Henryk Sienkiewicz
Ohne Dogma
Henryk Sienkiewicz

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Erster Teil

Rom, am 9. Januar.

Es ist noch nicht lange her, da habe ich mich mit meinem Freunde Sniatynski, der sich nach Beendigung seiner Studien der Schriftstellerei zuwandte und bereits einen recht guten Namen besitzt, über Literatur unterhalten. Er schwärmte für das Tagebuch und meinte, ein solches gebe, sofern es die Wahrheit enthalte, nicht bloß ein getreues Zeitbild, sondern auch ein unbedingt verläßliches Zeugnis menschlichen Lebens; wer ein Tagebuch schreibe, erwerbe sich, behauptete er, ein unmittelbares Verdienst um die Menschheit, und nur eine Erzählungsform habe Anwartschaft auf wirkliche Unvergänglichkeit, nämlich die Denkwürdigkeiten. Ich bin nun 35 Jahre alt und habe für meine Mitmenschen noch nicht das geringste geleistet, will es drum einmal probieren, ob ich in dieser Weise etwas für sie vollbringen kann. Den Grund dafür, daß ich noch solche Null darstelle, erblicke ich mit in dem Umstande, daß ich nach Vollendung meiner Universitätsstudien mich immer im Auslande herumgetrieben habe. Man nehme diese Worte nicht als Humor, höchstens als eine Art Galgenhumor, und betrachte auch in solchem Lichte meinen Entschluß, ein Tagebuch zu schreiben, ungeachtet der skeptischen Lebensauffassung, mit der ich mich vollgesogen habe wie ein Schwamm mit Wasser . . . Jedes Wort, das ich schreibe, soll wahr sein, und wenn sich meines Freundes Ansicht, der Mensch finde, wenn er sich erst einmal daran gewöhnt habe, seine Gedanken in solcher Form niederzuschreiben, seine Freude daran, bei mir nicht bewahrheiten sollte, dann Gnade der Himmel meinem Tagebuche! es möchte reißen wie eine zu straff gespannte Saite, denn wenn ich schließlich auch ganz gern bereit bin, für die Menschheit etwas zu vollbringen, so wird es mir nun und nimmer einfallen, mich für sie zu »ennuyieren«. Anderseits sollen mich Schwierigkeiten nicht abschrecken; ich denke vielmehr, daß es mir gelingen wird, mich an die Arbeit zu gewöhnen und auch Gefallen an ihr zu finden . . . Mein Freund schärfte mir ein, ja nicht zu schreiben nach Literatenweise . . . er mag ja recht haben, wenn er sagt, man schreibe um so besser, je ungesuchter man schreibe; aber ich bin ja doch nur Dilettant, und wenn es mir wirklich an allen Eigenschaften zur Erfüllung der gestellten Aufgabe fehlen sollte, so doch vielleicht nicht an einer gewissen Dosis Geschmack . . . drum denke ich, ich trete ohne weitere Erwägungen an sie heran und erzähle zunächst einiges über meine Vergangenheit.

Mein Name ist Leon Ploshowski, mein Alter, wie schon bemerkt, 35 Jahre; ich bin der Sohn reicher Eltern und im Besitz eines recht stattlichen Familiengutes. Mein Sinn steht nicht danach, es zu mehren; es wird mir aber auch nicht einfallen, es zu verwirtschaften. Ich bin nicht darauf angewiesen, mir eine Stellung im Leben zu erringen, ich weiß nichts von kostspieligen Liebhabereien, sondern stehe dem Leben und seinen Genüssen und Freuden mit arger Skepsis gegenüber, halte nicht viel von seinem Werte, sondern bilde mir ein, daß es überhaupt nicht viel wert ist . . .

Acht Tage nach meiner Geburt hat meine Mutter das Zeitliche gesegnet, während mein Vater, der sie über alles in der Welt geliebt hat, in Trübsinn verfallen ist . . . Wiener Aerzten gelang es, ihn zu heilen, aber die Heimat war ihm verleidet, er überließ der einzigen Schwester die Bewirtschaftung seines Gutes Ploshow und zog nach Rom. Dorthin ließ er auch die Asche meiner Mutter bringen, und 30 Jahre lang hat er aus der ewigen Stadt den Fuß nicht gesetzt. Auf der Via Babuino ließ er sich ein Landhaus bauen, das er nach unserem Geschlechtswappen Casa Osoria taufte, und dessen Inneres er zu einer Art Museum gestaltete von allerhand Kunstwerken aus der Zeit des Urchristentums und dessen weiteren Ausbau ich mir zur Lebensaufgabe gemacht habe. Mein Vater war in seinen jüngeren Jahren das Muster männlicher Schönheit, ragte auch hervor durch glänzende Gaben des Geistes, und da ihm Name und Vermögen alle Pforten erschlossen, wurde ihm von aller Welt eine große Zukunft geweissagt. In Berlin hatte er Philosophie studiert, und die dortigen gelehrten Kreise erwarteten viel von ihm; aber der außerordentliche Erfolg, den er in der Damenwelt hatte, lenkte ihn von dem Studium ab; in den Salons hieß er nicht anders als »der Unbezwingliche«, und wenn er auch der Wissenschaft darüber nicht völlig untreu wurde, so sollten sich doch auch die Hoffnungen, die man an seine Fähigkeiten knüpfte, nicht erfüllen. Aber er war auch in seinen späteren Jahren noch immer ein so schöner Mann, daß mehr als ein berühmter Maler gesagt hat, sein Kopf sei einer der edelsten Patriziertypen, die man sehen könne. In wissenschaftlicher Richtung war und blieb er Dilettant, und Dilettantismus scheint mir in unserer Familie erblich zu sein.

Als er von seinem Trübsinn geheilt war, warf er sich der Religion in die Arme und lebte eine Zeitlang im Zustande richtiger Ekstase, verbrachte Tag und Nacht im Gebet, kniete vor allen Kirchen, stand bei den einen im Ruf eines Heiligen, bei anderen im Ruf eines geistig Gestörten. Allmählich jedoch fand er die Ruhe wieder und kehrte zu seiner früheren Lebensweise zurück. All seine Liebe wandte er nun auf mich, während er Beschäftigung für seinen Geist in seinem Museum, in der Sammlung von Altertümern aus der Urchristenzeit suchte. Ein Pater Calvi, der mir den ersten Unterricht gab, war ein tüchtiger Archäologe und in jedem Winkel des alten Rom zu Hause.

Er und der berühmte de Rossi weckten in meinem Vater die Liebe zu der ewigen Stadt und waren tagelang mit ihm unterwegs, in den Katakomben u. s. w. Mein Vater setzte die beiden gelehrten Herren oft durch sein Wissen in Verwunderung. Hin und wieder versuchte mein Vater wohl auch, etwas zu Papier zu bringen, es blieb aber immer bei den Anfängen, wahrscheinlich weil er seine Studien über ein zu großes Gebiet ausdehnte. Es währte nämlich nicht lange, so ging er von der Zeit des Urchristentums zum Mittelalter über, beschäftigte sich mit den Geschlechtern der Colonna und Orsini, wandte sich vom Mittelalter zum Zeitalter der Renaissance; Bildhauerei, Malerei und die anderen Künste gewannen ihm die gleiche Begeisterung ab, und wenn auch sein ausgedehntes Studium seinen Sammlungen vorzüglich zu statten kam, so nahm es ihm doch soviel Zeit, daß die Abfassung eines großen Werkes über die drei römischen Epochen in polnischer Sprache immer nur Idee blieb und niemals Wirklichkeit wurde.

Mein Vater trägt sich mit dem Gedanken, seine Sammlungen als ein »Museum Osoryjow-Ploshowskich« bei seinem Ableben der Stadt Rom zu vermachen mit dem einzigen Vorbehalt, daß die ewige Stadt sich verpflichtet, einen besonderen Saal hierfür herzugeben. Das wird die Stadt natürlich tun; ich aber vermag nicht einzusehen, wie seine Schätze der Menschheit besser zu gute kommen sollen, wenn er sie statt dem Vaterlande der ewigen Stadt vermacht. Ich kann mich seiner Meinung nicht anschließen, daß sie in Polen vermodern würden, während sie in Rom Aussicht hätten, durch die vielen Fremden, die dorthin strömten, zum Gemeingut aller Völker zu werden. Ich vermute, es wohnt dem lieben Vater ein bißchen völkische Eitelkeit inne, ein gewisser Kitzel, unseren polnischen Namen in Marmor gegraben in der ewigen Stadt verewigt zu sehen; will den Fall indessen nicht weiter untersuchen, da es mir im Grunde genommen völlig gleichgültig ist, wo die Sammlungen schließlich einmal bleiben. Meine Tante in Warschau dagegen, die ich übrigens in nächster Zeit einmal heimsuchen muß, kann sich mit solcher Absicht ihres Bruders ganz und gar nicht befreunden und gibt ihrem Verdrusse über solche Vaterlandslosigkeit in jedem Briefe unverhohlenen Ausdruck; als sie vor einigen Jahren einmal eine Zeitlang in Rom bei meinem Vater zu Besuch war, brachte sie dieses Thema tagtäglich aufs Tapet, und wenig fehlte, so wäre es darüber zwischen Bruder und Schwester zum Bruche gekommen.

Meine Tante ist ein absonderliches Frauenzimmer, und es ist notwendig, mich eine Weile mit ihr zu befassen. Sie ist ein paar Jahre älter als mein Vater, hat nach dem Tode meiner Mutter das Familiengut übernommen, meinen Vater mit Geld abgefunden und verwaltet nun seit 30 Jahren das Gut aufs musterhafteste; als sie zwanzig Jahre alt war, trug sie sich mit Heiratsgedanken; ihr Bräutigam starb jedoch im Auslande, und die Todesnachricht erreichte sie in dem Augenblicke, als sie zur Reise zu ihm alle Vorbereitungen traf. Da faßte sie den Entschluß, ledig zu bleiben, und hat sich auch durch keinen Bewerber, an denen es ihr nicht fehlte, davon abbringen lassen.

Nach dem Ableben meiner Mutter begleitete sie den Vater nach Wien und dann nach Rom, widmete ihm die zärtlichste Fürsorge und schloß später mich mit gleicher Liebe in ihr Herz. Sie ist die vornehme Dame im eigentlichen Sinne, herrisch und hochfahrend, rücksichtslos und derb: Eigenschaften, die sich gern bei Leuten einfinden, die sich im Besitz eines großen Vermögens wissen und in der Gesellschaft eine erste Rolle spielen; dabei ist meine Tante aber eine kreuzbrave Person und von höchster Respektabilität. Unter der Schale sitzt ein goldener Kern: sie beschränkt ihre Liebe und Anhänglichkeit auf ihren Bruder und Neffen, und erstreckt sie, wenn nicht auf die ganze Menschheit, so doch auf alle, die zum Hause Ploshow gehören. Ihre Wohltätigkeit ist in aller Munde, und während sie die Bettler grob anläßt wie ein Polizist, versorgt und pflegt sie sie wie ein zweiter Vincenz von Paula. Sie ist wahrhaft fromm, lebt nach strengen Grundsätzen und ist infolgedessen nie im Zweifel, wie sie ihr Verhalten einzurichten, was sie zu tun und zu lassen hat, und wird in ihrem Seelenfrieden niemals gestört. In der Gesellschaft genießt sie außerordentliche Beliebtheit; bloß in der Damenwelt macht sich hie und da eine gewisse Abneigung gegen sie geltend . . .

Ploshow liegt in der Nähe von Warschau. In Warschau besitzt die Tante ein eigenes Haus und verlebt dort in der Regel den Winter. Sie stellt alljährlich alles mögliche auf, mich dorthin zu ziehen, in der stillen Absicht nämlich, mich in das Ehejoch zu spannen. So habe ich erst vor ein paar Wochen wieder eine solche Einladung von ihr bekommen und werde, wie wohl schon bemerkt, in nächster Zeit doch einmal nach Warschau reisen müssen, zumal ich nun schon geraume Zeit nicht mehr auf heimatlicher Scholle war und die Tante in ihrem letzten Schreiben betont, sie sei nun auch schon alt geworden und möchte mich doch vor ihrem Tode noch gern einmal sehen und sprechen. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so folge ich ihrer Einladung nicht gern, weil es nun einmal ihr Steckenpferd ist, mich zu verehelichen, und weil sie jedesmal, wenn ich wieder unverrichteter Sache den Fuß in die Fremde setze, bitter enttäuscht ist. Ich kann es nun einmal nicht ändern, daß ich vor diesem Schritte, der einen neuen Lebensabschnitt bedeutet, einen gewissen Horror empfinde. Ich habe im Grunde genommen mein bisheriges Leben schon recht satt. Obendrein kann ich mich in meinem Verhältnis zu der Tante einer gewissen peinlichen Empfindung nicht erwehren. Sie bildet sich nämlich ein, wie es einst den Freunden meines Vaters mit diesem erging, an mir besondere Fähigkeiten entdeckt zu haben, die mir eine bedeutende Zukunft eröffnen sollen. Ich mag sie aber nicht in diesem Glauben lassen; es kommt mir vor, als beginge ich Mißbrauch mit ihrem guten Glauben: es drängt mich im Gegenteil, ihr zu sagen, daß von meinen Fähigkeiten gar nichts im Leben zu erwarten sei, und das möchte ich auch nicht gern, weil ich der guten alten Frau nicht auf ihre letzten Tage noch ein Leid antun möchte, das ihr ja, unbeschadet meiner Wenigkeit, ganz gut erspart bleiben könnte.

Es ist nun aber zu meinem Leidwesen nicht unmöglich, daß die Tante mit ihrer Ansicht über mich nicht allein dasteht, daß vielmehr auch andere Personen meiner Bekanntschaft oder Verwandtschaft sie teilen; und darum wird es gut sein, nun ein paar Worte über mich selbst zu sagen. Das wird mir aber insofern nicht leicht fallen, als ich eine von jenen Naturen besitze, die man als »komplizierte« zu bezeichnen liebt. Ich muß wohl annehmen, daß ich schon mit der Veranlagung zur Nervosität auf die Welt gekommen bin. Kinder aus Familien, die schon durch Generationen hindurch sich höherer Kultur erfreuen, mögen wohl einen höchst verfeinerten Nervenapparat schon mit auf die Welt bringen. Meine Tante war die Hüterin meiner Kindheit, und als sie, um unser Erbgut zu übernehmen, von meinem Vater schied, traten in ihr Hüteramt, wie es in der vornehmen polnischen Welt Brauch und Sitte ist, verschiedene Gouvernanten oder »Bonnen«. Da mein Vater in Rom lebte, mußte natürlich, um mich meiner Muttersprache nicht allzu sehr zu entfremden, eine dieser Damen aus Polen stammen. Der Vater plauderte frühzeitig mit mir über allerhand Fragen und Dinge in seinem Zimmer, und diesen oft ein wenig lang ausgesponnenen Unterhaltungen mag ich wohl eine schnellere, vielleicht auch etwas frühzeitige Entwickelung verdanken. Später mögen ihn Studien und Sammlungen zu sehr in Anspruch genommen haben; denn der schon erwähnte Pater Calvi wurde für mich als Lehrer genommen. Es war schon ein älterer Herr, von wahrer Frömmigkeit und doch fröhlichen Sinnes. Die Kunst liebte er schwärmerisch, und ich möchte fast sagen, die Kunst durch ihre Schönheit wurde ihm zur Mittlerin der Religion. Wenn ich ihn in Museen, vor Madonnen- und Heiligenbildern stehen, oder in der sixtinischen Kapelle einer Motette oder geistlichem Konzerte lauschen sah, ist er mir immer vorgekommen wie der Erde entrückt. Ich kann mir nicht helfen, aber mir kommt es immer so vor, als riefe mir die Greisenfigur auf dem raphaelischen Gemälde, die neben der heiligen Cäcilia steht und den Sphärenklängen lauscht, den Pater Calvi in Erinnerung. Mit meinem Vater war der fromme Herr bis zum Tode in freundschaftlichen Beziehungen; und ihre Liebe zu mir und Fürsorge für mich festigte dieselben noch. Sie erblickten beide in mir einen talentvollen Knaben, dem eine schöne Zukunft winke, und in gewissem Sinne wohl eine Art Ergänzungsstück der an Schönheiten so überreichen Umgebung, in der sie lebten . . . und die auch auf mich und meine Erziehung von besonderem Einflusse sein mußte. Ich war in den Galerien und Museen sozusagen Stammgast, denn sowohl Vater wie Lehrer besuchten sie niemals ohne mich, und ehe ich noch fest in den vier Grundrechnungen war, habe ich ein paar Engländer, die Carracci mit Caravaggio verwechselten, über diesen Irrtum aufklären können. Im Alter von elf Jahren hatte ich mir bereits eigene Ansichten gebildet über die italienischen und fremden Meister, und wenn sie auch noch harmloser Natur sein mochten, so merkte ich doch an den Blicken, die sich Vater und Lehrer zuwarfen, daß sie nicht wenig darüber erstaunt waren. Ribera zum Beispiel mit seinen grellen Schwarzweiss-Effekten war mir zuwider, dagegen schwärmte ich für Carlo Dolci. Aber Pater Calvi war ein ebenso großer Freund der Natur wie der Kunst, und auf den Spaziergängen, die wir in die Umgebung der ewigen Stadt unternahmen, schulte er mein Auge an den Edelformen der Pinien, an den Bogen und Linien der in Ruinen liegenden Thermen, impfte er meinem Gemüte die wundersam poetische Melancholie der römischen Campagna ein. Ueber der Natur und Kunst wurde aber auch die Philologie nicht vernachlässigt, und sehr früh war ich des Lateinischen mächtig; ich erinnere mich des großen Vergnügens, das mir das zufolge meiner Kenntnis des Italienischen mühelose Studium dieser Sprache immer bereitete, noch heute mit Liebe . . . Kurzum, ich kann nicht anders als wiederholt bemerken, daß ich in den Augen meines Vaters und meines Lehrers als eine Art Wunderkind galt, und daß auch meines Vaters Bekannte sich dieser Anschauung anschlossen: kein Wunder, daß das häufige Lob, das mir gespendet wurde, Eitelkeit in mein Gemüt pflanzte, und daß ich unter solchem, wie dem allgemeinen Einflusse der Umgebung, in der ich lebte, in einen Zustand krankhafter Empfindsamkeit geriet, den ich zeitlebens nicht los werden sollte. Daß diese Einflüsse anderseits nicht im stande waren, aus mir selbst einen Künstler zu machen, wird seinen Grund wohl in einem Mangel an eigentlichem Talent haben; mein Zeichen- und mein Musiklehrer waren in dieser Hinsicht freilich anderer Meinung, und daß ich mich eigentlich darüber wundere, daß es weder meinem Vater noch dem Pater Calvi möglich gewesen, die ihnen innewohnende heiße Liebe zur Kunst auf mich zu übertragen, bekenne ich unverhohlen. Während sie beide ihr angehörten mit Herz und Seele, bin ich bloß Nachempfinder; und wenn auch mir die Kunst ein notwendiges Bedingnis zum Leben ist, so doch nur als Vervollständigerin der übrigen seiner Genüsse und Freuden; ich schätze und liebe sie, doch nur als Dilettant; sie ist mir Annehmlichkeit, nicht aber Passion oder Leidenschaft: es wäre mir vielleicht nicht möglich, ohne sie zu leben, aber mit meinem ganzen Leben in ihr aufzugehen, wäre ich ebensowenig im stande . . .

Da mein Vater mit den Schulen Italiens nicht zufrieden war, gab er mich nach Metz ins Kolleg, das ich »summa cum laude« absolvierte, trotzdem ich im letzten Jahre »abschwenkte« zu den Don Carlosschen Truppen und mich acht Wochen lang mit den Freischärlern unter Tristan in den Pyrenäen umhertrieb. Mein Vater ließ mich durch das französische Konsulat in Burgos dingfest machen; ich wurde zur Strafe wieder nach Metz gebracht, kam aber mit glimpflicher Buße weg, da sowohl der Vater, wie auch die Lehrer im stillen über mein Abenteuer nicht ungehalten, sondern vielleicht eher stolz darauf waren. Meine Mitschüler sahen mich mit großen Augen an, etwa wie einen Helden aus der Ritterzeit, und keinem einzigen von ihnen wäre es eingefallen, mir die bevorzugte Stellung streitig zu machen, die ich nun als der beste Examinandus der Anstalt errang. Auch der Vater verzieh mir den Don Carlos-Abstecher schnell über dem vorzüglichen Zeugnis, das ich »in litteris« wie auch »in moribus« von Metz mitbrachte, und sowohl Lehrer wie Mitschüler waren sich einig darüber, daß ich die Vorzugsstellung, die mich jetzt auszeichnete, auch im Leben weiter inne behalten werde. Hierin täuschten sie sich aber ebenso, wie ich mich; denn während manch einer von ihnen, der sich im Kolleg niemals herausgenommen, mir den allgemein zugesprochenen Vorrang streitig zu machen, in Frankreich in Literatur, Wissenschaft oder Politik eine hervorragende Stellung bekleidet, stehe ich heute noch als »Wilder« da, der sich keiner einzigen Wissenschaft zugewandt hat und der, wenn er es jetzt noch tun sollte, in arge Verlegenheit bezüglich der Wahl käme.

Meine Stellung in der Gesellschaft ist vorzüglich. Ich bin schon von mütterlicher Seite im Besitz eines Vermögens, das sich, wenn einmal mein Vater die Augen zutut, noch erheblich vermehren wird . . . ich denke auch, unser Erbgut später einmal selbst zu bewirtschaften, und schon dieser Umstand muß mich ja hindern, im Leben eine wissenschaftliche oder soziale Rolle zu spielen. Freilich werde ich ja keinen sonderlichen Helden in der Landwirtschaft und Verwaltung darstellen, und vollständig fern liegt es mir, für den Ehrgeiz, der mich erfüllt, auf solchem Boden ein schickliches Betätigungsfeld zu erblicken. Dem Wunsche von Vater und Tante gemäß habe ich die Universität in Warschau besucht, und zwar zusammen mit Sniatynski. Wir fühlten beide Neigung zur Schriftstellerei. Ob ich der Befähigtere von uns beiden war, darüber will ich keine Untersuchung anstellen; aber das darf ich sagen, daß meine ersten Versuche besser ausfielen als die seinen und Besseres für die Zukunft versprachen . . . nichtsdestoweniger hat er heut schon Bedeutendes erreicht, und ich bin noch immer Ploshowski »der Vielversprechende«, über den vielleicht dieser oder jener den Kopf schüttelt und bei sich denkt: »wenn der Mensch bloß mal was machen würde!«

Ja, wenn solche Leute doch bloß bedenken möchten, daß zum Können das Wollen gehört . . . mir ist ja schon oft eingefallen, daß es besser für mich sein möchte, kein Vermögen zu besitzen; denn dann zwänge mich die Not, einen Beruf zu ergreifen, aber auch dann gehörte ich, wie ich bestimmt weiß, nicht zu denjenigen Leuten, die ihre Fähigkeiten voll auszunützen lieben. In anderen Stunden sage ich mir dann aber wieder, daß nicht für alle Menschen Reichtum Behinderungsursache sei zur Kraftbetätigung: Darwin, Buckle, Sir John Lubbock (der reiche Bankier) sind Beweise hierfür genug; und von Frankreichs berühmten Männern lebten und leben viele in den glänzendsten Verhältnissen. Eher ließe sich vielleicht an der Hand solcher Zeugen der Beweis liefern, daß Reichtum den Aufstieg erleichtere. Von mir persönlich kann ich wohl sagen, daß mich Reichtum vor mancher Klippe bewahrte, an der ich als armer Teufel sicher gescheitert wäre. Damit will ich ja nicht sagen, daß ich einen schwachen Charakter besäße, der Kampf ums Dasein hätte wohl auch ihn gestählt; immerhin wird aber wahr bleiben, daß die Gefahr zu stolpern auf ebenem Wege geringer ist als auf unebenem. Wäre ich ein Strohkopf, so ließe sich meine Arbeitsunlust daraus erklären; ich bin jedoch nicht bloß wißbegierig, lese viel und behalte auch viel, sondern es fällt mir auch nicht im geringsten schwer, mir Kenntnisse anzueignen. Es mag wohl sein, daß es mir an der zu einer großzügigen Arbeitskraft unerläßlichen Ausdauer fehlt; man sollte aber meinen, sie müsse zum Teil Ersatz finden durch die mir eigene leichte Auffassungsgabe. Solche dickleibigen Wörterbücher abzufassen wie Littré, bin so wenig wie andere ja auch ich nicht gezwungen; es kann aber doch, wer nicht dauernd strahlen kann wie die Sonne, recht wohl einmal aufleuchten wie ein Meteor . . . fürwahr! diese Zuversicht, Null im Leben zu bleiben, ist ein herber Gedanke: so herb, daß mir das Schreiben für heute verleidet wird.

Rom, 10. Januar.

Gestern war Abendgesellschaft bei dem Grafen Malatesta. Da fiel das geflügelte Wort: »L'improductivité slave!« Als ich es hörte, kam ich mir vor wie ein Nervenkranker, dem der Arzt zu seinem Troste sagt, die Krankheit, an der er leide, sei ein bekanntes und weitverbreitetes Uebel. Es stimmt, an Leidensgefährten fehlt es mir nicht, wenn ich auch nicht weiß, ob sie nur dem polnischen Volke, oder den slavischen Völkern im allgemeinen angehören. Um Bestimmtes darüber zu sagen, kenne ich die Slaven im allgemeinen zu wenig. Aber dieses geflügelte Wort hat mir die ganze Nacht im Schädel rumort, und ich muß sagen, daß es wahrlich kein Esel war, der es auf den Flug gebracht hat. Wir sind wirklich mit solchem Gebreste behaftet: es gebricht uns an der Fähigkeit, die Fähigkeiten umzusetzen, die in uns stecken: ich möchte dieses Gebreste »Lebensuntauglichkeit« nennen. Müßte ich nicht fürchten, eine wunde Stelle zu berühren, so redete ich wohl einmal mit dem Vater über den Fall: er liebt ja solche Debatten . . . ich will aber darauf verzichten, und werde dem Falle statt dessen in meinem Tagebuche einen breiten Raum geben, und das ist schließlich besser, denn es sichert ihm vielleicht wenigstens nach dieser Seite hin einen Wert . . . Es ist übrigens wohl auch erklärlich, daß ich in meinem Tagebuche zumeist von Dingen sprechen werde, die mich persönlich angehen. Gleichwie in jedes Menschen Innern sich eine bestimmte Tragik birgt, so in dem meinigen die »Unproduktivität« des Geschlechtes der Ploshowski . . . Zur Zeit der Romantik brüstete man sich mit solchen tragischen Mängeln in der Öffentlichkeit, drapierte sich damit wie mit einem Mantel, heute ist das nicht mehr Mode, heute trägt man sie unter der anderen Garderobe, wie das Hemd . . . anders in einem Tagebuche: da darf man, ja da soll man die Aufrichtigkeit wahren . . .

Rom, 11. Januar.

Ich halte mich noch ein paar Tage hier auf . . . ich will sie zur Niederschrift dessen benützen, was ich noch über meine Vergangenheit zu sagen habe; daraus wird sich zeigen, wer ich bin; und was ich bin, das erspart mir die eigentliche Biographie, die mir schon darum zuwider wäre, weil sie mir wie die langweiligste aller vier Grundrechnungsweisen, die Addierung, vorkommt. Will ich aber von mir selbst die richtige Summe ziehen, so muß ich meiner Skizze wohl oder übel noch ein paar Striche beifügen.

Von der Universität Warschau begab ich mich auf eine landwirtschaftliche Lehranstalt Frankreichs; wiewohl ich den Kursus dort durchmachte in dem Bewußtsein, daß ich es tue, um das, was ich dabei lerne, im Leben einmal praktisch zu verwerten, so konnte ich doch der Empfindung nie Herr werden, daß ich mich mit etwas befaßte, das ich unter meiner Würde hielt, das weder meinen Fähigkeiten entsprach, noch meinen Ehrgeiz befriedigte. Meine Gesundheit wurde aber durch die Arbeit im Freien außerordentlich gekräftigt, und insofern war der Aufenthalt in dieser Ackerbauschule nicht unvorteilhaft für mich. Ich lernte auch genug, daß mir der klügste Oekonom kein X mehr für ein U machen kann . . . In den nächsten Jahren war ich bald in Paris, bald in Rom, hin und wieder auch, aber immer nur kurze Zeit, in Warschau. In Paris weilte ich immer gern, spielte aber, trotzdem es mir damals doch an Sicherheit wahrlich nicht fehlte, und auch meine Einkünfte reich genug waren, mir nach allen Seiten hin Unabhängigkeit zu sichern, in dieser seltsamen Welt eine ziemlich harmlose Rolle. Ich verliebte mich dort in eine Dame vom Schauspiel, Mademoiselle Richemberg, und wollte sie vom Flecke weg heiraten.

Was sich daraus alles an Verwickelungen für mich ergeben hat, bleibt besser verschwiegen. Mir kommt dies alles heute entsetzlich albern vor. Die Französin hat, wie übrigens auch die Polin, Aehnlichkeit mit einem Fechtmeister: so wie dieser, muß sie sich in täglicher Uebung erhalten: der Fechtmeister, um nicht die Gewandtheit des Armes einzubüßen, die Französin und Polin, um nicht die Herzensgewandtheit einrosten zu lassen. Da ich kein übler junger Kerl war und zu der besten Gesellschaft gehörte, bin ich oft zu solchen Fechtmeisterstückchen herangezogen worden, und wenn ich auch bei keinem auf den Tod verwundet worden bin, so ist es doch hin und wieder nicht ohne empfindlichen Schmerz dabei abgegangen. Lehrgeld bleibt eben in dieser Pariser Welt keinem erspart, und ich kann wenigstens noch von mir sagen, daß ich keine lange Lehrzeit durchzumachen gehabt habe. Dann kam für mich die Zeit, in der ich heimzahlen konnte, was mir »ausgewischt« worden war: und ich darf wohl sagen, daß ich niemand was schuldig geblieben bin . . .

Ich lernte in Paris alle Kreise kennen, denn ich hatte überall Zutritt: die Legitimisten »ennuyierten« mich; in der durch die Bourbonen und Orleans neu geschaffenen Adelswelt, die, wenn nicht in Paris, doch in Plätzen wie Nizza, die erste Geige spielt, aus der sich der jüngere Dumas, Sardou und auch andere noch ihre Heldengrafen und -herzöge nehmen, die alte Traditionen nicht kennt, aber Geld und Titel, und Titel und Geld in Hülle und Fülle hat, die außer Lebensgenuß keine Ausgabe, kein Ziel kennt, amüsierte ich mich »um der Damenwelt willen«, um jener zarten, nervösen Wesenheit willen, die nach Erregung dürstet, ewig auf der Jagd nach Erlebnissen ist, aber ledig aller Ideale ist, statt dessen meist ebenso verderbt, wie die nach ihnen kopierten Heldinnen ihrer Lieblingslektüre; ich will nicht in die Geschmacklosigkeit verfallen, von »meinen Erfolgen« zu faseln, indessen eines bemerken: daß ich mich ehrlich bemüht habe, wenn auch die Erfolge meines Vaters nicht zu übertreffen, so doch ihnen keine Schande zu machen . . . Wer sich in diesem Pariser Leben eine Zeitlang hat herumschleudern lassen, geht unfehlbar mehr oder weniger marode daraus hervor, und lernt erst später erkennen, welche verhängnisvolle Verwandtschaft die darin errungenen »Triumphe« mit Pyrrhus-Siegen haben; so sind denn auch meine Nerven, trotzdem ich über keine von Haus aus unbedingt schwächliche Natur verfügte, von dieser Pariser Lebensführung stark irritiert worden. Indessen haben doch Boudoir, Klub und Salon nicht meine ganze Zeit ausgefüllt, sondern wie ich in meiner Knaben- und Studienzeit der Kunst nicht entraten konnte, und wie ich auch heute noch in ihr lebe und webe, so auch in dieser Pariser Zeit: ich ließ mich auch von der geistigen Strömung tragen, las viel und sorgte, daß ich mit dem geistigen Leben meiner Zeit gleichen Schritt hielt.

Von meinem Vater habe ich wohl die Vorliebe für das »Denken in der Synthese« geerbt und damit den Hang zur Philosophie; ich halte mich indessen für keinen Philosophen von Fach, denn ich habe, wie schon wiederholt bemerkt, keinen eigentlichen Beruf; aber vom Standpunkte des mit der Fähigkeit zu denken ausgestatteten Menschen, der die neueren philosophischen Richtungen kennt und sich ihrem Einflusse nicht entzogen hat, darf ich mir in dem Tagebuche, das ich hier niederschreibe, wohl herausnehmen zu schildern, was bei der Gestaltung meiner geistigen und moralischen Persönlichkeit auf das Konto der Philosophie gesetzt werden muß.

In erster Linie muß ich da sagen, daß mein Glaube, den ich aus dem Metzer Kollegium rein und lauter in die Welt mit hinaus nahm, der Lektüre naturphilosophischer Bücher nicht standzuhalten vermocht hat. Darum bin ich aber noch lange kein Atheist. Ueber die Zeit, wo jeder, der den Geist nicht anerkannte, an seine Stelle das Wort »Materie« setzte, sind wir hinweg; heute urteilen wir nicht ohne weiteres ab, sondern sind bescheidener geworden und geben die Antwort: »Ich weiß nicht« . . . und wenn auch die Psychologie alle psychischen Erscheinungen analysiert, so bekennt sie doch, wenn es sich um die Unsterblichkeit der Seele handelt, daß »sie nichts weiß«, und anders verhält es sich nun einmal damit nicht: sie weiß nichts hierüber und kann auch hierüber nichts wissen . . .

Mit diesem »Ich weiß nicht« läßt sich nun der Zustand meines Geistes leicht und bequem definieren. In solch eingestandenem Unvermögen menschlichen Verstandes liegt unbedingt etwas Tragisches. Unser Geist wird nicht allein unaufhörlich nach Lösung dieser Rätsel dürsten, sondern wir stehen hier vor Fragen, die von höchst realer Bedeutung sind und für uns die höchste Wichtigkeit haben. Gibt es ein Jenseits und etwas Ewiges im Jenseits, dann schwinden alle Leiden und Einbußen des Diesseits zu nichts. »Mag sich der Teufel in Schwarz kleiden,« könnte man sich versucht fühlen, mit Hamlet zu sprechen, »ich will in einen Zobelpelz fahren.«

»Gegen den Tod,« erklärt Renan, »hätte ich im Grunde gar nichts, bloß wissen möchte ich, daß ich dabei profitierte.« Die Philosophie aber spricht: »Ich weiß nicht.« Solche Unwissenheit ist eine Qual für den Menschen. Wäre es ihm möglich, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, so wäre er glücklicher daran und wäre ruhiger.

Rom, Babuina, 13. Januar.

In vier Tagen will ich reisen. Ich will zusehen, mit meiner Persönlichkeit zu Ende zu kommen. In sozialpolitischer Hinsicht darf ich mich konservativ nennen, bin es indessen nur soweit, wie es durch meine Stellung in der Gesellschaft bedingt wird und wie es mir im allgemeinen behagt. Um vom Scheitel bis zur Sohle Aristokrat oder Demokrat zu sein, dazu bin ich zu zivilisiert, und überlasse es Individuen altmodischer Art in Landstrichen, wo sich die Füchse gute Nacht sagen, wo etwas für neumodisch gilt, was man bei uns schon seit zehn Jahren in die Rumpelkammer geworfen hat, sich mit solchen Grillen zu befassen.

Ich kann mir nun einmal nicht helfen: ich liebe nur Menschen mit verfeinertem Sinn und mit empfindsamen Nerven. Ich liebe sie wie ein Kunstwerk, wie eine Naturschönheit, wie eine schöne Frau. Mir bereitet ästhetische Empfindsamkeit nicht nur Genuß, sondern auch Schmerz, aber sie hat mir einen Dienst erwiesen, den ich nicht genug schätzen kann: sie hat mich vor gänzlicher Verderbtheit bewahrt und mir in gewissem Sinne Ersatz für moralische Grundsätze geleistet. Im allgemeinen glaube ich sagen zu dürfen, daß ich ein anständiger Mensch bin, wenn auch nicht unverdorben: ein Geschöpf, genauer gesagt, das in sittlicher Hinsicht insofern in der Luft steht, als es sich weder auf religiöse noch auf gesellschaftliche Dogmen stützt. Ich wüßte übrigens auch keinen Lebenszweck, dem ich mein Leben aus wirklicher Ueberzeugung weihen könnte. Und was hülfe es mir, bei dieser »improductivité« im Besitze genialer Fähigkeiten zu sein? ich bliebe doch, wie es Minister ohne Portefeuille gibt, ein »Genie ohne Portefeuille« . . . mir scheint, auf diese Charakteristik sollte ich ein Patent nehmen, so zutreffend erscheint sie! Aber ich bin nicht der einzige, auf den solcher Titel paßt . . . nicht wahr? der alte, land- und menschenläufige Trost! nein, ihrer sind Legion! Die »improductivité slave« ist ein Ding für sich, und daneben besitzen wir an der Weichsel noch als eigenstes Produkt unseres Landes das »Genie ohne Portefeuille« . . . und ihrer sind, ich betone es nochmals, Legion! in keinem anderen Erdwinkel geht soviel glänzende Begabung so nutzlos und unproduktiv zu Grunde, wie bei uns an der Weichsel . . .

Schon wieder ein Brief von der Tante! nun ja doch, ich komme ja schon, bin ia schon unterwegs! aber, Tantchen, weit, weit lieber bliebe ich hier, das darfst Du mir glauben, und müßte ich es nicht Dir zuliebe tun, so käme ich nicht; denn mein Vater ist seit einiger Zeit gar nicht mehr wohlauf; es befällt ihn von Zeit zu Zeit etwas wie Lähmung, und zwar auf der ganzen linken Körperhälfte . . . er hat ja auf meine dringlichen Vorstellungen einen Arzt zu Rate gezogen; aber ich möchte mich hängen lassen, wenn er nicht, wie es immer seine Art war, die Arznei, die ihm der Arzt verschreibt, in den Wandschrank praktizierte, wo schon an die Hunderte von Fläschchen mit Mixturen stehen, die er hat schlucken sollen, und nie geschluckt hat . . .

Was mir die Reise in zweiter Linie verleidet, das sind die Pläne, die Tantchen doch wieder schmiedet! denn ich möchte Gift darauf nehmen, sie will mich verehelichen! ob sie schon eine bestimmte Person für mich in petto hat? ich will's nicht hoffen; aber mit der Absicht hält sie ganz und gar nicht hinterm Berge . . . Ich bin aber nicht 35 Jahre alt geworden, ohne allerhand sentimentale Episoden hinter mir zu haben. Bei wem wäre das nicht der Fall, der viel gelebt hat? . . . Natürlicherweise haben hierbei auch Polinnen ihren Anteil gehabt, und eben aus diesen mancherlei Episoden hat sich in meinem Gemüte die Meinung gebildet, daß von allen weiblichen Geschöpfen unter Gottes Sonne die Polin das schwierigste und unbequemste ist. Eine Polin zieht das Drama der Liebe im allgemeinen mehr an als die Liebe selbst; in jeder Polin steckt eine Königin und darin unterscheidet sie sich hauptsächlich von den Frauen aller übrigen Völker; die Polin glaubt dem Manne schon damit eine Gnade zu erweisen, daß sie ihm gestattet, sie zu lieben; es genügt keiner einzigen Polin, im Leben des Mannes, das doch noch andere Aufgaben zu erfüllen hat, als Füllsel, als Zugabe zu gelten; sondern sie verlangt, der Mann solle für sie existieren, und für den umgekehrten Begriff hat sie kein Verständnis und sucht nach keinem Verständnis. Zudem liebt jede Polin mehr ihre Kinder als ihren Mann, und erblickt im Manne einzig und allein einen Trabanten . . . Ich meine nun aber, daß es für einen Mann wenig Reiz haben kann, alles Streben und jegliches Ideal bloß darum aufzugeben, um tagtäglich auf dem Altare des Weibes – obendrein des eigenen Eheweibes – zu brennen . . . und wenn ich mich schließlich in meiner Selbsterkenntnis frage, was ich wohl eigentlich Besseres zu tun hätte, welches mein Streben sei und nach welchen Zielen ich ringe, wenn ich mir in weiterer Selbsterkenntnis zuletzt auch sage, daß, wenn irgend ein Mann hierzu tauge, so ich dieser Mann sei . . . so sage ich mir doch wieder mit einer Verwünschung, daß ich dazu nicht die geringste Lust verspüre . . . Daß man in der Ehe sein ganzes Leben umwandeln, daß man alle alten lieb gewordenen Gewohnheiten an den Nagel hängen, daß man auf alle Eigentümlichkeiten verzichten müsse . . . und daß hierfür doch eben nur eine wahre, eine große Leidenschaft schadlos halten könne! . . . nein! mir soll das nicht passieren! ich will mich nicht verheiraten! ich will keinem Weibe ein Vertrauensvotum solch unerhörter Natur aussprechen, und auch nicht meiner Willenskraft!

Warschau, 21. Januar.

So! seit heute morgen bin ich in Warschau. Die Reise hat mich nicht weiter angestrengt, da ich in Wien Station gemacht habe. Es ist schon spät; aber ich bin zu nervös, um schlafen zu können, und so will ich wieder mich an mein Tagebuch setzen. Das Ding wird mir wirklich zur lieben Gewohnheit.

Ei! war das eine Freude heute! und Tantchen ist doch wirklich eine gute Seele! Ich glaube, sie hat sich so gefreut und freut sich wohl auch noch so sehr, daß es ihr gehen mag, wie mir: daß sie nicht einschlafen kann. Zu Mittag wenigstens hat sie keinen Bissen gegessen. Wenn sie in Ploshow ist, hat sie immer ihren Aerger mit Chwastowski, dem Gutsverwalter, denn der ist einer von der alten Schlachta und steckt als solcher kein Wort ein, sondern »vermauliert« sich gehörig. Ist's so weit, daß sie sich gegenseitig den Stuhl vor die Tür gesetzt haben, dann hält die Tante den Mund und läßt sich das Essen schmecken; es scheint, als wenn sie allen Aerger mit hinunterschlinge. Heute bekamen die Dienstboten »ihr Fett«, aber das schien ihr nicht so recht zu genügen. Immerhin war sie bei trefflicher Laune . . . Mein Spitzname im Tantenkreise ist »Fetisch«, darüber kann sich Tantchen ganz gehörig »fuchsen« . . . Daß sich meine Befürchtungen, die mir die Reise fast verleidet hätten, bewahrheiteten, wird nicht verwundern. Tantchen hat die Angewohnheit, nach dem Essen mit großen Schritten in dem Zimmer auf und ab zu gehen und laut dabei zu denken . . . und in solchem Momente von Selbstvergeßlichkeit schlugen die folgenden Selbstgespräche an mein Ohr: »Der Junge ist doch jung und eine stattliche Erscheinung, er ist reich und kein Dummkopf: da müßte sie doch eine Närrin sein, wenn sie nicht zugreifen wollte.«

Morgen geben die Herren unserer Gesellschaft ihren Damen ein Picknick. Da fahren wir mit. Es verspricht sehr nett zu werden.

Warschau, 25. Januar.

Bälle sind mir zuwider: als »homo sapiens« komme ich bei solchem »Vergnügen« um vor Langeweile; als Heiratskandidat sind sie mir geradezu ein Greuel; nur als Künstler – natürlich solcher »ohne Portefeuille« – bereiten sie mir hin und wieder ein gewisses Amüsement.

Eine breite Treppe, wenn sie hellerleuchtet und mit Blumen geschmückt ist, und wenn Damen in Balltoiletten, mit nackten Schultern und Armen, die Stufen hinauf steigen, kann schön, kann prächtig sein; die Figuren gewinnen an Größe, wenn man sie von oben sieht, und erinnern in ihren Schleppkleidern an die Engel der Jakobsleiter . . . Auch mein Geruchssinn labt sich, denn Parfüm ist mir ein Hochgenuß . . .

Das Picknick verlief großartig. Dieser Stashewski ist wirklich ein Hauptkerl: auf so etwas versteht er sich ganz ausgezeichnet; kaum kam ich mit der Tante in Sicht, so legte er sie auch schon mit Beschlag und führte sie die Treppe hinauf. Tantchen trägt bei größeren Festlichkeiten immer einen Hermelinkragen von recht großer Länge: sie hat ihn nun einmal und will ihn doch sehen lassen. Davon führt sie nun in der Gesellschaft den Spottnamen »lange Pelerine« . . .

Am Eingang verweilte ich eine Zeitlang, um unsere Gesellschaft zu mustern: man hat immer solch merkwürdigen Eindruck, wenn man bekannte Gesichter nach jahrelanger Abwesenheit einmal wiedersieht . . . es kommt uns dann immer so vor, als seien es Wesen, die uns näher stünden als die, die wir draußen trafen, und doch beobachtet man sie, studiert man sie, als seien es Fremde. Vor allen Dingen interessierte mich die Damenwelt. Kein Zweifel, ich befinde mich in einer erlesenen Gesellschaft: alle Gesichter, gleichviel ob schön oder häßlich, tragen den Stempel alter, verfeinerter Zivilisation: Nacken und Schultern der Damen erinnern mich, trotz ihrer jugendlichen Rundung, an Sèvres-Porzellan-Kunst: dieselbe abgeklärte Eleganz, die gleiche tadellose Vollkommenheit! Fürwahr! keine nachgeäffte Kultur, sondern echt europäische Kultur . . .

Ich mochte ein Viertelstündchen dagestanden und sinniert haben, was für ein Köpfchen, was für ein Schulternpaar, was für einen Busen die Tante wohl für mich ausgesucht haben mochte, als die Sniatynskis zu mir herantraten. Vor ein paar Monaten traf ich ihn in Rom; die Frau hab' ich schon früher kennen gelernt; ich kann sie gut leiden, ihr Gesicht mutet an, und sie ist eine von jenen seltenen Polinnen, die ihr Leben dem Manne weihen und nicht das des Mannes im ihrigen aufsaugen wollen. Nach einem Weilchen glitt ein junges Ding zwischen Sniatynskis und mich, begrüßte Frau Sniatynska, hielt mir ein zierliches Händchen in schneeweißem Handschuh entgegen und rief: »Ei, Leo, kennst Du mich denn gar nicht mehr?« Mich setzte die plötzliche Frage in Verlegenheit: ich wußte wirklich im ersten Augenblick nicht, wohin ich das junge Ding tun sollte. Als ich ihr aber, wie es sich für einen höflichen Mann gehört, die Hand gab und unter Nicken und Lächeln erwiderte: »Gewiß! gewiß! wie könnte ich nicht?« da mochte ich doch ein recht einfältiges Gesicht geschnitten haben, denn Madame Sniatynska rief unter Lachen: »Nein, so was! Sie erkennen sie ja doch nicht: es ist ja Anielka P.!« Cousine Anielka! na, daß ich die nicht erkannte, war doch nicht so verwunderlich, denn zum letztenmal hab' ich sie wohl noch im kurzen Röckchen gesehen . . . richtig! jetzt fällt's mir ein: es war in Ploshow, im Garten; sie trug kurze Strümpfe von Fleischfarbe, und weil sie die Mücken jämmerlich stachen, trampelte sie herum wie ein wildes Füllen. Wie sollte ich ahnen, daß diese ausgewachsene junge Dame mit dem vollen Busen, den weißen Schultern und den dunklen Augen eins war mit dem dünnbeinigen Bachstelzchen von damals? Das war ja wirklich ein ganz reizender Schmetterling, der aus dieser Puppe gekrochen war! Es versteht sich wohl von selbst, daß ich sie noch einmal bekomplimentierte, und zwar aufs allerherzlichste . . . ja, als sie mir, wie Sniatynskis gegangen waren, sagte, ihre Mama und die Tante hätten sie zu mir geschickt, da gab ich ihr den Arm, und wir schritten weiter hinein in den Saal . . . Und da schoß es mir mit einem Male zu Sinne: Anielka war die »faiblesse« meiner Tante! an dies junge Ding sollte ich anbeißen! Tantens Liebling war sie ja immer gewesen, und um die zerfahrenen Geldverhältnisse ihrer Mama hatte sich Tantchen ja immer schon Kopfschmerzen gemacht! Erklärlich, daß sie mich jetzt in ganz anderer Weise interessierte als der sonstige Damenflor . . . Während wir durch den Saal promenierten, konnte ich mit ihr plaudern, konnte ich sie mustern: halblange Handschuhe, kaum bis zum Ellbogen hinauf, waren Mode . . . ich konnte mithin sehen, daß der Arm, der sich auf den meinigen stützte, um eine Nuance dunkler war als der Flaum weicher Härchen, der ihn ziemlich dicht bedeckte. Auf den ersten Blick meint man, sie sei eine Brünette, ist es jedoch nicht. Während ihr Haar wie Bronze schillert, sind die Augen hellfarbig, erscheinen aber durch den Schatten der langen Wimpern schwarz, wie die Brauen, die tatsächlich schwarz und herrlich geschwungen sind. Ueber der schmalen Stirn übervolles Haar; auch die Brauen und Wimpern sind übervoll, und auf den Wangen wird der Flaum, den ich schon auf ihren Armen sah, zart und weich wie Flockseide . . . Ich leugne nicht: dieses warme, lebensprühende, reizvolle Wesen repräsentiert mein Genre, und wenn auch Tantchen von jenem abscheulichen Menschen mit Namen Darwin wahrscheinlich keine Kunde hat und, wenn sie ihn kennen sollte, ganz sicher nichts von ihm hören und sehen will, so ist sie doch, ohne es zu ahnen, seiner Theorie von der natürlichen Zuchtwahl gefolgt . . . Entschieden: Anielka ist mein Genre . . . Tantchen hat diesmal wirklich einen ganz verflixten Köder an ihre Angel gesteckt! Uebrigens merke ich auch, daß ich ihr nicht mißfalle, und solche Wahrnehmung regt einen Mann ja immer an. Auch die Prüfung vom künstlerischen Standpunkte aus bestand sie mit der Zensur »Vorzüglich«. Es gibt tatsächlich Gesichter, die einen anmuten, wie eine auf menschliche Züge übertragene Melodie oder Poesie: und Anielka hat ein solches Gesicht: in ihrem Gesicht liegt wirklich keine Spur von etwas Gewöhnlichem!

Mir kommt es so vor, als sei Anielka bei aller Harmlosigkeit nicht frei von Koketterie: ich glaube bestimmt, sie weiß, daß sie eine Schönheit ist. So senkt sie die herrlichen Wimpern weit öfter als nötig wäre; warum? weil sie weiß, daß sie entzückend wirken! und warum hebt sie, um einen freundlich anzusehen, immer das Köpfchen mit solch anmutiger Bewegung hoch? . . .

Das muß ich sagen: die Tante mit ihrer Zerstreutheit ist einzig! Kaum hatte ich Anielka zu den Damen geführt, kaum hatte ich ein paar artige Worte mit ihrer Mama gesprochen, so wandte sich Tantchen, der meine animierte Stimmung nicht entging, mit leichtem Achselzucken zu der Frau P.: »Ach, die Veilchen am Busen machen sich wirklich ausgezeichnet! ich glaube doch, daß es ein ganz vortrefflicher Einfall war, das Paar einander auf dem Balle zum ersten Male vorzuführen!« Frau P. geriet in Verlegenheit, Anielka auch, und nun wurde mir auf einmal klar, warum die beiden Damen nicht wie sonst bei meiner Tante abgestiegen waren. Frau P. und die Tante hatten ja sicher schon des langen und breiten über ihre Absicht, aus uns beiden ein Paar zu machen, verhandelt! und Frau P. mochte es nicht merken lassen. Um der verdrießlichen Situation, die sich hieraus für alle Beteiligten ergab, die Spitze abzubrechen, wandte ich mich mit den Worten an Anielka: »Ich will nicht unterlassen zu bemerken, daß ich ein herzlich schlechter Tänzer bin. Du kannst mir aber jeden Augenblick weggeholt werden, und deshalb möchte ich Dich bitten, mir diesen ersten Walzer zu vergönnen.« Anielka gab mir ihre Tanzkarte. »Schreib' ein, was Dir beliebt!« sagte sie resolut . . . Ich bin nun aber durchaus kein Freund davon, mich zu etwas drängen zu lassen, und um mir bei dem politischen Spiel der beiden älteren Damen nicht alles Heft aus den Händen nehmen zu lassen, schrieb ich in Anielkas Tanzkarte: »Hast Du durchschaut, daß sie sich an uns einen Kuppelpelz verdienen wollen?« Sie las die Frage und wurde blaß. Der Ausdruck ihres Gesichts wechselte. Sie zog die seidenen Wimpern hoch, sah mir gerade in die Augen und antwortete, im gleichen resoluten Tone, wie sie mich zur Einzeichnung aufgefordert hatte: »Ja.« Dann war es mir, als wenn sie etwas fragen möchte, nicht mit Worten, sondern mit Blicken . . . ich habe wohl schon bemerkt, daß ich keinen unbedingt schlechten Eindruck auf sie gemacht hatte, und ihre Gedanken mußten sich ja, seit sie erraten hatte, was meine Tante und ihre Mama vorhatten, in einem fort mit mir befaßt haben . . . und nun sagten ihre Augen mir mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit: »Daß Mama und Tante den Wunsch haben, daß wir uns kennen lernen und einander nähern sollen, weiß ich . . . was aber folgt daraus?« . . . Statt ihr mündliche Antwort zu geben, legte ich den Arm um sie, zog sie leicht an mich und führte sie zum Walzer . . . Anielka tanzt ausgezeichnet, selbstvergessen und hingebungsvoll, also ganz, wie es Pflicht der Dame ist zu tanzen. Es entging mir nicht, daß sich die Veilchen an ihrem Busen etwas unruhiger zu bewegen anfingen – diese Unruhe konnte nicht nur vom Tanzen herrühren . . . Keine Frage: es begann in ihrem Herzen etwas zu sprießen!

Warschau, 30. Januar.

Die Damen haben sich bei uns einquartiert. Ich bin gestern den ganzen Tag mit Anielka zusammen gewesen. Ihre Seele ist ein Buch, reicher an Blättern, als sich bei Mädchen ihres Alters im allgemeinen erwarten läßt. Manches Blatt wird ja erst die Zukunft beschreiben; aber es ist Raum für gar viel Schönes vorhanden. Anielka ist aber, wie mir schon einmal auffiel, nicht frei von Koketterie. Heute habe ich sie gefragt, was ihr Herzenswunsch sei, und sie hat mir geantwortet: »Rom sehen« . . . dabei hat sie die Lider mit den seidenen Wimpern wieder tief gesenkt und hat dabei wirklich ganz unbeschreiblich schön ausgesehen! O, und sie merkt recht gut, daß sie mir gefällt, denn sie ist sichtlich froh darüber. Schließlich wäre es doch wohl am Platze, zu fragen: »Wenn Du das Mädchen nicht heiraten willst, warum bemühst Du Dich dann so, ihr Liebe einzuflößen?« Aber hierauf zu antworten habe ich nicht Lust; und was mache ich denn im Grunde genommen? ich bemühe mich doch nur, nicht dümmer zu erscheinen, als ich wirklich bin, aber weniger liebenswürdig und weniger sympathisch als ich bin. Das ist alles! Also . . . ?

Tantchen hat vor, Anielka zu Ehren eine kleine Gesellschaft zu geben; ich mache zu diesem Zwecke Visiten: bei Sniatynskis war ich bereits und bin dort ziemlich lange gewesen; denn die Leutchen gefallen mir; sie liegen in ewigem Zwiste miteinander, aber in anderer Weise, als dies sonst zwischen Eheleuten der Fall ist. In der Regel ist es wohl so, daß, wenn, nur ein Mantel da ist, sich jedes drum reißt; Sniatynskis aber reißen sich darum, wer von beiden ihn nicht haben will. Ich habe die beiden Leutchen gerade darum so lieb, weil ich erst bei ihnen erkannt habe, daß es tatsächlich ein Glück im Leben gibt, das nicht bloß auf dem Papiere steht, sondern wahrhaftig vorhanden ist. Man sieht es: dieser Mensch will glücklich sein und ist es . . . ich beneide ihn und plaudere gern mit ihm. Die Madame hat mir einen vorzüglichen »Schwarzen« vorgesetzt, wie man ihn eben nur bei Menschen von der Feder bekommt, und dabei haben sie sich erkundigt, wie es mir in Warschau gefiele, und was ich zu meinen Landsleuten sagte, nachdem ich sie eine so lange Zeit nicht gesehen? Auch auf die kleine Abendunterhaltung kommt die Rede; vorzüglich Madame spricht viel darüber, denn sie wittert, was meine Tante im Schilde führt, und möchte gar zu gern ihre kleine rosige Nase mit in »den Kuchen« stecken, zumal sie Landsmännin von Anielka ist, nämlich gleich ihr Wolhynierin, und Anielka auch sehr gut kennt . . . Ich habe natürlich alles Persönliche beiseite gelassen, immerhin haben wir von unserer Gesellschaft ziemlich viel geschwatzt; ich über mein Lieblingsthema: die verfeinerte Kultur dieser Gesellschaft, worüber Sniatynski, der zwar manchmal seine Mitbürger unter eine sehr scharfe Lupe nimmt, dabei aber begierig auf jedes Lob ist, das denselben anheimfällt, in eine sehr vergnügte Stimmung geriet . . . und worin er mir lebhaft beistimmte . . .

2. Februar.

Gestern war kleines Tanzvergnügen bei uns. Anielka war entzückend in der zarten Gazehülle, die ihre weißen Schultern bedeckte; sie erinnerte an die dem Meeresschaume entsteigende Venus. Daß ich sie heiraten werde, weiß schon ganz Warschau. Es ist mir nicht entgangen, daß sie für die Unterhaltung mit ihrem Tänzer so gut wie gar kein Ohr hat, sondern nur Augen für die Bewegungen, die ich beim Tanze mache . . . Das gute Ding ist so offenherzig, daß auch ein Blinder sehen müßte, was sie empfindet. Mir gegenüber ist sie die Demut selbst, wenn ich mich ihr nähere; dabei so ruhig, so still und so glücklich! ich werde ihr wirklich von Herzen zugetan und merke, daß mich eine wunderliche Schwäche in ihrer Nähe anwandelt . . . Nein! wie zufrieden leben doch diese Sniatynskis! und wahrhaftig nicht zum ersten Male im Leben frage ich mich, wer von uns beiden der Gescheitere und wer der Dümmere ist . . . Ganz ohne Frage bin ich der Dümmere! und wenn ich sagen soll, worin der Schlüssel zu dieser Sniatynskischen Philosophie liegt, so kann ich keine andere Antwort finden als: in seinen »Lebensdogmen« . . . Ich weiß, daß er kurz vor seiner Verheiratung zu mir sagte: »An ein Ding wagt sich meine Skepsis nicht heran: eins im Leben kritisiere ich nicht und mag ich nicht kritisieren: für mich als Schriftsteller gilt die soziale Gemeinschaft, für mich als Privatmann das Weib, das ich liebe, als unantastbare Dogmen.« Als er mir das sagte, meinte ich, weit kühneren Geistes zu sein, da ich vor der Zergliederung dieser beiden Begriffe nicht zurückscheute. Heute bin ich aber zu der Einsicht gekommen, daß ich von dieser größeren Kühnheit nicht den geringsten Vorteil gehabt habe . . . Und dann . . . und dann . . . mein kleines Dogma mit den seidenen Wimpern ist doch ein gar zu niedliches Dogma! . . .

Ich werde wirklich schwach: das liegt klar am Tage! aber durch die natürliche Zuchtwahl läßt sich mein außergewöhnlich starkes »faible« für sie nicht erklären! entschieden nicht! darin liegt mehr, weit mehr, und ich weiß auch, welcher Art das »mehr« ist . . . Anielka hat mich mit einer Liebe in ihr kleines Herz geschlossen so frisch, so jung, so wahr, wie kein Weib zuvor! und ein Weib, das wahrhaft liebt und dem Manne, dem seine Liebe gehört, Augenweide ist, kann, wenn es ausharrt, des Sieges sicher sein. Nichts bestrickt das Herz der Männer so unwiderstehlich, nichts schlingt so feste Bande wie die Gewißheit, geliebt zu werden. Ich habe eben erst noch allerhand Schnak über die Polinnen geschrieben: wer aber meint, ich täte um eines armseligen Papierblattes willen oder aus Scham davor, inkonsequent zu erscheinen, nicht was mir für richtig erschiene, der ist arg auf dem Holzwege.

Es ist wirklich gar nicht zu sagen, in welch vollkommener Weise dieses Mädchen meinen künstlerischen Sinn befriedigt . . . Die schönste Stunde für mich kam, als der Ball zu Ende war: wir saßen beim Tee, die Gäste waren gegangen; ich trat, um zu sehen, was im Hofe vorging, ans Fenster und schlug den Vorhang ein wenig zurück: und durch die Scheiben – es war bereits um acht Uhr früh – drang plötzlich ein heller Morgenstrahl, beim Lampenschein im reinsten Blau erglänzend. Ein Blick von wunderbarer Schönheit! aber noch um vieles wunderbarer schön war das Bild, das Anielka in diesem azurnen Zauberlichte zeigte . . . mir war es ganz so zu Mute, als sähe ich sie mitten in der Grotte von Capri! war das ein Farbenspiel auf ihrem Schulternpaare! bei diesem Anblick – was vermag der Mensch nun einmal gegen seine sensible Natur? – streckte ich die Waffen; mein Herz war hin, und länger und inniger als sonst drückte ich ihre Hand in meiner Hand, als ich ihr gute Nacht sagte . . .

»Guten Morgen,« sagte sie neckisch, »nicht gute Nacht!«

Ploshow, 5. Februar.

Wie gemütlich ist's doch hier in Ploshow! Diese prächtigen altmodischen Kamine! Ihren Wald hütet Tantchen wie ihren Augapfel, aber am Heizen läßt sie es nicht fehlen: in diesen Kaminen prasselt es von früh bis in die Nacht. Gestern haben wir den ganzen Nachmittag an solch traulichem Kamine gesessen. Ich plauderte von Rom und seinen Raritäten und hatte so andächtige Zuhörer, daß ich mir selber fast albern vorkam! Tantchen mustert unausgesetzt Anielkas Gesicht, ob sie meinen Schilderungen auch mit Interesse folgt; aber sie ist beruhigt, denn Anielka zeigt nicht bloß Interesse, sondern gar Begeisterung . . . Einen Mißklang in unseren schönen Kreis bringt Anielkas Mama: sie hat in ihrem Leben soviel Kummer erlebt, daß sie vor allem, was die Zukunft birgt, eine schreckliche Bange hat; sie wittert hinter allem, was im Schoße der Zeit liegt, ein Unglück; sie war unglücklich verheiratet, sehr unglücklich, und all ihr Besitztum hat ihr Herzeleid gebracht. Sie hat großen Besitz, aber alles in schlechtem Stande, in schlimmer Verwaltung . . . Obendrein leidet sie ewig an Migräne.

Dagegen gehört Anielka augenscheinlich zu jener Art Frauen, die sich über Vermögensfragen niemals das Herz schwer machen. Bei uns in Polen ist diese Art weit stärker vertreten, als man meinen sollte . . . Ich tadle ihnen diese Eigenschaft nicht, denn ich erblicke in ihr einen Beweis dafür, daß die Frauen in Polen auf bessere Dinge den höheren Wert legen . . . Uebrigens gefällt mir an dem Mädchen jetzt schon so gut wie alles: heute morgen lief ich auf dem Flure dem Stubenmädchen in den Weg, das Anielkas Kleid und Schuhe brachte . . . die kleinen Schuhe vor allem elektrisierten mich so, daß ich nicht anders meinte, als sei es schon die Krone aller Tugend, solch kleines Schuhzeug zu tragen . . . Wir Mannsleute sind doch ein schrecklich schwächliches Korps: ich befühle mir selbst den Puls, um mich über mein Liebesfieber immer auf dem laufenden zu halten. Ich muß leider konstatieren, daß mein Puls schon sehr schnell geht.

8. oder 9. Februar.

Tantchen hat wieder ihren Krawall mit dem Verwalter Chwastowski angefangen. Diese Passion der alten Dame ist wirklich so spaßig, daß es der Mühe wert ist, solchen Disput zu vermerken. Wie schon gesagt, für die Tante sind diese Dispute Appetitsbedürfnis, und Herr Chwastowski, ein alter, körniger Schlachzize, läßt sie oft recht böse ablaufen. In der Regel fängt's schon an, wenn sie ins Speisezimmer treten: wenigstens messen sie einander, sobald sie sich sehen, schon mit Blicken, als wollten sie sich gegenseitig »fressen« . . . Aber kaum sitzen sie bei der Suppe, so bricht Tantchen die erste Lanze: »Sagen Sie mal, Chwastowski, wie stehen denn die Wintersaaten? Ich habe seit Anno Toback schon nichts mehr davon gehört. Ueber alles mögliche quatschen Sie; bloß darüber nicht!« – »Frau Gräfin! Im Herbst war der Stand brillant. Jetzt liegt der Schnee zwei Ellen hoch. Wie soll ich da wissen, was die Wintersaat macht. Der liebe Herrgott bin ich doch nicht.« – »Aber, Chwastowski, führen Sie doch den Namen Gottes nicht so unnütz im Munde!« – »Ich gucke ihm ja nicht unter den Schnee, trete ihm also auch nicht zu nahe.« – »Ich etwa?« – »Allerdings.« – »Chwastowski, Sie sind nicht mehr auszustehen.« – »Ich wohl weniger, als das, was Sie dem Menschen zumuten.« So geht's fast jeden Tag: bald über dieses, bald über jenes Thema; zuletzt verhält sich Tantchen still und macht sich über das Essen her, als wollte sie allen Aerger hinunterschlingen. Ihr Appetit läßt niemals zu wünschen, und wenn sie beim dritten oder vierten Gange ist, dann bessert sich ihre Stimmung und wird am Schlusse der Mahlzeit meist rosig. Wenn die Tafel aufgehoben ist, reiche ich Anielka den Arm und Herr Chwastowski der Tante, und nun geht's in einer »entente cordiale«, wie man sie gar nicht besser wünschen kann, zum »Schwarzen«. Nun erkundigt sich Tantchen, was Herrn Chwastowskis Söhne machen, und er küßt ihr die Hand. Im Grunde genommen wissen beide recht gut, was sie einander wert sind.

Als Chwastowskis Söhne noch die Universität besuchten, bin ich ihnen oft begegnet. Wie ich höre, sind es famose Bursche, aber von schrecklich radikaler Gesinnung. Anielka setzte sich in der ersten Zeit immer mit Zagen an den Tisch, weil sie die Dispute als bare Münze nahm; seit ich ihr aber auseinandergesetzt habe, was es damit für eine Bewandtnis hat, lächelt sie mir immer schelmisch zu, wenn sich die beiden Streithammel an den Tisch setzen; und dann sieht sie wirklich so allerliebst aus, daß man sie anknabbern könnte . . .

Ovid's Metamorphosen regieren die Welt und auch mich: der Frost ist gewichen und mit ihm das schöne Wetter. Es herrscht jetzt eine Dunkelheit, daß man den ganzen Tag Licht brennen könnte. Diese schwere schwarze feuchte Atmosphäre bedrückt das Gemüt, verdüstert unsere Gedanken. Auf mich hat das Wetter eine geradezu verhängnisvolle Wirkung . . . Die Tante ist mit Herrn Chwastowski böser als sonst zusammengeraten. Er sagte, der ganze Wald ginge noch zum Teufel, weil sie keinen einzigen Baum fällen ließe. Tante erwiderte, es ginge so genug vom Walde zum Teufel; sie würde alt, und der Wald könne alt mit ihr werden . . . Auch mich hat heute jemand empfindlich verletzt: Anielkas Mutter. Sie tat sich in der Orangerie in recht unästhetischer Weise damit dick, daß sich seit langer Zeit schon ein Herr aus meinem Bekanntenkreise um Anielkas Hand bemühe: ein Herr namens Kromitzki. Ich hatte unwillkürlich die Empfindung, als wenn mir ein Splitter mit einer Zange gezogen würde. Ein richtiger Affe in meinen Augen, dieser Kerl, der aus dem österreichischen Schlesien herstammt. Dort sollen seine Ahnen großen Grundbesitz gehabt haben. In Rom hat er sich damit dick getan, daß seine Familie seit dem 15. Jahrhundert gräflich sei, und in die Fremdenbücher der Gasthöfe schrieb er sich nie anders ein als mit dem Titel »Graf von«. Der Kerl mit seiner käsigen Fratze sieht aus wie ein Totenkopf. Mir war er immer zum Speien . . . pfui! Setzt das dieses Mädchen in meinen Augen herunter! Daß sie für diesen Kromitzki und seine Absichten keine Verantwortung trifft, weiß ich freilich, und trotzdem ist ihr Wert hierdurch in meinen Augen gesunken. Ich verstehe nicht, was diese Mutter veranlaßt hat, mir diesen Fall so ausführlich zu schildern: jedenfalls aber hat sie sich gründlich verrechnet, wenn sie gemeint hat, hierdurch mich anspornen zu wollen.

»Ich sage unverhohlen,« schwatzte sie, »daß mir der Antrag gar nicht unsympathisch ist. Ich bin eine Frau, die von Geschäften keine Ahnung hat und breche unter den Sorgen, die auf mir lasten, beinahe zusammen. Wäre es nicht um meiner Tochter willen, so hätte ich mich längst rangiert. Herr Kromitzki ist Geschäftsmann vom Scheitel bis zur Sohle. Er hat in Odessa große Unternehmungen entriert, übernimmt bedeutende Kommissionen, auch allerhand große Lieferungen für den Staat, spekuliert in Baku in Naphtha . . . que sais-je? . . . daß er Ausländer ist, soll ihm, wie ich vernehme, sehr hinderlich sein. Wenn er nun meine Anielka heiratete, so könnte er, habe ich mir gedacht, alle Schulden tilgen, die auf ihrem Grundbesitze haften, und könnte dann als Grundherr die Staatsangehörigkeit leichter bekommen.«

»Und Anielka?« fragte ich ungeduldig.

»Nun, Anielka scheint sich freilich nicht viel aus ihm zu machen, ist aber doch ein so herzensgutes Kind, und dann steht sie doch auch, wenn ich einmal das Zeitliche segne, ganz ohne Schutz in der Welt . . . also . . .«

Ich hatte genug und mochte nichts weiter hören . . . mich machte dieses Geschwätz fuchswild . . . wenn ich mir auch sagte, daß aus der Sache lediglich darum noch nichts geworden sei, weil Anielka nichts davon wissen wollte, so grolle ich ihr doch, weil sie solchem widerwärtigen Subjekt vergönnt hat, sein Auge auf sie zu werfen.

14. Februar.

Der garstige Eindruck ist verwunden. Wie diese kleine Anielka doch alles merkt! ich habe mich, obgleich es mir nicht danach zu Mute war, vergnügt gestellt und so getan, als sei nicht das geringste vorgefallen, und doch hat sie herausgefühlt, daß ich nicht mehr der alte bin. Wir saßen heut, wie es ja oft geschieht, denn man stört uns mit Absicht nicht, allein am Fenster und blätterten in einem Album, da wurde sie mit einem Male befangen und unsicher; ich merkte, daß sie etwas auf dem Herzen hatte, aber nicht mit der Sprache herauswollte. Einen Moment lang dachte ich, sie wolle mit einer Erklärung hervortreten; im anderen Augenblick aber lachte ich mich aus, daß ich hatte vergessen können, eine Polin vor mir zu haben, die doch weit eher sich die Zunge abbisse, als ihre Liebe einem Manne zuerst zu bekennen. Dann befreite sie mich von meinen Zweifeln, indem sie das Album plötzlich zuklappte und verwirrt zu stottern anfing: »Aber, Leo, was ist Dir denn bloß? Nicht wahr, Du hast was?« Ich erwiderte, sie müsse sich irren, mir sei gar nichts; sie aber blieb bei ihrer Meinung und schüttelte ernst mit dem Kopfe . . . »Ich sehe doch, daß Dir seit zwei Tagen was ist. Ich weiß recht gut, einen Menschen, wie Du bist, kann eine Kleinigkeit verletzen; ich habe mich schon die ganze Zeit über gefragt, ob ich eine Aeußerung habe fallen lassen, oder sonst etwas verbrochen habe . . .« – sie blickte mir, trotzdem ihre Stimme ein wenig zitterte, fest in die Augen – »aber zu leide getan habe ich Dir doch nichts?« Ich wollte schon erwidern, daß, wenn mir wirklich etwas fehle, es höchstens sie sein könne; aber mich befiel urplötzlich eine Himmelangst . . . nicht vor Anielka, sondern wie vor einem Riegel, mit dem ich mich selbst einsperren wollte . . . nichtsdestoweniger küßte ich ihr die Hand und sagte, bemüht, so harmlos wie möglich zu erscheinen: »Du bist ein liebes gutes Ding, Anielka; aber mach Dir meinetwegen keine Gedanken, denn mir fehlt gar nichts; zudem weilst Du ja hier zu Gaste, und meine Pflicht ist es, zu sorgen, daß Du Dich hier wohl fühlst.« Abermals küßte ich ihr die Hand.

Immerhin stellte ich mir die Frage: warum schiebst Du die Entscheidung hinaus, wenn sie doch einmal unausbleiblich ist? . . . Die Antwort darauf zu finden, fiel nicht schwer: ich will die Blüte meiner Liebe auskosten bis auf den letzten Tropfen. Wir empfindsamen Männer haben nun einmal einen fast weibischen Sinn, und in Empfindungssachen bin ich Epikuräer.

18. Februar.

Heut hat mich ein böser Geist nach Warschau geführt, zu einer Herrengesellschaft. Der Geheimrat S. hat sie veranstaltet. Er reitet ein Steckenpferd: alle Parteien bei einem Glas Tee und Butterbemmchen unter einen Hut zu bringen. Dabei weiß er selbst nicht, wie? Mir ging es darum, einmal zu hören, was in den Köpfen meiner Landsleute herumspukt. Für einen Menschen wie mich, der sich beständig im Auslande aufhält, ist das zweifelsohne ein plausibler Wunsch.

Es war, wie fast immer bei solchen Zusammenkünften »en masse«: abscheulich voll, abscheulich langweilig; gleich und gleich hockte zimmerweis zusammen, freute sich des allseitigen Einverständnisses, einer bestätigte dem anderen, daß er recht habe, u. s. w. u. s. w. Außer etwelchen Räten wurde ich auch einigen Vertretern der Presse vorgestellt. Mir ist alles, was mit »Presse« zusammenhängt, nicht sonderlich sympathisch, denn ich bin der Meinung, daß die Presse eine Menschenplage ist. Ihre Fixigkeit steht im Kausalkonnex mit ihrer Oberflächlichkeit, und die erstere vermag für den Schaden, den die letztere durch Irreführung der öffentlichen Meinung stiftet, nicht zu entschädigen: das muß jeder vorurteilslose Mensch gelten lassen . . . Durch die Zeitungen ist den Menschen die Fähigkeit, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, abhanden gekommen; seitdem wir Zeitungen haben, fehlt uns das Billigkeitsgefühl, ist Schlechtigkeit frech geworden, hat Ungebühr die Stimme der Gerechtigkeit geliehen; mit einem Worte: die Zeitung hat die Menschheit mit seelischer Blindheit geschlagen und alle Moral vergiftet.

Ein Herr Stachowski war mit da, dem Rufe nach das größte »lumen« der Partei des äußersten Fortschritts; er sprach »wie gedruckt«, und an diesem Abend war's, wie es immer und überall sein soll: wenn er da ist, riskiert's niemand, eine Meinung zu haben. Ein nicht unwesentlicher Faktor für seine Ueberlegenheit ist seine Eigenschaft, selbst an die Reden zu glauben, die er hält. Stachowski wird zu den Skeptikern gerechnet: aber ungerechterweise. Hätte er in einem früheren Zeitalter gelebt, so hätte er einen Fanatiker abgegeben: das ist sein Temperament . . . er hätte einen der schlimmsten Inquisitionsrichter abgegeben: einen von dem Schlage, die dem Menschen um einer Gotteslästerung willen die Zunge ausreißen ließen . . . Was mir unangenehm auffiel, war das Scherwenzeln gerade unserer konservativen Gäste um diesen Menschen herum: es scheint, als habe bei uns diese Partei herzlich wenig Mut . . . oder verhält es sich mit ihr überall so? . . . Die Kriecherei vor ihm war so arg, daß es richtiges Mißfallen hervorrief, als ich mir die Freiheit herausnahm, mich mit ihm in einen Disput einzulassen, statt seiner Ansicht demütig zuzunicken. Es wurde von den »wirtschaftlich toten« Klassen der Bevölkerung gesprochen. Stachowski erging sich über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage, über ihr Unvermögen, sich Schutz zu verschaffen, in einem wilden Phrasenschwall, und der Kreis seiner Zuhörer war schon erheblich gewachsen, als ich ihm mit der Frage ins Wort fiel: »Ach, wenn ich fragen darf, bekennen Sie sich zu der Darwinschen Theorie vom Kampfe ums Dasein?« – »Allerdings,« erwiderte Stachowski, der als Naturforscher von Beruf und Fach mit besonderer Freude auf die Diskussion dieser Frage sich einließ . . . »Dann werden Sie mir erlauben müssen, Ihnen Inkonsequenz vorzuwerfen. Sich als Christ der Wehrlosen und Unterdrückten annehmen zu wollen, wäre recht und in Ordnung, denn Christus befiehlt es uns; Sie jedoch müßten sich vom Darwinschen Standpunkte aus sagen: es ist dummes Gesindel, nach dem Naturgesetz zur Beute des Stärkeren verurteilt, also weg damit! Wie kommt es, daß Sie sich das nicht sagen? Vielleicht haben Sie die Güte, mich über diesen Widerspruch aufzuklären?« Ich kann nicht sagen, ob Stachowski über diese Opposition, die ihm, da er nicht daran gewöhnt war, ganz unerwartet kam, sich so entsetzte, daß er kein Wort der Erwiderung fand, oder ob er sich die Frage tatsächlich noch nie in diesem Zusammenhange überlegt hatte: soviel steht fest, daß er nicht einmal das übrigens an sich auch ziemlich hohle Schlagwort Altruismus fand. Die Folge hiervon war, daß sich viele von den konservativen Herren auf meine Seite hinüberzogen. Ja, wäre es nicht schon so spät gewesen und die Gesellschaft mir nicht gar so schrecklich fade, so wäre es mir gar nicht schwer gefallen, als Held des Abends zu glänzen; aber ich wollte zur Nacht wieder in Ploshow sein . . . ich stand schon im Pelze und mußte bloß noch nach meinem Augenglase suchen, das sich irgendwohin versteckt hatte: als Stachowski, der inzwischen wohl sich auf eine Antwort besonnen haben mochte, zu mir herantrat: »Ach, Sie fragten vorhin, warum ich . . .« – Ich war verdrießlich über den Verlust meines Augenglases und fiel ihm ins Wort: »Entschuldigen Sie, bitte, ich stehe der ganzen Frage äußerst gleichgültig gegenüber. Und wie Sie sehen, ist es spät; die Herrschaften brechen sämtlich auf, zudem kann ich mir denken, was Sie mir sagen wollen . . . Sie gestatten mir also wohl, Ihnen gute Nacht zu wünschen.«

Ich glaube gern, daß Herr Stachowski mir diese Antwort schrecklich übelgenommen hat . . . aber mag er!

Ich kam gegen ein Uhr nachts in Ploshow an. Dort wartete meiner eine frohe Ueberraschung: Anielka mit dem Tee! Im Speisezimmer saß sie, noch in voller Toilette, nur das Haar hatte sie für die Nacht eingeflochten . . . Ein prächtiges Weib! und so lieb! und wie allerliebst diese ihr tief in den Nacken hängenden Haarflechten sie kleiden! O, und der Gedanke, daß es mich ein einziges Wort kostet, um in ein paar Monaten dies Haar auflösen und ihr über die Schultern breiten zu dürfen! Sollte es mir wirklich so leicht fallen, solches Glück zu erwerben? es wird mir schwer, das zu glauben . . .

Ich wollte sie schelten, daß sie noch aufsitze; aber sie sagte, sie sei gar nicht schläfrig und habe deshalb die Mama und die Tante um Erlaubnis gebeten, auf mich warten zu dürfen; Mama habe ja gemeint, es sei nicht recht schicklich, sie habe aber geltend gemacht, wir seien doch Verwandte . . . und dann fragte sie plötzlich: »Ei, weißt Du, wer sich auf meine Seite stellte?« Eine kleine Weile sah sie mich still an; dann rief sie: »Die Tante!« – »Die gute Seele!« sagte ich; »trinkst Du noch ein Täßchen mit?« – »O, gern!« und sie fing flink an, den Tee einzugießen und die Tassen zurechtzustellen, und ich sah ihr voll Bewunderung zu und hätte die geschickten lieben Händchen gar zu gern geküßt! Hin und wieder blickte sie auf, senkte aber, sobald sich unsere Blicke trafen, den ihren immer schnell. Sie fragte mich lebhaft, wie ich mich in Warschau amüsiert hätte, welchen Eindruck ich von der Gesellschaft mit nach Ploshow gebracht hätte. Wir unterhielten uns, trotzdem die beiden älteren Damen nicht in der Nähe schliefen, doch mit verhaltener Stimme, herzlich und traulich wie Verwandte, die einander von Herzen zugetan sind. Ich schilderte ihr, was ich gesehen und erlebt hatte, wie einem Freunde, gab ihr ein Bild von der Gesellschaft, in der ich geweilt hatte, wie es sich einem Manne bietet, der aus weiter Fremde zwischen sie hineinschneit. Sie machte große Augen, hörte mir stillschweigend zu; war aber beglückt, auf diese Weise einen Einblick in meine Gedankenwelt zu gewinnen.

»Aber warum bringst Du das alles nicht zu Papier?« fragte sie; »daß mir solche Gedanken nicht kommen, ist nicht verwunderlich, es geht wohl allen hier so, wie mir.« – »Warum ich nichts zu Papier bringe?« wiederholte ich; »aus allerhand Ursache! vielleicht erkläre ich Dir später einmal die Gründe . . . ein Grund ist wohl der: weil es mir fehlt an jemand, der mir öfter, wie Du jetzt, die Frage stellt: Warum machst Du nichts, Leo?« – Wir schwiegen beide; aber Anielka senkte die Wimpern tiefer als je zuvor, und mir war es fast, als ob ich ihr Herz unter dem Kleide pochen sähe . . . Freilich konnte sie jetzt erwarten, daß ich an sie die Frage stellen werde: »Willst Du immer bei mir bleiben und mich immer so fragen?« aber es war mir eine zu große Wonne, die Dinge in der Schwebe zu lassen, dies Herz gleichsam in der Hand zucken zu fühlen . . . und ich fühlte noch immer kein Verlangen, die Sache zum Austrag zu bringen . . .

»Gute Nacht,« wünschte ich endlich . . . und ohne Miene der Enttäuschung, ohne einen Schatten von Ungeduld, nur mit einem etwas traurigen Klange der Stimme, sagte auch sie mir gute Nacht . . . Mit einem Händedruck gingen wir auseinander: sie dahin, ich dorthin; in der Tür aber blieb ich stehen . . . »Anielka!« und wir kehrten beide bis zum Tische zurück. »Anielka, hältst Du mich nicht manchmal für einen Sonderling, für einen Schwärmer?« – »Nein, Schwärmer oder Sonderling bist Du nicht; mir kommt es nur zuweilen vor, als ob Du wunderlich seiest, aber ich meine dann auch immer, daß ein Mensch wie Du gar nicht anders sein könne.« – »Anielka, noch eine Frage: wann bin ich Dir zum ersten Mal als wunderlich vorgekommen?« – Sie wurde rot; ach! wie herrlich sah sie aus mit diesem Flammenspiel auf Hals und Wangen! – Es verging eine Weile . . . dann sagte sie: »Ach, das kann ich Dir nicht sagen: es ist so schwer.« – »Willst Du, wenn ich es rate, bejahen? ich brauche bloß ein Wort zu sagen . . .« – »Und dieses Wort wäre?« – »Tanzkarte,« sagte ich; »ja oder nein?« – Sie ließ das Köpfchen sinken und sagte: »Ja.«

23. Februar.

Nicht bloß das Meer hat seine Ebbe und Flut, sondern auch der Mensch . . . und bei mir herrscht heut Ebbe: Willenskraft, Tatkraft, Lebenslust ebben heute bei mir . . . ich wüßte keinen Grund dafür zu nennen; Nerven! Nerven! und darum die bitteren Betrachtungen! Habe ich denn als körperlicher und geistiger Schwachmatikus ein Recht zum Heiraten? Hamlet fällt mir unwillkürlich ein: »Warum Sünder in die Welt setzen? Geh in ein Kloster!« . . . Hab' ich ein Recht, Anielka zu heiraten? dieses junge, frische Leben an meine Zweifel, meine Impotenz, meine Skepsis, meine Nerven zu ketten? Kann ich an ihrer Seite die Jugendfrische wiederfinden? kann mein Gehirn an ihrer Seite sich wandeln? können sich meine Nerven an ihrer Seite kräftigen? . . . Nein! und abermals nein! sondern sie muß verwelken an meiner Seite! ich müßte denn gerade Polyp sein wollen, der neue Kräfte aus dem Blute seines Opfers saugt? – Aber warum ließ ich mich dann bis zu dem Punkte treiben, wo wir jetzt stehen? . . . Und warum konnte ich solche Anielka nicht zehn Jahre früher finden? . . .

Ha! wenn diese herzensgute Tante die Qualen kennte, in die sie mich gestürzt hat: es würde sie in tiefster Seele schmerzen! Nicht vor Sein oder Nichtsein stehe ich, sondern vor Schlimmerem!

26. Februar.

Ich bin gestern wieder in Warschau gewesen. Ich sollte einen gewissen Kw. dort treffen, auf dessen Hause mein mütterliches Erbe als Hypothek eingetragen steht. Nicht ich habe die Zusammenkunft gewünscht, sondern er. Er wolle mir das Geld auszahlen, schrieb er, da es ihm geglückt sei, von der Warschauer Kreditanstalt ein Darlehen zu erhalten . . . Diese ewige Bummelei bei uns in Geschäftssachen! Der Teufel müßte mal dazwischenfahren! Den ganzen Tag warte ich nun schon . . . Der Mann ist reich; es ist ihm daran gelegen, sein Haus hypothekenfrei zu bekommen . . . aber . . . ohne Bummelei geht's nun mal nicht! der Pole ist und bleibt in Geldsachen der unzuverlässigste Mensch . . . ich habe mich mit diesem Faktum schon wiederholt beschäftigt und meine, den Ursprung dieser völkischen Untugend in unserer überwiegenden Eigenschaft eines Ackerbau-Volkes suchen zu sollen. Der Handel liegt bei uns ausschließlich in Judenhänden, und Juden konnten oder wollten uns Pünktlichkeit nicht beibringen . . . Muß der Landwirt nicht häufig unpünktlich, unzuverlässig werden, da doch der Boden, von dem er abhängt, unzuverlässig und unpünktlich im höchsten Grade ist? Was nützt es mir, für die Sache die Erklärung zu finden? den Aerger darüber, einen ganzen Tag durch diese Unpünktlichkeit von Anielka ferngehalten worden zu sein, werde ich dadurch nicht los! . . . ich kann mich drauf gefasst machen, daß es mir noch ein paarmal so gehen wird; aber dagegen ist bei uns in Polen nun einmal kein Kraut gewachsen!

Bei der Heimkunft finde ich auf Tantchens Tische drei Visitenkarten von Kromitzki: zwei für die beiden älteren Damen und eine für mich. Um ihn an einer Wiederholung seines Besuchs zu verhindern, fällt mir ein, meine Karte bei ihm abzugeben. Ich habe ohnehin gerade weiter nichts zu tun. Leider habe ich ihn zu Hause angetroffen: und hab' eine halbe Stunde bei dem Menschen sitzen müssen! er war sehr nett: aber ich habe ja Geld, und vor Geld hat er den Heidenrespekt, der jedem Geldmenschen eingeimpft ist . . . wir redeten über die Sorgen, unter denen sich Anielkas Mutter plagt. Kromitzki meint, die Dame müsse sich eben zum Verkaufe entschließen, dann ließe sich manches retten, und sich dagegen so zu wehren, wie die Dame es tue, sei doch eine romantische Grille, die insofern sehr töricht sei, als sich der Verkauf doch nicht aufhalten lassen werde: es müßte denn gerade eine vis major eingreifen! Der Mensch ist ein schrecklicher Schwätzer: die Impotenz der Polen in Geldsachen sei geradezu gemein, denn wenn irgendwo Geld noch auf der Straße läge, nach dem man sich bloß zu bücken brauche, so sei es der Fall in Polen . . . er führt sich selbst als lebendiges Beispiel für diese Behauptung an: sein Vater habe es getrieben wie alle großen Herren und Schulden über Schulden gemacht, so daß die Nachlassenschaft allerhöchstens 100 000 Gulden betragen habe . . . und wie sähe es heute aus? »Ein Geschäft in Turkestan soll mir glücken: und ich bin glänzend heraus! Juden und Griechen haben durch Lieferungen Millionen verdient: warum sollen wir Slaven nicht auch Millionen schlucken können? Ellbogenraum ist dort auch für uns!«

Es kann ja sein, daß der Mensch ein ganz schlauer Geschäftsmann ist; als Mensch aber ist er ein dummes Vieh . . . daß wir Polen uns nicht zu helfen wissen, ist eine alte Sache; daß mal ein einzelner es zu Millionen durch Spekulation bringen kann, ist möglich; aber das Volk als ganzes muß in seinen vier Pfählen arbeiten und soll nicht nach Turkestaner Millionen trachten . . . Gott hat Anielka vor der Verbindung mit solchem Menschen behütet . . . soll ich noch immer zögern, statt sie der Möglichkeit, eine schlechtere Wahl zu treffen, zu entrücken?

28. Februar.

Mama und Tante werden allmählich darüber unruhig, daß sich die Sache nicht schneller abwickelt. Besonders Tante mag grillig sein, denn sie ist ungeduldig von Haus aus . . . Aber die Ruhe, die sich auf Anielkas Gesichtchen spiegelt, stimmt sie besser und hebt ihre Hoffnung . . . Anielka glaubt an mich; ich lese in ihren Augen unbedingtes Vertrauen. Von früh bis Abend denke ich an sie, meine Sehnsucht nach ihr wächst ins Unendliche.

4. März.

Also: die Würfel sind gefallen, oder doch so gut wie gefallen . . . Gut, daß ich das niedergeschrieben habe, denn wer weiß, ob ich es später könnte . . . Nun eins nach dem andern! Um Mittag herum kamen Sniatynskis . . . sehr früh zum Essen; aber sie müssen abends zeitig wieder in der Stadt sein, denn abends ist im Theater die Erstaufführung seines neuen Stückes . . . Wir haben uns, wenn wir uns auch in unserer Ploshower Einsamkeit ganz wohl fühlen, doch recht gefreut darüber, daß sie sich wieder einmal haben sehen lassen. Anielka hat die Frau sehr lieb, hat sich wohl auch gratuliert zu der Gelegenheit, einmal ihr Herz auszuschütten; und Frau Sniatynski hat mit echt weiblichem Scharfblick sofort gemerkt, wie hier draußen »die Aktien stehen«, auch frischweg die zarten Schultern unter diese »Kutsche« gestemmt, um sie schneller vom Flecke zu bringen. Zur Tante hat sie, kaum daß sie eingetreten, gesagt: »Ach, wie nett und traut ist es doch hier draußen! da muß sich ja ein junges Paar selig fühlen!« Dass sie mit dem Beiworte »jung« nicht auf unsere Lebensjahre anspielte, war Anielka sowohl wie auch mir auf der Stelle klar. Bei der Tafel wiederholte sie übrigens den Ausdruck noch verschiedene Male, wandte auch zur Abwechslung den Ausdruck »junge Herrschaften« an, gewissermaßen im Gegensatze zu den alten Damen. Dabei sprach aus ihrem Blicke soviel Herzensgüte, und die kleinen Ohren spitzte sie dabei mit so viel Grazie und echt weiblichem Mitgefühl, und sah so nett und allerliebst aus, daß ich ihr um der zwar gutgemeinten, aber unerbetenen Einmischung nicht gram sein konnte . . . So weit wäre ich also, daß es mir kein Verdruß mehr, sondern eine Freude ist, unsere beiden Namen in solcher Form zusammengefaßt zu hören. Auch Anielka scheint nicht böse darüber . . . in der Art, wie sie die Gäste heute bewirtet, kommt wirklich etwas von Hausfrauenbeflissenheit zum Ausdruck. Tantchen lacht sichtlich das Herz im Leibe darüber. Auch sie ist gegen Sniatynskis die Liebenswürdigkeit in Person . . . Uebrigens mache ich heut eine Wahrnehmung, von der ich mir mein Lebtag nichts hätte träumen lassen: die Frau Sniatynski wird puterrot an den Ohren, wenn jemand in ihrer Gegenwart Liebes von ihrem Manne spricht! So etwas nach achtjähriger Ehe! sähe ich's nicht mit eigenen Augen, so glaubt ich's nicht! es ist also wohl schrecklich dummes Zeug gewesen, was ich vordem über unsere Polinnen geschrieben habe!

Es war ein allerliebstes Mittagessen: ein glückliches Ehepaar ist wirklich ein großartiger Heiratsvermittler, denn jeder, dem es vor die Augen kommt, muß ja denken, wenn Verheiratetsein so glücklich macht, da muß ich doch auch heiraten! Mir ist's wenigstens so gegangen, daß ich erst durch Sniatynskis von der Ehe einen guten Begriff bekommen habe, denn vorher erschien sie mir immer bloß grau in grau, als etwas höchst Prosaisches, Alltägliches, schlecht-verhüllt Gleichgültiges . . . Dass es Anielka nicht anders erging wie mir, sah ich an ihrem strahlenden Gesichtchen . . .

Nach dem Essen verweilte ich mit Sniatynski, von dem ich weiß, daß er nach dem Kaffee gern ein Gläschen Kognak nippt, in dem Speisezimmer. Die beiden alten Damen verfügten sich nebenan in den Salon, und Anielka bat Frau Sniatynski in ihr Zimmer hinauf, um ihr ein Album von Wolhynien zu zeigen . . . »Du, sag' doch bloß,« fragte ich Sniatynski, nachdem wir uns eine Weile über die Zeit unterhalten hatten, als wir beide noch die rechten »Kiek-in-die-Welt« waren . . . »was gedenkst Du denn mit Deiner Berühmtheit anzufangen?« – »Was meinst Du damit?« – »Na, Du kannst sie doch nicht wie eine Bischofsmütze auf dem Kopfe oder wie den goldenen Vließorden am Halse tragen? Ich frage ja nur als Mensch, der nicht weiß, was Berühmtheit ist und was man damit anfängt, wenn man sie besitzt.« – »Angenommen, ich besäße, wovon Du sprichst, so müßte ich doch ein recht armseliges Geisteskind sein, wollte ich mich derart brüsten. Geh, wofür hältst Du mich?« – »Lass doch gut sein,« antwortete ich, »ich bin ja auch nicht eitel, aber einer Anerkennung von seinesgleichen bedarf der Mensch doch! das ist nun mal angeboren . . . Wie gesagt, ich bin nicht eitel und doch berührt es mich, wie ich offen sage, ganz angenehm, wenn Leute sich von mir etwas versprechen, wenn ich höre, ich besäße Talent, die Freude mag ja einem manchmal versalzen werden; aber Freude ist oder bleibt es doch, wenn mir auch dann immer klarer als je vor die Augen tritt, daß ich eine Null bin.« – »Weil Du Dir selbst leid tust, und mit Recht.« – »Aber auf Berühmtheit folgt doch Achtung, und das ist immer eine sehr angenehme Sache!«

Sniatynski, das reine Quecksilber, kann sich nicht still verhalten, wenn er spricht, sondern galoppiert wie ein Pferd im Zimmer herum, um sich dann auf einmal irgendwo hinzuhocken, wie jetzt zum Beispiel aufs Fensterbrett  . . . »So? Achtung, meinst Du?« rief er, »damit bist Du aber doch im Irrtum, mein Lieber, denn nirgendswo herrscht soviel Neid wie bei uns närrischem Volk. Wenn ich beispielsweise eine Komödie schreibe, so mißgönnt mir den Umstand, daß ich dadurch mir einen Namen mache, nicht der Komödienschreiber, sondern Hinz und Kunz von Leuten, die sich's niemals hätten einfallen lassen, eine zu schreiben, und auch gar nicht die Fähigkeit dazu besäßen, der Eisenbahner wie der Bankbeamte, der Pädagoge wie der Ingenieur u. s. w., und Hinz und Kunz läßt mir und anderen im Umgange merken, daß ihm an mir nichts liegt . . . so geht's zu bei uns und das hat man davon, wenn man berühmt ist.« – »Etwas dran muß aber sein, denn die Leute verdrehen sich doch um des Ruhmes willen Genick und Hals.« – »Nun,« versetzte Sniatynski, nachdem er eine Weile überlegt hatte, in einem fast feierlichen Tone: »Nun, meinetwegen, er mag im Privatleben was wert sein, weil man ihn . . . als Piedestal brauchen kann für das Weib, das man liebt.« – »Ein Ausspruch, der Dir neuen Ruhm bringen wird!« – Da schoß er wie ein Falke auf mich zu und rief: »Ja! wirf dem Weibe, das Du liebst, Deinen Ruhm vor die Füße und sag' ihr: wonach sich die Menschen die Hälse recken, was der Mensch für das größte Glück hält, was er dem Reichtum gleich schätzt, das gehört mir, das hab' ich mir erobert! da hast Du es! trample mit den Beinen drauf herum! Machst Du's, wird Liebe Dir lohnen Dein Leben lang! So, jetzt weißt Du, was Du wissen wolltest! was Ruhm ist!«

Die jungen Damen, auf dem Wege zum Treibhaus, störten unser Gespräch . . . Diese Madame Sniatynski ist aber doch wahrhaftig der richtige kleine Satan. Stellt sie sich nicht, als müsse sie ihren Mann erst um Erlaubnis zu dem Gange bitten, und wendet sie sich nicht, als es ihr Mann ihr erlaubt hat, verschmitzt wie eine Katze mit der Frage an mich: »Sie erlauben es doch Anielka auch?« Anielka wurde puterrot, und bei solch jungem, harmlosen Dinge wird das nicht weiter wundern; aber auch ich alter Sünder geriet darüber in Verlegenheit; ich ließ mir, trotzdem ich mir die Schwäche nicht verzeihen konnte, nichts merken, sondern trat zu Anielka, drückte einen Kuß auf ihre Hand und sagte: »Anielkas Wünsche sind in Ploshow Gesetz, und ich bin ihr Diener.«

Am liebsten wäre ich den beiden Damen mit Sniatynski gefolgt; aber ich tat mir Zwang an; übrigens drängte es mich auch, von Anielka und meiner Verheiratung mit ihm zu sprechen, und in der Erwartung, daß mein Kamerad doch darauf zu sprechen käme, fragte ich ihn: »Du hältst also noch immer fest am Glauben an Deine Lebensdogmen?« – »Unbedingt!« erwiderte er, »oder unbedingter als je . . . Liebe als Wort ist doch so abgedroschen, daß man es nur mit Widerstreben braucht; und doch sage ich Dir: Liebe ist sowohl im allgemeinen wie im besonderen Sinne ein Begriff, den zu kritisieren einfach unmöglich ist. Liebe ist das Grundgesetz des Lebens; meine Philosophie gipfelt darin, über Liebe nicht zu philosophieren, und mich deshalb für dümmer zu halten als andere, fällt mir gar nicht ein. Liebe leiht dem Leben Wert; ohne Liebe ist alles Leben Spreu und Häcksel.« – »So nennen wir doch die Liebe in diesem besonderen Sinne beim rechten Namen: Weib.« – »Meinetwegen.« – »Nun, Verehrtester, dann müßtest Du doch auch sehen, auf welch morschen Pfeilern Du Dein sogenanntes Glück gebaut hast?« – »Sie sind nicht morscher als unser ganzes Dasein an sich.« Hier setzte er sich rittlings auf einen Stuhl, lebhaft fortfahrend: »Das Weib verlangt Liebe. Gib ihm Liebe, trage sie auf den Händen, zeige ihr, daß Du sie nicht bloß begehrst, sondern verehrst, hochhältst, anbetest, dann brauchst Du Dich um die Zukunft nicht zu sorgen, denn das Weib wird sich von Jahr zu Jahr enger an Dich schmiegen . . . Verhältst Du Dich selbstisch, versagst Du ihr, was ich Dir eben sage, daß Du ihr geben sollst, dann kannst Du nicht hindern, daß sie Deine niedrige Denkweise erkennt, und daß sie sich von Dir abwendet, ja daß sie nach jeder edleren Hand greifen wird, die sich ihr bietet, weil sie nicht bloß nicht anders kann, sondern weil sie muß, denn sie braucht Achtung und Zuneigung zum Leben, wie Luft zum Atmen.« Er rückte mir mit der Lehne so nahe auf den Leib, daß er mich fast erdrückte. Als er mich bis zum Fenster hingedrängt hatte und ich nicht weiter vor ihm weichen konnte, sprang er mit einem Male auf und rief: »Ihr seid doch mehr als blöde! In einem Zeitalter wie dem unserigen, wo die schauerlichste Dürre herrscht, wo Glück zur Rarität geworden, wo alle Stützen zusammenbrechen, alle Hoffnung weicht, versagt Ihr Euch auch noch das häusliche Glück, diese wichtige Grundlage aller Zufriedenheit? Könnt Ihr in Eurer Torheit noch weiter gehen, als daß Ihr auf dem Markte steht und friert, und kein Feuer in Eurem Hause anzündet? Mensch, ich sage Dir: heirate! heirate!« Bei diesem Zurufe wies er mit der Hand durchs Fenster auf Anielka, die mit seiner Frau eben aus dem Treibhause trat, um ins Haus zurückzukehren. »Dort trippelt Dein Glück in Filzschuhen über den Schnee! ich sag' Dir noch einmal: heirate! Du kannst die Kleine dreist auf die Goldwaage legen und auf ihren Feingehalt prüfen . . . Was Dir fehlt, Mensch, ist einzig und allein der feste Sitz, das sichere Domizil, und zwar im spirituellen wie im moralischen Sinne . . . Dir gebricht es am Halt, am Frieden . . . Anielka aber wird Dir beides geben . . . Bloß philosophiere Dir Dein Glück nicht ebenso in Grund und Boden, wie Du Dir Dein Talent und Deine fünfunddreißig Lebensjahre in Grund und Boden philosophiert hast!« Einen besseren und gesitteteren Rat hätte er mir sicher nicht geben können, auch keinen, der meinen Wünschen besser entsprochen hätte; deshalb erwiderte ich, ihm die Hand drückend: »Ich denke nicht daran, sie mir vom Halse zu philosophieren; denn ich liebe sie!«

Die jungen Damen traten wieder ein, und Sniatynskis Frau, die auf der Stelle merkte, daß wir in erhöhter Stimmung uns befanden, sagte: »Mir war's doch, als hörten wir Wortwechsel? ich sehe zwar, daß er einen friedlichen Abschluß genommen hat; aber wissen möchte ich doch, um welche Frage er sich gedreht hat?« – »Worum sonst als um die Weiber,« erwiderte ich. – »Und das Ergebnis?« – »Eine gemütliche Umarmung, wie Sie wohl auch gesehen haben werden . . . das Weitere wird sich ja bald ausweisen.«

Ihr Schlitten stand bereit, es wurde schon Abend, und sie mußten uns verlassen. Das stille, klare Wetter und der in der Allee festgetretene Schnee bestimmten mich, Anielka aufzufordern, unsere Gäste bis zur Landstraße zu bringen . . . Dort verabschiedeten wir uns herzlich von den lieben Menschen und kehrten um. Es hatte sich schon zur Dämmerung eingerichtet, aber Anielkas Gesicht war noch deutlich zu erkennen im Scheine der scheidenden Abendröte. Mir kam es vor, als sei Anielka bewegt; ich irrte wohl nicht in der Annahme, daß sie sich der älteren Freundin offenbart haben mochte; sie rechnete vielleicht auf das entscheidende Wort von meiner Seite. Aber, seltsam! ich bildete mir doch immer ein, all meine Empfindungen so unbedingt beherrschen zu können, und war in diesem Augenblicke aufgeregt wie ein Gymnasiast. Ich fand das rechte Wort nicht und schwieg . . . und doch fühlte ich, wie sie sich auf dem Wege über den ein wenig glatten Vorplatz auf meinen Arm stützte, mit allen Fasern meines Seins, wie stark ich mich nach diesem Weibe sehnte . . . Es war niemand im Vorgemach. Halbdunkel herrschte. Schweigend nahm ich Anielka den Pelzmantel ab, schweigend gestattete sie meine Hilfe; aber als die süße Wärme ihres Leibes zu mir hinüberwehte, da umschlang ich sie mit den Armen, preßte sie an mein Herz und preßte die Lippen auf ihre Stirn . . . Im Flure nebenan wurden Schritte laut . . . ein Diener kam mit der Lampe. Anielka hatte sich nicht gesträubt, sie mag wohl vor Ueberraschung starr gewesen sein . . . aber sie war im Nu aus meinen Armen und eilte die Treppe hinauf nach ihrem Zimmer, während ich in einem Aufruhr der Empfindungen, wie ich ihn an mir nie gekannt hatte, den Fuß ins Speisezimmer setzte.

Ich hörte kaum, was die Damen zu mir sagten. Merkwürdige Unruhe bemächtigte sich meiner: ich meinte Anielka zu sehen, wie sie die Hände gegen die Schläfen preßte . . . wie sie verstört vor sich hinsah . . . ach! zu gern hätte ich gewußt, wie sie über den Vorfall dachte und was in ihrem Herzen jetzt vorgehen mochte . . .

Sie befreite mich von meinen Zweifeln, denn sie kam bald nachher ins Zimmer . . . zu meiner nicht geringen Verwunderung, hatte ich doch gemeint, sie werde sich heute nicht sehen lassen. Röte lag auf ihren Wangen, dem Anschein nach abgetönt durch etwas Puder, wenigstens war es mir, als zeigte die linke Schläfe davon einige Spuren. Sie setzte sich mit einer Handarbeit an den Tisch, aber wenn sie auch den Kopf gesenkt hielt, sah ich doch, daß sie schneller atmete, und einige Male streifte mich auch ein flüchtiger Blick aus ihren Augen. Um sie abzulenken, mischte ich mich in die Unterhaltung. »Sniatynski hielt mir heute vor, ich philosophierte mich in Grund und Boden; ich will ihm aber beweisen, daß er sich irrt, und zwar schon morgen.« Das letzte Wort betonte ich stärker und bemerkte recht gut, daß Anielka mich verstand, denn sie heftete einen längeren Blick auf mich; Tantchen aber fragte ahnungslos: »Wollt Ihr Euch mit den Leuten morgen schon wieder treffen?« – »Aber wir müssen uns doch sein Stück ansehen . . . falls Anielka Lust haben sollte, so fahren wir morgen zur Stadt.« – Mit unbeschreiblich weichem Tone: »Ich bin von Herzen gern zu allem bereit.«

Es wäre wohl meine Pflicht gewesen, gleich ein Ende zu machen; aber ich hatte nun einmal morgen gesagt, und wollte es dabei auch lassen . . .

Casa Osoria, Rom, 6. März.

Seit gestern bin ich hier. So krank, wie ich nach dem in Ploshow eingegangenen Schreiben fürchten mußte, ist Vater nicht. Er ist auf der linken Seite gelähmt; die Aerzte meinen aber, das Herz sei nicht mit einbezogen, er könne vielmehr noch Jahre lang leben.

Rom, 7. März.

Ich habe Anielka in Ungewißheit, Erwartung, Trennungsweh in Ploshow zurückgelassen, aber ich konnte nicht anders. Die Frühpost brachte mir an dem auf Sniatynskis Besuch folgenden Tage, an dem ich mir vorgenommen hatte, mich Anielka zu erklären und mit ihrer Mutter zu sprechen, einen Brief aus Rom vom Vater, in welchem er mir mitteilte, daß er krank geworden sei. »Tummle Dich, lieber Junge! denn ehe mich der Kahn, der drüben schon abstößt, holt, möcht ich Dich noch einmal umarmen.«

Ich reiste natürlich mit dem nächsten Expresszuge ab und ohne Aufenthalt bis Rom. Ich stieg mit der Befürchtung in das Coupé, den Vater nicht mehr lebend zu treffen, hatte kein Ohr für die Worte der Tante, die mir vorzustellen suchte, daß der Vater doch telegraphiert hätte, wenn es bereits so schlimm um ihn stände . . . ich wußte, daß zu den mancherlei Absonderlichkeiten des Vaters auch Abneigung gegen den Telegraphen gehörte; ich durchschaute auch die Tante, die sich ruhig zeigte bloß aus Rücksicht gegen mich, im Grunde genommen aber ganz ebenso erschrocken war wie ich . . . In solchem Gemütszustände, wie ihn der drohende Verlust des Vaters hervorrufen mußte, meine Liebe zu erklären, ging mir gegen die Natur: erschien mir als zynische Roheit . . . konnte ich wissen, ob nicht im selben Augenblick, da ich süße Liebesworte girrte, mein Vater seinen letzten Seufzer ausstieß? . . . Das leuchtete allen ein, auch Anielka . . . Als wir von einander Abschied nahmen, sagte ich zu ihr: »Von Rom aus schreibe ich Dir.« Sie erwiderte: »Möge der liebe Gott Dir nur recht bald die Ruhe wiedergeben!« Anielka vertraut mir mit ganzer Seele . . .

Rom, 10. März.

Ich habe schon ein paar Briefe an Anielka geschrieben, aber alle wieder zerrissen . . . Nachmittags bin ich beim Vater gewesen. Ich traf ihn in seinem Arbeitskabinett, wo er ein paar Epilychnionen unter dem Vergrößerungsglase hatte, die ihm vom Peloponnes geschickt worden waren und an denen die Erde noch klebte . . . Durch die weißen und bunten Scheiben dieses ganz an ein Museum erinnernden Kabinetts fielen die verschiedensten Lichtreflexe, und in dieser Umgebung und Beleuchtung erschien mir das Gesicht des Vaters wie dasjenige des »göttlichen« Plato oder eines anderen Weisen des griechischen Altertums . . . Er legte, als er mich sah, sein Mikroskop beiseite, hörte mich teilnahmsvoll an und fragte: »Also noch immer unschlüssig?« – »Nicht unschlüssig,« erwiderte ich, »aber ich überlege: ich möchte doch wissen, warum ich will.« – »Junge,« rief er, »ich war wie Du; auch ich hab' wie Du die Neigung besessen, über alle Vorgänge in meinem Herzen, über alle Erscheinungen des Lebens mit mir zu Rate zu gehen; als ich aber Deine Mutter erblickte, ging mir alle Neigung und Fähigkeit dafür auf einmal flöten, und mich beseelte bloß »ein Verlangen, bloß ein Sehnen, sie zu besitzen: alles andere Verlangen in mir war erstorben.« – »Und daraus folgt für mich?« – »Daraus folgt für Dich: heirate, wenn Du denselben starken Trieb in Dir fühlst; oder vielmehr, denn ich drücke mich hier falsch aus: daraus folgt für Dich, daß Du aus eigenem Triebe, ohne fremden Rat und Zuspruch, heiraten wirst . . . und daß Du so glücklich werden wirst wie ich es war, bevor mir Deine Mutter durch den Tod entrissen wurde.«

Er schwieg, und ich auch. Es gäbe für mich, wollte ich diese Worte meines Vaters meinem Naturell anpassen, keinen Trost! Ganz ohne Zweifel gehört Anielka meine Liebe; aber ihr gehört meine Liebe doch nicht in solchem Maße, daß mir alle Ueberlegung abgeschnitten wäre. Indessen halte ich das für kein schlechtes Zeichen: ich gehöre eben einer Generation an, die in der Erkenntnis einfach um eine Stufe weiter geschritten ist . . . es leben nun einmal in mir die beiden Wesen, die ich als Akteur und als Zuschauer bezeichnen möchte: zuweilen erringt der erstere nicht den Beifall des anderen; momentan aber sind sie beide miteinander zufrieden . . .

Der Vater begann die Unterhaltung vorerst wieder. »Sag' mir doch, wie sie aussieht,« sagte er. Ich halte eine mündliche Beschreibung für die mangelhafteste Art der Porträtierkunst. Drum reichte ich, ohne zu sprechen, dem Vater eine große Photographie von Anielka. Er studierte sie mit hohem Interesse. Ich sah sogleich nicht bloß den Künstler in ihm aufwachen, sondern auch den einstigen Frauenkenner und Frauenverehrer: »Leo, den Unbezwinglichen« . . . Als er die Photographie eine Weile, bald aus der Nähe, bald aus der Ferne, betrachtet hatte, sagte er: »Bis auf gewisse kleine Abweichungen fast ein Gesicht in Ary Scheffers Manier! ständen ihr Tränen in den Augen, so müßte sie himmlisch aussehen! es gibt ja Männer, die diesen engelhaften Ausdruck bei der Frau nicht goutieren; aber ich meine, einen herrlicheren Sieg kann kein Mann erringen, als einen Engel zum Weibe zu wandeln . . . Anielka ist hübsch, sehr hübsch, und apart . . . enfin, tout ce qu'il y a de plus beau au monde, c'est la femme.« Noch einmal betrachtete der Vater das Bild durch seine Lupe. Dann sagte er: »Man gewinnt, wenn man ein Gesicht nach dem Gesichtsausdruck, besonders nach einer Photographie beurteilt, leicht eine irrige Meinung; aber ich habe ein geübtes Auge, und meine sagen zu dürfen, dieses Mädchen ist eine Person von höchster Loyalität . . . sie zeigt jenen Typus der Frau, der auf Gefiederreinheit hält . . . Junge, Gott mache Dich glücklich! Deine Anielka gefällt mir ausnehmend . . . Ich hatte immer die Furcht, Du werdest doch noch eine Ausländerin heimführen . . . Anielka ist mir lieber.«

Dann legte er, als ich mich zu ihm hinüber neigte, den rechten Arm um meinen Nacken, zog mich an sich und sagte: »Junge, was gäbe ich drum, könnt ich so noch eine Schwiegertochter an mein Herz schließen!« Ich beteuerte ihm, daß das so lange nicht mehr dauern solle, und nun diskutierten wir den Gedanken, Anielka mit ihrer Mutter und mit der Tante nach Rom zu bitten . . . Was hinderte mich, meine Werbung brieflich zu erledigen? die Erkrankung meines Vaters rechtfertigte solches Anliegen . . . und dann konnte ja die Trauung schon in allernächster Zeit hier in Rom vor sich gehen . . . Bei dem Vater fand dieser Gedanke sehr freundliche Aufnahme: alte Leute und Kranke haben ja immer gern Leben und Bewegung um sich. Dass auch Anielka über den Plan sich freuen werde, wußte ich. Freilich verhehlte ich mir nicht, daß mir solcher rasche Entschluss einigermaßen wider den Strich ging; aber anderseits war mir das Bewusstsein, solcher Energie fähig zu sein, in gewissem Sinne eine Freude: und so sah ich mich im Geiste schon als Cicerone des geliebten Weibes durch all die wunderbaren Altertümer der ewigen Roma . . . Welche Wonne solche Aussicht bereitet, kann bloß ermessen, wer in dieser erhabenen Umgebung lebt!

Die Unterhaltung wurde durch den Eintritt eines Ehepaares unterbrochen, das den Vater täglich zu besuchen pflegt . . .

Herr Davis ist ein englischer Jude, seine Frau die Tochter eines italienischen Adelsgeschlechts. Er sieht aus, als käme er eben, noch ungeheilt, aus einer Kaltwasserkur zurück, jammervoll, ganz entkräftet, von Gehirnerweichung bedroht. Sie hat eine Gestalt wie eine griechische Statue – nur sind ihre Brauen zusammengewachsen. Schon vor einem Jahre habe ich ihr übrigens die Cour geschnitten, doch kam beiderseits nichts dabei heraus. Mein Vater schwärmt für sie, ihre ungewöhnliche Schönheit imponiert ihm als Künstler, ihr Geist imponiert ihm als Denker. Er läßt sich mit ihr in endlose Erörterungen über die Probleme des Lebens ein, aber ich nehme selten daran teil, denn ich zweifle daran, daß Frau Davis es mit ihrem Philosophieren ehrlich meint.

Auch heute waren sie beide bald in ein Gespräch vertieft, das sich zu einer Analyse der menschlichen Gefühle gestaltete, wo Frau Davis sehr Zutreffendes äußerte. Nachher gingen wir in unsere Gärten. Der Frühling steht schon in voller Pracht. Warm wie im Juli sind die Nächte, heiß sind die Tage. Es ist hier doch anders als bei uns in Ploshow. Frau Davis erschien mir in ihrer ruhenden Haltung, vom Glanze des Vollmonds übergossen, wie ein hellenisches Traumbild. Auch sie überließ sich der Wonne dieser schönen Nacht in Rom; ihre Stimme war so sanft und leise, wie ich sie noch nie gehört hatte. Mir erschien sie so schön in dieser monderhellten Stille, in dieser vom Duft der Magnolien erfüllten Atmosphäre, daß ich diesem Zauber wohl kaum hätte widerstehen können – hätte nicht Anielka mein Herz besessen. Sie sagte übrigens Dinge, die man aus dem Munde einer Frau wohl kaum zu hören erwartet hätte.

10. März.

Ebenso, wie in bläulichem Nebel unserem Auge sich Berge und Türme verlieren können – so gibt es wohl auch eine Art seelischen Nebels, in dem die Gestalten von teuren Personen, von geliebtesten Wesen, wenn wir ihnen fern sind, immer mehr verschwimmen und schließlich nur noch wesenlose Schatten für uns sind. Ich liebe Anielka gewiß noch ebenso innig wie zuvor – aber sie steht mir nicht mehr ganz so leibhaftig vor der Seele wie in Ploshow. Es knüpft mich kein fühlbarer Begriff an sie – sie ist für mich mehr ein Geist, an den ich liebend denke, und weniger ein Weib, das ich liebend begehre. Ist nun dadurch eine Verminderung unserer Beziehungen eingetreten? doch wohl eher eine Besserung – denn ein Weib, das ich liebend begehre, könnte für mich sogar Frau Davis sein. Aber wenn mir jetzt immer das Bild dieser Frau vor Augen steht, so hat das nichts zu sagen und wird vorübergehen, denn wenn ich diese beiden Frauen gegeneinander halte, fällt der Vergleich eigentlich zu Gunsten meiner Anielka aus. Trotzdem aber habe ich die Geliebte in einer Ungewißheit gelassen, die ihr gewiß Schmerz bereitet. Heute hat mein Vater an die Tante geschrieben, um ihr mitzuteilen, daß er sich sehr wohl fühle. Da habe ich ein paar Worte hinzugefügt, aber es hat mich fast Ueberwindung gekostet, Anielka und die Mutter grüßen zu lassen. Ich habe mich nicht einmal soweit aufraffen können, ihr den Trost zu geben, daß in Bälde ein ausführlicher Brief von mir folgen werde. Das war mir einfach nicht möglich. Es ist heute eben Ebbe in meiner Seele. Zweifel am Leben und Ueberdruß an allem martern mich wieder. Der Gedanke, ich dürfe Anielka nur dann heiraten, wenn mein Gewissen sich vollständig darüber klar ist, daß diese Heirat auch für beide Teile ein Glück sein wird – dieser Gedanke drängt sich mir immer wieder auf. Es mag ihr Schmerz bereiten, daß ich sie so in Ungewißheit lasse – ja doch! aber mir macht diese Ungewißheit noch größere Qual, um so größere, je inniger ich sie liebe.

11. März.

Liebe ist stärker als der Tod, aber sie schützt nur die Gattung vorm Tode. Was hilft es mir, dem Individuum, daß die Gattung fortbesteht, wenn doch ich trotz all meiner Liebe und mit all meiner Liebe unerbittlich untergehen muß! Dieser Mechanismus, daß ein Gefühl, dessen doch nur das Individuum fähig ist, allein der Gattung zu gute kommen kann, ist eigentlich nichts als eine raffinierte Marter. Wir fühlen in unserem Innern die Regungen einer unsterblichen Macht und müssen selber doch sterben. Kann es ein tieferes Elend geben! Denn die Gattung ist nur ein allgemeiner Begriff – das Individuum allein existiert. Im Vergleich zur Persönlichkeit ist die Gattung ein Nichts!

Ich höre immer wieder Sniatynski sagen: »Deine Talente und Deine 35 Jahre hast Du mit Deinem Philosophieren tatsächlich völlig verpfuscht, philosophiere Dich nicht auch noch um Dein Lebensglück!«

Ich weiß ja, das Grübeln führt zu nichts und ist verderblich – aber ich kann es nicht lassen – ich kann es nicht lassen!

13. März.

Mit dem grauenden Morgen ist mein Vater gestorben. Kaum 24 Stunden war er krank.

22. März, Pegli, Villa Laura.

Der Tod ist wie eine tiefe Schlucht. Wir fallen alle einmal hinein, das wissen wir, und doch, wer am Rande zurückbleibt und eine geliebte Person im Abgrund hat verschwinden sehen, dem bricht das Herz. Entsetzen und Verzweiflung ergreifen ihn. Hier ist allem Vernünfteln eine Grenze gesteckt – und man möchte nur noch um Hilfe schreien – und Hilfe kann doch niemand bringen. Hier kann nur der Glaube Trost spenden. Wem aber dieses Licht nicht leuchtet, der versinkt in die Nacht des Wahnsinns. Es ist ja ganz unmöglich, denke ich immer wieder – es kann mit dem Tode nicht völlig alles aus sein – und doch fühle ich es immer wieder, es ist so und nicht anders.

23. März.

Während mein Vater im Sterben lag, lebten zwei Wesen in meiner Brust: der liebende Sohn, der sich vor Schmerz den Finger zerbiß, um nicht laut zu schluchzen, und der Grübler, der die Psychologie des Todeskampfes studierte. Diese Erinnerung ist mir jetzt eine Marter. Meine unglückselige gespaltene Natur macht mich unsäglich elend.

Mein Vater ist bei vollem Bewußtsein gestorben. Als er sich ein wenig unwohl fühlte, ließ er den Arzt holen. Der verschrieb ihm eine Medizin, über die mein Vater sich sofort mit ihm zankte, weil sie seiner Meinung nach die Sache nur verschlimmern könnte. Der Arzt versicherte mir, mein Vater könnte noch zehn Jahre leben, eine unmittelbare Gefahr sei nicht vorhanden. Er wollte auch meinen Vater damit trösten, aber der winkte verächtlich mit der Hand. »Das wird sich ja zeigen,« sagte er. Indessen hatte mein Vater von jeher sehr wenig von der medizinischen Wissenschaft gehalten, und ich machte mir über seine Zweifel an den Worten des Arztes daher weiter keine Gedanken. Um zehn Uhr aber – wir saßen gerade beim Tee – fuhr er plötzlich auf und rief mich rasch zu sich. Eine Stunde später trat schon der Todeskampf ein.

24. März.

Mein Vater starb als gläubiger, reuiger Christ. Als ihm das heilige Sakrament gereicht wurde, sah er aus wie ein Heiliger. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. So ruhig werde ich wohl nicht sterben können, denn die Pfeiler, auf denen ich den Bau meines Lebens gegründet habe, sind nicht so fest, daß sie im Tode noch aushalten dürften.

Die Macht dieses Glaubens geht noch über die Liebe – denn sie trotzt dem Tode noch in dem Momente, wo er das Leben auslöscht. Was ist dagegen meine Skepsis? Nach der letzten Oelung überkam meinen Vater tiefe Wehmut – er ergriff meine Hand, als wollte er sich so noch am Leben festhalten. Doch geschah dies nicht aus Angst, denn er hegte gar keine Furcht vor dem Tode. Die Augen, die er fest auf mich gerichtet hielt, wurden nach einer Weile trübe. Schweiß trat ihm auf die Stirn, er wurde blässer – schnappte noch ein paarmal nach Luft – seufzte ein letztes Mal tief auf – und war dahin.

Das ganze Zeremoniell einer Beerdigung ist mir ein Greuel, der kalte finstere Hauch des Todes weht uns aus allem entgegen. In Santa Maria Maggiore sah ich die edlen Züge des Toten zum letzten Male. Dann bewegte sich der Zug nach dem Campo Santo, dessen weiße Marmorgräber im Lichte der frühen Lenzessonne strahlten. Eine große Menge gab der Leiche das Geleit, denn mein Vater erfreute sich infolge seiner Wohltätigkeit in Rom einer ebenso großen Beliebtheit wie meine Tante in Warschau. Aber die Italiener machen aus allem ein Schaustück, und so war mir diese ganze Menge widerlich. Ich glaube übrigens, auch der gebildete Mann, wenn er zum Begräbnis geht, ist nicht ganz frei von einer gewissen unwillkürlichen Genugtuung, daß nicht er, sondern ein anderer es ist, den man beerdigt – soweit versteigt sich der menschliche Egoismus.

Infolge meines Telegramms ist die Tante zur Bestattung gekommen. Als gläubige Seele ertrug sie den Schicksalsschlag weit besser als ich. Freilich weinte sie heiße Tränen, aber ihre Gewißheit eines Wiedersehens im Himmel verhütete eine tiefere Störung ihres inneren Friedens. Von Anielka sagte sie mir nichts. Sie forderte mich nur auf, nach Ploshow zurückzukehren, wo ich innige Teilnahme und warmen Trost finden würde. Dort würde ich mich gewiß nicht so verwaist fühlen. Aber ich vermutete dahinter nur die Absicht, mich zu verheiraten, und angesichts des Grabes erschienen mir derartige Gedanken unpassend. Ich wies ihr Ansinnen daher schroff von mir. Drei Tage nach dem Begräbnis reiste meine Tante wieder ab, und ich ging nicht mit ihr. Statt dessen folgte ich Herrn Davis in sein Landhaus nach Pegli. Hier befinde ich mich nun seit einigen Tagen. Wie es sich mit der Aufrichtigkeit dieser Frau Davis verhält, damit will ich mich gar nicht befassen, aber keine Schwester könnte sich meiner teilnahmsvoller annehmen, als sie es tut. Ihre Güte geht über das alltägliche Maß weit hinaus.

26. März.

Von meinem Fenster aus sehe ich auf den blauen Spiegel des mittelländischen Meeres. Die Segel der Schifferbarken leuchten in der Ferne, der Dampfer, der den Verkehr zwischen Marseille und Genua unterhält, kommt täglich vorüber, eine dunkle Rauchwolke hinter sich herschleppend. Wie köstlich ruht es sich hier! Die Riviera ist eine Glanzleistung der Schöpfung. Was mag jetzt wohl für ein gräßliches Wetter in Ploshow herrschen! Da treibt der Wind Schneegraupen vor sich her, gelegentlich huscht ein Streifen Sonne durch die winterliche Nebelluft. Hier aber ist der Himmel hell und klar – lauer Wind liebkost meine Stirn – der Duft von Heliotropen und Rosen ist um mich her – und das Haus, wo ich mich befinde, hat die geschmackvolle Frau Davis mit Hilfe der Millionen ihres Mannes zu einem Märchenpalast ausgestaltet.

Seit Frau Davis gemerkt hat, daß die Musik meinen aufgeregten Nerven wohl tut, spielt sie oft bis in die späte Nacht hinein. So sitze ich in meinem Zimmer – ich schaue hinaus auf die stille Flut, über der der Silberschein des Mondes schlummert – und es ist, als ob diese liebliche Musik von den Wogen ausginge. Ich lausche – seliges Vergessen überkommt mich – ich versinke in einen Halbschlummer, der mich all meine Schmerzen vergessen läßt.

30. März.

Aber manchmal wird alle Pein in mir wieder lebendig, die eben doch entschlummert zu sein schien, und dann treibt es mich weg von hier.

31. März, Villa Laura.

Vor kurzem noch waren alle meine Geisteskräfte angespannt wie eine Bogensehne – jetzt sind sie erschlafft, teils durch den Schmerz über den Tod meines Vaters, der eine Spaltung in meinem Innern hervorgerufen hat, teils durch den Einfluss dieses lauen Klimas. Ich vegetiere – ich ruhe wie ein Mensch, der eine wilde Hetzjagd hinter sich hat. Ich bin müde, wie nach einem warmen Bade. Ich war noch nie so ganz außerstande, etwas zu unternehmen. Mein Losungswort ist jetzt: »Weckt mich nicht auf!«

Es macht mir Mühe zu denken, wie weit ich von dem Ploshowski entfernt bin, dessen Herz Anielka angehörte. Angehörte? Warum denn eigentlich? weil meine Lippen einmal flüchtig, kaum merklich ihre Stirn berührt haben – dafür sind wir nahe Verwandte, und diese Zärtlichkeit bleibt gewissermaßen in der Familie. Lächerlich ist es, solche Bedenken zu hegen. Da hatte ich mich doch bei anderen schon viel weiter eingelassen und habe mich doch wieder freigemacht, ohne Gewissensbisse zu empfinden. Ich betrüge mich selber nie und gebe daher ohne weiteres zu, damals hatte ich das wohl anders gemeint – aber mag es kommen, wie es wolle – einen solchen kleinen Nadelstich im Gewissen nehme ich noch in Kauf. Ganz andere Verbrechen geschehen täglich in der Welt, solch eine kleine Täuschung hat überhaupt gar nichts zu sagen. Ich will auch gar nicht in die Zukunft schauen. Nur Ruhe will ich vorläufig haben. Weckt mich nicht auf!

Im April, wenn die Hitze hier zu arg wird, wollen wir in die Schweiz reisen. Frau Davis wird ihren Mann in einer Heilanstalt unterbringen müssen. Es zeigen sich Spuren geistiger Zerrüttung. Das wüste Leben und das Morphium haben ihn soweit gebracht.

2. April.

Gestern war Sturm, der jedoch schnell vorüberzog. Dennoch standen wir von unserer gewohnten Fahrt auf die See ab, weil die Wellen noch immer sehr hoch gingen. Wir saßen auf dem Balkon, den ein Glasdach schützte, und blickten in den Aufruhr der Elemente – hin und wieder begegneten sich unsere Blicke. Wozu sollten wir uns denn selbst belügen? Es entspinnt sich etwas zwischen uns. Noch ist kein Wort gefallen, das über die freundschaftlichen Beziehungen hinausgegangen wäre. Noch ist kein Geständnis ausgetauscht worden – denn wenn wir über alltägliche Dinge sprechen, verbergen wir nur, was uns doch beide bedrückt. Was es ist, das will keiner aussprechen, und doch ist es immer zwischen uns und steckt hinter allem, was wir sagen und beginnen. Es ist um uns wie unser Schatten.

Die Einladung, in die Villa Davis zu ziehen, nahm ich an, weil Frau Davis mit meinem Vater befreundet gewesen war und weil in der Tat in ganz Rom mir niemand innigere Teilnahme bekundete. So lebhaft nun auch der Schmerz über den Verlust des Vaters war, so hatte ich doch neben ihm auch schon das Bewußtsein, daß sich mein Verhältnis zu dieser Frau wohl anders gestalten werde. Ich war empört über mich selbst, daß schon am Tage nach dem Tode meines Vaters ich solcher Gedanken fähig war – aber ich stellte diese Betrachtung an, und was ich damals als möglich empfand, das vollzieht sich jetzt einfach. Ich müßte auch sehr naiv sein, wenn ich glauben wollte, sie sei sich darüber nicht auch völlig klar. Ja, sie hat die Sache vielleicht von Anfang an viel sicherer vorausgesehen und alles am Ende gar nur darauf angelegt. Mit festem Vorsatz und kühler Berechnung hat die Jägerin ihre Netze gestellt und fängt nun das Wild. Aber was verliere ich dabei? Wie jeder Mann bin ich ein gefährliches Wild, das sich wohl jagen läßt, aber im geeigneten Augenblick doch immer die Jägerin überfällt. Frau Davis liebt mich nicht, und ich liebe sie nicht, das weiß ich sehr wohl. Dennoch fühlen wir uns zu einander hingezogen durch unsere Freude am Künstlerischen und durch die Sinnlichkeit zweier heidnischer Naturen, wobei auf ihrer Seite auch noch Eifersucht mitwirkt.

Wenn es mich zu ihr hinzieht, so ist dabei keine Rede von irgendwelcher zärtlichen Neigung. Bei mir ist es nichts als Entzücken über eine Meisterschöpfung der Natur und der Trieb, der jeden Mann erfaßt, wenn diese Meisterschöpfung zufällig gerade ein Weib ist. Und dieses Weib ist so schön, wie es sich die blühendste, üppigste Phantasie nur ausmalen kann. Nur ihre zusammengewachsenen Augen erinnern einen daran, daß man ein lebendes Weib und keine Statue einer Phryne vor sich hat. Wenn sie sich mit ihren Haaren zu schaffen macht, dann faßt sie mit beiden Händen an den Hinterkopf – nun hebt sich die Brust, die Schultern wölben sich, die ganze Gestalt reckt sich – und man muß in der Tat alle Kraft zusammenraffen, um sie nicht an sich zu pressen und sie hinwegzutragen, wo kein Mensch sie einem mehr streitig machen könnte. Und wenn ich mir vorstelle, daß sich zwischen mir und dieser wandelnden Juno ein Verhältnis anbahnt, so schließe ich die Augen, die Sinne drohen mir zu schwinden, und ich frage mich, ob mir denn überhaupt etwas Köstlicheres auf der Welt beschert werden könnte?

3. April.

Sie erzeigt mir nach wie vor alle Güte, alle Teilnahme, aber diese Güte kommt mir vor wie Mondlicht – sie leuchtet wohl, aber sie wärmt nicht. Das sagt freilich wieder der Skeptiker in mir – aber ich lasse mich nie soweit von meinen Gefühlen hinreißen, daß mich mein Scharfblick im Stiche ließe. Und wenn diese Göttin ein gutes Herz hätte, dann müßte sie gegen alle gut sein. Die Behandlung aber, die sie ihrem Manne erweist, zeigt mir deutlich, was ich von ihrem Herzen zu halten habe. Für sein Elend hat sie kein Erbarmen, sie tut, als sei er gar nicht vorhanden. Und wahrhaft zu bedauern ist dieser Mann, der in Millionen wühlen kann und in einem wahren Paradiese lebt! Aber so sehr er auch gegen alles abgestumpft ist: wenn man ihm Güte erzeigt, so ist er doch noch erkenntlich dafür. Das sehe ich daran, daß er mir dankbar ist, weil ich doch wenigstens ab und zu über seinen Gesundheitszustand mit ihm ein paar Worte spreche. Wenn ich sein leichenblasses Gesicht sehe, das so zusammengeschrumpft ist, daß es kaum größer ist wie meine Faust, wenn ich seine dürren Beine sehe, seine winzige Gestalt, die sich bei der größten Hitze fröstelnd in ein Tuch hüllt, dann tut er mir wirklich leid. Aber ich will mich nicht beschönigen – sobald es sich um ein Weib dreht, hat der Mann mit seinesgleichen kein Erbarmen, und auch mich hält dieses Mitleid mit dem Manne von nichts ab.

12. April.

Zehn Tage ist es her, daß ich das letzte geschrieben habe. Vor einer Woche ist es geschehen. Von vornherein dachte ich mir, daß es auf dem See geschehen würde. Ich freue mich jetzt, daß ich ein gewandter Segler bin, denn so konnten wir ohne Begleitung ausfahren. Eine flott aufspringende Brise trieb uns rasch vom Ufer weg, legte sich jedoch bald, und unser Segel hing schlaff am Maste. Obwohl es schon Nachmittag war, herrschte eine erdrückende Hitze. Laura streckte sich auf die Matte nieder, die den Boden des Kahnes bedeckte, und lag regungslos. Wonneschauer ergriffen mich beim Anblick dieses liegenden Weibes, dessen klassische Formen unter einem luftigen Gewande deutlich hervortraten – aber eine große Trägheit hielt mich gefangen, die sie mit mir zu teilen schien, denn sie lag mit halbgeschlossenen Augen, halbgeöffneten Lippen wie ohne Besinnung da. »Sieh doch, wie schwach ich bin!« schien sie mir zuzuflüstern . . .

15. April.

Wir reisen nicht nach der Schweiz. Frau Davis fürchtet sich nicht vor der Sonne, und Herrn Davis tut sie wohl. Mir ist es einerlei, ob ich in der Schweiz bin oder hier. Wenn ich mir vorstelle, daß dieses herrliche menschliche Tier, Laura, mein eigen ist, mein eigen sein wird, solange es mir beliebt – so erfaßt mich zugleich das Entzücken des Mannes und des Bewunderers alles Schönen – und doch vermisse ich etwas, doch bedrückt mich etwas. Ich weiß: was ich mein nenne, ist etwas in seiner Art Vollendetes, aber diese vollendete Marmorgöttin, die auf dem Altar meiner Sinne steht, wirft einen dunklen Schatten in den Dom meiner Seele.

17. April.

Als ich heute zu Lauras Füßen saß, meinen Kopf auf ihrem Schoße, kam Davis dazu. Sein leichenblasses Gesicht und seine lichtlosen Augen blieben teilnahmlos bei diesem Anblick, und kein anderer Ausdruck war auf seinem Gesicht als der stereotype Ausdruck tiefer Niedergeschlagenheit, der ihn nie verläßt. Wie ein Gespenst schlich er auf seinen weichen Pantoffeln vorüber und verschwand in der Bibliothek. Ich wartete, denn ich dachte, er würde vielleicht mit einem Revolver wiederkommen. In diesem Fall hätte ich ihn gepackt und einfach zum Fenster hinausgeworfen mitsamt seinem Revolver. Aber er kam nicht, und ich weiß nicht, ob er in der Bibliothek vor Kummer über sein Unglück geweint hat oder ob es ihn ganz kalt ließ. Als wir uns nachher beim Frühstück trafen, war es jedenfalls, als sei gar nichts vorgefallen. Und vielleicht war es Einbildung von mir, wenn es mir so vorkam, als werfe Laura ihm drohende Blicke zu. Ich muß gestehen, jeder andere Ausgang der Sache wäre mir lieber gewesen; sein bedrücktes Gesicht verfolgt mich noch heute wie eine stumme Klage. Mir war zu Mute, als wenn ich einen Gelähmten mißhandelt hätte, und Widerwillen gegen mich selber ergriff mich.

Wie immer, fuhren wir aufs Meer hinaus, aber heute zum ersten Male haben wir uns gezankt. Ich sagte ihr, was mir für Bedenken gekommen seien, da lachte sie laut auf – und da habe ich ihr ins Gesicht gesagt: »Dieses Lachen macht Dich häßlich. Vergiß nicht, Du kannst Dir alles erlauben – nur nichts, was Dich häßlich macht.«

Sie runzelte die zusammengewachsenen Brauen.

»Freilich!« entgegnete sie. »Nach dem, was zwischen uns vorgefallen ist, kannst Du es wagen, mich zu beleidigen.«

Da mußte ich sie natürlich um Verzeihung bitten, und wir waren schnell wieder miteinander gut.

Darauf erzählte sie mir ihre Geschichte. Alle Frauen, die ich gekannt habe, fühlten in einer gewissen Lage das Bedürfnis, mir zu erzählen, wie es ihnen im Leben ergangen sei. Dabei haben sie durchweg ein wenig gelogen, um ihre Person dabei in ein möglichst günstiges Licht zu setzen. Ich rufe alle Männer zu Zeugen an und sie werden mir bestätigen, daß diese Geschichten von der verführten Unschuld alle über einen Kamm geschoren und daher entsetzlich abgedroschen sind. Frau Davis gab mir hier jedoch einen neuen Beweis ihres Scharfsinnes, denn sie hielt ihren Bericht durchaus in künstlerisch maßvollen Grenzen und erzählte mit einer Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, die an Frechheit grenzte. Herrn Davis hatte sie nicht bloß seiner Millionen wegen geheiratet, sondern um sich mit Hilfe seines Reichtums ihr Leben nach ihren künstlerischen Begriffen gestalten und ausschmücken zu können. Verpflichtungen behauptete sie gar keine gegen ihn zu haben, denn sie hätte ihm alles vorhergesagt, und nun brauche sie ebensowenig Rücksicht auf ihn zu nehmen, als wenn er schon tot wäre. Ueberhaupt sei für sie alles, was sich mit der Schönheit und dem Schmucke des Lebens nicht vereinbaren ließe, einfach nicht vorhanden. Gesellschaftliche Formen ignoriere sie, und ich wäre sehr im Irrtum, wenn ich anders von ihr dächte.

Es war mir eine Genugtuung, als ihre Ausführungen mir bewiesen, daß ich dieses Weib richtig taxiert hatte, und doch lag in ihren Worten auch etwas, das mir ganz neu war. Soviel ich auch von ihrem Verstande gehalten hatte, so war ich doch der Meinung gewesen, sie handle aus natürlichem Triebe. Dass sie soweit ging, zur Rechtfertigung dieses Naturtriebes ein vollständiges System auszuklügeln: das hatte ich nicht erwartet. Das flößte mir eine noch höhere Meinung von ihr ein, denn ich sah, daß sie ihren Grundsätzen treu geblieben war, die eben Grundsätze waren, mochten sie noch so schlecht sein.

Ich hatte sie auch im Verdacht gehabt, daß sie erwartete, nach dem Tode ihres Mannes von mir geheiratet zu werden. Aber sie bekehrte mich eines anderen. Sie sagte, wenn ich ihr die Ehe anbieten würde, so könnte sie freilich nicht widerstehen, denn sie liebe mich weit mehr, als ich ahnte (dabei färbten sich tatsächlich Gesicht und Nacken tiefrot) – aber sie erwarte das nicht, sondern wisse im Gegenteil von vornherein, daß ich ihrer bald überdrüssig sein würde.

»Was tut das?« sagte sie. »Ich tauche die Finger ins Wasser – ich fühle die erfrischende Kühle – soll ich auf dieses Gefühl verzichten, bloß weil ich vorher genau weiß, an der Sonne wird die kühle Nässe verfliegen?«

Dabei spielte sie mit den Händen im Wasser und reichte mir dann die nassen Finger, durch die die Sonne rosig schimmerte. Ich ergriff diese nassen Hände, und meine Gebärde verstehend und ergänzend, sagte sie leise und liebkosend: »Komm!«

20. April.

Gestern habe ich Laura den ganzen Tag nicht gesehen, sie hat sich erkältet, und hat nun Zahnschmerzen. Wie langweilig ist es! Heute nach dem Frühstück gelang es mir endlich, in ihr Boudoir zu gelangen. Darüber war sie ein wenig böse, denn ihr Gesicht ist etwas geschwollen, und in diesem Zustande wollte sie sich nicht sehen lassen. Die Geschwulst war kaum merklich, aber die Augen waren ein wenig gerötet und die Lider ein wenig dick, und so war – wenn auch nur eine Kleinigkeit – der überaus regelmäßige Schnitt ihres Gesichtes gestört, und darunter litt ihre Schönheit. Ich ließ mir natürlich nichts merken, aber Laura war sehr unruhig, wie wenn sie kein reines Gewissen hätte. Wenn man nun auch die Schönheit an sich zu einem religiösen Kult erheben kann – so muß doch der Kult der eigenen, persönlichen Schönheit einen unglücklich machen. Denn was ist die Religion wert, die vor einer Geschwulst an der Wange, vor einem Pünktchen auf der Nase nicht standhält?

25. April.

Nun müssen wir doch noch in die Schweiz. Es wird zu heiß hier. Der heiße Sirocco, der jetzt oft weht, ist für Herrn Davis das reine Gift. Da der Arzt jetzt scharf darauf aufpaßt, daß er sich kein Morphium einspritzt, so schwankt der Mann jetzt zwischen höchster Aufregung und völliger Apathie hin und her. Trotzdem aber scheint er sich beständig vor mir und Laura zu fürchten. Am Ende leidet dieser Halbirrsinnige schon an Verfolgungswahn und bildet sich ein, wir könnten ihn ums Leben bringen. Dieser Davis ist der dunkelste Punkt in der Rolle, die ich jetzt spiele. Ich sage: der dunkelste, denn ich weiß sehr wohl, daß es hierbei noch mehrere dunkle Punkte gibt. Ich weiß sehr wohl, daß dieses träge Dasein mich ganz erschlafft, und daß ich in den Armen dieser Frau von Stufe zu Stufe sinke. Mir widerte vor mir selber, und ich machte mir die bittersten Vorwürfe, daß ich so rasch nach meines Vaters Tode schon mich einem solchen Sinnentaumel überlassen konnte. Aber jetzt läßt es mich kalt – ich erinnere mich wohl noch meiner Gewissensbisse – aber ich verspüre sie gar nicht mehr.

Ich suche Anielka zu vergessen. Bald sage ich mir, ich sei ihrer nicht wert, bald bilde ich mir ein, ich hätte mich bei ihr lächerlich gemacht, denn sie sei ja doch auch nicht mehr als ein Dutzend anderer Mädchen. Ich denke nicht gerne daran, wie ich mich in Ploshow benommen habe. Bis zu einem gewissen Grade geht mir das Gefühl für den Unterschied zwischen Gut und Böse abhanden, ja ich fange an, diesen Unterschied zu ignorieren.

Auch noch eine andere Aenderung gewahre ich an mir. Was zuerst empfindlich gegen mein Ehrgefühl ging, daran habe ich mich jetzt gewöhnt: ich mißhandle den Gelähmten in aller Seelenruhe. Seit kurzem fällt mir auf, daß ich mir Verschiedenes herausnehme, was ich wohl kaum wagen würde, wenn Davis Kräfte hätte und seine Ehre und seinen Besitz verteidigen könnte. Wir machen uns schon nicht mehr die Mühe, auf die See zu fahren . . . Daß mein Ehrgefühl so abgebrüht werden könnte, hätte ich nie für möglich gehalten. Ich habe manchmal die Empfindung, als sei meine schwarzhaarige Göttin weniger eine Juno als vielmehr eine Circe, die den Menschen, der mit ihr in Berührung kommt, in – wie drücke ich mich möglichst mythologisch aus? – in eine jener Wesen verwandelt, die Eumäos gehütet hat. Die Antwort, die ich auf die Frage: Wie geht das zu? zu erteilen habe, wirft viele meiner früheren Ansichten über den Haufen. Wir lieben nur die weiche Haut – nicht das Gemüt. Die Bezeichnung Liebe paßt überhaupt nicht für unsere Empfindungen. Zwischen uns ist nur von sinnlichem Begehren die Rede, mit Herzensneigung hat das gar nichts zu schaffen. Wir sind bis zum Stall des Eumäos hinabgestiegen. Doch rein geistige Liebe mag ja wohl ein Phantom sein, nur wird die Liebe eben immer, wenn man sie des Geistigen entkleidet, auf eine Erniedrigung hinauslaufen.

30. April.

Gestern erhielt ich unvermutet einen Brief von meiner Tante, der zwei Wochen lang in der Casa Osoria liegen geblieben ist. Meine Tante war der Meinung, ich sei in Korfu gewesen, jetzt aber wieder zurückgekehrt, und schrieb mir:

»Unruhig und sehnsüchtig warten wir auf Nachricht von Dir. Ich bin nun bei meinem Alter recht standfest, so daß mich nicht gleich jeder Windstoß umwirft. Aber wie Anielka aussieht, das kann einen jammern. Sie hat auf einen Brief von Dir gewartet und grämt sich nun, daß keiner gekommen ist. Nun ist Deines Vaters Tod dazwischen gekommen, und immer wieder habe ich sie damit vertröstet, nach diesem schweren Verlust hättest Du für nichts anderes Sinn, aber nach einiger Zeit würdest Du schon wieder zu ihr zurückkehren. Aber als nun wieder ein ganzer Monat verstrichen war, ohne daß Du etwas von Dir hattest hören lassen, da wurde sie wieder unruhig. Nun habe ich mehrmals nach Korfu postlagernd geschrieben, wie wir besprochen hatten, aber es erfolgte keine Antwort. Da versuche ich denn mein Heil, indem ich an Deine alte Adresse nach Rom mein Schreiben richte. Denn die Befürchtung, Du seiest krank, läßt uns gar keine Ruhe. Schreibe doch wenigstens ein paar Worte – und, lieber Leon, raffe Dich aus dieser völligen Untätigkeit auf und werde wieder, wie Du früher warest. Ich will Dir auch sagen, Anielka grämt sich zum Teil auch deshalb, weil irgendwer ihrer Mutter hinterbracht hat, Du seiest in der ganzen Welt als Don Juan verschrieen. Das hat ihr einen Stoß gegeben, und sie sieht sehr verändert aus. Aber damit die Mutter sich nicht auch noch grämen soll, stellt sie sich immer sehr vergnügt, allein ich durchschaue diese Verstellung, und das betrübt mich alles tief. Mein guter Junge, kannst Du denn nicht ein paar Worte schreiben – das wäre doch eine Beruhigung für uns alle. Habe Mitleid mit dem Mädchen! Ich gestehe Dir offen, ich habe keinen innigeren Wunsch, als daß Ihr, wenn erst die Trauerzeit vorüber ist, ein Paar würdet. Wenn Du einer anderen Meinung bist, wäre es immerhin am besten, Du hieltest nicht damit hinterm Berge. Ich fürchte in der Tat für Anielkas Gesundheit, wenn diese Ungewißheit noch lange dauert. Auch darfst Du doch nicht vergessen, daß es sich um die Zukunft des Mädchens handelt. Kromitzki besucht die Damen jetzt sehr oft – wahrscheinlich hat er Heiratsgedanken. Weil ich ihn im Verdacht habe, derjenige zu sein, der Dich in der erwähnten Weise angeschwärzt hat, wollte ich ihn uns ohne weiteres vom Halse schaffen, aber Celina hat mich gebeten, das ja nicht zu tun. Sie ist eben ganz ratlos und rechnet gar nicht mehr darauf, daß Du Dir noch etwas aus Anielka machst. Also schreibe und löse diese Zweifel. Laß Dich segnen und ans Herz drücken von einer alten Frau, die nichts weiter als Dich auf Erden hat. Alle lassen herzlich grüßen. Der junge Chwastowski hat eine Brauerei gebaut – er hatte selber etwas Geld, und was fehlte, habe ich ihm geliehen.«

Im Anfang war mir, als wenn dieser Brief mich ganz kalt gelassen hätte. Aber bald erkannte ich, daß dem anders sei. Und von Minute zu Minute wurde der Eindruck, den dieses Schreiben auf mich machte, stärker, und nach einer Stunde schon rief ich: »Kommt mir denn dieser Brief gar nicht mehr aus dem Sinn?« Ein Meer von Gefühlen war in mir aufgeregt, eine Empfindung jagte die andere, wie Wolken, die vorm Winde herfliehen. Im ersten Drang dieser Aufregung trieb es mich, ohne Säumen hinzufahren, Anielka in die Arme zu schließen und glücklich zu machen. Ich stellte wieder einen Vergleich zwischen ihr und Laura an, bei welchem die letztere sehr schlecht wegkam. Ekel an dem Leben, das ich hier führte, erfaßte mich. Reinere Luft, Stille und Friede und vor allem lautere, keuschere Gefühle, das war's, wonach ich mich sehnte. Und ich empfand große Freude, daß es noch nicht zu spät sei, daß ich noch alles wieder gut machen konnte, wenn ich nur wollte.

Aber dann fiel mir plötzlich ein, Anielkas Mutter zweifle an mir und gebe Kromitzki den Vorzug, Da ergriff mich heftiger Zorn, der mich alle anderen Gefühle vergessen ließ. Je mehr ich mir selber sagen mußte, Celina habe ganz recht, wenn sie mich aufgebe, um so mehr zürnte ich ihr darüber, daß sie sich so etwas erlaubte. Und das Ende war, daß ich auf mich selbst und auf alle Welt wütend war, und bei mir dachte: Mag es doch meinetwegen kommen, wie es wolle!

Das war gestern. Heute habe ich erkannt, daß die Kränkung noch weit tiefer geht. Dass Anielka sich mit diesem Kromitzki überhaupt einläßt, das kann ich ihr nicht verzeihen. Es kostete sie bloß ein Wort – so würde er im ganzen Leben nicht wieder nach Ploshow kommen. Ueberhaupt hat dieser Umgang mit Kromitzki mir schon öfter den Geschmack an Anielka verdorben – sie sinkt durch diesen Verkehr zu der großen Schar der gewöhnlichen Mädchen herab, die bloß unter die Haube kommen wollen. Meine Stimmung wird immer verbitterter und gereizter – ich will gar nicht mehr daran denken.

1. Mai.

Meine Verstimmung gegen die Mutter, gegen Anielka und mich selbst ist zu einem wahren Ingrimm gestiegen. Führe ich denn hier in Pegli nicht ein ganz gemütliches Leben? Laura ist wie aus Marmor gemeißelt, und sie nimmt mich sonst gar nicht in Anspruch – denn ihre körperliche Schönheit ist alles, was sie mir bietet. Mich mit diesen sentimentalen, empfindelnden Seelen abzuplagen, wird mir zum Ueberdruß. Ich überlasse es Kromitzki.

2. Mai.

Heute habe ich einen Brief auf die Post gegeben. Ich habe darin meinen Wunsch ausgesprochen, daß Anielka mit Herrn Kromitzki und er mit ihr glücklich werden möchten. Die Tante wollte ja einen bestimmten Bescheid haben. Da hat sie ihn.

10. Mai.

Seit einer Woche habe ich nichts mehr geschrieben. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Reue martert mich. Ich kann mich nicht so gleichgültig über Anielka wegsetzen – sie war mir nie einerlei. Die eine Anielka war mir teurer als vierzigtausend solche, wie Laura ist. Und nun habe ich selbst sie von mir gestoßen. Manchmal will ich mich damit trösten, es wäre ja weit schlimmer für sie geworden, wenn sie die Meine geworden wäre – aber das ist nicht wahr. Wenn sie nur erst mein gewesen wäre, ich hätte sie auf Händen getragen. Aber sobald ich daran denke, daß sie auch an Kromitzki ein Genüge finden kann, wallt mein ganzer Zorn von neuem auf, und ich könnte denselben Brief noch einmal schreiben. Für Menschen, wie ich einer bin, gibt es nur den einen Trost: es ist geschehen. Daraufhin können sie wieder die Hände in den Schoß legen und weiter faulenzen.

Wenn ich mich dann aber frage, ob ich wohl anders gehandelt hätte, wenn in jenem Briefe nichts von Kromitzki gestanden hätte – so weiß ich in der Tat nicht, ob ich diese Frage bejahen kann. Wohl hätte ich nicht so rasch gehandelt – ob aber schließlich meine Entscheidung nicht auf dasselbe hinausgelaufen wäre – das kann ich nicht sagen. Ein schwacher Charakter will alle Wege glatt und eben vor sich sehen – nur den starken spornen Hindernisse an. Laura, die gewissermaßen wie Moschusduft alles durchdringt, hat gewiß diese Schwäche von vornherein erkannt – deshalb war sie auch gleich so willfährig gegen mich.

Was folgt nun daraus? Daß ich ein »schlapper Kerl« sei? Keineswegs! – Ich bin ein Mensch, der sich selber die Wahrheit nicht vorenthält, ich würde mir also auch das ganz ruhig selber unter die Nase reiben, aber es ist nicht der Fall. Ohne Bedenken würde ich bis an den Nordpol reisen – oder als Missionar nach Zentralafrika gehen – ich besitze hartnäckige Ausdauer und angeborenen Mut und könnte mich wohl in alle möglichen Wagnisse und Abenteuer stürzen. Aber wenn es sich darum handelt, eine Lebensfrage zu entscheiden, so lähmt der Skeptizismus die Tatkraft, mein Geist verstrickt sich in Hirngespinsten, nichts greift, dem Willen unter die Arme, und was ich dann beginne, ist zum Teil von äußeren Zufällen bestimmt und abhängig.

12. Mai.

Es kommt vor, daß man eine Person liebt, ohne daß man sie gern hat. Sniatynskis haben sich lieb und haben sich auch gleichzeitig gern, darum stehen sie so sehr gut zueinander. Auch Anielka hätte ich so gern gehabt – doch ich will gar nicht erst darauf zurückkommen. Laura habe ich nie geliebt und bin doch noch wie durch einen Zauber an sie gefesselt. Es mag wohl schon mancher in ihr schwarzes Haar, ihre statuenhafte Formen sterblich verliebt gewesen sein, aber ich bezweifle sehr, daß sie jemals schon einer gern gehabt hat. Ich habe Laura seit einiger Zeit weniger gern, als je bisher. Sie hat mir dazu gar keinen Anlaß gegeben, ich habe nur die Verstimmung, die mich bedrückt, auf ihre Person übertragen. Ohne Zweifel wirken zwei Kräfte auf mich ein: eine anziehende und eine abstoßende. Ich möchte in die Schweiz mitreisen – ich möchte aber auch nach Rom. Mein Notar hat mich aufgefordert, nach Rom zu kommen, da in Hinsicht auf das väterliche Testament noch einige Förmlichkeiten zu erledigen seien. Das läßt sich vielleicht auch ohne mich machen – aber es wäre immerhin ein Vorwand zur Reise. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde.

Es kann ja sein, der Zauber, den Laura auf meine Sinne ausübt, ist stark genug, mich von der Reise nach Rom zurückzuhalten – jedenfalls werde ich ihr morgen oder heute noch sagen, daß ich reisen muß. Wie sie das wohl aufnehmen wird? darauf bin ich wirklich neugierig. Ich kann es mir gar nicht denken. Aber ich hege bereits den Verdacht, daß sie trotz aller heißen Gefühle, die sie für mich hegt und denen übrigens die meinen nichts nachstehen, mich ebenfalls nicht gern hat. Wir haben in seelischer Beziehung manches miteinander gemein – aber in tausend Dingen sind wir auch wieder Gegensätze.

Was ich auch tun mag, ich muß immer wieder daran denken, wie mein Brief in Ploshow aufgenommen worden sein mag. Das kommt mir nicht aus dem Sinne – selbst in Lauras Gesellschaft sehe ich im Geiste immer meine Tante und Anielka vor mir. Das ist kaum noch zu ertragen . . .

Der Gedanke, daß es bald von hier weg geht, tut mir wohl. Entweder in die Schweiz oder nach Rom – nur weg! lieber irgendwo anders, nur nicht länger hier bleiben! Wir rüsten uns zur Abreise. Herr Davis ist mir seit fünf Tagen nicht mehr vor die Augen gekommen. Ich glaube, er wird binnen kurzem tatsächlich irrsinnig werden.

Rom, Casa Osoria, 18. Mai.

Einsamkeit war es, was mir not tat. Ich fühle mich hier wieder wie damals, als ich nach Pegli ging. Ich bin traurig, aber mir ist doch so wohl. Auch bin ich hier frei von dem innern Unfrieden, den Lauras Gesellschaft mir von Anfang an verursacht hat. Bei jedem Schritt, den ich in dem stillen, dunklen Hause tue, werde ich an meinen toten Vater erinnert, dessen Gestalt sich mir schon in bläulichem Nebel zu verlieren anfing. Jetzt rufen mir tausend Kleinigkeiten sein teures Andenken wach.

Diese Traurigkeit ist eine reinere Empfindung, als alle jenen Gefühle, deren Spielball ich in letzter Zeit gewesen bin. Ich fühle doch, daß ich noch nicht so verderbt bin, als ich schon selber glaubte. Ich glaube, von allen Lebewesen ist nur der Mensch imstande, gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Ich bin mir jetzt klar darüber, daß ich längst das Verlangen hatte, von Pegli wegzukommen . . . Und noch am Abend vor meiner Abreise war es fast bestimmt, daß ich noch bleiben würde. Aber Laura kam mir unvermutet zu Hilfe.

Ich hatte ihr mitgeteilt, daß mein Notar mich zu sich gebeten habe, und daß ich reisen wolle. Wir waren allein, und ich erwartete ein paar Worte des Einspruchs, einen Ausruf des Kummers – doch nichts dergleichen geschah. Sie strich mir nur durch das Haar, kehrte mein Gesicht dem ihren zu und fragte: »Aber Du wirst doch wiederkommen?«

Glaubte sie nun wirklich, daß meine Reise unaufschiebbar sei, und vertraute sie so fest auf die Macht ihrer Schönheit, daß sie an meiner Wiederkehr nicht zweifelte – oder benutzte sie mit Freuden diese Gelegenheit, sich meiner zu entledigen? Ich weiß jetzt noch nicht, was ich von ihrem Benehmen halten soll. Das letztere halte ich für das wahrscheinlichere; ich habe das Gefühl, als ob sie mit diesen Worten mir hätte sagen wollen: Nicht Du kündigst mir – sondern ich Dir. Und ich muß zugeben, wenn sie mir hiermit den Abschied hat geben wollen, so hat Laura eine wunderbare Fertigkeit, die um so erstaunlicher ist, als sie mich dabei in durchaus liebenswürdiger, ja zärtlicher Weise behandelte und mich dennoch in Ungewißheit darüber zu lassen verstand, ob sie meiner spotte oder nicht. Wir waren an jenem Abend nicht etwa kühl zueinander, sondern im Gegenteil zärtlicher als sonst. Wir gingen erst sehr spät auseinander. Noch jetzt sehe ich sie vor mir, wie sie die Hand vor das Licht hält und mich mit niedergeschlagenen Augen zur Tür begleitet. Sie war so schön, daß mich mein Vorsatz abzureisen fast gereute.

Am folgenden Tage nahm sie auf dem Bahnhofe Abschied von mir. Welch sonderbares Weib! Je größer die Entfernung zwischen uns wurde, um so leichter wurde mir zu Mute, obgleich das Sinnliche in mir von heißer Sehnsucht ergriffen wurde. Ohne Aufenthalt fuhr ich bis nach Rom. Jetzt ist mir wie einem Vogel, der aus seinem Käfig heraus ist!

22. Mai.

Von all meinen Bekannten traf ich fast niemand mehr hier. Infolge der Hitze sind sie alle in die Berge gegangen. Man sieht größtenteils nur Fremde. Die Abende sind frisch und klar, und um diese kühle Stunde wimmelt es auf den Straßen von Menschen. Auch ich verliere mich unter diesem Treiben, und das tut mir wohl. Noch nie ist mir Rom so schön erschienen. Ich entdecke täglich neue Schönheiten. Und ich kann jetzt auch wieder schlafen – es ist möglich, daß das auf Erschöpfung zurückzuführen ist – aber ich schlafe wie ein Brett und bin oft sogar noch am Morgen wie schlafsüchtig.

Am Morgen war ich mit dem Notar zusammen. Der Vater hat seine reichen Sammlungen nicht der Stadt vermacht, sondern hat mich zum Universalerben eingesetzt, so daß seine Schätze jetzt mir gehören. Von den zahlreichen Klauseln seines Vermächtnisses erfüllt mich ein Nachsatz besonders mit tiefer Rührung. Er lautet: Den Madonnenkopf (Sassoferrato) vermache ich meiner zukünftigen Schwiegertochter.

25. Mai.

Der Bildhauer Lukomski arbeitet schon seit einem Monat an der lebensgroßen Statue meines Vaters, und ich gehe des Nachmittags oft zu ihm, um zu sehen, wie er mit seiner Arbeit vorwärtskommt. Sein Atelier ist mir eine neue Welt. Lukomski ist ein talentvoller Künstler, und ich sehe ihm sehr gern zu. Die Statue meines Vaters wächst gleichsam unter seinem Händen – die Aehnlichkeit ist sehr groß. Aber es ist kein bloßes Porträt, es ist ein Kunstwerk. Wenn ein Mensch für Formenvollendung schwärmt, so ist es Lukomski. Schöne Körper sind sein Evangelium. Er betet einen schönen Menschenleib an wie ein Gläubiger sein Heiligenbild. Ich fragte ihn, welche Frau in Rom er für die schönste halte. Und er erwiderte ohne Zaudern: Frau Davis.

29. Mai.

Diese Erbschaftsgeschichte wird mir nachgerade langweilig. So lebendig die Italiener von Natur sind, so langsam betreiben sie alle Geschäfte – bloß viel schwatzen, das ist ihr Fall. Mich wenigstens hat das endlose Geschwätz halb tot gemacht.

31. Mai.

Gestern habe ich mit Lukomski gefrühstückt, und am Abend bin ich wie gewöhnlich auf dem Pincio umhergeschlendert. Meine Phantasie spielt mir manchmal einen Streich. Mir war, als wenn ich Arm in Arm mit Anielka spazieren ginge, und wir sprachen miteinander wie zwei richtige Liebesleute. Als dann dieser Phantasiespuk verschwand, blieb ein Gefühl ödester Einsamkeit zurück. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich führe doch eigentlich ein schrecklich eintöniges Leben. Wenn man sich immer bloß in das eigene Ich vertieft, wie ist es da anders möglich, als daß man sich furchtbar verlassen vorkommt? Mich nimmt nur das eine wunder, daß ich noch so lebhaft an Anielka denken kann. Und ich habe mitunter die Empfindung, als hätte ich das Glück in der Hand gehabt und als sei es mir nun zwischen den Fingern entschlüpft.

2. Juni.

Heute habe ich mich über Lukomski gewundert. Er sagte zu mir: »Hier in Rom lebt sich's gut, aber es stirbt sich schlecht hier. Mir geht es vortrefflich. Da könnte ich ja nicht klagen. Nur das Heimweh verzehrt mich. Wenn des Nachts meine Hunde bellen, dann dünkt mich's, ich sei in unserem Dorfe, und da könnte ich vor Schmerz an den Wänden hinanlaufen. Wenn ich nicht einmal im Jahre in die Heimat könnte, dann hielte ich es einfach nicht aus.«

Wie sind doch solche Leute wie Lukomski und Sniatynski ganz andere Kerle als ich! Zu solch einem Gefühl bin ich einfach nicht fähig. Ob sie sich nun wohl in ihrer Haut fühlen oder nicht, im Vergleich zu mir sind sie reich, denn sie brauchen nicht zu befürchten, daß sie in der Wüste verschmachten könnten. Ich hänge wohl auch an meiner Heimat, aber sie ist doch nicht so mit mir verwachsen. Wo für einen Lukomski und einen Sniatynski der Lebensquell springt, da ist für mich nur trockener Sand. Eigentlich sollte man es nicht für möglich halten, daß ein Mann, der solche Qualitäten zum Glücklichwerden hat, nicht nur nicht glücklich sein kann, sondern überhaupt gar nicht weiß, wozu er auf der Welt ist. Aber es ist meine Schuld. Wo andere einfach lieben, da philosophiere ich. Herausgekommen ist bei meinem Philosophieren nichts weiter, als daß mir das Herz dabei verdorrt ist.

8. Juni.

Ich trage heute die Ereignisse der ganzen Woche nach. Sniatynski hat mir geschrieben. Er ist sehr betrübt, daß mein Verhältnis mit Anielka auf diese Weise in die Brüche gegangen ist. Er teilt mir mit, seine Frau sei mir bitterböse, sie wolle nichts mehr von mir wissen und halte mich für einen ganz schlechten Kerl, der keine andere Freude kennt, als sich an den Leiden seiner Opfer zu ergötzen. Das nehme ich ihr gar nicht einmal übel, sondern die Warmherzigkeit, die sich in dieser Entrüstung äußert, gefällt mir an ihr sehr gut. Sniatynski scheint die Sache für abgetan zu halten und hat nur noch den Wunsch für mich: »Gott gebe, Du fändest noch einmal so eine wie sie!« Seltsam! eine ihr ähnliche will ich gar nicht haben, nicht einmal eine bessere als sie – vielmehr einzig und allein nur sie selber. Aber das scheint mir bloß so, das ist kein klares Gefühl. Denn es ist mit meinem Innern jetzt wie bei einem verwirrten Seidenknäuel – ich ziehe wohl an den Fäden, aber ich kann sie nicht abwickeln und in Ordnung bringen. Aber wenn ich nun auch skeptisch veranlagt bin, weshalb sollte ich nicht einmal so handeln können, als wenn ich es nicht wäre? Es geht doch keinen Menschen was an, ob in meinen Handlungen etwas mehr oder etwas weniger Konsequenz liegt. Kann ich nicht einfach meine Sachen einpacken und nach Ploshow reisen? Gewiß! was daraus erfolgen würde, das würde man ja sehen – jedenfalls wäre doch einmal gehandelt worden. Allerdings schreibt mir Sniatynski: »Der Kromitzki, dieser Affe, sitzt den ganzen Tag über bei den Damen in Ploshow.« Am Ende ist es da doch schon zu spät. Aber ich fühle: ein Mensch, der auch nur einen Funken von Tatkraft hätte, würde ohne Zaudern hinfahren. Und bei dem Gedanken wird es licht vor meinen Blicken, und ich sehe ein liebes Antlitz, das mir in diesem Augenblick das allerteuerste auf Erden ist. Ich werde wohl doch reisen!

9. Juni.

Es ist gut, sich alles erst mal »zu beschlafen«. Heute weiß ich, daß ich doch nicht aufs Geratewohl nach Ploshow reise. Ich habe dagegen meiner Tante einen langen Brief geschrieben, die Antwort muß in zehn Tagen da sein und je nachdem, wie diese Antwort lautet, werde ich dann reisen oder es bleiben lassen. Dieser Brief ist gewissermaßen eine Patrouille, die auf Kundschaft ausgeht, denn natürlich hat es mein Stolz nicht zugelassen, geradeheraus zu schreiben: »Werft den Kromitzki hinaus, ich bitte Anielka um Verzeihung und werbe um ihre Hand.« Aber so habe ich meinen Brief wenigstens doch gehalten, daß meine Tante mir mitteilen muß, wie es in Ploshow steht und was vor allem in Anielkas Herzen vorgeht.

Wenn doch Anielka diesem Kromitzki den Laufpaß gegeben hätte! Mag sie Grund haben, sich von mir verletzt zu fühlen; trotzdem, hätte sie ihn laufen lassen, sie wäre in meinen Augen hoch über die Schar alltäglicher Mädchen emporgestiegen. Niemand betrachtet mich mit kritischerem Blick als ich selbst – aber ich stehe turmhoch über diesem Menschen. Ich besitze mehr Feingefühl, weit edlere Regungen, Herz und Gemüt – und dann ist er weit dümmer. Die Frau, die mich nimmt, wird in meinem Herzen mehr Licht und Wärme und an meiner Seite ein reicheres Leben finden, als die Frau, die ihn nimmt. Wir sind Bewohner verschiedener Planeten, sozusagen. Zu meinem Geiste muß man auf einer Leiter emporklettern, wobei man freilich das Genick brechen kann – zu seinem Geiste aber muß ein Mädchen wie Anielka sich herablassen – und somit sich erniedrigen.

Nun denn! ob ihr das sehr schwer fällt? Das Herz tut mir weh, wenn ich mir Anielka so vorstelle. Aber vielleicht wird auch sie einmal mit Achselzucken an die Ideale denken, die ihr als jungem Mädchen vorgeschwebt haben, und wird sich zu der Ueberzeugung bekehrt haben, daß ein flotter Handel mit Turkestan das einzige sei, was des Interesses verlohnt. Bei diesem Gedanken packt mich wilder Grimm, vor allem auch deshalb, weil ich selber daran schuld bin, wenn es dahin kommt.

11. Juni.

Ich habe Lukomski gefragt: »Ich verstehe nicht, warum ein Mann, der so sehr an der Heimat hängt, sich nicht eine Lebensgefährtin aus dem Vaterlande holt?«

Lächelnd zeigte Lukomski mir einen Ring und antwortete: »Ich bin auch verlobt, meine Braut trauert nur jetzt noch um ihren Vater. Sobald die Frist vorüber ist, heiraten wir. In zwei Monaten fahre ich hin.«

»In die Gegend von Sierptz?«

»Nein, sie ist aus dem Wikomierzer Kreise. Ich habe sie hier in Rom kennen gelernt.«

»Fürwahr! ein glücklicher Zufall!«

»Der glücklichste, der mir je passiert ist! Eine Woche lang habe ich sie und ihre Mutter, nachdem ich sie hier auf der Straße kennen gelernt habe, herumgeführt, dann habe ich ihr ein Geständnis gemacht.«

»Was? schon nach einer Woche?«

»Ja, denn sie reisten nach Florenz.«

»Na, da sind Sie jedenfalls einer von denen, die nicht lange fackeln.«

»Je nun, zu Hause hätte es wohl länger gedauert, hier aber trieb mich schon der Umstand an, daß es eine Landsmännin von mir war, eine Polin!«

»Das ist ja ganz gut und schön – aber eine so wichtige Lebensfrage wie die Ehe –«

»Hätte ich denn in drei Wochen vielleicht etwas Besseres ersinnen können, als in einer? Und überdies hatte ich gewisse Bedenken. In meiner Familie ist nämlich die Taubheit erblich. Mein Großvater war als alter Mann vollständig taub, mein Vater verlor schon mit vierzig Jahren das Gehör – als ich das nun meiner Braut sagte und sie fragte, ob sie ihr Schicksal mit dem eines Mannes verknüpfen wollte, der von solch einem Leiden bedroht sei, wissen Sie, was sie mir da geantwortet hat: »Wenn ich Ihnen einmal nicht mehr sagen kann, daß ich Sie liebe, dann werde ich es Ihnen aufschreiben.«

Ich denke noch immer an diese Unterredung. Lukomski hat vielleicht nicht eine so scharfe Selbstkenntnis wie ich – aber er ist doch ein sehr vernünftiger Mensch und was für ein beherztes Weibchen muß nicht diese zukünftige Frau Bildhauerin sein. Ich finde ihre Antwort entzückend. So eine ist gewiß auch Anielka.

15. Juni.

Ob ich das, was ich für Anielka fühle, nun Liebe nennen mag oder ob es eine andere Bezeichnung verdienen mag – es ist jedenfalls ein ganz neues Gefühl, wie es mein Herz noch nie zuvor empfunden hat. Den ganzen Tag denke ich daran, es ist eine Herzenssache für mich geworden, für die ich mich vor mir selber verantwortlich fühle. Etwas dergleichen habe ich noch nie kennen gelernt. Vordem habe ich zarte Bande angeknüpft und nach einiger Zeit bald mit angenehmen, bald mit peinlichen Erinnerungen, bald mit Bedauern, bald mit Gleichgültigkeit wieder gelöst – aber daß eine zarte Beziehung so ganz mein innerstes Wesen erfüllt hätte, das ist noch nicht dagewesen. Der Gedanke an Anielka verläßt mich überhaupt nicht mehr – aus allem tritt sie hervor – alles endet bei ihr – sie beherrscht ganz meine Seele – Tag und Nacht tickt es in mir, wie der Holzwurm im Schreibtische. Wenn ich die Achseln zucken und diese Verfassung belächeln will, so lassen Skepsis und Ironie mich hier im Stich, und es hilft mir alles nichts, ich befinde mich immer wieder in dem verzauberten Kreise. Dabei beseelt mich weniger das Verlangen, Anielka zu besitzen, als vielmehr die Furcht, sie zu verlieren. Wenn nicht die Gefahr vorhanden wäre, daß ich Anielka an diesen Kromitzki verlieren könnte, ich glaube, ich wäre von Angst und Besorgnis ganz verschont. Unter diesen Umständen aber peinigt mich der furchtbare Gedanke, daß ich binnen wenigen Tagen vielleicht nicht mehr wissen werde, was ich auf der Welt überhaupt noch zu suchen habe.

16. Juni.

Der Notar, der nicht nur meine, sondern auch die Angelegenheiten der Familie Davis zu besorgen hat, hat mir mitgeteilt, Herr Davis sei schon in einer Irrenanstalt und Frau Davis befinde sich in Interlaken, am Fuße der Jungfrau. Ich sprach mein Beileid aus, aber als ich die junge Frau bedauerte, die nun verlassen und ohne Schutz sei, beruhigte mich der Notar. Ein gewisser Graf Maleschi aus Neapel, ein Verwandter der Frau Davis, sagte mir der Notar, sei sogleich nach der Schweiz gereist. Diesen Herrn kenne ich – er ist schön wie Antinous, aber ein Spieler und eine Memme.

Warum verabscheue ich eigentlich Laura? Was hat sie mir denn getan, daß ich ihr nicht verzeihen kann? Wohl das, daß sie indirekt daran schuld ist, daß ich so viele Niedrigkeiten und Erbärmlichkeiten begangen habe wie nie zuvor. Ich habe mich über die Trauer um meinen Vater weggesetzt, ich habe mit der Krankheit des Herrn Davis kein Mitleid gehabt – ich bin schlecht und faul gewesen – und ich habe jenen verhängnisvollen Brief nach Ploshow geschrieben. Freilich! das alles war meine eigne Schuld. Aber wenn ein Blinder an einen Stein stößt, so verwünscht er den Stein, obschon an seinem Unfall nur seine Blindheit schuld ist.

17. Juni.

Heute habe ich Lukomski sein Honorar bezahlt und dem Notar Vollmacht erteilt, alles ohne mich abzuschließen. Meine Sachen sind gepackt, und ich bin zur Abreise fertig. Ich halte es nicht mehr aus in Rom.

18. Juni.

Ich habe mir ausgerechnet, daß eigentlich die Antwort meiner Tante schon da sein müßte. Ich mag mir nicht das Schlimmste vorstellen, aber ich versuche zu erraten, was sie mir wohl schreiben wird. Es tut mir jetzt leid, daß ich mich nicht bestimmter erklärt habe. Ich habe wohl die Damen herzlich grüßen lassen und habe gefragt, ob es ihnen angenehm wäre, wenn ich jetzt hinkäme. Aber wenn ich den Brief, als ich ihn wegschickte, auch für sehr verständlich gehalten habe, jetzt meine ich manchmal, ich hätte gar keinen dümmern schreiben können. Ich hatte mir gedacht, meine Tante würde jede Gelegenheit, die Sache wieder einzurenken, mit Freuden ergreifen – und ich könnte nun wie ein wohltätiger König in mein Reich einziehen.

Es bleibt mir nun nichts weiter übrig, als die Hoffnung, daß meine Tante verstehen wird, was für Absichten ich habe.

Florenz, 20. Juni.

Es ist alles zusammengebrochen.

Die Antwort meiner Tante lautete: Anielka sei Kromitzkis Braut und werde in wenigen Wochen seine Frau sein. Sie selbst habe diese schnelle Heirat gewünscht. Kaum hatte ich das gelesen, so machte ich mich auf den Weg nach Ploshow, aber im Wagen fiel mir ein, daß ich ins Blaue reisen würde. Es hat gar keinen Zweck hinzufahren. So bin ich denn nun in Florenz.

22. Juni.

Gleichzeitig mit dem Briefe meiner Tante bekam ich die Verlobungsanzeige. Die Adresse war von einer fremden weiblichen Hand geschrieben. Anielka hätte mir das nicht angetan, auch ihre Mutter nicht – vermutlich ist es eine kleine Niederträchtigkeit von Frau Sniatynski.

Es ist mir auch ganz einerlei. Ich habe einen Hieb mit einer Keule erhalten und bin betäubt. Aber der Schlag hat mich mehr erschüttert, als geschmerzt. Man soll ja auch eine Kugel zuerst kaum fühlen. Na, erschossen habe ich mich nicht – verrückt bin ich auch nicht geworden – ich sehe mir in aller Ruhe Florenz an – ich könnte sogar getrost Karten spielen, wenn ich mir was draus machte. Mit einem Worte, ich fühle mich ganz wohl.

23. Juni.

Wenn ich aufwache, sobald ich die Augen aufschlage, kommt mir der Gedanke, daß eben diese selbe herzensgute, seelenvolle Anielka, die nicht schlafen gehen konnte, wenn ich noch nicht zu Hause war, und die bis in die späte Nacht aufblieb, um auf mich zu warten, als ich aus Warschau kam – daß diese Anielka nun den Kromitzki heiratet. Dieselbe, die mir so zärtlich, so vertrauensvoll in die Augen sah, die mir mit jedem Blicke zu verstehen gab, sie sei mein eigen. Sie wird nun bald Frau Kromitzka heißen – ja, sie wird eine Woche nach der Hochzeit schon nicht mehr verstehen können, wie sie nur jemals zwischen einem solchen Ploshowski und einem solchen Kromitzki hat wählen können. Es geht doch schnurrig zu auf der Welt. Das bißchen Lust am Leben, das einem noch verbleibt, geht völlig in die Brüche.

Der lange, widerliche Brief meiner Tante lautet:

»Ich danke Dir für Dein letztes Schreiben, umso mehr als Dein vorletztes so herzlos war. Ich hatte Dich ja doch nur gebeten, ein paar herzliche Worte für Anielka mitzuschreiben, die hättest Du gar nicht direkt zu schreiben brauchen, es hätte genügt, sie durch mich bestellen zu lassen. Aber was sollte ich nun tun, nachdem Du so deutlich abgeschrieben hattest? Ich konnte Anielka nicht länger in der Täuschung lassen und mußte sie von der Ungewißheit befreien, unter der sie auf die Dauer zu Grunde ging. Als Dein Brief kam, saßen wir beim Tee, sie hatte es gleich gemerkt, daß Du geschrieben hattest. Sie goß mit zitternder Hand den Tee ein, und die kleinen silbernen Löffel klirrten leise in den Tassen. Ich las den Brief für mich allein, und es wurde mir furchtbar schwer, mir nichts merken zu lassen. Aber Anielka verwandte kein Auge von mir. Sie fragte mich jedoch nur, ob Du nicht bald aus Italien wiederkommen würdest. Ich sagte, ja bald, denn die Wahrheit zu sagen, hatte ich noch nicht den Mut. Hättest Du nur gesehen, wie die Aermste sich zusammennehmen mußte, um nicht laut zu schluchzen. Als ich allein war, überlegte ich, was ich zu tun hätte. Du hattest ganz deutlich, ohne alle Umschweife geschrieben: Möge sie mit Kromitzki glücklich werden. Da mußte ich ihr die Augen öffnen. Ich brauchte sie nicht zu rufen, sie kam von selbst. »Anielka,« sagte ich nun zu ihr, »Du bist ein tapferes Mädchen und wirst Dich in Gottes Willen schicken. Ich muß offen mit Dir sprechen. Ich hegte den Wunsch und die Hoffnung, Dich mit Leon zu vereinen, aber es soll nicht sein. Wenn Du selber daran gedacht hast, so schlage es Dir aus dem Sinn.« – Ich drückte sie an die Brust – sie wurde bleich wie die Wand, sank neben mir in die Kniee und fragte immer wieder: »Was läßt er mir denn sagen?« – Ich dachte, es sei für sie besser, wenn sie die ganze Wahrheit hörte und sagte: »Du mögest mit Kromitzki glücklich werden.« – Da stand sie auf und mit veränderter Stimme erwiderte sie: »Sage ihm, ich lasse ihm danken.« – Dir wird es wohl nicht recht sein, daß ich Deine Bestellung so wörtlich ausrichtete, aber für sie ist es besser. Je mehr sie fühlt, daß Du sie beleidigt hast, um so eher wird sie Dich vergessen. Wenn es Dir nun auch unangenehm ist, so denke doch daran, was wir hier alle durch Dich gelitten haben, wir alle – am meisten aber Anielka.

Es wundert mich nur, daß sie sich so sehr beherrschen kann. Sie hat ihren Schmerz sogar vor der Mutter verbergen können, deren Kränklichkeit sie sehr ängstigt. Auch Sniatynski, der uns besuchte, hat gar nichts gemerkt, doch habe ich es ihm später gesagt, denn er ist ja mit Dir eng befreundet. Er war fuchsteufelswild auf Dich und hat so sehr über Dich geschimpft, daß ich ihm ordentlich gram wurde. Aber Du kennst ihn ja.

Anielka hat nun, wie das ja leicht zu begreifen ist, aus Verzweiflung Kromitzkis Antrag angenommen. Die Mutter wird mit ihr gesprochen haben, und da hat sie sich dazu entschlossen. Ich war bitterböse auf Dich – erst Dein zweiter Brief hat mich etwas milder gestimmt, aber als Du mir bloß ein paar herzliche Worte an Anielka bestelltest, ohne von dem, was Du früher geschrieben, etwas zu widerrufen, da sah ich ein, daß ich keine Hoffnung mehr hegen dürfte. Am 25. Juli soll Hochzeit sein. Die Sache wird ein wenig beeilt, weil Celina in der Tat sehr krank ist und glaubt, sie werde binnen kurzem sterben müssen. Sie will nicht, daß die Trauer um sie dazwischen komme, und wünscht ihr Kind noch vor ihrem Tode unter dem Schutze eines Mannes zu sehen. Auch Kromitzki wünscht, daß die Hochzeit bald stattfinde, denn sein Geschäft im Orient will rasch erledigt sein.

Ach, Leon, warum muß denn das arme Mädchen so unglücklich werden? Daß sie diesen Kromitzki heirate, das hätte ich niemals zugegeben, aber nun kann ich kein Wort dagegen sagen, denn dadurch, daß ich Dich mit ihr zu verheiraten wünschte, bin ich mit an ihrem Unglück schuld. Nun bete ich alle Tage für die arme Anielka.

Nach der Trauung wollen sie gleich nach Wolhynien fahren. Ich hätte Dich ja gerne hier in Ploshow, aber um Anielkas willen, die jetzt sehr der Schonung bedarf, mußt Du jetzt von einer Herkunft absehen. Wenn alles vorüber ist, kannst Du ja meinetwegen kommen.«

Ich spiele keine Komödie vor mir selber! Am liebsten möchte ich mit dem Kopfe gegen die Wand rennen, so wild macht mich dieser Brief! aber es ist nicht Eifersucht – nicht Zorn – es ist Reue!

23. Juni.

Ich kann nicht die Hände in den Schoß legen und alles gehen lassen, wie es will. Diese Heirat geschehen zu lassen, wäre ein Frevel. Ich habe an Sniatynski telegraphiert. Ich habe ihn himmelhoch gebeten, mich Sonntag in Krakau zu treffen. Er soll vorderhand reinen Mund halten, aber er soll mir helfen. Denn er hat großen Einfluß auf Anielka, er soll in meinem Namen mit ihr reden. Zuerst wollte ich an Anielka selbst schreiben, aber mein Brief würde nur große Unruhe stiften. Ich hoffe, Sniatynski übernimmt die Vermittelung, so heikel die Sache auch ist.

Ich habe schon mehrere Nächte nicht geschlafen. Sobald ich die Augen zumache, steht Anielka vor mir – ich sehe ihr Antlitz, ihr Haar, ihre Augen – sie lächelt mich an, sie spricht zu mir – ich kann dieses Leben nicht länger ertragen!

Krakau, 26. Juni.

Sniatynski ist hier, er übernimmt die Vermittelung, der gute Kerl! Gott lohne es ihm! Freilich war es nicht leicht, ihn dazu herumzukriegen. Er wollte sich zuerst gar nicht darauf einlassen, schließlich bewog ihn sein Mitleid mit meiner Lage, sich meinen Bitten zu fügen. Ich bin auch wirklich in den letzten Tagen jammervoll elend geworden. Außerdem ist er auf Kromitzki schlecht zu sprechen. Er ist empört, daß Anielka so in ihr Unglück hineinrennen will. Morgen mit dem ersten Zug fährt er hinüber.

Uebermorgen will er dann mit seiner Frau in Ploshow sein. Er wird dann dem Mädchen sagen, daß mein Leben in ihrer Hand liege, und ihm wird es gelingen, sie zur Umkehr zu bestimmen. Beim Abschied sagte mir Sniatynski: »Eins mußt Du mir versprechen, daß Du nicht Hals über Kopf nach Ploshow rennst, wenn die Sache ins Wasser fällt. Schreiben magst Du an Fräulein Anielka, aber persönlich darfst Du nicht eher kommen, als bis sie Dir das gestattet.« – Er machte mir wenig Hoffnung, aber ich sah doch, daß er die Sache nicht für ganz hoffnungslos hält. Zum mindesten rechnet er darauf, einen Aufschub der Hochzeit zu erreichen. Und dann hätte ich so gut wie gewonnen, denn Kromitzki würde sich dann wohl von selber wieder zurückziehen.

Es ist gewiß nichts Leichtes, sein Schicksal in fremde Hände zu legen, statt selbst den Kampf aufzunehmen. Doch das gilt mir gleich – handelt es sich doch um Anielka!

27. Juni.

In aller Frühe hat sich Sniatynski auf die Reise gemacht. Als ich ihn zur Bahn brachte, gab ich ihm noch soviele Verhaltungsmaßregeln mit auf den Weg, als wenn ich es mit einem Blödsinnigen zu tun hätte. Er brachte mich zu guter Letzt noch ganz außer mich, indem er bemerkte, wenn alles wieder im Lote sei, würde ich doch wieder anfangen, zu philosophieren. Aber er reiste doch mit der besten Zuversicht auf ein glückliches Gelingen ab.

Und als er fort war, da habe ich, der Skeptiker, mich sogleich zur Marienkirche begeben – und ich – ich mit meinem immerwährenden »ich weiß nicht – ich weiß nicht« – ich habe eine Messe für Leon und Anielka bestellt. Ja, ich bin sogar selber in die Kirche gegangen, wie sie gelesen wurde, und ich schreibe nun hier: Mag alle Skepsis, alle Philosophie und mein ewiges »ich weiß nicht« zum Teufel fahren!

28. Juni.

Nun muß Sniatynski schon unterwegs nach Ploshow sein. Zum mindesten müßte Anielka mir doch die Liebe antun, ihre Hochzeit aufzuschieben. Das zu verweigern, wäre unrecht von ihr. Warum sieht sich übrigens Kromitzki, dem es doch darum zu tun ist, Geld und wieder Geld zusammenzuscharren, nicht nach einer reicheren Partie um? Anielkas Besitztum ist zwar groß, aber mit Schulden überlastet. Aber er könnte – wenn er es darauf absieht, Grundbesitz zu erwerben und dadurch dann leichter Staatsangehöriger zu werden, dies alles auch anderswo haben, und obendrein noch eine Mitgift bekommen.

Und Anielka hat auf ein Wort von mir gewartet, auf ein einziges Wort, das sie erlösen würde! Eine wahre Angst, daß sie mir das nie verzeihen könnte, schnürt mir die Kehle zu. Und ich bilde mir ein, daß ich selber und alle, die mir gleichen, dem Verderben geweiht sind.

10 Uhr abends.

Anielka wird wohl kein Mitleid mit mir haben. Ich fühle das, als wenn es schon gewiß wäre. Die schlaflosen Nächte, die peinigende Unruhe haben mich in einen hypnotischen Zustand versetzt, der mich klar in die Zukunft schauen läßt. Ich weiß schon, wie Anielkas Entscheidung lauten wird, und ich verstehe nicht, wie ich nur noch hoffen konnte. Sniatynski hat mir versprochen, mir sofort zu telegraphieren. Wenn sein Telegramm kommt, wird es nichts Neues für mich enthalten.

29. Juni.

Sniatynskis Telegramm ist gekommen. Es enthält nur die Worte: »Alles verloren. Raffe Dich auf und geh Deiner Wege!«

Ich befolge seinen Rat. – Meine Anielka!

 


 


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