Frische, mit den kühnen Brauen, den langen Wimpern und dem zarten Flaum auf den Wangen. Ihre Frage: »Ei, Leon, kennst Du mich denn nicht mehr?« klingt mir noch in den Ohren; und ich gedenke dessen, was ich damals niedergeschrieben habe: daß mir dieses Gesichtchen mit seiner wundersamen Vermischung von mädchenhafter Anmut und echt weiblicher Huld den Eindruck von verkörperter Musik mache. Kein Weib hat mich je so berauscht wie Anielka, und bloß einer solchen »Circe im Superlativ« wie dieser Laura konnte es gelingen, mich ihr auf Zeit zu entfremden . . . In dieser Nacht war es, daß mir einfiel, es gäbe ja von Anielka noch gar kein Porträt! und diesem Einfall auf dem Fuße folgte der heiße Wunsch, eins zu besitzen. Darüber schwand mir alle Lust zu schlafen. O, jubelte ich laut, so besitze ich Dich dann! so kannst Du mich nicht von Dir stoßen! so werde ich Dir Augen, Lippen, Hände küssen dürfen! Anielka selbst durfte ich freilich nicht sagen: »Komm, laß Dich konterfeien! was es kostet, bezahle ich« . . . aber die Tante, die ja doch immer tut, was ich will, die kann's ihr sagen, die kann sich ein Porträt von ihr wünschen; und der Tante schlägt sie den Wunsch ganz bestimmt nicht ab. In Ploshow hängen ja ein paar Dutzend Ahnenbilder: der Tante eine Wonne, und mir ein Greuel, denn es sind gräßliche Schmierereien darunter; aber die Tante will ihre ganze Verwandtensippschaft so vollzählig wie möglich haben; mein Einfall kann ihr also nur sympathisch sein. Aber wer sollte Anielka malen? Zuerst dachte ich an Paris: hier hätte ich die Wahl gehabt zwischen Bonnat mit seiner peinlichen Sauberkeit, Chaplain mit seiner süßlichen Weichheit, Duran mit seiner losen Keckheit. Die Reise nach Paris ließ sich aber meinen Damen nicht zumuten. Zudem würde die Tante doch einem polnischen Maler unbedingt den Vorzug geben. Dagegen wäre schließlich nichts einzuwenden gewesen, denn auf den letzten Ausstellungen in Krakau und Warschau hatte ich Bilder gesehen, die mit jeder berühmten Leistung des Auslandes den Vergleich bestanden hätten. Aber mir lag daran, keine Zeit zu vergeuden. Ich bin nun einmal in mancherlei Dingen das reine Frauenzimmer, und nicht zum wenigster trifft das zu im Punkte der plötzlich sich regenden Gelüste: von heut auf morgen zu warten, dünkt mir schon wie eine halbe Ewigkeit, und da wir nun in deutschem Lande waren, unweit von München und Wien, so dachte ich an Lenbach und Angeli. Von Lenbach habe ich nur männliche Porträts gesehen; aber ich muß sagen, mir gefällt die selbstgewisse Flüchtigkeit darin nicht. Bei den Franzosen lasse ich diese Manier eher gelten, weil ich nun einmal für ihre Malerei schwärme. Von Angeli kann ich auch eben nicht sagen, daß er mich voll befriedige; es läßt sich ihm aber eine zarte Hand in seinen weiblichen Porträts nicht abstreiten, und darauf scheint es mir bei Anielkas Gesicht in erster Linie anzukommen. Sodann haben wir es zu Angeli ein ganzes Stück näher als zu Lenbach; und wenn es auch kleinlich erscheinen mag, hiermit zu rechnen, so kann ich es nun einmal nicht ändern, daß es mir eilt, Anielkas Porträt zu besitzen. Von Balltoiletten bei Porträts bin ich eigentlich kein Freund; aber ich will Anielka gemalt haben, wie ich sie mir am liebsten vorstelle: in dem weißen Kleide mit dem Veilchenschmuck; ich will mir die Illusion nicht trüben lassen, als sei sie noch immer meine einstige Anielka. Ich mag mich durch nichts daran erinnern lassen, daß sie jetzt Frau Kromitzka heißt. Ich schlief erst gegen fünf Uhr ein, war aber um acht schon auf den Beinen und eilte noch vor dem Tee ins Hotel, um im Bureau des Künstlerhauses in Wien telegraphisch anzufragen, ob Angeli zu Hause sei. Unterwegs überlegte ich mir, der Tante das Bild als Geschenk zu ihrem Namenstage anzubieten, der auf Ende Oktober fällt, damit sie nicht auf den Einfall kommen könne, den Auftrag einem polnischen Maler zuzuwenden. Die Damen saßen, als ich zu Hause ankam, schon beim Tee, und ich steuerte ohne weiteres auf mein Ziel los. »Ach, Anielka,« sagte ich, »ich muß Dir bekennen, daß ich heute nacht über Dich in gewissem Sinne disponiert habe, ich komme aber reumütig zu Dir mit der Bitte um Absolution.« Sie sah mich ängstlich an; es machte mir fast den Eindruck, als ob sie im ersten Augenblick dachte, ich sei nicht recht bei Sinnen und vielleicht gar imstande, sie vor den alten Damen zu brüskieren, aber als sie mir ins Gesicht sah, mochte sie wohl gleich anderen Sinnes werden, denn sie fragte ruhig: »Nun, und in welcher Weise hast Du denn disponiert über mich, wenn man fragen darf?«

Ich wandte mich an die Tante mit der Antwort: »Es sollte eigentlich für Dich eine Ueberraschung sein, Tantchen,« sagte ich; »aber es geht doch eben nicht zu machen, ohne daß Du etwas darüber erfährst. Darum ist es besser, ich sage Dir gleich, was ich Dir als Präsent zugedacht habe.« Tante war außer sich vor Freude, als sie hörte, um was es sich handle, und sagte, etwas Schöneres hätte ich ihr wirklich nicht aussuchen können: da kämen doch wenigstens Cousin und Cousine in den Bildern nebeneinander. Auch Anielka schien sich sehr darüber zu freuen; und das war mir eigentlich die Hauptsache. Es entstand sogleich eine lebhafte Diskussion über die Wahl des Malers, über die Toilette, in welcher sich Anielka malen lassen solle, denn das sind ja immer Punkte, die für die Damenwelt von außerordentlichem Interesse sind. Ich hatte auf alles die richtige Antwort und machte dabei die Wahrnehmung, daß sich neben dem Bilde für mich noch ein anderer Profit machen ließ. »Ich habe bereits telegraphisch angefragt, ob wir Angeli in Wien treffen; wenn wir Nachricht bekommen, daß dies der Fall ist, so kann ihm Anielka ja vier- oder fünfmal sitzen. Unsere Weiterreise nach Ploshow wird sich dann nur unerheblich verzögern, da wir ja auch den Professor Nothnagel zu konsultieren beabsichtigen. Mehr als fünfmal wird Anielka nicht zu sitzen brauchen; wir können ja ihre Photographie mit dem Briefe gleich mitschicken, auch eine Haarflechte von ihr: Angeli kann dann gleich mit der Skizze beginnen, vielleicht schon untermalen, ehe wir in Wien sind. Das fördert natürlich erheblich. Die Haarflechte kann mir ja Anielka gleich behändigen.« Ich verließ mich dabei darauf, daß den Damen der eigentliche Vorgang beim Porträtieren nicht bekannt war, denn das Haar hätte Angeli nur dann gebraucht, wenn er das Bild direkt nach der Photographie hätte malen sollen. Da sich dazu aber kein Angeli hergegeben hätte, mußte mein Wunsch natürlich einen anderen Grund haben; es kam aber keine der Damen darauf, daß ich die Haare lediglich für mich als Erinnerung haben wollte.

Zwei Stunden später kam der Brief von Wien mit der Nachricht, daß Angeli zur Zeit in Wien sich aufhalte, weil er die Fürstin Metternich porträtiere. Ich antwortete auf der Stelle, tat die Photographie Anielkas, die ihre Mama mir brachte, in den Brief und fragte dann Anielka, wo denn die Haarflechte bleibe? der Brief solle noch vor zwei Uhr im Kasten sein. Sie ging nach ihrem Zimmer und erschien nach sehr kurzer Zeit wieder mit dem Haar.

Ich nahm es, meine Hand zitterte, ich sah ihr fest ins Auge. »Solltest Du nicht ahnen, daß ich dies Haar bloß haben will für mich? als kostbares Zeichen der Erinnerung?« diese Frage stand in meinen Blicken zu lesen; aber sie gab mir keine Antwort, und doch hatte sie die stumme Frage verstanden, denn sie wurde rot wie ein junges Backfischlein, das zum ersten Male von Liebe flüstern hört . . .

22. August.

Anielkas Mutter hat ihre Kur beendigt, aber wir warten noch auf besseres Wetter. Erst herrschte krasse Hitze, jetzt stecken wir so tief im Nebel, daß sich der Weg von unserer Villa bis zum Hotel Straubinger selbst zur Mittagszeit nicht leicht finden läßt. Im ganzen Gasteiner Tale herrscht eine richtige ägyptische Finsternis. Wir müssen schon um zwei Uhr nachmittags die Lampe brennen. Immerhin wird von den Damen alles zur Abreise fertig gemacht, und wir brachen vielleicht trotz der Finsternis auf, wäre nicht hinter Hofgastein der Weg zum Teil durch die von den Bergen niederströmenden Gewässer zerstört worden. Frau Celina hat ihren ersten Migräneanfall wiederbekommen. Aus Ploshow ist vom alten Chwastowski ein Brief eingetroffen. Tante rennt wie eine summende Hummel von früh bis spät im Speisezimmer herum, und Anielka sieht heut recht schlecht aus: sie sagt, sie habe in dieser Nacht von dem Kretin geträumt, vor dem sie sich auf der Schreckbrücke so geängstigt hatte. Sie war infolgedessen aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Es ist doch verwunderlich, daß dieser Schreck so nachhaltig auf sie gewirkt hat! Ich gab mir alle Mühe, sie auf andere Gedanken zu bringen. Es fiel mir auch nicht gerade schwer, denn seit jenem Ausflug und der auf ihm getroffenen Aussprache ist Anielka wieder viel heiterer gestimmt als in der ganzen Zeit vorher.

23. August.

Morgen reisen wir ab von Gastein. Der Wind kommt jetzt aus Osten und der Himmel fängt an, sich aufzuklären. Der Nebel zieht sich in langen Schleifen, die ganz aussehen wie plumpe Ungetüme, an den Berglehnen hin und über die Schluchten, die sich die Bäche graben, weg. Ich habe mit Anielka eine Promenade auf dem Kaiserwege gemacht. Da ist mir eingefallen, was wohl passieren möchte, wenn Anielka unser jetziges Verhältnis selbst satt bekäme? Den Fuß über die mir durch dasselbe gezogenen Grenzen zu setzen, steht mir kein Recht zu. Wenn sie nun ganz ebenso dächte? wenn sie annähme, daß unsere Absprache sie ganz ebenso binde wie mich? dann kämen wir ja nie zu einem Ziele, sondern quälten uns ganz unnützerweise! Aber nicht doch, das sind ja nur leere Hypothesen! sie kann und wird mir aus freiem Willen nun und nimmermehr ihre Liebe zugestehen; davon hält sie die ihr angeborene Scham und Schüchternheit zurück! dazu bedünkt sie schon unser platonisches Verhältnis für zu freigeistig, und wenn sie auch nur im entferntesten daran dächte, über dasselbe hinauszugehen, so wäre sie doch nicht jetzt so bemüht, mir halb mit, halb ohne Wissen das Recht zu verkürzen, das sie mir durch jene Absprache zugestanden hat! Aber klammert sich die menschliche Seele nicht selbst im Höllenrachen noch an die Hoffnung? Ich nahm mir deshalb vor, mich für jeden möglichen Fall vorzusehen und Anielka darüber aufzuklären, daß die zwischen uns getroffene Absprache wohl mich verpflichtet, ihr aber freie Hand läßt, daß ich demnach alles Weitere als von ihrer Gnade abhängig betrachte. Sie war aber an diesem Morgen so überaus fröhlich und herzlich, daß ich von dem Gedanken wieder abkomme, denn ich mag sie nicht dadurch betrüben. Im Laufe des Tages aber sagte sie Worte, die sie sicher nicht gesagt hätte, wenn ich mich nicht in der ganzen letzten Zeit immer nur in so ganz allgemeinen Worten ausgedrückt hätte. Ich hatte die Aeußerung getan, daß in der Natur der Liebe ein treibendes Agens liege, das unbedingt eine Willenshandlung hervorrufe. Hierauf hatte Anielka mit den wenigen Worten geantwortet: »Oder der betreffende Mensch leidet eben!« Mit diesem so äußerst wahren Worte hat mir Anielka den Mund verschlossen, hat Ehrfurcht in mein Herz gepflanzt! Solche Rede macht selig und elend zugleich, denn sie bekundet, daß Anielka mich ebenso heiß liebt wie ich sie, und daß sie nur strebt, sich vor ihrem Gott, in ihren und meinen Augen rein zu erhalten. Und ich sollte solchen Tempel zerstören? Nein! nein!

Diese Zergliederung von Anielkas Herzen und seinen Empfindungen führt mich aber zu keinem Resultate, ich stehe vielmehr unentwegt am Scheidewege, denn zu dem dreifachen »Ich weiß nicht«, zu dem ich es bis jetzt gebracht hatte, dem religiösen, philosophischen und sozialen, ist bis jetzt noch ein viertes gekommen, ein rein persönliches, das jedoch für mich am allergefährlichsten werden kann, insofern als es die selbstgeschmiedete Kette, die mich an Anielka fesselt, noch fester schmieden muß, so daß ich nie mehr wieder von ihr frei werden kann. Ich muß mich aber doch auch fragen, ob meine Liebe zu ihr nicht bloß verzweifelter Natur, sondern ob sie nicht etwa krankhafter Natur ist. Vielleicht könnte ich mich von ihr noch frei machen, wenn ich jünger wäre, wenn ich normaler empfände, wenn ich gesünder an Leib und Seele wäre; vielleicht könnte ich dann wenigstens einen Versuch dazu machen, aber bei der Verfassung, in der ich mich befinde, ist sogar auch das ausgeschlossen. Es kommt mir immer so vor, als sei meine Liebe eine Nervenkrankheit, die schon an Manie streift, ähnlich der späten Leidenschaft eines alternden Menschen, der sich mit allen Fasern an sie klammert, weil sie zur Lebensfrage für ihn geworden ist. So mag jemand empfinden, der in eine Tiefe stürzt und sich an einem Zweige festhält, den er im Sturze noch faßt. Auf meinem ganzen Lebensacker ist eben nichts weiter gewachsen, als diese eine Liebe, und um deswillen eben ist sie so übermäßig gewachsen! es ist eben die Neurose, die allen modernen Erzeugnissen einer im Schwinden begriffenen Epoche im Blute liegt, die den Menschen mit solcher Hysterie behaftet, daß er entweder unfähig wird zur Liebe, oder Liebe mit Wollust verwechselt.

Wien, 25. August.

Wir sind in Wien. Auf der Fahrt hatte Anielka mit ihrer Mutter eine Unterhaltung geführt, die von eigentümlicher Wirkung auf sie war und darum aufgezeichnet zu werden verdient. Es war die Rede von dem weißen Kleide, das ich für das Porträt wünschte, und auf das verzichtet werden sollte, weil über seiner Anfertigung zu viel Zeit verloren ginge. Da äußerte die Mama, die für Daten ein sehr scharfes Gedächtnis hat, daß gerade heut vor acht Wochen Anielkas Mann nach Ploshow gekommen sei. »Stimmt das nicht, Anielka?« fragte sie . . . und Anielka erwiderte: »Ich glaube, es ist so,« während eine tiefe Röte sie übergoß. Sie stand auf und machte sich mit dem Handgepäck zu schaffen. Es machte mir den Eindruck, als ob es ihr darum zu tun sei, diese Röte zu verbergen . . . Die beiden alten Damen sahen nichts davon, aber mir machte es, als sie sich wieder umdrehte, ganz den Eindruck, als ob auf ihrem Gesichte ein schrecklich peinvoller Zug stände, die Röte aber noch nicht ganz davon gewichen sei. Es berührte mich aufs widerlichste, daß die beiden alten Damen sich nun gar noch um den genauen Tag von Kromitzkis Ankunft zu streiten anfingen, denn mir stand ganz genau vor der Seele, welche rasende Pein ich empfand, als ich mir ausgemalt hatte, daß an diesem Tage Anielka seine Liebkosungen und Küsse hatte über sich ergehen lassen – müssen! Jetzt schämte ich mich dieser Röte auf ihren Wangen! Bevor aus dem Munde der Mama diese Bemerkung fiel, hatte ich mich beinahe glücklich gefühlt, denn ich hatte mich in die Vorstellung wiegen können, daß wir beide als Brautleute in dem Eisenbahnabteil säßen . . . und nun? nun war nicht bloß der Wahn verflogen, sondern Anielkas Benehmen kam mir sogar vor wie eine Kränkung, so daß sich auch mein Benehmen gegen sie mit einem Male vollständig änderte . . . Das empfand sie auf der Stelle, und sobald wir im Wartesaale in Wien allein zusammen waren, richtete sie die Frage an mich, ob ich ihr etwa böse sei? – »Nein,« versetzte ich unwirsch, »aber ich liebe Dich.« Während sie darüber betrübt wurde, denn sie mochte meinen, mir sei unsere Absprache leid geworden, und ich sei wieder der alte geworden, geriet ich in hellen Zorn, weil ich mir sagte, daß mich all meine Erkenntnis nicht in stand setzte, die kleinste Widerwärtigkeit zu unterdrücken, daß vielmehr mein innerer Zwiespalt wuchs, und daß ich mit, aller Philosophie keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken könnte.

Wir fuhren sofort vom Bahnhofe nach Angelis Atelier, kamen aber doch erst nach sechs Uhr dort an und fanden es natürlich bereits geschlossen. Wir können nun erst morgen hingehen. Ich habe mir die Sache mit dem weißen Kleide überlegt und will darauf verzichten. Nacken und Schultern werden also verhüllt erscheinen; davor werde ich aber Anielka so bekommen, wie ich sie immer sehe, und wie sie mir ja auch schließlich am liebsten ist.

Gegen Abend war Doktor Chwastowski bei uns; noch immer der Mann von blühendster Gesundheit, noch immer der Jahrmarktsherkules!

26. August.

Ich muß dies heutige Blatt mit einem abscheulichen Traume beginnen, der mich in der Nacht heimgesucht hat. Daß ein gesundes Menschengehirn solch wüstes Zeug träumen könne, will mir nicht möglich erscheinen. Sonst bin ich von Schlaflosigkeit geplagt, und in dieser letzten Nacht habe ich in einem Schlafe schwer wie Blei gelegen. Ich vermute indessen, daß mich der wüste Traum erst gegen Morgen überfallen hat, denn ich bin erst aufgewacht, als es schon hell draußen war, und lange konnte ich nicht geträumt haben . . . Ich träumte, Tausende von häßlichen Mistkäfern kröchen aus allen Ritzen und Spalten von Bettwand und Matratze hervor, und mit ihren wie Haken geformten Beinen an der Tapete hinauf, und das Gekrabbel dieser Unmasse von Beinen erfüllte mir die Ohren mit geradezu schrecklicher Musik. Ich sah im Traume zur Zimmerdecke hinauf und sah in dem einen Winkel derselben einen ganzen Klumpen von solchen Käfern, die aber anders gefärbt, weiß und schwarz gefleckt, waren und etwa die Größe einer Streichholzschachtel hatten. Trotzdem mich der Anblick anwiderte, wunderte ich mich doch weder, noch fürchtete ich mich, sondern mir kam vielmehr die ganze Szene recht natürlich vor, und erst als ich wach wurde und wieder bewußt zu denken anfing, wurde mir die Empfindung von Ekel unausstehlich und wuchs zu einer richtigen Todesangst. Noch nie im Leben hatte ich solch unbeschreibliches Grauen gefühlt, und der Gedanke beschlich mich, daß drüben im Jenseits, in seiner grauen Finsternis, dergleichen gräßliches Viehzeug sich breit machen möge. Mit einem Satz war ich aus dem Bett und zog die Jalousie auf. Als es hell im Zimmer wurde, fiel mir ein, daß ich einmal in irgend einem Museum solche gefleckten Käfer gesehen hatte, und das stimmte mich ruhiger. Ich sah, daß auf der Straße unten bereits wieder Leben herrschte. Dienstboten mit Körbchen an den Armen besorgten Einkäufe, Arbeiter in Blusen suchten ihre Werkstätten auf; solches Bild der ewig notwendigen menschlichen Tagesarbeit ist immer das wirksamste Palliativ gegen Hirngespinste und Wahngebilde. Daraus, daß ich nach Licht und Leben jetzt förmlich lechze, muß ich wohl oder übel auf fortschreitende Zerrüttung meiner Gesundheit schließen; die Frucht wird vom Wurme, und ich werde von den traurigen Vorgängen, die sich in meinem Herzen abspielen, ausgehöhlt. In meinem Bart und meinem Kopfhaar zeigen sich die ersten grauen Fäden, mein Gesicht bekommt eine wachsgelbe Färbung, meine Hände werden stark transparent. Die grauen Fäden mögen ja durch die Zeit bedingt sein, die beiden anderen Umstände aber kann ich nicht damit recht in Zusammenhang bringen, daß ich eher dicker werde als mager; mich befremdet übrigens auch das letztere, denn ich weiß ebenso gut, daß ich an Blutarmut leide, wie ich auch einer Psychose nicht mehr fern bin. Es geht eben auch mit meinen physischen Kräften bergab . . . Indessen bangt mir jetzt nicht mehr vor Einbuße meines Verstandes; daß es mir jemals an der Fähigkeit fehlen sollte, mich selbst zu beherrschen, kann ich mir nicht vorstellen. Aber vor einem schweren Nervenleiden bangt mir, denn was das heißt, davon habe ich eine ungefähre Vorstellung, und ich muß daraufhin sagen, daß mir jede andere Krankheit lieber wäre. Die Tante dringt in mich, einen Arzt zu konsultieren, aber ich scheine die Abneigung vor ärztlichem Wissen von meinem Vater geerbt zu haben; mir fehlt jegliches Zutrauen zu Aerzten, wenigstens zu denjenigen Aerzten, die auf ihre Medizin schwören. Ich wüßte schon, was mich kurieren würde: dieser Kromitzki müßte das Zeitliche segnen, und Anielka müßte meine Frau werden, da fände ich meine Gesundheit schnell wieder, denn für Nervenkrankheiten von meiner Art gibt's kein anderes Heilmittel als Nervenreize; aber daß Anielka mir würde Arznei sein wollen, und wenn es sich um mein Leben handelte, das kann ich nicht glauben.

Tante und ich waren mit ihr bei Angeli. Die erste Sitzung hat also stattgefunden. Ich habe wirklich recht gehabt in meiner Meinung von Anielkas Schönheit; auch Angeli vertieft sich in ihren Anblick, wie in den eines hervorragenden Kunstwerkes. Er ging mit Feuer an die Arbeit und machte von der Begeisterung, die ihn erfüllte, kein Hehl. »Ein so herrliches Modell,« sagte er, »finden wir Maler höchst selten. Hier ist nichts alltäglich. Ausdruck und Züge sind geradezu unvergleichlich.« Dabei kam es mir vor, als sei heute ihre Schönheit beeinträchtigt durch die Schüchternheit oder Verschämtheit, die zuweilen so lebhaft war, daß es ihr nur mit Mühe gelang, eine natürliche Haltung zu bewahren. Aber Angeli fand dies ganz erklärlich und meinte, die zweite Sitzung würde schon viel besser werden, denn der Mensch müsse sich nun einmal erst gewöhnen. Sie trug ein sehr elegantes Kleid von schwarzer Seide, das ihre Figur besonders scharf hervorhob. Ich bin wirklich ganz außerstande, darüber ruhig zu denken, geschweige zu schreiben. Zuerst brauchte Angeli ihr gegenüber die Anredeform »Mademoiselle« und es machte mir den Eindruck, als ob ihr das Freude bereitete. Die weibliche Natur ist und bleibt doch wunderlich, auch wenn sie ans Engelhafte streift. Als Angeli, über seinen Irrtum von mir aufgeklärt, hinzusetzte: »Das wird mir wohl aber noch öfter passieren, die gnädige Frau so zu titulieren, denn der Irrtum liegt so nahe, daß man ihn gar nicht vermeiden kann,« schien Anielka sich noch mehr zu freuen. Tiefe Glut malte wieder ihre Wangen, und sie sah geradezu entzückend aus, so daß ich mich auf dem Heimwege nicht erwehren konnte, ihr zuzuflüstern: »Du ahnst wirklich nicht, Anielka, wie wunderschön Du bist!« Sie sagte kein Wort darauf, zeigte aber an diesem Tage in ihrem Wesen einen leisen Anflug von Koketterie. Die Worte des Malers, vielleicht auch meine eigenen, schienen sie wirklich angenehm berührt zu haben. Sie mußte ja auch empfinden, wie tief ich sie bewunderte . . . o, was will das Wort »bewundern« sagen, meiner Empfindung ihr gegenüber sagen? liebe ich sie doch grenzenlos, vorbehaltslos!

Abends haben wir uns den »Fliegenden Holländer« angehört. Mich interessierte die Musik nur von dem Gesichtspunkte aus, welche Wirkung sie wohl auf Anielka haben möchte: ob sie ihr zu Herzen dränge? ob sie dies Herz der Liebe zugänglich machte? Aber es scheint, als ob die Frauen überhaupt nicht ausschließlich lieben, als ob vielmehr ein Eckchen in ihrem Herzen immer für das eigene Ich und für die Eindrücke der Außenwelt frei von ihnen gehalten würde.

27. August.

Die Tante hat keine Ruhe mehr: sie will nach Ploshow; hier sei sie ja nicht bloß zu gar nichts nütze, sondern eher noch hinderlich; sobald sie wieder zu Hause sei, könnten wir ja dem Bilde soviel Zeit widmen, wie dazu von nöten sei, ohne uns irgendwie beengt oder gestört zu fühlen. Wir rieten ihr ab, da solche weite Reise für eine Dame ihres Alters doch kein Kinderspiel sei; aber sie wollte sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Nun blieb mir natürlich nichts anderes übrig, als die Erklärung, sie begleiten zu wollen; ich sah mit Bangen ihrer Entscheidung entgegen, ob sie ja zu dieser Erklärung sagen werden oder nein. Aber Tante wollte absolut nichts von meiner Reisegesellschaft wissen und lehnte höchst kategorisch ab. »Was sollte denn aus Anielkas Sitzungen bei Angeli werden, wenn einmal Celina nicht mitgehen könnte? Allein kann man sie doch nicht hingehen lassen! davon kann also gar keine Rede sein, Leon, daß Du mitfährst!« Dann drohte sie Anielka mit dem Finger und sagte neckisch: »Du denkst am Ende gar, ich hätte nicht gesehen, wie eifrig der Maler Dich anguckt? O, Dich kleinen Schalk muß man erst kennen!« – »Aber, Tantchen! er ist doch schon ein alter Mann!« wehrte lächelnd Anielka, küßte aber der guten Tante die Hand. – »Du hast gut reden,« brummte die Tante, noch immer neckisch; »hm, soviel Artigkeiten brauchte er Dir trotz allem nicht zu sagen . . . Leon, Du mußt schon hier bleiben, das geht nicht anders, und mußt auf die beiden ein bißchen aufpassen.«

Ich bin sehr froh darüber, daß ich nicht mit nach Ploshow fahren soll. Frau Celina bestimmte die Tante, das Mädchen mitzunehmen, das in Gastein bei uns war; zuerst wollte sie Anielka nicht der Dienste der braven Person berauben. Dann aber willigte sie drein, da Anielka sagte, im Hotel ließen sich die Dienste einer Zofe doch recht gut entbehren . . . Tante wird also morgen abreisen . . .

Anielka hatte heut eine lange Sitzung . . . es ging wirklich viel besser . . . das Gesicht ist bereits untermalt.

28. August.

Mit dem Frühzug ist die Tante abgedampft.

Anielkas Mama hat von der Malkunst keinen Dunst. Sie war heut mit zur Sitzung und konnte, als sie das erst untermalte Gesicht ihrer Tochter sah, fast einen Aufschrei nicht unterdrücken, denn sie hielt es für ausgeschlossen, daß dies ein Bild und keine Kleckserei sein sollte. Angeli ahnte, wie es zusammenhing, und tröstete die Mama, indem er auseinandersetzte, in seinem jetzigen Zustände sei das Bild der Puppe zu vergleichen, aus der erst der Schmetterling kriechen solle. »Uebrigens,« schloß er, »rechne ich mit Bestimmtheit darauf, daß dieses eins meiner besten Bilder werden wird, denn so con amore wie bei ihm, bin ich schon lange mehr bei keinem Bilde gewesen.«

Als wir von Angeli aus nach dem Hotel gingen, holte ich schnell ein paar Billets für das Opernhaus, und als ich später ins Zimmer trat, das wie im Dämmerlichte lag, denn es waren sämtliche Vorhänge zugezogen, fand ich Anielka dort allein. Da brauste die Versuchung über mich wie ein Orkan; all meine Pulse flogen, der Atem versetzte sich mir, und ich fühlte, wie alle Farbe aus meinem Gesicht wich. Wenn Anielka jemals in meinen Armen ruhen will, so jagte es mir durch den Sinn, dann ist jetzt der rechte Augenblick da! es war mir zu Mute, als wenn ich die feurige Glut eines Flammenherdes über mich hingehen fühlte, und als wenn dieses Feuer auch sie mit seiner verheerenden Gewalt träfe – – Alles riß mich zu ihr hin mit einer Gewalt, der ich keinen Widerstand leisten konnte . . . o! sie jetzt in meine Arme zu zerren! meine sengenden Küsse auf ihre Lippen, Wangen, Hände zu pressen! das war es, wozu mich alles Empfinden und Denken drängte, widerstandslos, mit rasender Gewalt! Anielka sah, wie furchtbar erregt ich war, angstvoll suchten ihre Blicke mich zu fliehen, jedoch schnell war sie Herrin über sich und über die Situation, denn sie sagte zu mir mit weicher, und doch so energischer Stimme, daß ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrat: »Ach, Leon, ich muß Dich um Deinen Schutz bitten, bis Mama wieder da ist; früher hätte ich mich freilich vor Dir gefürchtet, aber jetzt nicht mehr, jetzt fühle ich mich sicher bei Dir, denn jetzt vertraue ich Dir.« Tief erregt küßte ich ihr die Hände. Dann sah ich sie an mit unsäglicher Wehmut und stammelte: »O, Anielka! o wüßtest Du, was hier in meinem Herzen vorgeht!« und voll Trauer, tief gerührt, gab sie die Antwort: »Leon, wohl weiß ich es! doch um so edler, um so besser bist Du ja!« Noch ein kurzes, schweres Ringen mit meiner Sinnenglut: dann hatte Anielka den Sieg über mich errungen. Ich wagte es nicht, sie zu berühren . . . Nun, sie hat's mir gelohnt den ganzen übrigen Tag, und in ihrer Stimme hat noch nie so viel Milde und Süße gelegen. Aber wenn ich mir auch sage, daß dies vielleicht der nächste Weg zu ihrem Herzen sei, so ist es mir doch so wirr und wüst im Kopfe, daß ich mir lieber ein Ende ersehnte; denn ist das nicht Entsagung der Liebe um der Liebe willen?

29. August.

Heute hat sich während der Sitzung etwas Seltsames, etwas, was mir Angst macht, zugetragen: Anielka saß ganz ruhig da, schreckte dann in sich zusammen, wurde auf einen Moment blutrot, dann leichenblaß. Ich erschrak nicht minder, und auch Angeli erschrak. Er legte sofort den Pinsel beiseite, um Anielka ein Glas Wasser zu reichen. Die Anwandlung ging ebenso schnell vorüber, wie sie gekommen war, und Anielka war bereit, die Sitzung wieder aufzunehmen; es sah mir aber ganz so aus, als ob sie sich Gewalt antun müsse, und da es ein besonders heißer Tag war, und sie vielleicht doch recht angegriffen war, hielt ich es für angezeigt, sie früher als tags zuvor nach dem Hotel zurückzuführen. Unterwegs verhielt sie sich ganz ruhig, und wenn sie vielleicht auch nicht ganz ihre alte Weise wiederfand, so verriet doch ihr Wesen nichts Auffälliges. Beim Essen dagegen wurde sie plötzlich wieder von der gleichen tiefen Röte übergossen; aber als sowohl ihre Mama wie auch ich sie fragte, was ihr denn sei, ob sie sich krank fühle, suchte sie uns zu beruhigen mit dem Bescheide, es habe gar nichts auf sich. Ich meinte, es sei vielleicht gut, einen Arzt zu konsultieren, aber sie wehrte sich mit großer Energie dagegen, ja sie wiederholte gewissermaßen gereizt, sie fühle sich ja doch ganz wohl, und daß ein Mensch einmal ein bißchen rot im Gesicht werde, habe doch nichts Schlimmes auf sich Den ganzen Tag blieb sie sehr blaß, und ihr Gesicht zeigte einen auffälligen Ausdruck von Strenge, den ich noch nie bisher an ihr wahrgenommen hatte. Es machte mir auch den Eindruck, als sei sie gegen mich gleichgültiger, ja als schiene sie meinem Blicke aus dem Wege gehen zu wollen. . . . Ich mache wir wirklich recht große Sorge, da ich gar nicht weiß, wie das zusammenhängen mag . . . Ich werde wohl heute wieder keinen Schlaf finden . . . wenn ich bloß nicht wieder von solch greulichem Traume heimgesucht werde!

Es liegt etwas Schweres in der Luft, etwas, wofür ich keine Erklärung finden kann. Ich klopfte gegen Mittag an Anielkas Zimmertür; die Damen seien, sagte die Dienerschaft, vor zwei Stunden in die Stadt gefahren. Ich wartete ziemlich erregt, und in ungefähr einer halben Stunde fuhr der Wagen wieder vor. Anielka reichte mir, ohne ein Wort zu sprechen, die Hand und ging nach ihrem Zimmer. Ich dachte, sie wolle sich umkleiden, und wartete eine Weile. Dann wandte sich mit einem Male Frau Celina zu mir. »Lieber Leon,« sagte sie, »Du bist wohl so gut und entschuldigst heute Anielka bei Angeli. Es ist ihr heute nicht möglich, zu dem Porträt zu sitzen. Sie ist wirklich zu nervös heute.« Ich fragte besorgt, was ihr denn fehle? – Ein paar Augenblicke war Frau Celina unschlüssig, ob sie antworten solle oder nicht; dann sagte sie: »Ach, wir waren bereits auf dem Wege zum Doktor, haben ihn aber nicht angetroffen; ich habe ihn ersucht durch ein paar Zeilen, sich zu uns zu bemühen . . . ich weiß indessen wirklich selbst noch nicht . . .«

Mehr von ihr zu erfahren war nicht möglich; ich setzte mich in einen Komfortable und fuhr zu Angeli. Es machte mir den Eindruck, als ob er meine Mitteilung, daß die Sitzung heut ausfallen sollte, mit einem gewissen Mißtrauen aufnähme. Zu verwundern wäre es übrigens nicht gewesen, denn ich war wohl im höchsten Grade beunruhigt. Da fiel es mir ein, er könne ja auch in Sorge um sein Honorar sein; ich sagte ihm, ich wollte dasselbe gleich in Ordnung bringen. Er wehrte sich dagegen, sagte, er sei nicht gewohnt, für Arbeit, die noch nicht vollendet sei, Geld zu nehmen; ich erwiderte hierauf, es sei möglich, daß ich selbst abreisen müsse, und da ich von der Tante beauftragt sei, ihm das Honorar zu überreichen, möchte ich bitten, in diesem Falle eine Ausnahme von der Regel zu machen. Schließlich nahm er das Geld, und die für mich unangenehme Diskussion fand damit ihren Abschluß. Wir trafen noch die Abrede, daß die nächste Sitzung übermorgen stattfinden solle, daß ich ihm aber, falls Frau Kromitzka sich noch nicht wieder wohl genug dazu fühlen sollte, ihn durch ein Billet rechtzeitig in Kenntnis setzen möchte . . .

Ich fuhr ins Hotel zurück und begab mich sogleich wieder zu den Damen. Aber ich traf Anielka nicht, sondern bloß die Mama, die mir sagte, der Arzt sei dagewesen, habe sich jedoch noch nicht bestimmt geäußert, wie es sich um ihre Tochter verhalte, sondern habe vorderhand nur Ruhe anempfohlen. Wieder machte es mir ganz den Eindruck, als ob sie nicht recht mit der Sprache heraus wollte. Es war indessen wohl nichts weiter als Besorgnis um ihre Tochter, und das kann ich ihr recht wohl nachfühlen, denn ich bin ja doch selbst nicht frei davon . . .

Ich begab mich in mein Zimmer. Hier sagte ich mir, daß es doch gar nicht zu verwundern sei, wenn sie infolge der ewigen Erregung, als deren schuldigen Teil ich mich doch bekennen mußte, in einen schlimmen Zustand von Nervosität hinein geraten sei, und machte mir deshalb die schwersten Vorwürfe, daß ich mein Verhalten gegen sie nicht anders geregelt hätte . . . Es kam mir die Empfindung, lieber zu Grunde zu gehen, als sie in Gefahr einer Erkrankung zu wissen, und ich hatte unsägliche Angst, sie werde vielleicht gar nicht zu Tische kommen. Das war indes vergebliche Sorge, denn sie kam, blieb mir aber während der ganzen Tischzeit ein Rätsel: mein Anblick versetzte sie nicht allein in Verlegenheit, sondern über dem Bemühen, so zu erscheinen wie sonst, konnte sie nicht hindern, daß ich rasch inne wurde, sie bemühe sich, einen ernsten Kummer vor mir zu verheimlichen; sie mußte heut auch um vieles bleicher sein als sonst, denn sie gewann fast Aehnlichkeit mit einer Brünette, wiewohl doch ihr Haar kaum einen Stich ins Dunkle hat. Ob etwa von Kromitzki schlechte Nachrichten gekommen sind? ob etwa mein Geld auch von ihm verwirtschaftet ist? Was schere ich mich darum? soll's doch zum Teufel sein! Aber auch Anielka soll sich nicht darum grämen! keine fünf Minuten! das wäre mein ganzes Geld nicht wert . . . aber was kann es bloß sein? morgen muß ich es auf alle Fälle erfahren. Ich bin fast überzeugt, daß wieder dieser Kromitzki die Ursache dazu ist; aber was kann er bloß wieder angestellt haben? einen anderen als einen moralischen Grund kann die Geschichte nicht haben: ein zweites Gluchow an den Mann zu bringen, ist doch ausgeschlossen, denn es existiert ja kein zweites.

Berlin, 5. September.

Ja, ich bin hier, in Berlin. Zu irgend einem Orte mußte ich doch hin, als ich Wien so schnell den Rücken wandte. Ploshow war mir verschlossen, denn nach Ploshow fährt ja doch – sie! . . . Ach, ich hatte doch gemeint, es verbrieft zu haben, daß mich keines Menschen Macht von ihr trennen konnte, und doch ist nun alles aus! mir wäre der leiseste Gedanke an eine Lösung unseres Verhältnisses, an einen Bruch unserer Absprache, als absurd, als verrückt vorgekommen, und nun ist doch beides eingetreten! Ja, in Berlin bin ich, und mir rumort's in meinem Schädel, als wenn zehntausend Brummfliegen drin schwirrten! ach, und wie schmerzt mich dieses Rumoren in meinem Kopfe! es ist zum Rasendwerden! aber ich rase nicht, bin nicht verrückt . . . nein! mein Arzt hatte wirklich recht, als er mir sagte, verrückt würden nur schwachköpfige Menschen . . . und wie hätte mir so etwas passieren sollen, das unter den Umständen, in denen ich mich jetzt befinde, vielleicht noch ein Glück gewesen wäre? Ich, und Glück!

6. September.

Hin und wieder ist's mir doch zu Mute, als ob mir das Hirn überkoche. Es gehört doch wahrlich nicht zu den Ungeheuerlichkeiten, daß eine anständige Frau, die ein paar Monate mit dem ihr angetrauten Manne zusammengelebt hat, guter Hoffnung ist! das ist doch der rein natürliche Vorgang, um nicht zu sagen: das allerwichtigste Naturgesetz! und dabei kommt mir das vor wie eine Monstrosität! läßt sich solcher Widersinn zusammenreimen? kann ihn ein menschliches Gehirn aushalten? Ich kann es ja fassen, daß unglückliche Individuen, wenn sie zermalmt werden, einer vis major von außergewöhnlicher Art unterliegen; mich aber, mich zerschmettert der allergewöhnlichste Weltenlauf! und so etwas ist doch um so gräßlicher, je natürlicher es in der Welt ist!

Widersprüche über Widersprüche! daß sie keine Verantwortung dafür trifft, daß sie nicht deshalb zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist mir völlig klar, denn ich bin wahrhaftig nicht von Sinnen. Nein! sie hat das Gesetz der Tugend nicht verletzt, und doch verziehe ich ihr jedes, auch das allerschwerste Verbrechen leichter und eher. Nein! ich kann Dir nicht verzeihen, kann's Dir bei Gott nicht verzeihen, kann's Dir nicht verzeihen eben um meiner Liebe willen nicht! Auf dem ganzen Erdenrunde lebt im Augenblicke kein Weib, das ich so unsäglich verachte wie eben Dich! denn Du hattest doch zwei Männer: mich für Deine platonische, und diesen – Kromitzki für Deine eheliche Liebe! Ha! den Schädel könnt ich mir an der Mauer einrennen, und lachen, wahrhaftig! lachen möchte ich auch! O, nun und nimmer hätte ich gedacht, daß mich von Dir etwas scheiden könnte; und nun hat sich das, was uns scheiden mußte, doch gefunden!

8. September.

Ja, ich habe Anielka verloren, und alles um mich her ist leer und öde. Ich kann's mir nicht ausmalen, wie es kam, daß ich fort von ihr ging, und daß nun alles zu Ende sein soll! O, ich weiß es nicht, wozu ich noch lebe! Etwa um abzuwarten, ob diesem Kromitzki ein Kind männlichen oder weiblichen Geschlechts geboren werden wird? Es ist doch alles nur natürlicher Vorgang, nur Naturgesetz, und mir wird doch zu Mute dabei, als wollte mir der Kopf bersten! Dabei hätte ich darauf doch wahrhaftig vorbereitet sein müssen, während ich mit keinem Atem daran gedacht habe . . . da hätte ich wahrhaftig eher gedacht, daß der Blitz mich träfe! Fuhr denn aber nicht Kromitzki von Warschau gleich weiter nach Ploshow? hielt er sich nicht in Ploshow ein paar Tage auf? waren sie dann nicht auf der Reise zusammen? in Wien, in Gastein? . . . O, und mußte ich nicht selbst die Liebesstimmung wecken? die Nerven der Dame aufregen? ihr das Herz mit Sehnsucht schwellen? Verflucht! die Geschichte hat ja auch noch eine ganz infam lächerliche Seite! Weiß Gott! ich bin dümmer, als es die Polizei erlaubt. Ich hab' das Zusammenleben des Ehepaars ertragen können, und will mich nun sträuben, die Folgen zu ertragen? Nerven und Verstand sollen sich bei vielen Menschen recht gut miteinander vertragen: bei mir beißen sie sich wie zwei aufeinander gehetzte Köter. Ein weiteres Unglück für mich!

Es kommt mir ganz so vor, als ob mich das Schicksal mit seinem ausgesuchtesten Hasse verfolgte! Warum aber? Es liebt doch mancher seines Nächsten Weib und braucht nicht so schrecklich zu leiden wie ich! sollte die Strafe sich richten nach dem Grade der Liebe, also um so schwerer sein, ie tiefer, je edler, je wahrer diese Liebe wäre? Wo bliebe aber bei solchem Kausalkonnex die Gerechtigkeit? Nein, nein! das ist »Blech«! solche Dinge stehen nicht unter dem Regiment eines zielbewußten Gedankens, sondern hier geschieht alles, wie es eben muß oder eben kommt . . .

10. September.

Ich komme mir vor, wie ein Mensch, den ein Blitzstrahl getroffen hat: er soll ja nicht sofort zu Boden stürzen, sondern erst ganz steif werden; so hält auch mich die Wirkung des Blitzes, der mich getroffen hat, aufrecht, aber lange werden mich meine Füße schwerlich noch tragen, denn um mein körperliches Befinden steht es recht schlecht. Gegen Abend ist es mir immer, wie wenn ich ersticken sollte; das Atmen fällt mir furchtbar schwer; es scheint mir, als könnten meine Lungen nicht mehr Luft genug aufnehmen. Dann die gräßlichen Beklemmungen bei Tag wie bei Nacht! Ich habe immer die Empfindung, als müsse etwas mit mir geschehen, das schwerer zu ertragen sei als der Tod. Was soll hier, in dieser fremden großen Stadt, bloß werden mit mir, wenn meinem Gedächtnis auf einmal mein Namen und meine Heimat entfallen sollten? wenn ich in geistige Umnachtung verfiele? wenn ich ziel- und zwecklos in den Straßen herumirrte oder immer geradeaus liefe, ohne zu wissen wohin? Ich glaube ja noch, daß das bloß krankhafte Wahngebilde sind: sollten diese Fälle eintreten, so wäre mein Leib ja in der gleichen Verfassung wie meine Seele, und in seelischer Hinsicht irre ich schon lange in dunkler Nacht umher, ohne zu wissen, wohin mein Geist noch geraten wird. Vor allem entsetze ich mich, bloß nicht vor dem Tode, und wenn ich meinen Zustand genauer beschreiben sollte, würde ich sagen, daß mich immer eine Empfindung beschliche, als ob ich mich nicht selbst, sondern als ob sich ein in mir befindliches und doch von mir getrenntes Wesen fürchte, wie etwa die Angst, die mein ganzes Gemüt erfüllt.

Sobald es dunkel wird, jagt's mich hinaus auf die Straßen, und in dem elektrischen Lichtschein rase ich herum, bis ich vor Müdigkeit dem Umsinken nahe bin. Das Menschengewühl ist mir Bedürfnis; sollte ich aber einem Bekannten in den Weg laufen, so würde ich im Nu umdrehen, damit er mich nicht erkenne . . . werden die Straßen leerer, dann kommt die Angst wieder, und mit Grausen denke ich an die Nacht, die mir immer entsetzlich lang wird. Seltsam, mir ist's immer im Gaumen, als wenn ich Metall schmeckte: diese Empfindung habe ich zum ersten Male gehabt, als ich Klara Hilst auf die Bahn gebracht hatte, und bei der Heimkehr Kromitzki traf. Dann wieder in Wien, als mir Anielkas Mama die »große Neuigkeit« kund tat. O, wenn ich dieses Tages noch gedenke! es war schrecklich! ich war so himmelweit von aller Ahnung des wahren Sachverhalts, daß ich nochmals vorsprach, mich bei den Damen nach Anielkas Befinden zu befragen, als der Doktor zum zweiten Male dagewesen war. Ja, ich begriff auch dann noch nicht, um was es sich handelte, als Frau Celina meinte: »Der Doktor behauptet, es seien bloß nervöse Symptome, die mit ihren Umständen gar nichts zu tun hätten.« Da die Dame endlich begriff, daß ich noch immer nicht merkte, um was es sich handelte, fuhr sie verlegen fort: »Ich muß Dir nämlich eine große Neuigkeit mitteilen . . .« und nun sagte sie mir, »was denn eigentlich los sei« . . . Da hatte ich auf der Stelle wieder den Geschmack im Munde, als wenn ich an Metall leckte, und im Gehirn das infame Gefühl von Eiskälte, genau wie damals, als ich mich so unvermutet Kromitzki in meiner Wohnung gegenübersah . . . Im Nu war ich aus dem Zimmer der Damen heraus, unter allerhand Empfindungen, die auf mich eindrangen, zerrend und reißend an Herz und Hirn, und von denen, wie ich noch recht gut weiß, eine vor allen anderen sich breit machte, nämlich ein unüberwindlicher Lachreiz. Ha! das also war jenes ideale Wesen, dem sogar schon platonische Liebe im Licht einer Übertretung erschienen war, das bloß Freundschaft, aber nicht Liebe empfinden konnte!? . . . Zu dem Lachreiz gesellte sich ein anderer, ein unsägliches Jucken und Grimmen im Schädel: ich fühlte den Drang, mir den Kopf an der Wand einzurennen . . . Und doch schwand mir die Ueberlegung nicht; aber mein Hirn arbeitete nur mechanisch; ich sah ein, daß alles aus war, daß mir nichts anderes als Flucht übrig blieb; aber wie mein Hirn nur mechanisch arbeitete, so arbeitete mein Leib rein automatenhaft: ich besorgte alles, was für meine Abreise vonnöten war; ja ich vergaß auch die Rücksichten nicht, die der äußere Anstand bedang; warum ich das alles tat, und alles so tat, wie ich es tat, weiß ich nicht; ob es geschah oder nicht geschah, war mir völlig gleichgültig, und daß es geschah, beruhte wohl nur auf einer, wie ich sagen möchte, reflexiven Tätigkeit meines Hirns, das sich seit Monaten oder Jahren an die Notwendigkeit, den äußeren Anstand zu wahren, gewöhnt hatte. Ich sagte der Frau Mama, der Arzt habe bei mir eine schwere Herzaffektion festgestellt und mir die sofortige Konsultation eines berühmten Berliner Spezialisten angeraten. Frau Celina glaubte mir, Anielka jedoch nicht . . . Der schreckhafte Ausdruck ihrer weitgeöffneten Augen, der mich an den Blick der beschimpften Märtyrerin gemahnte, steht mir noch vor den Augen, und wie damals regt sich auch jetzt noch, in mir der Doppelmensch, zu dem ich geworden bin: der eine davon schreit mir ins Ohr: »Anielka trifft doch aber keine Schuld!« während der andere von dem Verlangen beseelt ist, ihr ins Gesicht zu speien . . .

Ha! warum habe ich dieses Weib, dieses – Frauenzimmer so rasend geliebt!

12. September.

Acht Tage bin ich nun annähernd fort. Die beiden Frauen sind gewiß schon lange in Ploshow. Ich habe heute an die Tante geschrieben, weil ich nämlich befürchte, die Sorge um mein Befinden möchte sie hierher treiben. Manchmal überkommt es mich wie Verwunderung, daß es einen Menschen noch auf Erden geben solle, der sich um mich und mein Befinden kümmert.

13. September.

Wie ich schon einmal niedergeschrieben habe, so hat schon mancher vor mir des Nächsten Weib verführt, betrogen, mit Füßen getreten, beiseite geschleudert, und ist dann in aller Ruhe seines Wegs gezogen. Ich habe von alledem nichts getan; und wenn sie mir wirklich zu Willen gewesen wäre, so hätte ich sie auf den Händen getragen, hätte ihr jedes Stäubchen aus dem Wege, den sie wandelte, geräumt, hätte ihr zu Füßen gelegen, und keines Menschen Arm hätte mich von diesem Platze reißen sollen . . . Ich meine sohin wohl nicht zu Unrecht, daß meine Gefühle die schlechtesten nicht sind. Und doch erliege ich beinahe unter der Last einer Vergeltung, vor deren Schwere es mich entsetzt, zu deren Verständnis mir aller Skeptizismus nicht verhilft. Muß mir denn nicht auch die höchste Moral zugeben, daß es ein schwereres Verbrechen wäre, ein Weib an sich zu locken, für das man keine Liebe empfindet, und das, was ich aus meines Herzens Tiefe getan, mit kalter Berechnung zu tun? für eine große, überwältigende Liebe kann doch dem Menschen keine schwerere Verantwortung aufgebürdet werden als für eine kleine, alltägliche? . . . Nein, nein! meine Liebe ist kein Verbrechen, sondern weit eher ein Unglück! und wie sich ein vorurteilsloser Mensch recht gut in die Lage eines vorurteilsvollen hineindenken kann, so kann auch ein zweifelnder Mensch erkennen, wie ein gläubiger Mensch betet, und sich hiernach vorstellen, wie er selbst, wenn er gläubig wäre, beten würde. Mir mangelt es nicht allein an solcher Erkenntnis nicht, sondern diese Erkenntnis verdichtet sich bei mir zu einer so wilden Empfindung von Schmerz, daß ich mich zu der lästernden Klage gedrängt fühle: »Herrgott! wenn ich gefehlt habe, so habe ich auch schwer gebüßt, und möchte mich wahrlich nicht wundern, wenn ich bei Dir ein bißchen Erbarmen fände!«

14. September.

Ganz gewiß sind sie bereits in Ploshow. Ich weile oft noch in Gedanken bei ihnen, denn der Vergangenheit wird nur ein Mensch ledig, der eine Zukunft vor sich hat: und ich habe nichts vor mir . . . gar nichts! . . . Ich bin weder ein Mensch, welcher an Gottes Existenz glaubt, noch ein Mensch, welcher Gottes Existenz leugnet. Im ersteren Falle würde ich Priester werden, im anderen Falle könnte ich jetzt in die Lage kommen, mich zu bekehren. Da nun aber weder dies noch jenes der Fall ist, weiß ich nur eins: daß nämlich für mich und meine Schmerzen sich in der Religion kein Trost finden läßt. In meiner Seele ist alles verdorrt . . .

Als ich damals, als Anielka Frau Kromitzka wurde, meinte, es müsse nun alles zwischen uns aus sein, habe ich mich doch geirrt. Ich bin erst jetzt zu der Ueberzeugung gekommen, daß es wirklich aus zwischen uns ist; denn was uns trennt, ist eine unabhängig von uns wirkende Macht der Dinge, und nicht bloß unser Wille, auch nicht die zwischen uns liegende Entfernung. Unsere Wege liegen jetzt weit auseinander, und daß sie je wieder zusammenlaufen sollten, ist ausgeschlossen: dazu könnte selbst unser Wille nichts tun. Anielkas Pfad wird mit Dornen bestreut sein, aber er wird sie zu einer neuen Welt führen, in eine neue Empfindungssphäre, zu einem neuen Leben. Vor mir aber dehnt sich die unendliche Leere, und das weiß Anielka so gut wie ich . . . ob ihr wohl manchmal der Gedanke kommt: ich habe den Menschen zu Grunde gerichtet, vielleicht ohne unmittelbare Schuld; aber durch mich zu Grunde gegangen ist er! . . .

Aber was habe ich davon, wenn sie mich bemitleidet? wie kommt es, daß ich ihr Mitleid trotz allem ersehne? So lange sie noch nicht geboren hat, kann sie ja Mitleid mit mir empfinden; denn wenn sie ein Kind hat, ergießen sich doch all ihre Empfindungen in dieses einzige Strombett . . . Und auch das ist ein Naturgesetz: o, ein Gesetz wunderbarer Natürlichkeit!

16. September.

Heute habe ich hier ein Riesenplakat an den Säulen gesehen: Klara Hilst in Berlin! – Es ist mir ganz aus dem Gedächtnis gekommen, daß es Klaras Absicht war, in Berlin zu konzertieren; daß sie es mir nach Gastein geschrieben hatte. Also Klara ist hier! im ersten Augenblick berührt mich das weder angenehm noch unangenehm. Ich leide wieder an meiner nervösen Ruhelosigkeit; daher empfinde ich sozusagen alles in doppelter Gestalt. Es ist mir ja beruhigend zu wissen, daß zusammen mit mir in diesem Häusermeere eine befreundete Seele wohnt; aber ich könnte nicht sagen, warum mich das beruhigt. Jedenfalls genügt es mir, daß ich es weiß. Dagegen empfinde ich kein Verlangen, Klara zu sehen; mir ist es im Gegenteil unangenehm, daß ich ihr einen Besuch werde machen müssen. Sie ist ja eine herzensgute Person; aber ihre Manier, nach allem zu fragen, mag ich nicht leiden, wenn ich mir auch sage, daß sie mehr aus Gutmütigkeit als aus Neugierde fragt. Auch ihr Glaube an die alles heilende Macht der Freundschaft ist mir unsympathisch, ebenso wie ihre Neigung zu romantischen Mutmaßungen . . . von dem, was hinter mir liegt, könnte ich aber nun und nimmer sprechen; ich finde ja nicht einmal den Mut, auch nur daran zu denken.

17. September.

Wenn ich nur wüßte, wozu ich alle Morgen wieder aufwache? warum ich überhaupt noch lebe? und weshalb ich mich um Bekannte noch kümmere? überhaupt noch um Menschen kümmere? Ich habe bei Klara keinen Besuch gemacht; was könnte sie denn mit mir zu sprechen haben, das mich nicht schon langweilte, noch ehe es gesprochen wäre? mir ist ja doch alles auf der Welt im höchsten Maße gleichgültig, und ich sollte meinen, ich doch auch ihr?

18. September.

Es war doch gut, daß ich an die Tante schrieb, sonst wäre sie schon hier. Heute bekam ich den nachstehenden Brief:

»Deine Mitteilung ist am selben Tage hier eingetroffen wie Celina und Anielka. Sage mir doch nur, was Du machst, und wie es Dir geht? was meinen die Aerzte denn zu Deinem Befinden? wie lange wirst Du noch in Berlin bleiben? Gib mir doch telegraphisch Bescheid, ob ich Dich in Berlin noch treffe. Ich komme, wenn dies der Fall ist, auf der Stelle.

Celina hat mir gesagt, Du seiest so unerwartet schnell abgereist, daß sowohl sie, wie Anielka, sich des Todes erschrocken hätten. Ich wäre ja doch längst bei Dir, wenn Du mir früher geschrieben hättest, daß der Arzt von einer Seereise mit Dir gesprochen hätte. Von Warschau nach Berlin ist's ja gar so weit nicht, und ich fühle mich seit Gastein recht wohl; von den früheren Blutwallungen bin ich bisher verschont geblieben. Du machst mir wirklich recht große Angst, mein Junge; und nun kommst Du mir gar noch mit dieser Seereise? Dir freilich ist ja das Meer nicht fremd; mir aber verursacht schon der Gedanke daran Kribbeln in den Fingerspitzen.

Celina befindet sich wohl, Anielka leidlich. Du weißt, wie ich höre, die große Neuigkeit bereits. In Wien ist noch im letzten Augenblick ein Spezialist zu Rate gezogen worden, der sich dem Ausspruche des zuerst befragten Arztes durchaus angeschlossen hat. Es steht also außer Zweifel, daß sich Anielka in anderen Umständen befindet. Celina ist schier außer dem Häuschen vor Freude, und ich kann auch nicht anders sagen, als daß ich mich freue. Kromitzki wird hierdurch vielleicht bewogen, sich dauernd in Polen niederzulassen und mit Spekulieren aufzuhören. Auf alle Fälle bekommt Anielka auf diese Weise eine Lebensaufgabe und wird sich glücklicher fühlen als jetzt. Sie sieht übrigens ziemlich angegriffen aus; ich vermute jedoch, daß dies noch von der Anstrengung der weiten Reise herrühren dürfte.«

Für mich ist bei diesen Menschen kein Bleiben mehr: das ersehe ich nur zu deutlich aus diesem Briefe. Es wird nicht mehr lange währen, so wird die Erinnerung an mich auch Anielka nur peinlich sein.

19. September.

Wie es in einigen Jahren mit mir aussehen wird? Was ich wohl anfangen werde? Ich sollte meinen, wenn es zwecklos ist zu leben, sollte man auch die Möglichkeit ausschalten zu leben! Für mich ist wirklich auf der Erde kein Raum mehr.

20. September.

Wie schon gesagt, ich habe bei Klara keine Visite gemacht, aber ich habe sie in der Friedrichstraße getroffen. Sie verfärbte sich ordentlich vor Freude und Aufregung, als sie mich sah, und die Art, wie sie mich begrüßte, war so herzlich, daß es mir selbst zum Herzen ging, zugleich aber auch bitteres Weh bereitete, denn ich verhehlte mir nicht, daß ich Klaras Herzlichkeit nicht aufrichtig erwidern konnte. Bald bemerkte sie auch die Veränderung, die mit mir vorgegangen war, mein krankhaftes Aussehen, und mein im Ergrauen begriffenes Haar. Sie fragte, ob meine Gesundheit zu wünschen übrig lasse? Ich sagte, die Aerzte hätten mir geraten, ein milderes Klima aufzusuchen. Ich wollte auf diese Weise weiteren Begegnungen, die, wie mir mein Verstand sagte, meine Kräfte übersteigen würden, aus dem Wege gehen. Sie nötigte mich aber in ihre Wohnung, und dort plauderten wir viel von der Tante, von Anielka und ihrer Mutter. Ich hielt mich aber im Rahmen der allgemeinen Redensarten, denn wenn ich auch recht gut weiß, daß Klara wohl das einzige Wesen in der Welt ist, das für mich Verständnis fände, so geht es mir doch wider mein Empfinden, ihr vollen Einblick in mein Herz zu gewähren. Es war mir übrigens unmöglich, vor ihr zu verbergen, daß ich ein anderer Mensch geworden bin; sie erriet, daß ich nur noch mechanisch lebe, und unterließ es hinfort, mich nach irgend etwas noch zu fragen, was mit der Vergangenheit in Beziehung stehen konnte; sie wußte mir zu verstehen zu geben, ohne es in Worte zu fassen, daß es ihr nicht darum ginge, mich ihr geneigt zu machen, sondern daß sie mir nur Gutes erweisen wolle. Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft auch um vieles besser und wurde doch eines Gefühls, als ob sie mich ermüde, nicht ledig; aber ich bin so völlig außer stande in meiner jetzigen Stimmung, meine Gedanken auf einen festen Gegenstand zu sammeln, daß ich schon Müdigkeit verspüre, wenn ich mich ein paar Minuten mit jemand unterhalten habe . . . Mir kommt, seit ich meines Lebenszieles verlustig gegangen bin, alles in der Welt so schal und nichtig vor, daß ich mich immer und immer wieder frage: wozu? wozu?

21. September.

Das war die schrecklichste aller schrecklichen Nächte meines Lebens! mich befiel plötzlich eine gräßliche Angst und zerrte mich unzählige Stufen hinunter in eine maßlose Finsternis, wo allerhand Schrecknisse grausiger Art meiner warteten. Ich muß weg von hier, denn dieser bleierne Himmel lastet mit unausstehlicher Wucht auf mir. Ich will nach Rom, in mein Haus aus der Via Babuino, dorthin zieht es mich mit allen Fasern meines Herzens, dort will ich mein Leben hinfristen, bis meine Stunde schlägt. Nach Ruhe verlangt's mich, nach weiter nichts als Ruhe, Ruhe, Ruhe!

Mein kurzer Aufenthalt gestern bei Klara hat mich gelehrt, daß ich unter den Lebenden nichts mehr zu suchen habe; kann ich ihnen denn irgend etwas noch geben? kann ich ihnen Güte irgendwie vergelten? Nein! ich bin ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft und stehe für mich allein, und trotzdem ich mich schrecklich einsam fühle, so will ich doch nicht mehr wieder unter Menschen. Dagegen mutet der Gedanke an Rom und meine Einsiedelei in der Via Babuino mich an, wenn auch matt und traurig. Lieber in Rom sein als irgendwo sonst! von Rom aus ist der junge Vogel ausgeflogen, mag er nun dort wieder einfliegen, freilich flügellahm! mag er dort seines Endes harren!

Ich schreibe jetzt immer frühmorgens, denn der Abend führt mich immer in jene maßlose Finsternis, vor der mir so furchtbar graut. Heut will ich in Klaras Konzert gehen, dann ihr Adieu sagen, und morgen abreisen. In Wien will ich aussteigen, vielleicht bei Angeli mit vorsprechen; weiß es aber noch nicht bestimmt, wie ich jetzt überhaupt nicht mit Bestimmtheit weiß, was ich morgen oder übermorgen beginnen werde. Klara hat mir geschrieben, ich solle ihr doch nach dem Konzert ein paar Augenblicke in ihrer Wohnung gönnen; ich werde es aber nicht tun, bloß das Konzert mir anhören, weil ich dort gesunde Menschen sehen werde, deren Nähe mir wohltun wird, ohne mich zu ermüden. Aber in Klaras Wohnung, wie gesagt, werde ich nicht gehen. Klara ist zu nett, zu freundlich gegen mich, und ich ertrage menschliche Güte nicht mehr: denn ich gleiche dem Verhungernden, der ja auch gewisse Zeit vor seinem Tode nicht mehr im stande ist, Nahrung zu sich zu nehmen . . . Ich mag übrigens auch noch aus einem anderen Grunde nicht zu Klara: ich mag durch nichts an die Dinge und Menschen, die hinter mir liegen, erinnert werden, denn ich kann auch Erinnerungen nicht ertragen: und Klara braucht dasselbe Parfüm, das ich Anielka aus Wien mitbrachte . . . Ich habe immer gefunden, daß die Vorstellung einer bestimmten Persönlichkeit durch nichts so greifbar geweckt werde, wie durch den sie umschwebenden Duft.

22. September.

Jetzt bin ich richtig krank. Ich muß mich gestern abend, auf dem Heimwege aus dem drückend heißen Konzertsaale, erkältet haben. Ich hatte meinen Paletot nicht mitgenommen und kam ganz durchfroren heim. Sobald ich Atem hole, ist's mir, als ob mich tausend Nadeln stächen. Ich bin bald heiß, bald fröstelt's mich, daß ich am ganzen Leibe zittere, und ein Durst quält mich, daß ich Eimer austrinken könnte. Dabei befällt mich von Zeit zu Zeit eine Mattigkeit, daß ich keinen Fuß setzen möchte. Von Reisen kann bei diesem Zustande nicht die Rede sein, ich käme ja ohne fremde Hilfe in gar kein Eisenbahnabteil. Der Atem fliegt mir förmlich, trotzdem ich eigentlich nicht atme, sondern keuche. Wären meine Nerven nicht so schrecklich abgebraucht, so hätte ich mich wohl kaum so schnell erkältet; wir in Polen sind ja doch an Kälte gewöhnt! Aber meine Natur hat eben gar keine Widerstandskraft mehr . . . Ich glaube, ich leide an einer Entzündung der Lungen; aber so lange es irgend geht, werde ich mich auf den Beinen halten. Ich habe auch gleich, sobald ich mir über meinen Zustand klar war, an die Tante geschrieben, daß ich mich sehr wohl befände, und in wenigen Tagen von Berlin abzureisen gedächte. Ich habe sie gleichzeitig ersucht, alle Korrespondenz an das Bankhaus B. in Berlin zu dirigieren; und werde, soweit es in meinen Kräften steht, zu hindern versuchen, daß von meiner Krankheit etwas in Ploshow verlautet.

Wie gut, daß ich mich von Klara schon verabschiedet habe.

23. September.

Ich bin noch auf den Beinen, aber befinde mich doch weit schlechter als gestern. Ich habe starkes Fieber. Zuweilen ist's mir zu Mute, als ob all mein Denken in Phantasie überginge, und wenn ich die Augen schließe, als ob sich alle Grenzen der Wirklichkeit verwischten. Ich bin zwar noch imstande, zu beurteilen, was ich tue, es befällt mich aber immer häufiger die Furcht, das Fieber könnte die Herrschaft über mich gewinnen und mich alles Bewußtseins berauben.

Wie traurig doch für einen Menschen, der sich im Besitz eines großen Vermögens weiß, das ihm ein frohes, friedliches Heim sichert, krank und einsam, ohne einen Menschen, der ihm ein Glas Wasser reicht, an fremdem Orte weilen zu müssen! Ach, wenn Anielka . . . ach, wer weiß, vielleicht wäre auch Anielka . . . Gott! ich kann nicht mehr, es geht . . . zu . . . Ende . . .

14. Oktober.

Drei ganze Wochen hat mein Tagebuch geruht. Heute kann ich es endlich wieder vornehmen. Klara ist nicht mehr bei mir. Sie weiß, daß ich außer Gefahr bin, und ist nach Hannover abgereist. In etwa zehn Tagen gedenkt sie wieder hier zu sein. Während meiner Krankheit hat sie den Fuß nicht aus meinem Hotel gesetzt, sondern im Zimmer nebenan gewohnt. Ohne ihre selbstlose Aufopferung wäre ich nicht mehr am Leben. Ich war wohl schon drei Tage krank, als sie kam; ich erkannte sie, wunderte mich aber nicht im geringsten, daß sie kam, sondern verhielt mich so gleichgültig dagegen, als ob es mich gar nichts anginge, ob sie da sei oder nicht. Sie brachte einen Arzt mit, dessen dichte weiße Locken mir auffielen. Ich bin in einem absonderlichen Zustande gewesen, denn ich gab dem Arzt, der mich deutsch und französisch fragte, nach allerhand Dingen, gar keine Antwort, obgleich ich ihn ganz gut verstand. Ich fand die Kraft oder vielmehr den Willen nicht zur Antwort. Mein Geist war also genau so kraftlos wie mein Leib.

Der freundliche Doktor hat mich mit Schröpfköpfen drangsaliert. Danach bin ich wohl ruhiger geworden, denn ich habe ganz still gelegen. Hin und wieder ist es mir zu Mute gewesen, wie wenn der Tod mir nahen wollte; es hat mich aber ganz ebenso gleichgültig gelassen, wie alles übrige um mich her. Es wird wohl jedem Schwerkranken die Fähigkeit abhanden kommen, auch wenn ihm nicht alles Bewußtsein geschwunden ist, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden; komisch bleibt es dabei aber, daß einem gerade geringfügige Umstände mehr auffallen als andere, und auch im Gedächtnis haften, während andere, die für den Zustand wichtiger sind, schwinden. So besinne ich mich noch ganz genau auf das volle weiße Haar des Arztes und auf ein Geräusch an der Tür, als wenn ein Riegel hin- und hergeschoben würde, und zwar an der Tür, die zu dem anstoßenden Zimmer, worin Klara sich aufhielt, führte. Von diesem Geräusch ging mir nichts verloren, und ich beschäftigte mich damit, als wenn Gott weiß was davon abhinge. Es war schnell verschwunden, denn gleich nachher kam der Wärter, der mich unter Klaras Aufsicht pflegen sollte. Er wollte gleich mit mir ein Gespräch anfangen, aber Klara untersagte es ihm.

Das Schreiben fällt mir doch noch recht schwer. Ich lasse es deshalb heute sein.

16. Oktober.

Das eine Gute hat meine Krankheit gehabt: die Nerven sind ruhiger geworden, auch die plötzlichen Furchtanwandlungen sind geschwunden, aber es verlangt mich doch recht nach Klara. Daß es Sehnsucht nach ihr sei, glaube ich ja nicht, sondern wohl nur Selbstsucht, wie sie sich bei Kranken regt, denen eine Pflege fehlt, an die sie sich gewöhnt haben, und die ihnen so leicht nicht ersetzt werden kann. Daß Klara von jetzt ab nicht mehr nebenan wohnen wird, sage ich mir natürlich selbst; aber es würde mich doch recht trösten, sie hier in Berlin zu wissen. Der schwache, hilflose Kranke ist wie ein Kind: so wie diesem die Mutter fehlt, fehlt ihm die Pflegerin. Was Klara an mir getan hat, hätte keine ihrer Geschlechtsgenossinnen getan; das weiß ich recht wohl, es wäre keiner eingefallen, die Rücksicht auf »die Dehors« um eines Menschenlebens willen zu opfern. Dabei ist mir, zumal im Zusammenhange mit einem gewissen anderen Namen, der Gedanke hieran bitter wie Wermut; aber das sind Sachen, an die man besser nicht rührt, so lange es einem an der Kraft gebricht, sie zu bezwingen.

Klara hat im Zimmer nebenan in den Kleidern auf dem Sofa geschlafen, immer bei offener Tür, und ist auf der Stelle an meiner Seite gewesen, sobald ich mich bewegt habe; in der Nacht hat sie an meinem Bett gesessen. hat sich über mein Kopfkissen gebeugt, um zu hören, wie ich atmete, hat mich mit Augen gemustert, die sie vor Müdigkeit kaum noch hat offen halten können. Sie hat mir Arznei eingegeben, hat mich in die Höhe gerichtet, hat mir Kissen unter den Kopf geschoben, damit ich sitzen konnte. Wenn ein lichter Augenblick bei mir kam und ich ihr danken wollte, hat sie den Finger auf den Mund gelegt und mir durch Zeichen bedeutet, daß ich nicht sprechen dürfte. In wieviel Nächten mag das wohl so gewesen sein? sie ist tagsüber manch liebes Mal eingenickt, wenn sie bei mir am Bette saß, hat auch wohl mitten in einem Satze zu reden aufgehört, so erschöpft war sie, und wenn sie dann wieder munter wurde, hat sie mir zugelächelt, um aber bald wieder einzunicken; nachts ist sie, um sich den Schlaf fern zu halten, in der Stube auf und nieder gegangen, aber so behutsam, so geräuschlos, daß ich nicht das geringste gespürt habe: ich könnte nicht einmal sagen, daß ich ihren Schatten an der Wand gesehen hätte. Einmal habe ich, von Dankbarkeit überwältigt, ihre Hand ergriffen und einen heißen Kuß darauf gepreßt; da hat sie sich aber schnell über mich gebeugt und, ehe ich es zu verhindern vermochte, mir die Hand geküßt. Dabei muß ich ganz offen sagen, daß ich nicht immer die volle Dankbarkeit gegen sie empfunden habe, die ich ihr schuldig bin. Einen kranken Menschen ärgert bekanntlich die Fliege an der Wand, und ich konnte mich der ärgerlichen Empfindung hin und wieder nicht erwehren, daß mich ihre große Figur störte. Ja, ich machte es ihr manchmal im stillen zum Vorwurf, daß ihr Anielkas zierlicher Wuchs fehlte. Ich bin eben zu lange gewohnt gewesen, weibliche Schönheit und weiblichen Liebreiz allein nach Anielkas Vorzügen zu messen. Zuweilen regte sich auch etwas wie Bedürfnis in mir, Klara alle Schönheit überhaupt abzustreiten, sie wenigstens nicht für eine Eigentümlichkeit ihrer Rasse, sondern bloß für eine Zufälligkeit zu betrachten. Das ist mir übrigens bei interessanten Frauenköpfen öfter einmal im Leben passiert. Freilich glaube ich ja, daß dergleichen zarte Unterscheidungen nur solchen Männern möglich sind, deren Nervenapparat eine ganz besondere Sensibilität aufweist.

Ich habe aber auch auf Augenblicke die Illusion gehabt, »die Andere« zu erblicken, und zwar besonders dann, wenn Klara in der Dämmerzeit sich weiter weg von meinem Bett setzte. Dann schien mir in ihrem von den vielen nächtlichen Wachen bleichen und angegriffenen Gesicht Ähnlichkeit mit Anielka zu liegen. Dann habe ich im halbwachen Zustande, unter der Einwirkung der Fieberträume meines kranken Gehirns, Klara mit dem Namen »der Anderen« gerufen. Darauf besinne ich mich jetzt, als wenn ich geträumt hätte.

17. Oktober.

Vom Bankhaus B. habe ich heute ein paar Briefe der Tante übermittelt bekommen. Sie fragt, wie ich mir meine Zukunft dächte, und schreibt von allerhand Zeug, sogar von Drescharbeit, bloß nichts über Menschen . . . ob sie noch am Leben oder gestorben sind? ich finde kein Wort darüber in allen ihren Briefen . . . Eine merkwürdige Art zu korrespondieren! Was kümmert mich ihr ganzer Wirtschaftskram? . . . ich habe auf der Stelle geantwortet, bin aber nicht imstande gewesen, mit meinem Ärger hinter dem Berge zu halten.

18. Oktober.

Tante hat mir heute ein Telegramm von Kromitzki im geschlossenen Briefumschlag hierher geschickt. Es war nach Warschau gerichtet. Er ersucht dringend um weitere 25 000 Rubel, sofern mir darum zu tun sei, mein Geld und ihn selbst zu retten. Was liegt mir noch an ihm und meinem Gelde? mag doch beides flöten gehen! Hätte er eine Ahnung, welche Gründe mich seinerzeit bestimmt haben, ihm das erste Darlehen zu geben, so ließe er es sich ganz sicher nicht einfallen, sich mit dieser zweiten Bitte an mich zu wenden. Mag er nun zusehen, wie er mit seinem Verlust zurechtkommt; ich muß und werde mich in den meinigen finden . . . Vermutlich findet er Trost in der »großen Neuigkeit«, die ihn inzwischen wohl erreicht haben wird? Seid fidel, soviel Ihr wollt! Setzt Kinder in die Welt, soviel Ihr könnt; bloß verlangt nicht von mir, daß ich sie erhalte, denn dafür muß ich doch danken . . . sie hätte mich dann wenigstens nicht gar so rücksichtslos den sogenannten »Grundsätzen« opfern dürfen . . . aber wozu immer wieder auf diese unerquicklichen Themata zurückkommen? mir fängt es schon wieder im Schädel zu rumoren an . . . ich begehre ja weiter nichts, als daß man mich in Ruhe krank sein lasse . . .

20. Oktober.

Ich finde auch hier die Ruhe nicht. Es rumort mir schon wieder im Schädel, daß ich die Hände gegen seine Wände pressen muß, denn er droht mir schon wieder zu zerspringen . . . Ich kriege Ploshow nicht aus dem Sinne, sondern muß schon wieder an diese Wüste meiner Zukunft in einem fort denken. Ob mir meine Krankheit die Fähigkeit geraubt hat, meine Gedanken auf etwas anderes zu richten? Mir fehlt es wirklich an allem Verständnis für mich, und es will mir immer mehr scheinen, ob statt Liebe mich jetzt Eifersucht beherrsche, und zwar Eifersucht doppelter Natur: Eifersucht auf Umstände, und Eifersucht auf Empfindungen! Der Gedanke, daß dieses Kind nach seiner Geburt Anielkas Herz ungeteilt besitzen wird, versetzt mich in eine Art rasenden Grimms, denn ich sage mir, diese Liebe zu dem Kinde werde notwendigerweise sich auch auf Kromitzki, wenn auch nur in gewissem Maße, übertragen.

Wahrhaftig, ich möchte von diesem Weibe, wenn es frei wäre, jetzt gar nichts mehr wissen, und doch ist mir diese Möglichkeit, Anielka könnte noch Liebe zu ihrem Manne fassen, unerträglich . . . Nur unter einer Bedingung könnte ich noch existieren: ich müßte die Gewißheit haben, daß Anielka keinen Mann mehr lieben, von keinem Manne mehr geliebt werden wird.

21. Oktober.

Erfüllt diese Bedingung sich nicht, so verfalle ich sicher wieder in Krankheit oder werde verrückt. Ich bin mit meinem Leben fertig. Es kann mir nichts mehr bieten. Ich habe nichts mehr von ihm zu erwarten. Mithin wüßte ich nicht, was mich hindern könnte, mich an ein anderes Weib zu verschenken, das ich damit glücklich machen kann. Wie gesagt, ich schätze mich selber, mein Leben, meine Potenz, meine Person kaum mehr noch als nichts, liebe übrigens Klara nicht; falls aber sie mich liebt, falls sie in mir das höchste Lebensglück verkörpert sieht, so wäre es doch grausam, ihr zu verweigern, was für mich selbst so gut wie nichts ist! Erklären müßte ich ihr allerdings, was sie in mir bekommen wird, und es ihr überlassen, ob sie mich dann noch geschenkt haben will; will sie mich auch dann noch, nun, dann habe ich mir nichts vorzuwerfen, und sie zu bedauern kann sie mir ja nicht wehren. Nun, die Entscheidung steht ja bei ihr.

Was mir diesen Gedanken einigermaßen sympathisch macht, ist eigentlich nur die Vertiefung der Kluft, die mich von diesem Weibe scheidet. Da sie es sich hat angelegen sein lassen, die Kluft zu vertiefen, will ich ihr zeigen, daß ich auch nicht davor zurückscheue. Das wird ja doch vom Ende das Ende bringen; denn vorderhand, – das kann ich nicht in Abrede stellen, so zornig es mich auch macht, – weilen meine Gedanken noch immer bei ihr. Es ist ja möglich, daß ich sie jetzt hasse; aber wer haßt, ist doch nicht gleichgültig; diese Kromitzka ist womöglich der Meinung, es wäre mir gar nichts anderes übrig geblieben, als mich von ihr zu trennen; daß es aber mein Wille gewesen, mich von ihr zu trennen, wird ihr dieser Schritt zeigen.

Daß ich Klara nicht liebe, steht fest; aber daß sie mich liebt, weiß ich nicht minder bestimmt. Zudem bin ich ihr zu Dank verpflichtet. In ihrer Handlungsweise mag ja Sentimentalität liegen; das habe ich mir während meiner Krankheit im stillen wohl auch hin und wieder gesagt. Aber »die Andere« hätte sich doch im Leben nicht zu solcher Empfindung emporgeschwungen, sondern im Vollgefühl ihrer erhabenen Tugend einen Mann lieber hilflos umkommen lassen, statt ihn ohne Halsbinde zu sehen: es darf sich doch bloß der rechtmäßig angetraute Ehemann erlauben, sich ohne solches Zubehör seiner Würde zu zeigen. Klara hingegen hat auf alles dies keine Rücksicht genommen, hat um meinetwillen ihre Kunst vernachlässigt, hat sich übler Nachrede ausgesetzt, die Ruhe des Tages, den Schlaf ihrer Nächte geopfert, um mich in meiner Krankheit zu pflegen . . . Diese Schuld will und muß ich ihr abtragen . . .

Ich wüßte nicht, wen es außer der Tante interessieren sollte . . . ihr werde ich freilich keine Freude damit erweisen: dieser Schritt wird ihren Nationalstolz, ihren Familienstolz verletzen. Wenn sie aber wüßte, was ich in diesen letzten Monaten erlitten habe, dann gäbe ganz sicher auch sie einer solchen Heirat vor einer solchen Liebe den Vorzug. Ich glaube, das leidet keinen Zweifel. Mich selbst schert's doch wahrhaftig nicht, ob Klaras Ahnen Leineweber oder Strumpfwirker waren . . . ich rechne bloß noch mit meinen Nerven und nicht mit Grundsätzen. Zudem sind sie nach dieser Richtung hin durchaus liberal, und die vollständige Nichtigkeit all dieser sogenannten Rücksichten erkennt man doch erst im Unglück.

Ich kann mir nicht helfen, aber ich werde den Gedanken nicht los, welchen Eindruck diese Nachricht auf Anielka machen wird? Diese schmerzvolle Gewohnheit, an alles diese Frage zu hängen, was sie dazu sagen, wie sie es auffassen werde, kann ich nun einmal nicht loswerden.

22. Oktober.

Der Brief an Klara ist unterwegs. Antwort kann morgen da sein. Es kann auch sein, daß Klara heut selbst kommt.

Am Nachmittag kam wieder ein Telegramm von Kromitzki, das von maßloser Verzweiflung erfüllt ist. Es scheint sich zum Ruine zuzuspitzen, und daß es damit so schnell gehen würde, habe ich mir doch eigentlich nicht gedacht. Es mögen wohl Dinge vorgegangen sein, die Kromitzki selbst nicht vorausgesehen hat. Ich kann die 75 000 Rubel verschmerzen, denn ich bleibe noch immer ein reicher Mann. Aber wie wird es mit Kromitzki werden? Der Mann ist doch nun mit seiner Frau einzig und allein auf das Wohlwollen der Tante angewiesen . . . Wozu damit hinterm Berge halten? In einem ganz versteckten Winkel meines Herzens lebt Freude über diesen Zusammensturz aller Geschäfte dieses Menschen . . .

Soll ich ihm antworten? Wozu? ich könnte ihm doch höchstens zu dem erwarteten Sprößling gratulieren. Vielleicht ändere ich später einmal die Meinung; warum soll ich ihnen nicht später einmal Brot geben? . . .

Klara ist gestern nicht gekommen. Sonderbar! sonst war sie doch immer pünktlich da? Geschrieben hat sie auch nicht: könnte ich annehmen, daß sie sich den Fall überlegt, und sei es nur zehn Minuten, so möchte mich ihr Schweigen nicht verwundern. Nun, ich werde warten. Leid tut es mir nicht, den Brief geschrieben zu haben; hätte ich ihn nicht schon geschrieben, so täte ich es gewiß noch jetzt.

24. Oktober.

Der Brief ist da. Klara schreibt, im ersten Moment sei sie so überglücklich gewesen, daß sie auf der Stelle habe nach Berlin fahren wollen; dann aber sei sie anderen Sinnes geworden; ihre Liebe zu mir säße zu tief, eine Stimme in ihrem Herzen habe ihr warnend zugerufen, sie solle mich ihren Wünschen nicht opfern, denn höchste Liebe dürfe nicht auch zugleich höchste Selbstsucht sein . . .

»Sie lieben mich nicht, teurer Herr Leon; wie gern opferte ich das eigene Leben, wenn ich Ihr Herz wandeln könnte; aber was Sie mir schreiben, entspringt bloß Ihrem Dankbarkeitsgefühl und einer verhaltenen Verzweiflung. Ich sah ja auf den ersten Blick, als wir uns in der Friedrichstraße trafen, daß Sie nicht allein nicht gesund, sondern auch nicht glücklich waren. Wie sehr mich Ihr Zustand beschäftigte, zeigt Ihnen meine Nachfrage in Ihrem Hotel, ob Sie bereits abgereist seien. Wie Sie wissen, hatten Sie sich schriftlich bei mir verabschiedet. Es hätte mithin eigentlich kein Grund für mich vorgelegen, weitere Erkundigung einzuziehen; aber es machte mich stutzig, daß Sie noch immer da waren. Ich ließ täglich in Ihrem Hotel nachfragen und bekam zuletzt die Nachricht von Ihrer Erkrankung. Daraufhin begab ich mich selbst in Ihr Hotel, und als ich mich überzeugt hatte, daß es recht böse mit Ihnen aussah, blieb ich dort. Da erfuhr ich nun, daß es auch um Ihren Seelenfrieden nicht gut stand; Sie offenbarten mir in Ihren wirren Träumen ein geheimes großes Leid, und ich gewann daraus die Meinung, daß Ihnen eine jener schweren Enttäuschungen widerfahren sein müsse, deren Last uns das Leben verkümmert, wenn nicht unmöglich macht . . . Das mußte mich zu der weiteren Meinung führen, daß Sie in der Verbindung mit mir nur Vergessenheit und Betäubung suchen . . . und kann ich es über mich gewinnen, Ihnen unter solchen Umständen meine Hand zu reichen? Tue ich es nicht, so mache ich höchstens mich fürs Leben unglücklich; aber ich erspare mir den ewigen Vorwurf: du bist ihm Last und Fessel zugleich!

Meine Liebe gehört Ihnen von dem ersten Tage an, da wir einander kennen lernten. Schmerz ist mir also nicht neu: ich meine Schmerz, der in Trennung und Hoffnungslosigkeit, in der Gewißheit, ohne Gegenliebe zu lieben, seine Quelle hat; aber er läßt sich ausweinen, läßt sich einschläfern durch die Musik; und der Trost, daß Sie immer an mich als eine gute Schwester zurückdenken werden, bleibt mir; während mir nur der Tod winkte, wenn ich es als Ihre Frau erleben müßte, daß Sie mich um des übereilten Schrittes halber, mich zur Frau zu nehmen, hassen müßten . . . Wodurch hätte ich übrigens, so frage ich mich mit Zagen, solch unsägliches Glück verdient? Schon der Gedanke daran erfüllt mich mit Bangen . . . Wissen Sie, daß es eine Liebe gibt, die aus vollem Herzen strömt, und doch demütig ist? Ich weiß es, denn meine Liebe ist solcher Art: kommt es mir doch schon als Anmaßung vor, daß ich den Mut, aller Hoffnung zu entsagen, nicht finden kann. Seien Sie mir darum nicht böse! Unser Gott ist ja barmherzig, und dem Menschen ist nun einmal die Sehnsucht nach Glück so tief ins Herz gepflanzt, daß er sie nicht missen kann und mag . . . auch ich finde nicht die Kraft dazu . . . Ist es Ihnen möglich, in einem halben oder ganzen Jahre oder auch später, den Antrag zu erneuern, so wird mich dieser Augenblick in reichem Maße entschädigen für alles bisher Erlittene, auch für die Tränen, die sich mir jetzt in die Augen drängen.

Klara.«

Der eine Mensch in mir kann jedes Wort des schlichten und redlichen Mädchens schätzen und würdigen und nachempfinden: und dieser Mensch flüstert mir zu, daß es sich verlohnen möchte, noch einmal bei dem so wahrhaft liebenden Wesen anzufragen; aber der andere Mensch in mir, der müde und erschöpfte, will nichts wissen davon; er kann wohl nachempfinden, aber nicht mehr wiederlieben, weil er sein alles ergossen hat in jenes einzige große Gefühl, das sein Leben ausmachte . . . er sieht klarer als der andere . . . er kann nicht zu Klara, zurück, nachdem er einmal von Klara gelöst ist.

28. Oktober.

Klara liegt daran, meinem Dank aus dem Wege zu gehen. Deshalb ist sie nach Hannover gereist und wird nicht wiederkommen. Das schmerzt mich, vornehmlich darum, weil dies gute Kind gerade an mich hat geraten müssen. Ist das nicht richtige Ironie des Schicksals? Wie hätte ich glücklich sein können, wenn ich für Klara bloß ein Hundertstel der Liebe gefunden hätte, mit der ich an Anielka hänge . . . o, warum muß ich noch immer seufzen unter dem Joche dieser Erinnerungen? Anielka schwebt mir vor Augen, wie ich sie sah in Ploshow, in Warschau, in Gastein, und von diesem Bilde der Vergangenheit vermag ich mich nicht loszumachen. Wie könnte es aber auch anders sein? ist nicht gleichsam all meine Lebenskraft zu ihr geströmt? Keine Aufgabe fällt dem Menschen so schwer zu lösen wie Vergessen!

Es hilft mir nichts, daß ich mir in solchen Augenblicken sage, sie sei eine andere geworden, an deren neuen Empfindungen ich keinen Anteil hätte; hieran habe ich sonst immer nur mit Widerstreben gedacht, es regte mich, immer zu sehr auf; heute wecke ich diesen Gedanken absichtlich, denn es ist das einzige Mittel, mich jenes anderen Gedankens zu erwehren, der sich immer häufiger in mir regt: was kann denn sie dafür, daß ihr dieses Kind aufgenötigt wurde? Und dann kommt eine weitere Frage, die mich tief bedrückt: weißt du übrigens, was in ihrem Innern vorgeht? sie müßte kein Weib sein, wollte sie ihr Kind nicht lieben, wenn es erst einmal auf der Welt sein wird; aber wer kann dir sagen, ob sie sich nicht ganz ebenso unselig fühlt wie du dich? . . . Zuweilen schleicht dann die Furcht zu mir heran, daß sie am Ende noch weit, weit unseliger sein könne als ich, und dann möchte ich lieber noch einmal die schwere Lungenentzündung durchmachen . . . Nein! bloß nicht weiter leben in diesem Wirrwarr von Gedanken! es ist mir wirklich nicht mehr möglich!

30. Oktober.

Ich gerate immer mehr in dies alte Gedankenwirrsal hinein, je mehr ich von meiner Krankheit genese. Der Arzt sagt, ich würde in einigen Tagen reisen können. Ich will auch reisen, denn in Berlin bin ich doch immer Warschau und Ploshow viel zu nahe. In Rom glaube ich' ruhiger leben zu können; oder ist auch das bloß nervöse Einbildung? Daß ich meinen Erinnerungen jemals entrönne, glaube ich nicht mehr. Nein! sie werden mich verfolgen vom Morgen bis in die Nacht; sie werden sich wohl ungefähr decken mit den Bildern, die den büßenden Menschen verfolgen, der sich hinter die Mauern eines Klosters geflüchtet hat . . . Gleichviel wie es später einmal wird, hier kann ich es nun einmal unter keinen Umständen mehr aushalten . . . In Wien werde ich bei Angeli vorsprechen: ich will nach Rom ihr Bild mitnehmen.

2. November.

Ich bin im Begriffe, Berlin zu verlassen, will aber nicht nach Rom reisen, sondern doch wieder nach Ploshow. Es ist und bleibt nun einmal, wie ich vor langer Zeit niederschrieb: Anielka ist nicht bloß dasjenige Weib auf Erden, das ich am meisten liebe, sondern auch die Seele meiner Seele. Mag es beruhen, auf welcher krankhaften Eigenschaft es wolle, Neurose oder Greisennarrheit, mir soll es gleich sein, was schert mich die Ursache einer Empfindung, die mir im Blut und im Herzen liegt? Ich reise also nach Ploshow. Dort will ich ihr dienen. Dort will ich über sie wachen. Ich begehre keinen anderen Lohn dafür, als ihren Anblick . . . Daß ich jemals habe meinen können, ohne diesen das Leben fristen zu können, vermag ich jetzt nicht zu fassen. Ich werde mir über mein Inneres jetzt völlig klar. Ein Brief von der Tante hat viel hierzu geholfen. Sie schreibt mir folgendes:

»Ich habe Dir über uns keinerlei Mitteilung machen wollen. Frohe Kunde zu übermitteln, war ich nicht in der Lage, und daß ich von Lügen keine Freundin bin, weißt Du ja. Darum habe ich lieber geschwiegen, zumal ich Dir keine Unruhe bereiten wollte, weiß ich ja doch, daß Deine Gesundheit auch zu wünschen übrig läßt. Dieser Kromitzki bereitet mir Sorgen über Sorgen. Ich möchte gern hören, wie Du über diese Sache denkst: Chwastowski hat von seinem Sohne Nachricht bekommen, nach welcher es mit Kromitzki sehr schlecht steht. Nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern es droht ihm ein Prozeß wegen Betrugs: er hatte eine umfangreiche Lieferung übernommen, ist aber von allen Seiten schlecht und unpünktlich bedient worden; der Lieferungstermin ist ihm über den Hals gekommen, er ist nicht mehr in der Lage gewesen, das Material zu prüfen; nachher hat sich herausgestellt, daß alles, was er geliefert hat, minderwertig war; es ist ihm alles zur Verfügung gestellt worden; ja er wird sich sogar wegen Betrugs vor Gericht zu verantworten haben. Wenn sich wenigstens dieses letztere noch vermeiden ließe! es ist mir besonders um deswillen schrecklich, weil Kromitzki ja selbst an dem Betruge keine Schuld hat. Ueber materiellen Verlust läßt sich ja hinwegkommen, aber nicht über Ehrverlust. Mir geht die Sache ganz schrecklich im Kopfe herum, denn ich weiß wirklich nicht, wie da sich helfen ließe. Ich möchte die Summe nicht gefährden, die ich Anielka ausgesetzt habe, und doch muß auf alle Fälle versucht werden, den Prozeß aus der Welt zu schaffen. Du findest vielleicht Rat, lieber Leon, denn Du hast ja in vielen Fällen Klugheit gezeigt.

Ich habe zunächst weder mit Anielka über diesen neuen Verdruß gesprochen noch mit ihrer Mutter. Du kannst Dir schwerlich vorstellen, wie es mit Anielka steht. Sie macht mir ebenfalls recht, recht großen Kummer. Celina ist ja eine Frau von höchst respektablen Grundsätzen, aber zeitlebens übertrieben prüde; diese Grundsätze sind auch maßgebend gewesen für Anielkas Erziehung. Anielka wird zweifelsohne eine treffliche Mutter abgeben; aber jetzt bin ich manchmal ganz außer mir. Wer sich verheiratet, muß sich doch auch mit den Folgen dieses Schrittes abfinden können. Anielka aber kommt aus der Verzweiflung gar nicht heraus. Sie muß ja ihren Zustand für die reinste Schande halten: anders kann ich mir diese Stimmung von ihr gar nicht erklären. Von früh bis Abend mit roten Augen herumlaufen, oder vielmehr nicht herumlaufen, sondern herumhocken, das mit anzusehen, geht doch über den Spaß! Dabei wird ihr Gesichtchen von Tag zu Tag spitziger, die Kreise um ihre Augen werden von Tag zu Tag hohler und dunkler, dazu dieser jammervolle Ausdruck, als wenn das arme Ding die größte Schurkin wäre, die Gottes Erdboden trägt . . . wahrhaftig, Leon, ich halte es kaum noch aus, das mitanzusehen! ich bin doch nun alt genug und habe in meinem Leben schon manche Frau in gesegneten Umständen gesehen; aber eine, wie Anielka, die diese Umstände in dieser Weise getragen hätte, doch noch nicht . . . Ich habe es auf alle mögliche Weise mit ihr versucht, hab' ihr gut zugeredet, hab' sie ausgezankt, hab' sie zu zerstreuen versucht, es will alles nichts helfen bei ihr: sie bleibt dasselbe vergrämte, verheulte Frauenzimmer, das sie nun schon ist seit ihrer Herkunft von Wien . . . Ich habe sie eben, wie ich bekennen muß, viel zu lieb, das kleine Ding, und habe wohl in meinen alten Tagen auch manches von meiner alten Energie eingebüßt . . . Dann muß man aber auch gelten lassen, daß das arme Ding so herzensgut ist! Wie gesagt, Leon, es kann einen jammern! Du müßtest bloß wissen, wie oft sie nach Dir fragt! ob wieder ein Brief von Dir da sei, ob Du wieder gesund seiest, ob Du von Berlin weg seiest, oder wie lange Du noch dort zu bleiben gedächtest, wohin Du zu reisen vorhättest, und so weiter. Sie weiß, wie gern ich von Dir sprechen höre, und macht mir deshalb diese Freude von früh bis spät. Ach, wenn ihr der liebe Gott bloß die Kraft schenken wollte, das Schwere zu tragen, was ihr bevorsteht. Vorderhand ist es mir noch nicht möglich, über die unglückselige Situation, in die sich ihr Mann gestürzt hat, sie zu unterrichten; denn ich fürchte, es möchte ihr schaden. Aber ewig kann es ihr doch nicht verborgen gehalten werden. Mit Celina darüber zu sprechen, ist auch ausgeschlossen, denn sie sorgt sich ohnehin schon unsäglich um Anielka und kann nicht verstehen, warum sich ihr Kind es so zu Herzen nimmt, daß sie als verheiratete Frau guter Hoffnung ist, während sonst doch Frauen stolz auf solchen Zustand sind.«

Warum? wer sollte dafür die Antwort wissen außer mir? Niemand, und das ist's, was mich wieder nach Ploshow treibt.

Nicht ihre gesegneten Umstände sind es, die Anielka so zu Herzen gehen, sondern den Umstand nimmt sie sich zu Herzen, daß ich aus Wien geflohen, in Verzweiflung aus Wien geflohen bin. Daß mich Verzweiflung jagt, weiß sie! und das Abkommen, das wir in Gastein, auf der Windischgrätz-Höhe, getroffen hatten, war ihr lieb und wert geworden, um jenes Stempels der Lauterkeit willen, den es trug, den wir ihm aufzudrücken vermochten nach so viel Schmerz und Pein und Mühsal. Ach, mir wird es so leicht, mich in ihre Seele hinein zu denken, ihr alles nachzufühlen, nachzuleiden, was sie fühlt und was sie leidet. O, die Tragödie ihres Lebens ist der meinen wohl würdig!

Von der Stunde an, da ich wieder in Ploshow auftauchte, loderte in diesem überedlen Wesen der Kampf zwischen Pflicht und Empfindung. Sie wollte ihre Frauenehre wahren, wollte dem Manne, dem sie Treue gelobt hatte, Treue halten; Unlauterkeit und Lüge sind ihr Undinge! . . . und doch war sie außerstande, die Neigung zu jenem anderen Manne zu ersticken, dem ihre erste Liebe gehörte; sie war dazu um so weniger imstande, als jener andere in ihrer Nähe blieb, sie liebte, rasend liebte und dadurch rasend unglücklich wurde . . .

In diesem furchtbaren Empfindungsdilemma lebte sie nun monatelang, bis es endlich zwischen ihr und mir zu einem Frieden kam . . . zu jenem Frieden, den das Abkommen auf der Windischgrätz-Höhe schuf oder schaffen sollte: von da ab lebte sie sich in die Auffassung hinein, als sei hinfort keine Rede mehr zwischen uns von einer verbotenen Liebe, sondern nur von einer Gemeinschaft der Seelen, durch die weder die Lauterkeit der Gedanken gefährdet, noch das Gelöbnis der Treue verletzt werde . . . und da wurde dieses Band wieder jäh zerrissen, sie stand wieder allein, vor sich die gleiche Leere und Oede, die so lange schon vor mir gähnt! . . . Das ist die Antwort auf jenes Warum? in dem Briefe der Tante! Das ist der Grund zu ihrem jetzigen Jammer.

Ich lese in ihrer Seele wie in einem Buche . . . und das eben ist's, was mich wieder – nach Ploshow treibt . . . Jetzt weiß ich auch, daß ich sie wohl kaum verlassen hätte, hätte ich gewußt, daß die Empfindung, die für mich in ihrem Herzen lebt, von solch ausdauernder Kraft sei. Wäre bloß nicht jener Gedanke über mich gekommen, daß ihr Kind mir ihr Herz rauben, sie ihrem Manne näher bringen, mich aber ganz von ihr entfernen werde! Das war es ja gewesen, was mich aus Wien verjagte, was diese schreckliche Verzweiflung über mich brachte! Die bloße tierische Eifersucht, so schrecklich häßlich auch der Gedanke an jene Rechte, die einem anderen gehören, auf meine Phantasie wirkt, wäre niemals so mächtig in mir geworden, daß ich mich von dem Weibe losgerissen hätte, das mir das teuerste hienieden ist, das meine ganze Welt ausmacht!

Und doch werde ich ihr nie wieder sein, was ich war oder hätte werden können, wäre nicht alles so gekommen, wie es nun eben gekommen ist! Aber ich weiche nicht mehr von ihr, solange nur ein Fünkchen von Empfindung für mich in ihrer Seele lebt . . . ich kann sie nicht missen, darum gehe ich nicht mehr von ihr . . . und wüßte ich denn übrigens, wohin ich gehen sollte?

Also zurück zu ihr! zurück! ich will versuchen, ob sich jenes Fünkchen von Empfindung zur milden Flamme anfachen läßt, an der ich das bißchen Wärme finde, das ich ja haben muß, wenn ich nicht erfrieren, erstarren soll . . . »Du müßtest bloß wissen, wie oft sie nach Dir frägt! ob wieder ein Brief von Dir da sei, ob Du wieder gesund seiest, ob Du von Berlin weg seiest, oder wie lange Du noch dort zu bleiben gedächtest, wohin Du zu reisen vorhättest, und so weiter. Sie weiß, wie gern ich von Dir sprechen höre, und macht mir deshalb diese Freude von früh bis spät.« Ich muß sie immer, immer wieder lesen, diese Worte im Briefe der alten Tante, und kann mich gar nicht satt an ihnen lesen . . . Ich komme mir vor wie ein Mensch, der dem Verhungern nahe war und dem im letzten Augenblicke unvermutet ein Stückchen Brot zuteil wird. Ich esse von der kargen Speise und fühle, wie sich die Tränen mir in die Augen drängen. Sollte sich Gott in seiner Barmherzigkeit endlich meines Jammers erinnern? Die letzten Tage haben, ich fühle es, den alten Menschen in mir vernichtet. Ich werde hinfort alles tragen, werde Anielka trösten und beruhigen – und werde auch ihren Mann aus seiner Not erretten.

4. November.

Ich bin doch noch zwei Tage in Berlin geblieben, denn ich habe es nach einiger Ueberlegung für richtiger gefunden, erst zu schreiben, daß ich kommen wolle. Freilich bringe ich damit ein Opfer, denn ich muß noch warten; aber Anielka könnte doch erschrecken, wenn ich so Hals über Kopf nach Ploshow schneie, und mit einem Telegramm wäre es kaum anders bestellt. Ich habe einen ganz vergnügten Brief an die Tante geschrieben, habe Anielka recht schön grüßen lassen und dazu Worte gewählt, als sei gar nichts Besonderes zwischen uns passiert. Ich will, sie soll einsehen, daß ich mich mit meinem Schicksale ausgesöhnt habe und nach Ploshow zurückkehre als ganz derselbe, der ich in den guten Zeiten war.

Tante hat, glaube ich, meine Wiederkunft halb und halb erwartet.

Warschau, 6. November.

Heute bin ich mit dem Frühzuge hier angekommen. Tante war auf dem Bahnhofe. Es scheint mir wirklich, als sei sie auf meine Rückkunft vorbereitet gewesen.

In Ploshow geht es leidlich. Anielka ist seit meinem Briefe ruhiger. Kromitzki hat in der letzten Zeit gar nicht mehr geschrieben, auch nicht telegraphiert.

»Du lieber Gott, Leon!« rief die arme Tante ganz außer sich, als sie mich nun im Lampenschein der Wartehalle besser sehen konnte . . . »was ist denn mit Dir vorgegangen?« . . . Sie wußte ja nicht, daß ich eine schwere Krankheit durchgemacht hatte, und es muß wohl sein, daß ich noch recht elend aussehe. An den Schläfen bin ich ja so grau geworden, daß ich schon daran gedacht habe, mir das Haar zu färben: will ich doch jetzt weder alt sein, noch alt aussehen.

Tante war übrigens ebenfalls sehr verändert; der Unterschied zwischen heute und dem letzten Male, da ich sie gesehen, ist auffällig. Ihren Zügen wohnt die alte Festigkeit nicht mehr inne, und doch sind sie starrer geworden. Wenn sie aufmerksam zuhört, dann wackelt sie schon recht mit dem Kopfe. Besonders tritt diese Bewegung ein, wenn sie nicht gleich auf das erste Wort hin versteht . . . Ich fragte voll Besorgnis, wie es mit ihrer Gesundheit stände, und sie gab mir mit ihrer alten offenen Weise Antwort: »Nach Gastein habe ich mich eine Zeitlang recht wohl befunden; dann ist es wieder schlecht geworden und immer mehr bergab gegangen.« Nach einer Pause setzte sie hinzu: »Bei uns Ploshowskis ist der Schlagfluß erblich, und ich verspüre auch schon alle Morgen die ersten Anzeichen davon in meinem linken Arme, der mir immer steif und erst nach geraumer Zeit bewegungsfähig wird. Aber was hat es für Zweck, darüber viel Sums zu machen? Wie Gott will, muß es uns eben recht sein.«

Da sie über sich nicht weiter reden wollte, meinte ich, wir möchten doch einmal zusammen überlegen, welche Schritte sich vielleicht in der Angelegenheit Kromitzkis unternehmen ließen. Wir kamen zu dem Schlusse, daß wir wohl alle Opfer bringen wollten, um den Prozeß hinfällig zu machen; seinen Ruin dagegen könnten wir nicht anders aufhalten als durch unseren eigenen Ruin, und das müsse schon aus Rücksicht auf Anielka für ausgeschlossen gelten. Ich schlug vor, ihn nach Hause zu rufen, sobald die Prozeßfrage abgetan sei, und ihm eins unserer Güter in eigene Verwaltung zu geben. Ein Giftkelch für mich! Aber um mein Opfer voll zu machen, will ich ihn leeren, will mich darein finden, daß Anielka mit ihm unter einem Dache weilt . . . Wie sehr meine Seele vor diesem Gedanken erbebt, das weiß allein unser Herrgott . . .

Die Tante meint, sie könne sich um Anielkas willen mit meinem Vorschlage befreunden, und spricht von einem Ploshower Vorwerk, das sie ihm abtreten will; ich erkläre darauf, daß ich bereit sei, ihm das dazu notwendige Kapital zu geben. Das solle, meint Tante, Anielkas Mitgift sein. Dagegen bemerke ich, daß ich Geld nur unter der Bedingung hergeben werde, daß Kromitzki sich in Anielkas Gegenwart ehrenwörtlich verpflichtet, allen Spekulationsgeschäften ein für allemal zu entsagen. Wir werden ihm einen Warschauer Rechtsanwalt nach Baku schicken mit ausreichenden Vollmachten zur Aufhebung des Prozesses.

Nach Erledigung dieser Kromitzkischen Punkte erkundigte ich mich nach Anielka. Die Tante erging sich in einer ausführlichen Schilderung ihres Befindens, sagte auch, sie habe sich sehr verändert, und zwar zu ihrem Nachteile. Mir tut sie um deswillen nur noch mehr leid. Mein Herz gehört ihr und kann ihr nichts auf Erden abwendig machen. Sie ist und bleibt die Seele meiner Seele.

Ich wollte zwar gleich nach Ploshow fahren, sobald wir alles zusammen durchgesprochen hatten; aber Tante sagte, sie sei zu müde und wolle lieber in der Stadt übernachten. Ich glaube, sie handelt so einzig und allein aus Rücksicht auf mich: ich habe ihr nämlich bekannt, daß ich eben erst von einer Lungenentzündung genesen sei. Da mochte sie wohl die Fahrt im Wagen bei dem schlechten Wetter – es regnet nämlich stark – für nicht so ganz gefahrlos halten.

Es geht auch nicht so schnell mit dem Rechtsanwalt für Kromitzki, wir werden wohl noch einige Stunden brauchen, ehe wir den richtigen finden. Er muß auch gleich abreisen können, denn Kromitzkis Angelegenheiten dulden keinen Aufschub.

7. November.

Heut abend, kurz nach sieben, sind wir in Ploshow eingetroffen. Es ist jetzt bald Mitternacht, und das ganze Haus liegt bereits im Schlafe. Gott sei Dank! das Wiedersehen hat Anielka nicht allzu heftig erschüttert. Sie kam langsam, unsicher, beschämt, mit einem fast ängstlichen Ausdruck in den verweinten Augen, auf mich zu. Ich tat so ungezwungen, so natürlich, als seien wir erst gestern auseinander gegangen. Ich hatte mir fest vorgenommen, unserer Begegnung jeden Anstrich einer Versöhnung zu nehmen. Darum eilte ich ihr, sobald ich sie sah, mit ausgestreckter Hand entgegen und rief ihr munter zu: »Na, was machst denn Du, liebe Anielka? Mich beschlich so starke Sehnsucht noch Euch allen und nach Ploshow, daß ich meine Seereise bis auf weiteres aufgegeben habe.«

Anielka begriff auf der Stelle, daß diese Begrüßungsworte Frieden und Ruhe für sie bedeuten sollten, daß ich mich selbst zum Opfer herführte, um wieder bei ihr sein zu können. Ein paar Sekunden stand sie da, von Rührung sichtlich überwältigt; und schon beschlich mich die Furcht, sie möchte die Gewalt über sich verlieren und in Tränen ausbrechen. Ich sah, daß sie sprechen wollte, aber nicht konnte, ihren warmen Händedruck aber fühlte ich, und damit sie nicht weinen müsse, nahm ich hastig wieder das Wort: »Ei, und was macht denn Dein Porträt? Der Kopf war doch fertig, als Du Wien verließest? Nun, so schnell wird es Angeli wohl nicht schicken, denn er sagte ja, es solle sein Meisterwerk werden, und da wird er es, denke ich mir, wohl erst auf ein paar Ausstellungen schicken wollen, vielleicht nach Wien, Paris und München. Ein wahres Glück, daß ich gleich eine Kopie bestellte. Sonst müßten wir vielleicht noch ein ganzes Jahr warten. Aber ich wollte doch nun einmal ein Bild von Dir für mich haben.«

Ihre Mama und Tante mischten sich jetzt in die Unterhaltung, und da blieb ihr erst recht nichts weiter übrig, als in meinen heiteren Ton einzustimmen, wenn es ihr auch schwerlich heiter zu Mute war. Auf diese Weise gingen die ersten Augenblicke ganz gut an uns vorüber. Ich hielt auch den ganzen Abend fest an dieser Rolle; leicht ist es mir freilich nicht geworden, ich bin ja auch erst kaum wieder gesund, und dieser Zwang tat mir recht weh. Beim Abendtisch fiel mir ein Blick Anielkas auf: sie hatte die Augen ein paar Sekunden auf meinem mageren, vergrämten Gesicht und auf den stark ins Graue spielenden Haaren an beiden Schläfen ruhen lassen. Da mochte sie erraten haben, was ich gelitten hatte . . .

Ich plauderte aber munter von allem, was ich in Berlin erlebt habe, und wenn mich einmal eine Schwäche anwandelte, so bekämpfte ich sie energisch, so daß Anielka in meinen Augen weiter nichts lesen konnte als stille Ergebung in das Unvermeidliche. Um sie nicht merken zu lassen, daß mich ihre so völlig veränderte Gestalt mit tiefem Schmerz erfüllte, vermied ich es ängstlich, sie anzusehen, und ich glaube, daß es mir gelang, sie trotz allem Scharfsinn, der ihr eigen ist, über die Empfindungen zu täuschen, die mein Herz wirklich erfüllten. Ja, sie mochte zuletzt wohl denken, daß ich mich zu dem alten Worte bekennte: Glücklich wer vergessen kann, was man nicht mehr ändern kann. Und wenn anderseits ich in dieser Auffassung optimistisch sein sollte, so wird doch eins bestehen bleiben: daß sie nicht daran zweifeln kann, daß ihr nach wie vor all meine Liebe gehört, daß sie mein Abgott, meine alte Anielka auch heute noch ist.

Ich durfte mir sagen, daß es ihr jetzt wohler ums Herz war, und daß ich nicht bloß in ihr Herz, sondern in das ganze Haus Freude gebracht hatte durch mein Wiedererscheinen. Das verrieten die Gesichter der beiden alten Damen deutlich genug, und als ich mich bei ihnen zur Nacht verabschiedete, sagte Frau Celina zu mir: »Ich danke unserem lieben Gott von Herzen, daß er Dein Herz wieder hierher zu uns gelenkt hat. Seitdem wir Dich hier haben, ist unsere Stimmung gleich eine viel fröhlichere.«

Anielka aber reichte mir die Hand und fragte: »Nun wirst Du uns so schnell doch nicht wieder verlassen?« – »Nein, Anielka,« versetzte ich, den Druck ihrer Hand erwidernd, »ich verlasse Euch nicht mehr!« . . . Dann aber eilte ich auf mein Zimmer, denn ich war am Ende meiner Kräfte angelangt.

Ich habe in meinem Zimmer den Abend über bittere Tränen geschluckt, und ihrer so viel, daß ich mehr als einmal meinte, ersticken zu müssen. Kleine Opfer kosten eben zuweilen mehr, viel mehr als große.

8. November.

Anielka ist die Seele meiner Seele; das schreibe ich darum so oft nieder, weil man wirklich, wenn man unter solchen Umständen nicht auf und davon rennen soll, ein Weib lieber haben muß als sein Leben. Aber ich harre bei Anielka aus und werde nicht von ihr weichen, und wenn ich mir sagen muß, daß mich bei jedem anderen Weibe gewiß physischer Ekel beschliche, so muß ich mir weiter sagen, – und das ist mein alter Gedanke, – daß meine Liebe zu Anielka krankhafter Natur ist, daß sie eine nervöse Verirrung ist, die in einem normalen Gehirn nicht denkbar wäre. Dem modernen Menschen, der alles durch seine Nerven zu erklären sucht und sich jeder Regung seines Gemüts bewußt ist, bleibt nicht einmal der Trost der eigenen Treue, denn da er sich sagen muß: Deine Treue ist ja bloß krankhaft, also gar nicht Dein Verdienst, muß er auch erhöhte Bitterkeit im Herzen empfinden . . . und wenn uns durch solche Erkenntnis das Dasein nur stärker verbittert wird, warum dann um solche Erkenntnis sich reißen?

Heute sehe ich Anielka bei Tageslicht: und heute erst sehe ich, wie sehr sich ihr Gesicht verändert hat . . . dieser Anblick ergreift mich tief: der Mund ist geschwollen, und die Stirn, ehedem von so idealer Reinheit, ist gewöhnlich geworden. Die Tante hatte recht, als sie sagte, sie hätte sich sehr zu ihrem Nachteil verändert . . . fast aller Reiz ist von ihr geschwunden; bloß die Augen sind noch die alten . . . das aber genügt mir! Für das Gesicht selbst finde ich nur tiefes, tiefes Mitleid . . . aber meine Liebe rauben kann es Anielka nicht: ich liebe sie darum nur noch inniger! weit inniger! und sollte sie noch zehnmal häßlicher werden, so änderte auch das an meiner Liebe nichts, denn meine Liebe wird sich ewig, ewig gleich bleiben. Ist das Krankheit, nun, meinetwegen, dann bin ich eben krank und mag gar nicht anders als krank sein, will vielmehr lieber an dieser Krankheit sterben als an einer anderen . . .

9. November.

Es muß ja die Zeit wiederkehren, die sie in neuer Schöne erblühen läßt. Ob unser Verhältnis auch dann keine Aenderung erleiden wird? Ich habe mir heut diese Frage gestellt und meine, sie mit einem Nein beantworten zu müssen. Denn ich habe gelernt, was es für mich bedeutet, das Leben ohne sie, und werde nicht das geringste tun, was sie erzürnen oder auch nur verdrießen könnte. Sie hingegen ändert sich niemals . . . wenn ich auch recht gut weiß, daß auch sie mich nicht entbehren kann, so weiß ich auch nicht minder, daß sie die Liebe, die für mich in ihrem Herzen lebt, nie anders kennen, nie anders nennen wird, auch vor sich selbst nicht, denn Schwesterliebe.

Mag diese Liebe sein, welcher Natur sie wolle, für Anielka wird sie ewig nur Seelenliebe sein: ideale Verschmelzung meiner mit ihrer Seele . . . eine lautere, statthafte Empfindung . . . Sobald ein anderer Gesichtspunkt bei ihr zum Vorschein träte, würde sie den alten Kampf wieder mit sich selbst beginnen. Darüber besteht bei mir kein Schatten von Zweifel, und ihr Verhältnis zu mir ist ihr erst lieb und wert und teuer geworden, seit es gelungen ist, ihm den Stempel der Lauterkeit aufzudrücken . . . möge also nichts geschehen, was diese Lauterkeit stören könnte!

10. November.

Ich glaube nicht daran, daß die Sensibilität des modernen Menschen in Abnahme begriffen sei. Mir scheint, das Gegenteil vielmehr ist der Fall. Was ist uns denn von dem allen, worauf unsere Ahnen ihr Leben stützten, geblieben außer den Nerven? Aber im Zustande weit größerer Reizbarkeit, weit höherer Empfindsamkeit sind sie uns geblieben! Früher hat die Menschheit für Enttäuschungen in der Liebe Tröstung gefunden in der Religion oder in gesellschaftlichen Pflichten: heute ist davon keine Rede mehr, seitdem durch den Mangel an roten Blutkörperchen anormale Empfindungen geweckt wurden, wodurch die Tragödie der Empfindungen nicht kleiner, sondern größer geworden ist . . . und während ehedem ausschweifende Empfindungen durch den Charakter gezügelt wurden, werden jetzt die Charaktere so selten – und müssen es werden –, daß von solcher Zügelung gar nicht mehr gesprochen werden kann: der Skeptizismus zersetzt bazillenhaft alles Psychische im Menschen, alle Widerstandskraft büßt er durch ihn ein, und die physiologischen Gelüste werden gesteigert, unsere Nerven selbst geschwächt: sie erkranken, verfallen in Siechtum . . . der moderne Mensch ist sich wohl aller Dinge bewußt, er weiß aber gegen die Unruhe keinen Rat!

11. November.

Kromitzki hat nichts mehr verlauten lassen – sogar seine Frau hat keine Nachricht von ihm. Ich habe ihm telegraphisch mitgeteilt, ein Rechtsanwalt sei schon bestellt, doch ging dieses Telegramm aufs Geratewohl hinaus, denn wo er sich aufhält, weiß kein Mensch. Auch der Brief, den ich hinterher schrieb, geht ins Blaue hinein. Vielleicht erhält er ihn einmal – aber wann, das mögen die Götter wissen. Der alte Chwastowski hat an seinen Sohn geschrieben, vielleicht erreicht diesen ein Brief eher.

Ich bin jetzt viel mit Anielka zusammen, es hindert mich niemand daran. Ihre Mutter hat im Gegenteil den Wunsch geäußert, ich möchte Anielka schon ein wenig darauf vorbereiten, was nun alle Tage eintreten könne, damit eine Nachricht von ihrem Manne sie nicht erschrecke. Ich habe nun Anielka schon zu verstehen gegeben, daß ich die Spekulationen Kromitzkis nicht für sehr glücklich halte, und sie möchte sich nicht allzusehr grämen, wenn er eines Tages endgültig Bankerott mache, dies sei ja eher mit Freuden zu begrüßen, denn dann winke ihr doch endlich eine ruhige Zukunft.

Meines Geldes wegen brauche sie sich nicht zu sorgen, sagte ich, denn das stünde auf alle Fälle sicher. Dann deutete ich auch auf die Absichten der Tante, und sie hörte mich ruhig an.

Daß sie von allen um sie her geliebt wird, das verleiht ihr Kraft. Ich liebe sie von ganzer Seele, und mein Wesen gibt ihr das deutlich zu verstehen. Und wenn ich das Glück habe, sie zu einem Lächeln zu bewegen, so freut mich das im Innersten. Ich liebe sie jetzt, wie etwa ein alter treuer Diener seine vergötterte Gebieterin lieben mag. Und wenn sie sich noch so sehr verändert, für mich kann sie weder alt noch häßlich werden – ich bin glücklich, wenn ich nur bei ihr sein kann, und am liebsten sitze ich zu ihren Füßen.

12. November.

Kromitzki ist tot . . . Wie ein Blitz schlug diese Todesnachricht bei uns ein. Gott lasse Anielka gesund bleiben! Ein Telegramm ist gekommen – darin steht, er sei wegen Betruges in Anklagezustand versetzt worden und habe aus Furcht, zu Gefängnis verurteilt zu werden, sich das Leben genommen. Wer hätte sich das träumen lassen? Kromitzki tot – Anielka frei!

Wird sie das Entsetzliche überstehen? Ich lese die Nachricht wieder und wieder – und mir ist, als befände ich mich in einem schweren Traume. Aber Chwastowski hat die Meldung unterschrieben, und somit ist an der Zuverlässigkeit nicht zu zweifeln. Ich hatte ja immer vermutet, daß die Sache schief gehen könnte – daß es aber ein so furchtbares Ende nehmen würde, das war mir nie in den Sinn gekommen. Mir ist zu Mute, als hätte mir einer mit der Keule einen Schlag vor den Schädel versetzt. Wenn ich jetzt nicht den Verstand verliere, dann bin ich gegen alles gefeit. Gewissensbisse brauche ich mir keine zu machen. Ich habe Kromitzki schon einmal unter die Arme gegriffen, und jetzt habe ich ihm auch einen Rechtsbeistand geschickt. Allerdings, ich habe einmal gewünscht, er möchte zur Hölle fahren, und das schleunigst – aber um so anerkennenswerter war es ja, daß ich ihn nachher aus der Not habe retten wollen. Und nun, ohne daß ich etwas dazu getan hätte, ja sogar meiner gutgemeinten Unterstützung zum Trotz hat ihn der Tod ereilt.

Anielka ist frei!

Das alles ist mir klar – Kromitzki stand mir immer im Wege – das Hindernis ist nun beseitigt – und doch! freuen kann ich mich nicht – ich getraue mich nicht, mich darüber zu freuen – meine Angst um Anielka ist zu groß.

Als ich das Telegramm erhielt, war mein erster Gedanke: Was wird nun aus Anielka? wird sie diese Schreckensbotschaft ertragen können? Gott stehe ihr bei! Sie hat den Mann freilich nie geliebt – aber so wie es jetzt um sie steht, kann ein so furchtbarer Schlag ihr Tod sein. Ob ich sie von hier wegbringe?

Es war nur ein Glück, daß mir das Telegramm auf mein Zimmer gebracht wurde, daß ich nicht gerade im Speisezimmer oder im Salon mich aufhielt. Ich weiß nicht, ob ich mich soweit hätte beherrschen können, mir nichts merken zu lassen. Als ich ein wenig meine Fassung wiedererlangt hatte, ging ich zu meiner Tante.

»Ich habe Nachricht von Kromitzki,« sagte ich, »es steht sehr schlecht um ihn.«

»Was ist denn los?«

»Ich bitte Dich, liebe Tante, erschrick nicht . . .«

»So sprich doch – hat das Gericht schon . . .«

»Er befindet sich schon vorm Gericht – aber nicht vorm irdischen –«

Meine Tante blinzelte mich an, als glaube sie, nicht recht gehört zu haben – ich reichte ihr das Telegramm – sie las es – und ohne ein Wort zu erwidern, kniete sie bei ihrem Betschemel nieder und betete, das Gesicht in den Händen vergrabend.

Nach einer Weile stand sie auf. »Das kann der Anielka den Tod bringen,« sagte sie. »Was sollen wir bloß machen?«

»Bis nicht die Geburt vorüber ist, darf Anielka nichts wissen.«

»Aber wie sollen wir es ihr denn verheimlichen? Das erfährt doch die ganze Welt, es kommt doch auch in die Zeitungen.«

»Da gibt es nur einen Ausweg, Tante. Der Arzt muß Anielka eine Reise verordnen, unter dem Vorwand, daß ihre Gesundheit dies erheische. Dann gehe ich mit ihr und ihrer Mutter nach Rom. Dort werde ich ohne Schwierigkeiten ihnen alle Nachricht vorenthalten können, während das hier allerdings fast unmöglich sein dürfte.«

»Wird sie aber reisen können, so wie es mit ihr steht?«

»Das kann natürlich nur der Arzt beurteilen, er soll heute noch kommen.«

Die Tante stimmte mir bei, und wir beschlossen, Frau Celina in unser Geheimnis zu ziehen, damit sie uns in unserer Absicht, Anielka zu einer Reise zu bewegen, unterstützen könne. Die Dienerschaft erhielt den strengen Befehl, keinerlei Neuigkeiten der jungen Frau zuzutragen, sondern alle Briefe, Zeitungen oder sonstigen schriftlichen oder mündlichen Mitteilungen, an wen sie auch gerichtet sein möchten, an meine Person gelangen zu lassen.

Die Tante weiß sich noch gar nicht zu fassen. Sie betrachtet den Selbstmord als ein schweres Verbrechen, als eine Todsünde – wenn sie daher den Toten auch bemitleidet, so denkt sie seiner doch auch mit Entsetzen, voller Schauder.

»Das durfte er nicht tun,« sagt sie immer wieder. »Er, der in Kürze Vater werden soll. Aber man muß annehmen, das hat er nicht gewußt. Denn jedenfalls haben seine verwirrten und dem Zusammenbruche nahen Geschäftsmanöver ihn in der letzten Zeit ruhelos von einem Orte zum anderen gejagt, so daß die Mitteilung ihn überhaupt nicht erreicht hat.«

Ich kann nicht umhin, ich fühle noch Hochachtung vor ihm. Wie mancher geht ins Gefängnis, nachdem er sich des Betruges schuldig gemacht hat, und führt dort ein herrliches Leben. Und er war schuldlos – er hat es vorgezogen, mit seinem Blute den falschen Verdacht wegzuwaschen. Er wollte so tief nicht sinken. Wenn ihn lediglich der Bankerott in den Tod getrieben hätte, dann wäre mein Mitleid weit geringer. Aber ich glaube wohl, auch der Bankerott allein hätte genügt, ihn zum Selbstmord zu bewegen, denn ich erinnere mich noch immer jener Ansichten von Geld und Leben, die er mir in Gastein auftischte. Wenn man meine Liebe ein Nervenleiden nennen kann, so verdient seine Geldgier noch weit eher diese Bezeichnung. Sein Leben war nur von dem Bestreben erfüllt, Geld zu machen . . . als er dieses Bestreben nicht befriedigen konnte, fühlte er sich ebenso haltlos in der Luft, wie ich seinerzeit in Berlin. Was hätte ihn nun davon abhalten sollen, sich das Leben zu nehmen? Der Gedanke an Anielka? Er war ja sicher, daß wir für sie sorgen würden . . . und dann mochte er wohl auch gefühlt haben, daß sie ihn nicht liebte? . . . Auf jeden Fall hatte ich eine zu geringe Meinung von ihm, denn soviel Energie habe ich in ihm nicht vermutet.

Anielka ist frei! Frei! Ich kann noch nicht absehen, was diese Worte alles bedeuten, so oft ich sie mir auch wiederhole. Ich möchte vor Glückseligkeit närrisch werden, und doch auch drückt ein unsagbares Angstgefühl mich zu Boden.

Wird nun wirklich ein neues Leben beginnen? Ich habe die Empfindung, als wenn eine Springflut mich und alles um mich her mit sich fortrisse – eine Flut, in der alles, was Menschen wollen und erstreben, untergehen müsse.

Der Gedanke, daß Kromitzki tot ist, ist mir immer noch wie unfaßbar. Dieser Schicksalsschlag führt ein ungeahntes Glück für mich herauf. Aber der Mensch besitzt ein gewisses moralisches Taktgefühl, das ihm untersagt, sich über den Tod eines Mitmenschen, und sei er auch unser Feind gewesen, zu freuen. Der Tod erfüllt uns alle mit ehrfürchtiger Scheu. Wenn eine Leiche im Hause ist, spricht jeder Mensch leise. So habe auch ich nicht das Herz zu frohlocken.

13. November.

Meine Pläne sind vereitelt. Heute früh hat sich Anielka vom Arzt untersuchen lassen. Das Ergebnis lautet, daß eine Reise ihr Leben gefährden könne. Ich muß annehmen, daß der Zustand Anielkas anormale Symptome aufweise. Der Doktor erklärte mir die Lage, aber diese termini technici waren mir entsetzlich, denn jeder schien mir eine Falle, hinter der der Tod lauerte. Ich sagte nun dem Doktor, weshalb ich zu reisen wünschte, aber er sagte, es könne keine Rede davon sein – wenn zwischen zwei Gefahren die Wahl zu treffen sei, so wähle er die kleinere.

Er gab mir den Rat, Anielka den Tod ihres Mannes mitzuteilen, und ich geriet außer mir über ein solches Ansinnen.

»Wenn Sie die Gewißheit haben,« sagte er, »daß Sie der Dame die Wahrheit noch zwei Monate lang verbergen können, dann ist es ja gewiß weit besser, sie erfährt nichts. Wenn dies aber nicht anzunehmen ist, dann ist es besser, sie langsam vorzubereiten und dann ihr alles zu sagen – sonst kann ich für nichts einstehen.«

Was ist da zu tun? Ich muß eine wahre Quarantäne über Ploshow verhängen – kein Mensch, kein Schreiben, keine Zeitung darf passieren, die Dienerschaft muß nicht nur darüber, was sie zu sagen hat, sondern auch darüber, was sie für Gesichter zu machen hat, instruiert werden; denn was es nach sich ziehen kann, derartige Wahrheiten einer Leidenden zu sagen, das habe ich heute an Frau Celina gesehen. Vor ihr konnten wir nicht gut noch länger hinterm Berge halten. Sie fiel in Ohnmacht, und kaum kam sie wieder zu sich, so verfiel sie in Weinkrämpfe, die mich zur Verzweiflung brachten, denn sie waren im ganzen Hause zu hören.

Ich kann mich mit dem Vorschlage des Doktors unter keinen Umständen einverstanden erklären. Ich will ein für allemal nichts davon wissen. Wenn ich ihnen auch alles andere sagen könnte, eins muß ich ja doch für mich behalten: daß sie Kromitzki nicht geliebt hat, und daß sie gerade deshalb unter der Nachricht von seinem Tode furchtbar leiden wird. Denn sie wird nicht den Schmerz empfinden, der uns beim Verscheiden einer teuren Person erschüttert, sie wird nur sich selbst die bittersten Vorwürfe machen und sich der Schuld an seinem Tode zeihen. Sie wird sich sagen: wenn er sich von mir mehr geliebt gewußt hätte, wäre ihm das Leben auch mehr wert gewesen. Daß dies in Wahrheit unhaltbare Vorwürfe sein werden, wird sie sich nicht klar machen. Daß sie in Wahrheit geleistet hat, wozu der menschliche Wille fähig ist, indem sie meiner Liebe Widerstand entgegensetzte und keusch und treu blieb – das wird die Wucht dieser Selbstanklagen nicht vermindern. Ja, sie wird in ihrer so scharfen Empfindung für Gut und Böse ihre eigene Seele bis in die tiefsten Gründe zu erforschen suchen, ob sie nicht im geheimen diesen Tod herbeigewünscht hätte, um über Kromitzkis Leiche hinweg zur Freiheit, zur Erfüllung ihrer geheimsten Sehnsucht zu gelangen.

Wenn ich mir das alles vorstelle, überläuft mich ein kalter Schauer. Die Mitteilung vom Tode ihres Mannes muß wie ein zwiefach zündender Blitzstrahl in ihre Seele schlagen und sie zu Boden werfen. Das kann der Doktor nicht wissen, das können Tante und Frau Celina nicht wissen – aber ich weiß es.

Nein! es soll ihr alles geheim gehalten werden, bis sie ihre schwere Stunde glücklich hinter sich hat. Doch daß wir nicht reisen dürfen, ist eine neue Widerwärtigkeit. Sie hier so zu behüten, daß ihr noch auf so lange Zeit die Wahrheit verborgen bleibt, das ist sehr schwierig. Bei der größten Sorgfalt, bei den kompliziertesten Vorsichtsmaßregeln kann ein Blick, ein zufälliges Wort alles zu Schanden machen. Wie soll ich denn die Dienerschaft daran hindern, geheimnisvolle Gesichter zu ziehen? Außerdem müssen sie ja doch alles binnen kurzem erfahren. Und dann kann ich sie doch nicht alle einfach wegschicken.

Schon daß so oft Telegramme kommen, sieht sehr verdächtig aus. So fragte heute Chwastowski telegraphisch an, was mit der Leiche geschehen solle. Ich beschied ihn dahin, sie vorläufig an Ort und Stelle bestatten zu lassen.

Die gestrigen Zeitungen habe ich durchgesehen. In zweien davon stand die Nachricht vom Tode Kromitzkis. Wenn Chwastowski diese Veröffentlichung lanziert hat, dann muß er einfach verrückt sein. Nun wissen es auch die Diener, und sie schneiden Gesichter, daß ich mich nur wundere, wie es Anielka entgehen kann.

Sie war bei Tisch vergnügt und außergewöhnlich aufgeräumt. Aber je lustiger die Tochter war, um so mehr verfinsterte sich das Gesicht der Mutter, bis sie schließlich eine echte und rechte Leichenbittermiene schnitt. Ich habe sie nachher dafür gründlich ins Gebet genommen.

14. November.

Dem Rat des Doktors zufolge sind wir alle in Warschau. Wir haben Anielka weisgemacht, in Ploshow würde Dampfheizung angelegt, deshalb müßten wir auf kurze Zeit hinaus. Sie hat unter der Fahrt sehr gelitten. Es ist sehr schlechtes Wetter, aber im Grunde bin ich heilfroh, daß wir uns hierher begeben haben, denn hier weiß ich, daß die Diener zuverlässig sind. Anielka wollte die eben ausgepackten Bilder sehen, und ich war sofort bereit, ihr alle zu zeigen und zu erklären.

»Es war einmal mein sehnlichster Wunsch, Dich auch in Rom herumzuführen.«

»Ach ja, Rom!« antwortete sie. »Rom schwebt mir auch vor der Seele, aber manchmal habe ich so eine Ahnung, als sollte ich es nie sehen.«

Ich habe jetzt vor der nichtigsten Sache Angst – bloße Ahnungen jagen mich ins Bockshorn – überall sehe ich Gefahren, schlimme Vorzeichen. Und so verließ mich auch bei ihren Worten mit einem Male aller Mut. Dennoch zwang ich mich zu einer heiteren Antwort: »Du wirst Rom sehen, ich verspreche es Dir,« sagte ich. »Und wir werden lange dort bleiben.«

Ich betrachte Anielka schon als mein unbestreitbares Eigentum. Und als mein Eigentum will ich sie mir erhalten.

Die Uebersiedelung nach Warschau war sehr angebracht, denn erstens können wir hier alles, was gebraucht wird, weit schneller haben, und zweitens können wir hier ganz nach Belieben Besuche annehmen oder abweisen, was auf dem Lande nicht gut angegangen wäre. Die düstere Stimmung, die den Aufenthalt in Ploshow unerträglich machte, wird sich zwar auch hier nicht aus der Welt schaffen lassen, aber es bietet sich doch immer mehr Zerstreuung, und das städtische Leben und Treiben, das sich vor unseren Augen abspielt, wird Anielka Ablenkung verschaffen. Sie wird hier selten ausgehen, und nie ohne Begleitung. Bewegung hat ihr der Arzt empfohlen, und ich habe dafür gesorgt, daß sie in einem kleinen Garten an der Rückseite des Hauses im Winter und bei schlechtem Wetter hin und her gehen kann.

Das Damoklesschwert hängt beständig über uns . . . die Angst, in der wir schweben, ist kaum noch zu ertragen.

15. November.

Wie es gekommen ist, daß sie Verdacht schöpfte, das kann ich nicht sagen – aber heute beim Frühstück sah sie uns plötzlich alle an und sagte:

»Mir kommt es so vor, als haltet Ihr etwas vor mir geheim.«

Ich erblaßte – Frau Celina verlor die Fassung – nur meine gute Tante war geistesgegenwärtig und antwortete: »Gewiß halten wir etwas geheim vor Dir nämlich, daß Du in unseren Augen eine kleine Törin bist – aber nun mag es nur heraus. Leon hat gestern gesagt, Du würdest nie Schach spielen lernen, weil es Dir einfach unmöglich ist, ein paar Züge im voraus zu berechnen.«

Inzwischen hatte ich die Ruhe wiedererlangt und fing sogleich über diesen Punkt zu lachen und zu scherzen an. Anielka tat so, als beruhige sie sich bei unserer Ausflucht – aber eine Stimme sagt mir, wir haben ihren Verdacht nicht beseitigen können. Es ist ihr nicht verborgen geblieben, daß wir uns alle zur Heiterkeit zwingen mußten.

Die älteren Damen sind nun in steter Angst – und auch ich weiß nun keinen Rat mehr, denn es ist mir mit einem Male klar geworden, daß all unser Mühen umsonst ist. Anielka wird vorläufig nur bei sich denken, eine Spekulation sei fehlgeschlagen und habe einen bedeutenden Geldverlust herbeigeführt – was aber soll werden, wenn Monate vergehen, ohne daß Kromitzki schreibt? Was sollen wir ihr dann sagen? Wie sollen wir es ihr begreiflich machen, weshalb er sich so lange in Schweigen hülle?

Der Doktor meinte, Frau Kromitzka würde sich natürlich Kopfzerbrechen machen, weshalb so lange kein Brief käme, es sei ja auch ganz gut und schön, ihr die Wahrheit vorzuenthalten, aber es sei doch die Frage, ob die dauernde Ungewißheit sie schließlich nicht mehr mitnehmen würde, als der Schmerz, den die Gewißheit mit sich bringen müsse und für den es schließlich doch auch eine Linderung gäbe.

Die Damen haben sich daher fest vorgenommen, es ihr morgen zu sagen. Ich lehne mich energisch dagegen auf. Wo ich gehe und stehe, höre ich eine warnende Stimme, die mir zuruft: Tut es nicht! – Ich habe eine entsetzliche Angst – eine Angst, die mir bisher ganz fremd war, deren Höhe mir bis jetzt bei jedem anderen verächtlich erschienen wäre. Aber auch der Mut eines Menschen hat seine Grenzen – und hier steht ihr Leben auf dem Spiele . . .

16. November.

Bis zum Abend ist alles gut gegangen . . . dann aber kam das Unglück . . . Anielka erlitt unerwartet eine Fehlgeburt . . . Ich habe es ja vorhergesagt. – – Es ist drei Uhr nachts . . . sie schläft . . . der Doktor bleibt bei ihr. Ich muß bei Verstand bleiben – einer muß hier sein, der nicht ganz verrückt ist, denn verrückt sind sie nun alle – ich muß bei Verstand bleiben – um ihretwillen!

17. November.

Der Doktor sagt, die Krankheit nehme bis jetzt einen ganz normalen Verlauf. Was will er damit sagen? Daß sie sterben wird? Sie hat kein starkes Fieber – ist bei Besinnung – leidet an Schwäche und Abgeschlagenheit in allen Gliedern – die Schmerzen sind jedoch nicht sehr heftig.

Aber der Doktor hat uns schon darauf vorbereitet, daß das Fieber bis zu vierzig Grad in die Höhe gehen und die Schmerzen sich zu furchtbarer Heftigkeit steigern werden. Uebelsein und Anschwellung der Beine werden sich einstellen – wie nett von ihm, daß er uns das so genau vorhersagt. So mag denn auch der jüngste Tag hereinbrechen.

Mein Gott, wenn Du mich durch ihren Tod strafen willst, ich schwöre Dir, heute noch will ich mich auf den Weg machen, sie verlassen, sie nimmer und nimmermehr wiedersehen – nur laß sie am Leben!

18. November.

Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen. Ich wache über ihrer Schwelle, aber ich getraue mich nicht hinein, ich fürchte, es möchte schlimmer mit ihr werden, wenn sie mich erblickt.

Ich muß mich zum Schreiben zwingen. Es ist meine einzige Tätigkeit – die einzige Beschäftigung, über der ich ein wenig ruhiger werde.

19. November.

Durch die Tür habe ich sie stöhnen hören . . . o, diese furchtbaren Schmerzen! Der Doktor sagt, die Schmerzen seien bei diesen Komplikationen stets so heftig – ich aber erblicke darin das blind wütende, grausame Schicksal.

Die Arme, so erzählt mir die Tante, wirft die Arme um den Hals ihrer Mutter und wimmert um Hilfe . . . und keine Seele kann ihr helfen. Da möchte man mit dem Kopfe wider die Wand rennen.

Sie leidet unaufhörlich an Uebelkeit, die Beine sind stark geschwollen – die Schmerzen erreichen eine unerträgliche Heftigkeit – das Fieber ist auf 40 Grad gestiegen – doch ist sie noch bei vollem Bewußtsein. Der Arzt meint, es brauche kein schlimmes Ende befürchtet zu werden . . . die Krankheit könne ebenso gut auch in Heilung übergehen.

20. November.

Ich weiß es jetzt, – gesagt hat mir's niemand, aber ich habe die Gewißheit, Anielka wird sterben. Ich bin jetzt Herr meiner selbst – ich bin völlig ruhig. Sie stirbt. Als ich heute nacht vor der Tür ihres Zimmers saß, wurde es mir mit einem Male zur festen Ueberzeugung. Es war gegen Morgen, da ging die eigentümliche Umwandlung in mir vor: es war, als wenn mir Schuppen von den Augen fielen, ich erkannte das Unumgängliche, und ich beruhigte mich dabei.

Anielka ist dem Tode geweiht – keine Macht der Erde kann ihr helfen – sie ist unrettbar verloren. Alle Aerzte der Welt können mir diese Gewißheit nicht ausreden. Und eben deshalb habe ich mich darein ergeben. Uns beiden ist das Urteil gesprochen. Ich müßte ja mit Blindheit geschlagen sein, wenn ich nicht sehen wollte, daß wir hienieden durch eine Gewalt, die unermeßlich ist wie das Weltall, voneinander getrennt sind. Ich vermag dieser Macht keinen Namen zu geben, und ich könnte wohl Berge durch mein Flehen versetzen, aber nicht diese Macht zur Umkehr bewegen.

Zwischen mir und Anielka steht der Tod – der Tod wird sie mir rauben.

Das mag ja logisch alles ganz richtig sein – aber ich will mich nun nicht mehr von ihr trennen lassen.

21. November.

Heute hat Anielka nach mir verlangt . . .

Meine Tante vermutete, die Kranke wolle mich bitten, nach ihrem Tode für ihre Mutter zu sorgen, daher hatte sie alle anderen hinausgeschickt. In der Tat hatte Anielka das auch im Sinne gehabt. So sah ich denn meine Heißgeliebte wieder. Sie ist noch bei Bewußtsein – ihre Augen strahlen – ihr Geist arbeitet in fieberhafter Erregung. Sie hat fast gar keine Schmerzen mehr. Ihr Gesicht hat etwas Engelhaftes. Sie lächelte mir zu, als sie mich kommen sah, und auch ich . . . lächelte. Ich bin völlig gefaßt, denn ich weiß, was kommen muß, und mir ist zu Mute, als läge sie schon im Sarge. Sie ergriff meine Hände, fing an von ihrer Mutter zu sprechen, sah mich lange an, als wollte sie sich noch ein letztes Mal nach Herzenslust an meinem Anblick werden, und sprach dann:

»Laß Dir nicht bange sein, Leon, mir ist wohler, viel wohler – nur – falls mir etwas zustoßen sollte, – so möchte ich Dir etwas von mir hinterlassen. Es ist vielleicht sehr schlecht von mir, schon so rasch nach meines Mannes Tode ein solches Bekenntnis abzulegen – aber, Leon, es kann doch sein, daß ich sterben müßte, und da will ich Dir doch noch sagen . . . ich habe Dich über alles geliebt . . .«

»Das weiß ich, mein einziges Lieb,« antwortete ich, ihre Hände festhaltend. Wir sahen einander lange und zärtlich an. Mit dem Lächeln der Braut grüßte sie mich zum ersten Male, und in diesem Augenblick tat ich ihr das Gelübde, ihr eigen zu bleiben und sollte ich ihr auch in den Tod folgen müssen.

Die Schwermut des Todes lastete auf uns beiden, und doch war uns unsäglich wohl. Erst als der Priester angemeldet wurde, ging ich von ihr. Sie hatte mir schon gesagt, ich sollte nicht erschrecken, wenn der Pater käme, sie habe ihn nicht herkommen lassen, weil sie sich dem Tode nahe wüßte, sondern weil es wohl in jedem Falle für einen Kranken besser sei, für den Notfall die Seele beruhigt zu haben.

Als der Priester wieder fort war, ging ich noch einmal zu ihr. Sie war sehr erschöpft und schlief bald ein. Sie schläft jetzt noch, aber wenn sie aufwacht, gehe ich wieder zu ihr und bleibe dann bei ihr, bis sie wieder einschläft.

22. November.

Es steht jetzt weit besser. Frau Celina ist närrisch vor Freude. Ich allein lasse mich nicht irreführen . . . ich weiß, was hinter dieser trügerischen Besserung lauert. Als der Doktor mir sagte, es würde eine Lähmung der Unterleibsorgane hinzutreten, war ich darauf schon gefaßt.

23. November.

Heute früh ist Anielka . . . gestorben – – – – – – – – – – – – – –

Rom, 5. Dezember.

Ich hätte Dir Glück bringen können und brachte Dir Verderben. Ich bin schuld an Deinem Tode. Wenn ich mein Leben richtig angefaßt hätte, wenn ich überhaupt ein anderer Mensch gewesen wäre, dann wär' Dir der Gram erspart geblieben, an dem Du zu Grunde gegangen bist. Und als das letzte Flackern Deines Lebenslichtleins erlosch, da bin ich mir klar darüber geworden: ich muß Dir folgen. An Deinem Totenbette habe ich gelobt, der Deine zu bleiben, und dieser Eid führt mich jetzt zu Dir. Deine Mutter soll meine Erbin sein, und der Tante hinterlasse ich – Jesum Christum: die Liebe zu Ihm wird sie bis an ihr Lebensende aufrecht erhalten. Ich aber muß zu Dir!

Meinst Du, mir graute nicht vor dem Tode? O doch! weiß ich doch nicht, was hinter ihm liegt! Ich starre in eine undurchdringliche Finsternis – und mir graut! – Aber mein ewiges »Ich weiß nicht« hat Dich in den Tod getrieben – wie soll ich da noch länger hier bleiben? Je mehr mir graut vor dem, was jenseits des Todes harrt, je weniger ich darüber Gewißheit habe, was Dir im Jenseits bevorsteht, um so weniger kann ich Dich allein den Weg ins Jenseits pilgern lassen. Meine Anielka, ich komme mit – – – – –

 

Ende. –

 


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