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Werner von Siemens nach eienm Protrait von Lenbach

Harzburg, im Juni 1889.

»Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenn's hochkommt, so sind's achtzig Jahr« – das ist eine bedenkliche Mahnung für Jemand, der sich dem Mittel dieser Grenzwerthe nähert und noch viel zu thun hat! Man kann sich zwar im Allgemeinen damit trösten, daß Andere das thun werden, was man selbst nicht mehr fertig bringt, daß es also der Welt nicht dauernd verloren geht; doch giebt es auch Aufgaben, bei denen dieser Trost nicht gilt, und für deren Lösung kein Anderer eintreten kann. Hierher gehört die Aufzeichnung der eigenen Lebenserinnerungen, die ich meiner Familie und meinen Freunden versprochen habe. Ich gestehe, daß mir der Entschluß zur Ausführung dieser Arbeit recht schwer geworden ist, da ich mich weder historisch noch schriftstellerisch begabt fühle und stets mehr Interesse für Gegenwart und Zukunft als für die Vergangenheit hatte. Dazu kommt, daß ich kein gutes Gedächtniß für Namen und Zahlen habe, und daß mir auch viele Ereignisse meines ziemlich wechselvollen Lebens im Laufe der Jahre entschwunden sind. Andrerseits wünsche ich aber, meine Bestrebungen und Handlungen durch eigene Schilderung festzustellen, um zu verhindern, daß sie später verkannt und falsch gedeutet werden, und glaube auch, daß es für junge Leute lehrreich und anspornend sein wird, aus ihr zu ersehen, daß ein junger Mann auch ohne ererbte Mittel und einflußreiche Gönner, ja sogar ohne richtige Vorbildung, allein durch seine eigene Arbeit sich emporschwingen und Nützliches leisten kann. Ich werde nicht viel Mühe auf die Form der Darstellung verwenden, sondern meine Erinnerungen niederschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen, ohne andere Rücksichten dabei zu nehmen als die, daß sie mein Leben klar und wahr schildern und meine Gefühle und Anschauungen getreulich wiedergeben. Ich werde aber versuchen, zugleich auch die inneren und äußeren Kräfte aufzudecken, die mich auf meiner Lebensbahn durch Freud und Leid den erstrebten Zielen zuführten und meinen Lebensabend zu einem sorgenfreien und sonnigen gestaltet haben.

Hier in meiner abgelegenen Villa zu Harzburg hoffe ich die zu einem solchen Rückblicke auf mein Leben nöthige geistige Ruhe am besten zu finden, denn an den gewohnten Stätten meiner Arbeitsthätigkeit, in Berlin und Charlottenburg, bin ich zu sehr von den Aufgaben der Gegenwart in Anspruch genommen, um ungestört längere Zeit der eigenen Vergangenheit widmen zu können.


Meine früheste Jugenderinnerung ist eine kleine Heldenthat, die sich vielleicht deswegen meinem Gedächtnisse so fest einprägte, weil sie einen bleibenden Einfluß auf die Entwicklung meines Charakters ausgeübt hat. Meine Eltern lebten bis zu meinem achten Lebensjahre in meinem Geburtsorte Lenthe bei Hannover, wo mein Vater das einem Herrn von Lenthe gehörige »Obergut« gepachtet hatte. Ich muß etwa fünf Jahre alt gewesen sein und spielte eines Tages im Zimmer meines Vaters, als meine drei Jahre ältere Schwester Mathilde laut weinend von der Mutter ins Zimmer geführt wurde. Sie sollte ins Pfarrhaus zu ihrer Strickstunde gehen, klagte aber, daß ein gefährlicher Gänserich ihr immer den Eintritt in den Pfarrhof wehre und sie schon wiederholt gebissen habe. Sie weigerte sich daher entschieden, trotz alles Zuredens der Mutter, ohne Begleitung in ihre Unterrichtsstunde zu gehen. Auch meinem Vater gelang es nicht, ihren Sinn zu ändern; da gab er mir seinen Stock, der ansehnlich größer war als ich selbst, und sagte: »Dann soll Dich Werner hinbringen, der hoffentlich mehr Courage hat wie Du.« Mir hat das wohl zuerst etwas bedenklich geschienen, denn mein Vater gab mir die Lehre mit auf den Weg: »Wenn der Ganter kommt, so geh ihm nur muthig entgegen und haue ihn tüchtig mit dem Stock, dann wird er schon fortlaufen!« Und so geschah es. Als wir das Hofthor öffneten, kam uns richtig der Gänserich mit hoch aufgerichtetem Halse und schrecklichem Zischen entgegen. Meine Schwester kehrte schreiend um, und ich hatte die größte Lust, ihr zu folgen, doch ich traute dem väterlichen Rathe und ging dem Ungeheuer, zwar mit geschlossenen Augen, aber tapfer mit dem Stocke um mich schlagend, entgegen. Und siehe, jetzt bekam der Gänserich Furcht und zog sich laut schnatternd in den Haufen der auch davonlaufenden Gänse zurück.

Es ist merkwürdig, welch tiefen, dauernden Eindruck dieser erste Sieg auf mein kindliches Gemüth gemacht hat. Noch jetzt, nach fast 70 Jahren, stehen alle Personen und Umgebungen, die mit diesem wichtigen Ereignisse verknüpft waren, mir klar vor Augen. An dasselbe knüpft sich die einzige mir gebliebene Erinnerung an das Aussehen meiner Eltern in ihren jüngeren Jahren, und unzählige Male hat mich in späteren schwierigen Lebenslagen der Sieg über den Gänserich unbewußt dazu angespornt, drohenden Gefahren nicht auszuweichen, sondern sie durch muthiges Entgegentreten zu bekämpfen.

Mein Vater entstammte einer seit dem dreißigjährigen Kriege am nördlichen Abhange des Harzes angesessenen, meist Land- und Forstwirthschaft treibenden Familie. Eine alte Familienlegende, die von neueren Familienhistorikern allerdings als nicht erwiesen verworfen wird, erzählt, daß unser Urahn mit den Tillyschen Schaaren im dreißigjährigen Kriege noch Norddeutschland gekommen sei und Magdeburg mit erstürmt, dann aber eine den Flammen entrissene Magdeburger Bürgerstochter geheirathet habe und mit ihr nach dem Harz gezogen sei. – Wie schon die Existenz eines getreulich geführten Stammbaums, die in bürgerlichen Familien ja etwas seltenes ist, beweist, hat in der Familie Siemens immer ein gewisser Zusammenhang obgewaltet. In neuerer Zeit trägt die alle fünf Jahre in einem Harzort stattfindende Familienversammlung, sowie eine im Jahre 1876 begründete Familienstiftung dazu bei, diesen Zusammenhang der heute sehr ausgebreiteten Familie zu befestigen.

Wie die meisten Siemens war auch mein Vater sehr stolz auf seine Familie und erzählte uns Kindern häufig von Angehörigen derselben, die sich im Leben irgendwie hervorgethan hatten. Ich erinnere mich aber aus diesen Erzählungen außer meines Großvaters mit seinen fünfzehn Kindern, von denen mein Vater das jüngste war, nur noch eines Kriegsraths Siemens, der eine gebietende Stellung im Rathe der freien Stadt Goslar inne hatte, gerade in der Zeit, als die Stadt ihre Reichsunmittelbarkeit verlor. Mein Großvater hatte den Gutsbesitz des Reichsfreiherrn von Grote, bestehend aus den Gütern Schauen und Wasserleben am nördlichen Fuße des Harzes, gepachtet. Wasserleben war der Geburtsort meines Vaters. Unter den Jugendgeschichten, die der Vater uns Kindern gern erzählte, sind mir zwei in lebhafter Erinnerung geblieben.

Es werden jetzt etwa 120 Jahre her sein, als der Duodezhof des reichsunmittelbaren Freiherrn von Grote durch die Ansage überrascht wurde, daß der König Friedrich II. von Preußen auf der Reise von Halberstadt nach Goslar das reichsfreiherrliche Gebiet überschreiten wolle. Der alte Reichsfreiherr erwartete den mächtigen Nachbar gebührender Weise mit seinem einzigen Sohne an der Spitze seines aus 2 Mann bestehenden Contingentes zur Reichsarmee und begleitet von seinen Vasallen – meinem Großvater mit seinen Söhnen, sämmtlich hoch zu Roß. Als der alte Fritz mit seiner berittenen Eskorte sich der Grenze näherte, ritt der Reichsfreiherr ihm einige Schritte entgegen und hieß ihn in aller Form »in seinem Territorio« willkommen. Der König, dem die Existenz dieses Nachbarreiches vielleicht ganz entfallen war, schien überrascht von der Begrüßung, erwiederte den Gruß dann aber ganz formell und sagte zu seinem Gefolge gewandt: » Messieurs, voilà deux souverains qui se rencontrent!« Dieses Zerrbild alter deutscher Reichsherrlichkeit ist mir stets in Erinnerung geblieben und hat schon frühzeitig die Sehnsucht nach künftiger nationaler Einheit und Größe in uns Kindern angefacht.

An das geschilderte Ereigniß schloß sich bald ein anderes von tiefer gehender Bedeutung für den Groteschen Miniaturstaat. Mein Vater hatte vier Schwestern, von denen die eine, Namens Sabine, sehr schön und liebenswürdig war. Das erkannte bald der junge Reichsfreiherr und bot ihr Herz und Hand. Es ist mir nicht bekannt geworden, welche Stellung der alte Freiherr dazu eingenommen hatte; bei meinem Großvater fand der junge Herr aber entschiedene Ablehnung. Dieser wollte seine Tochter nicht in eine Familie eintreten lassen, die sie nicht als ihresgleichen anerkennen würde, und hielt fest an der Ansicht seiner Zeit, daß Heil und Segen nur einer Verbindung von Gleich und Gleich entsprieße. Er verbot seiner Tochter jeden weiteren Verkehr mit dem jungen Freiherrn und beschloß ihr dies durch Entfernung vom elterlichen Hause zu erleichtern. Doch die jungen Leute waren offenbar schon vom Geiste der Neuzeit ergriffen, denn am Morgen der geplanten Abreise erhielt mein Großvater die Schreckenskunde, daß der junge Freiherr seine Tochter während der Nacht entführt habe. Darob große Aufregung und Verfolgung des entflohenen Paares durch den Großvater und seine fünf erwachsenen Söhne. Die Spur der Flüchtigen wurde bis Blankenburg verfolgt und führte dort in die Kirche. Als der Eingang in diese erzwungen war, fand man das junge Paar am Altar stehend, wo der Pastor soeben die rechtsgültige Trauung vollzogen hatte.

Wie sich das Familiendrama zunächst weiter entwickelte, ist mir nicht mehr erinnerlich. Leider starb der junge Ehemann schon nach wenigen, glücklich verlebten Jahren seiner Ehe, ohne Kinder zu hinterlassen. Die Herrschaft Schauen fiel daher Seitenverwandten zu, freilich damit auch die Last, meiner Tante Sabine noch beinahe ein halbes Jahrhundert lang die gesetzliche reichsfreiherrliche Wittwenpension zahlen zu müssen. Ich habe die liebenswürdige und geistreiche alte Dame zu Kölleda in Thüringen, wohin sie sich zurückgezogen hatte, als junger Artillerie-Officier wiederholt besucht. »Tante Grote« war auch im Alter noch schön und bildete damals den anerkannten Mittelpunkt unserer Familie. Auf uns jungen Leute übte sie einen fast unwiderstehlichen Einfluß aus, und es war für uns ein wahrer Genuß, sie von Personen und Anschauungen ihrer für uns beinahe verschollenen Jugendzeit sprechen zu hören.

Mein Vater war ein kluger, hochgebildeter Mann. Er hatte die gelehrte Schule in Ilfeld am Harz und darauf die Universität Göttingen besucht, um sich gründlich für den auch von ihm gewählten landwirthschaftlichen Beruf vorzubilden. Er gehörte mit Herz und Sinn dem Theile der deutschen Jugend an, der, unter den Stürmen der großen französischen Revolution aufgewachsen, für Freiheit und Deutschlands Einigung schwärmte. Einst wäre er in Kassel beinahe den Schergen Napoleons in die Hände gefallen, als er sich den schwachen Versuchen schwärmender Jünglinge anschloß, die nach der Niederwerfung Preußens noch Widerstand leisten wollten. Nach dem Tode seines Vaters ging er zum Amtsrath Deichmann nach Poggenhagen bei Hannover, um die Landwirthschaft praktisch zu erlernen. Dort verliebte er sich bald in die älteste Tochter des Amtsraths, meine geliebte Mutter Eleonore Deichmann, und heirathete sie trotz seiner Jugend – er war kaum 25 Jahre alt – nachdem er die Pachtung des Gutes Lenthe übernommen hatte.

Zwölf Jahre lang führten meine Eltern in Lenthe ein glückliches Leben. Leider waren aber die politischen Verhältnisse Deutschlands und namentlich des wieder unter englische Herrschaft gekommenen Landes Hannover für einen Mann wie meinen Vater sehr niederdrückend. Die englischen Prinzen, die damals in Hannover Hof hielten, kümmerten sich nicht viel um das Wohlergehen des Landes, das sie wesentlich nur als ihr Jagdgebiet betrachteten. Daher waren auch die Jagdgesetze sehr streng, so daß allgemein behauptet wurde, es wäre in Hannover weit strafbarer, einen Hirsch zu tödten als einen Menschen! Eine Wildschädigung durch unerlaubte Abwehrmittel, deren mein Vater angeklagt wurde, war auch der Grund, warum er Hannover verließ und sich in Mecklenburg eine neue Heimath suchte.

Das Obergut Lenthe liegt an einem bewaldeten Bergrücken, dem Benther Berge, der mit dem ausgedehnten Deistergebirge in Zusammenhang steht. Die Hirsche und Wildschweine, die für die prinzlichen Jagden geschont wurden und ihrer Unverletzlichkeit sicher waren, besuchten in großen Schaaren die Lenther Fluren mit besonderer Vorliebe. Wenn auch die ganze Dorfschaft bemüht war, durch eine nächtliche Wächterkette die Saaten zu schützen, so vernichtete das in Masse hervorbrechende Wild doch oft in wenigen Stunden die auf die Arbeit eines ganzen Jahres gebauten Hoffnungen. Während eines strengen Winters, als Wald und Feld dem Wild nicht hinlängliche Nahrung boten, suchte es diese oft in ganzen Rudeln in den Dörfern selbst. Eines Morgens meldete der Hofmeister meinem Vater, es sei ein Rudel Hirsche auf dem Hofe; man habe das Thor geschlossen, und er frage an, was mit den Thieren geschehen solle. Mein Vater ließ sie in einen Stall treiben und schickte einen expressen Boten an das Königliche Ober-Hof-Jägeramt in Hannover mit der Anzeige des Geschehenen und der Anfrage, ob er ihm die Hirsche vielleicht nach Hannover schicken solle. Das sollte ihm aber schlecht bekommen! Es dauerte nicht lange, so erschien eine große Untersuchungscommission, welche die Hirsche in Freiheit setzte und während einer mehrtägigen Kriminaluntersuchung das Factum feststellte, daß den Hirschen Zwang angethan sei, als man sie wider ihren Willen in den Stall trieb. Mein Vater mußte sich noch glücklich schätzen, mit einer schweren Geldstrafe davonzukommen.

Es ist dies ein kleines Bild der damaligen Zustände der »Königlich Großbritannischen Provinz Hannover«, wie meine lieben Landsleute ihr Land gern mit einem gewißen Stolze nannten. Doch auch in den übrigen deutschen Landen waren die Verhältnisse nicht allzuviel besser, trotz französischer Revolution und der glorreichen Freiheitskriege. Es ist gut, wenn die verhältnißmäßig glückliche Jugend der heutigen Zeit mit den Leiden und oft hoffnungslosen Sorgen ihrer Väter hin und wieder die ihrigen vergleicht, um pessimistischen Anschauungen besser widerstehen zu können.

Die freieren Zustände, die mein Vater suchte, fand er in der That in dem zu Mecklenburg-Strelitz gehörigen Fürstenthum Ratzeburg, wo er die großherzogliche Domäne Menzendorf auf eine lange Reihe von Jahren in Pacht erhielt. In diesem gesegneten Ländchen gab es außer Domänen und Bauerndörfern nur ein einziges adeliges Gut. Die Bauern waren damals zwar noch zu Frohndiensten auf den Domänen verpflichtet, doch wurden diese schon in den nächsten Jahren nach unserer Uebersiedelung abgelöst und der bäuerliche Grundbesitz von allen Lasten und auch fast allen Abgaben befreit.

Es waren glückliche Jugendjahre, die ich in Menzendorf mit meinen Geschwistern, ziemlich frei und wild mit der Dorfjugend aufwachsend, verlebte. Die ersten Jahre streiften wir älteren Kinder – meine Schwester Mathilde, ich und meine jüngeren Brüder Hans und Ferdinand – frei und ungebunden durch Wald und Flur. Unsern Unterricht hatte meine Großmutter, die seit dem Tode ihres Mannes bei uns wohnte, übernommen. Sie lehrte uns lesen und schreiben und übte unser Gedächtniß durch Auswendiglernen unzähliger Gedichte. Vater und Mutter waren durch ihre wirthschaftlichen Sorgen und letztere auch durch die in schneller Folge anwachsende Schaar meiner jüngeren Geschwister zu sehr in Anspruch genommen, um sich viel mit unsrer Erziehung beschäftigen zu können. Mein Vater war ein zwar herzensguter, aber sehr heftiger Mann, der unerbittlich strafte, wenn einer von uns seine Pflicht nicht that, nicht wahrhaft war oder sonst unehrenhaft handelte. Furcht vor des Vaters Zorn und Liebe zur Mutter, der wir keinen Kummer machen wollten, hielt unsre kleine, sonst etwas verwilderte Schaar in Ordnung. Als erste Pflicht galt die Sorge der älteren Geschwister für die jüngeren. Es ging das so weit, daß die älteren mit bestraft wurden, wenn eins der jüngeren etwas strafbares begangen hatte. Das lastete namentlich auf mir als dem ältesten und hat das Gefühl der Verpflichtung, für meine jüngeren Geschwister zu sorgen, schon früh in mir geweckt und befestigt. Ich maaßte mir daher auch das Strafrecht über meine Geschwister an, was oft zu Koalitionen gegen mich und zu heftigen Kämpfen führte, die aber immer ausgefochten wurden, ohne die Intervention der Eltern anzurufen. Ich entsinne mich eines Vorfalls aus jener Zeit, den ich erzählen will, da er charakteristisch für unser Jugendleben ist.

Mein Bruder Hans und ich lagen mit oft günstigem Erfolge der Jagd auf Krähen und Raubvögel mit selbstgefertigten Flitzbogen ob, in deren Handhabung wir große Sicherheit erlangt hatten. Bei einem dabei ausgebrochenen Streite brachte ich das Recht des Stärkeren meinem jüngeren Bruder gegenüber zur Geltung. Dieser erklärte das für unwürdig und verlangte, daß der Streit durch ein Duell entschieden würde, bei dem meine größere Stärke nicht entscheidend wäre. Ich fand das billig, und wir schritten zu einem richtigen Flitzbogenduell nach den Regeln, die wir durch gelegentliche Erzählungen meines Vaters aus seiner Studentenzeit kannten. Zehn Schritte wurden abgemessen, und auf mein Kommando »los« schossen wir beide unsre gefiederten Pfeile mit einer angeschärften Stricknadel als Spitze auf einander ab. Bruder Hans hatte gut gezielt. Sein Pfeil traf meine Nasenspitze und drang unter der Haut bis zur Nasenwurzel vor. Unser darauf folgendes gemeinschaftliches Geschrei rief den Vater herbei, der den steckengebliebenen Pfeil herausriß und sich darauf zur Züchtigung des Missethäters durch Ausziehen seines Pfeifenrohres rüstete. Das widerstritt meinem Rechtsgefühl. Ich trat entschieden zwischen Vater und Bruder und sagte: »Vater, Hans kann nichts dafür, wir haben uns duellirt«. Ich sehe noch das verdutzte Gesicht meines Vaters, der doch gerechter Weise nicht strafen konnte, was er selbst gethan hatte und für ehrenhaft hielt. Er steckte auch ruhig sein Pfeifenrohr wieder in die Schwammdose und sagte nur: »Laßt künftig solche Dummheiten bleiben«.

Als meine Schwester und ich dem Unterricht der Großmutter Deichmann – geborene von Scheiter, wie sie nie vergaß ihrer Unterschrift beizufügen – entwachsen waren, gab uns der Vater ein halbes Jahr lang selbst Unterricht. Der Abriß der Weltgeschichte und Völkerkunde, den er uns diktirte, war geistreich und originell und bildete die Grundlage meiner späteren Anschauungen. Als ich elf Jahre alt geworden war, ward meine Schwester in eine Mädchenpension nach der Stadt Ratzeburg gebracht, während ich die Bürgerschule des benachbarten Städtchens Schönberg von Menzendorf aus besuchte. Bei gutem Wetter mußte ich den etwa eine Stunde langen Weg zu Fuß machen. Bei schlechtem Wetter waren die Wege grundlos, und ich ritt dann auf einem Pony zur Schule. Dies und meine Gewohnheit, Neckereien immer gleich thätlich zurückzuweisen, führte bald zu einer Art Kriegszustand mit den Stadtschülern, durch deren mir den Rückweg versperrenden Haufen ich mir in der Regel erst mit eingelegter Lanze – einer Bohnenstange – den Weg bahnen mußte. Dieses Kampfspiel, bei dem mir die Bauernjungen meines Dorfes bisweilen zu Hülfe kamen, dauerte ein ganzes Jahr. Es trug sicher viel dazu bei, meine Thatkraft zu stählen, gab aber nur sehr mäßige wissenschaftliche Resultate.

Eine entschiedene Wendung meines Jugendlebens trat Ostern 1828 dadurch ein, daß mein Vater einen Hauslehrer engagirte. Die Wahl meines Vaters war eine außerordentlich glückliche. Der Candidat der Theologie Sponholz war ein noch junger Mann. Er war hochgebildet, aber schlecht angeschrieben bei seinen geistlichen Vorgesetzten, da seine Theologie zu rationalistisch, zu wenig positiv war, wie man heute sagen würde. Ueber uns halbwilde Jungen wußte er sich schon in den ersten Wochen eine mir noch heute räthselhafte Herrschaft zu verschaffen. Er hat uns niemals gestraft, kaum jemals ein tadelndes Wort ausgesprochen, betheiligte sich aber oft an unsern Spielen und verstand es dabei wirklich spielend unsere guten Eigenschaften zu entwickeln und die schlechten zu unterdrücken. Sein Unterricht war im höchsten Grade anregend und anspornend. Er wußte uns immer erreichbare Ziele für unsre Arbeit zu stellen und stärkte unsre Thatkraft und unsern Ehrgeiz durch die Freude über die Erreichung des gesteckten Zieles, die er selbst dann aufrichtig mit uns theilte. So gelang es ihm schon in wenigen Wochen, aus verwilderten, arbeitsscheuen Jungen die eifrigsten und fleißigsten Schüler zu machen, die er nicht zur Arbeit anzutreiben brauchte, sondern vom Uebermaaß derselben zurückhalten mußte. In mir namentlich erweckte er das nie erloschene Gefühl der Freude an nützlicher Arbeit und den ehrgeizigen Trieb, sie wirklich zu leisten. Ein wichtiges Hülfsmittel, das er dazu brauchte, waren seine Erzählungen. Wenn uns am späten Abend die Augen bei der Arbeit zufielen, so winkte er uns zu sich auf das alte Ledersopha, auf dem er neben unserm Arbeitstische zu sitzen pflegte, und während wir uns an ihn schmiegten, malte er uns Bilder unsres eignen künftigen Lebens aus, welche uns entweder auf Höhepunkten des bürgerlichen Lebens darstellten, die wir durch Fleiß und moralische Tüchtigkeit erklommen hatten, und die uns in die Lage brachten, auch die Sorgen der Eltern – die besonders in jener für den Landwirth so schweren Zeit sehr groß waren – zu beseitigen, oder welche uns wieder in traurige Lebenslagen zurückgefallen zeigten, wenn wir in unserm Streben erlahmten und der Versuchung zum Bösen nicht zu widerstehen vermochten. Leider dauerte dieser glücklichste Theil meiner Jugendzeit nicht lange, nicht einmal ein volles Jahr. Sponholz hatte oft Anfälle tiefer Melancholie, die wohl zum Theil seinem verfehlten theologischen Beruf und Lebenslauf, zum Theil Ursachen entsprang, die uns Kindern noch unverständlich waren. In einem solchen Anfalle verließ er in einer dunklen Winternacht mit einem Jagdgewehr das Haus und ward nach langem Suchen an einer entlegenen Stelle des Gutes mit zerschmettertem Schädel aufgefunden. Unser Schmerz über den Verlust des geliebten Freundes und Lehrers war grenzenlos. Meine Liebe und Dankbarkeit habe ich ihm bis auf den heutigen Tag bewahrt.

Der Nachfolger von Sponholz war ein ältlicher Herr, der schon lange Jahre in adeligen Häusern die Stelle eines Hauslehrers inne gehabt hatte. Er war fast in allen Punkten das Gegentheil von seinem Vorgänger. Sein Erziehungssystem war ganz formaler Natur. Er verlangte, daß wir vor allen Dingen folgsam waren und uns gesittet benahmen. Jugendliches Ungestüm war ihm durchaus zuwider. Wir sollten die vorgeschriebenen Stunden aufmerksam sein und unsre Arbeiten machen, sollten ihm auf Spaziergängen gesittet folgen und ihn außerhalb der Schulzeit nicht stören. Der arme Mann war kränklich und starb nach zwei Jahren in unserm Hause an der Lungenschwindsucht. Einen anregenden und bildenden Einfluß hatte er auf uns nicht, und ohne die nachhaltige Einwirkung, die Sponholz auf uns ausgeübt, würden die beiden Jahre wenigstens für mich und meinen Bruder Hans ziemlich nutzlos vergangen sein. Bei mir war aber der Wille, meine Pflicht zu thun und Tüchtiges zu lernen, durch Sponholz so fest begründet, daß ich mich nicht irre machen ließ und umgekehrt den Lehrer mit mir fortriß. Es hat mir in späteren Jahren oft leid gethan, daß ich dem armen, kranken Mann so häufig die nöthige Ruhe raubte, indem ich nach Schluß der Unterrichtszeit noch Stunden lang auf meinem Arbeitsplatze sitzen blieb und alle kleinen Mittel, die er anwendete, um mich los zu werden, unbeachtet ließ.

Nach dem Tode des zweiten Hauslehrers entschloß sich mein Vater, Bruder Hans und mich auf das Lübecker Gymnasium, die sogenannte Katharinenschule, zu bringen, und führte diesen Plan aus, nachdem ich in unsrer Pfarrkirche zu Lübsee konfirmirt war. Beim Eintrittsexamen wurde ich nach Obertertia, mein Bruder nach Untertertia gesetzt. Wir kamen in keine eigentliche Pension, sondern bezogen ein Privatquartier bei einem Lübecker Bürger, bei dem wir auch beköstigt wurden. Mein Vater hatte so unbedingtes Vertrauen zu meiner Zuverlässigkeit, daß er mir auch das volle Aufsichtsrecht über meinen etwas leicht gesinnten Bruder gab, bei dem die frühere Wildheit so ziemlich wieder zum Durchbruch gekommen war, wie schon der Beiname »der tolle Hans« zeigte, den er sich in der Schule erwarb.

Die Lübecker Katharinenschule bestand aus dem eigentlichen Gymnasium und der Bürgerschule, die beide unter demselben Direktor standen und bis zur Tertia des Gymnasiums Parallelklassen bildeten. Das Gymnasium genoß damals hohes Ansehn als gelehrte Schule. Im Wesentlichen wurden auf ihm nur die alten Sprachen getrieben. Der Unterricht in der Mathematik war sehr mangelhaft und befriedigte mich nicht; ich wurde in diesem Gegenstande in eine höhere Parallelklasse versetzt, obschon ich bis dahin Mathematik nur als Privatstudium betrieben hatte, da beide Hauslehrer nichts davon verstanden. Dagegen fielen mir die alten Sprachen recht schwer, weil mir die schulgerechte, feste Grundlage fehlte. So sehr mich das Studium der Klassiker auch interessirte und anregte, so sehr war mir das Erlernen der grammatischen Regeln, bei denen es nichts zu denken und zu erkennen gab, zuwider. Ich arbeitete mich zwar in den beiden folgenden Jahren gewissenhaft bis zur Versetzung nach Prima durch, sah aber doch, daß ich im Studium der alten Sprachen keine Befriedigung finden würde, und entschloß mich, zum Baufach, dem einzigen damals vorhandenen technischen Fache, überzugehen. Daher ließ ich in Secunda das griechische Studium fallen und nahm statt dessen Privatstunde in Mathematik und Feldmessen, um mich zum Eintritt in die Berliner Bauakademie vorzubereiten. Nähere Erkundigungen ergaben aber leider, daß das Studium auf der Bauakademie zu kostspielig war, um meinen Eltern in der für die Landwirthschaft immer schwieriger gewordenen Zeit, in der ein Scheffel Weizen für einen Gulden verkauft wurde, bei der großen Zahl von jüngeren Geschwistern ein solches Opfer auferlegen zu können.

Aus dieser Noth rettete mich der Rath meines Lehrers im Feldmessen, des Lieutenants im Lübecker Contingent, Freiherrn von Bülzingslöwen, der früher bei der preußischen Artillerie gedient hatte. Dieser rieth mir, beim preußischen Ingenieurcorps einzutreten, wo ich Gelegenheit erhalten würde, dasselbe zu lernen, was auf der Bauakademie gelehrt würde. Mein Vater, dem ich diesen Plan mittheilte, war ganz damit einverstanden und führte noch einen gewichtigen Grund dafür an, dessen große Wahrheit durch die neuere deutsche Geschichte in helles Licht gesetzt worden ist. Er sagte: »So, wie es jetzt in Deutschland ist, kann es unmöglich bleiben. Es wird eine Zeit kommen, wo Alles drunter und drüber geht. Der einzige feste Punkt in Deutschland ist aber der Staat Friedrichs des Großen und die preußische Armee, und in solchen Zeiten ist es immer besser, Hammer zu sein als Amboß.« Ich nahm daher Ostern 1834 im siebzehnten Lebensjahre Abschied von dem Gymnasium und wanderte mit sehr mäßigem Taschengelde nach Berlin, um unter die künftigen Hämmer zu gehen.


Als der schwere Abschied von der Heimath, von der innigst geliebten, im Uebermaaß ihrer Mühen und Sorgen schon kränkelnden Mutter und den zahlreichen, liebevoll an mir hängenden Geschwistern überwunden war, brachte mich mein Vater nach Schwerin, und ich trat von dort meine Wanderung an. Nachdem ich die preußische Grenze überschritten hatte und nun auf gradliniger, staubiger Chaussee durch eine baumlose und unfruchtbare Sandebene fortwanderte, überkam mich doch das Gefühl einer großen Vereinsamung, welches durch den traurigen Contrast der Landschaft mit meiner Heimath noch verstärkt wurde. Vor meiner Abreise war eine Deputation der angesehensten Bauern des Ortes bei meinem Vater erschienen, um ihn zu bitten, mich, der doch »so ein gauder Junge« wäre, nicht nach dem Hungerlande Preußen zu schicken; ich fände ja zu Hause genug zu essen! Die Bauern wollten es meinem Vater nicht recht glauben, daß hinter dem öden Grenzsande in Preußen auch fruchtbares Land läge. Trotz meines festen Entschlusses, auf eigne Hand mein Fortkommen in der Welt zu suchen, wollte es mir doch jetzt scheinen, als ob die Bauern Recht hätten und ich einer traurigen Zukunft entgegenwanderte. Es war mir daher ein Trost, als ich auf der Wanderung einen munteren und ganz gebildeten jungen Mann traf, der gleich mir mit einem Ränzel auf dem Rücken gen Berlin wanderte. Er war in Berlin schon bekannt und schlug mir vor, mit ihm in seine Herberge zu gehen, die er sehr lobte.

Es war die Knopfmacherherberge, in der ich mein erstes Nachtquartier in Berlin nahm. Der Herbergsvater erkannte bald, daß ich nicht zu seiner gewohnten Gesellschaft gehörte, und schenkte mir sein Wohlwollen. Er schützte mich gegen die Hänseleien der jungen Knopfmacher und half mir am folgenden Tage die Adresse eines entfernten Verwandten, des Lieutenants von Huet, der bei der reitenden Garde-Artillerie stand, erforschen. Vetter Huet nahm mich freundlich auf, bekam aber einen tödtlichen Schreck, als er hörte, ich sei in der Knopfmacherherberge abgestiegen. Er beauftragte sofort seinen Burschen, mein Ränzel aus der Herberge zu holen und mir in einem kleinen Hotel der neuen Friedrichstraße ein Zimmer zu bestellen, erbot sich auch, nach der nothwendigen Verbesserung meiner Toilette mit mir zum damaligen Chef des Ingenieurcorps, dem General von Rauch, zu gehen und ihm meinen Wunsch vorzutragen.

Der General redete mir entschieden ab, da bereits so viele Avantageure auf die Einberufung zur Artillerie- und Ingenieurschule warteten, daß ich vor vier bis fünf Jahren nicht hoffen dürfte, dahin zu gelangen. Er rieth mir, zur Artillerie zu gehen, deren Avantageure dieselbe Schule wie die Ingenieure besuchten und bedeutend bessere Aussichten hätten. So entschloß ich mich denn, bei der Artillerie mein Heil zu versuchen, und da bei der Garde kein Ankommen war, wanderte ich mit einer Empfehlung vom Vater des Lieutenants von Huet, dem Obersten a. D. von Huet, an den Kommandeur der 3. Artillerie-Brigade, Obersten von Scharnhorst, frohen Muthes nach Magdeburg.

Der Oberst – ein Sohn des berühmten Organisators der Preußischen Armee – machte zwar anfangs auch große Schwierigkeiten mit dem Bemerken, daß der Andrang zum Eintritt auf Officiersavancement sehr groß wäre, und daß er von den fünfzehn jungen Leuten, die sich zum Examen bereits gemeldet hätten, nur die vier annehmen könnte, welche das Examen am besten bestehen würden. Er gab aber schließlich meinen Bitten nach und versprach, mich zum Examen zuzulassen, wenn Se. Majestät der König genehmigen würde, daß ich als Ausländer in die preußische Armee eintreten dürfe. Ihm gefiel offenbar mein frisches, entschiedenes Auftreten, bestimmend war aber doch vielleicht der Umstand, daß er aus meinen Papieren ersah, daß meine Mutter eine geborene Deichmann aus Poggenhagen war, welches an das Gut seines Vaters grenzte.

Da das Eintrittsexamen erst Ende Oktober stattfinden sollte, so hatte ich noch drei Monate zur Vorbereitung. Ich wanderte daher weiter nach Rhoden am Nordabhange des Harzes, wo ein Bruder meines Vaters Gutsbesitzer war, und verlebte dort einige Wochen in traulichem Verkehr mit den Verwandten, von denen namentlich die beiden hübschen und liebenswürdigen erwachsenen Töchter einen großen Eindruck auf mich machten; gern ließ ich mir ihre erziehenden Bemühungen um den jungen, noch etwas verwilderten Vetter gefallen. Dann ging ich mit meinem einige Jahre jüngeren Vetter Louis Siemens nach Halberstadt und bereitete mich dort eifrig auf das Eintrittsexamen vor.

Das Programm des Examens, das der Oberst von Scharnhorst mir eingehändigt hatte, machte mir doch große Bedenken. Außer Mathematik verlangte man namentlich Geschichte, Geographie und Französisch, und diese Fächer wurden auf dem Lübecker Gymnasium sehr oberflächlich getrieben. Die Lücken auszufüllen wollte in ein paar Monaten nur schwer gelingen. Es fehlte mir auch noch die Entlassung vom mecklenburgischen Militärdienst, von dem mein Vater mich erst freikaufen mußte, und die Erlaubniß des Königs zum Eintritt in die preußische Armee. Ich marschirte daher gegen Mitte Oktober recht sorgenschwer nach Magdeburg, wo ich den aus der Heimath erwarteten Brief mit den nöthigen Papieren noch nicht vorfand. Als ich dennoch zur festgesetzten Zeit zum Examen gehen wollte, begegnete mir zu meiner großen, freudigen Ueberraschung mein Vater, der mit einem leichten Fuhrwerk selbst nach Magdeburg gefahren war, um mir die Papiere rechtzeitig zu überbringen, da die Post damals noch zu langsam ging.

Das Examen verlief gleich am ersten Tage über Erwarten günstig für mich. In der Mathematik war ich meinen vierzehn Concurrenten entschieden überlegen. In der Geschichte hatte ich Glück und schnitt so leidlich ab. In den neueren Sprachen war ich wohl schwächer als die anderen, doch wurde mir bessere Kenntniß der alten Sprachen dafür angerechnet. Schlimmer schien es für mich in der Geographie zu stehen; ich merkte bald, daß die meisten darin viel mehr wußten als ich. Doch da half mir ein besonders günstiges Zusammentreffen. Examinator war ein Hauptmann Meinicke, der den Ruf eines sehr gelehrten und dabei originellen Mannes hatte. Er galt für einen großen Kenner des Tokayer Weins, wie ich später erfuhr, und das mochte ihn wohl veranlassen, nach der Lage von Tokay zu forschen. Niemand wußte sie, worüber er sehr zornig wurde. Mir als letztem der Reihe fiel zum Glück ein, daß es Tokayer Wein gab, der einst meiner kranken Mutter verordnet war, und daß der auch Ungarwein benannt wurde. Auf meine Antwort »in Ungarn, Herr Hauptmann!« erhellte sich sein Gesicht, und mit dem Ausruf »Aber, meine Herren, Sie werden doch den Tokayer Wein kennen!« gab er mir die beste Censur in der Geographie.

So gehörte ich zu den vier Glücklichen, die das Examen am besten bestanden hatten, doch mußte ich noch bange vier Wochen auf die königliche Erlaubniß zum Eintritt in die Armee warten, und als sie Ende November kam, konnte ich doch nicht sogleich eingestellt werden, weil ich erst am 13. December 1816 geboren war, also das siebzehnte Jahr noch nicht zurückgelegt hatte. Ich erhielt aber einen besonderen Exercirmeister, der mich in Civilkleidung auf dem Magdeburger Domplatz tapfer drillte.

Meine Leistungen gewannen mir bald das Wohlgefallen des gestrengen Bombardiers, nur ein Punkt brachte ihn beinahe zur Verzweiflung. Ich hatte sehr stark gekräuseltes, hellbraunes Haar, welches sich durchaus der militärischen Regel nicht fügen wollte, die verlangte, daß das Haar an den Schläfen glatt anlag. Bei der Inspection hatte der Hauptmann einen Tadel über das ungeordnete Haar des Rekruten ausgesprochen, und es wurden nun alle möglichen Experimente mit mir angestellt, um diesen militärischen Fehler wenigstens einigermaaßen zu vertuschen. Am besten schien sich der Bodensatz des Magdeburger Bräuhahns, eines damals beliebten Bieres, dafür zu eignen. Ich mußte manche Flasche dazu liefern, von der ja leider immer nur der Bodensatz für mich verwendet werden konnte. Es gelang damit auch nach wiederholtem Gebrauche, meine Haare glatt anliegend zu machen, doch nach einiger Zeit revoltirten sie, und in der Regel brachen zum Entsetzen des Bombardiers gerade bei Vorstellungen wieder rebellische Locken aus der glatten Haarschicht hervor.

Ich denke an meine Rekrutenzeit trotz der großen mit ihr verknüpften Anstrengungen, sowie grober und scheinbar harter Behandlung durch die Exercirmeister noch heute mit Vergnügen zurück. Die Grobheit ist Manier und ist nicht mit kränkender Absicht verbunden. Sie geht daher auch nicht zu Herzen, hat im Gegentheil etwas Auffrischendes und Anregendes, namentlich wenn sie mit Humor verknüpft ist, wie es bei den berühmt gewordenen Mustern militärischer Grobheit fast immer der Fall war. Ist der Dienst vorbei, so ist die Grobheit vergessen, und das kameradschaftliche Gefühl tritt wieder in sein Recht. Dies kameradschaftliche Gefühl, welches die ganze preußische Armee vom Könige herab bis zum Rekruten durchdringt, macht die strenge Disciplin, die oft bis zur äußersten Grenze der Leistungsfähigkeit gehenden Mühen und Beschwerden erträglich und bildet ihr festes Bindemittel in Freud und Leid. Dem langgedienten Soldaten wird es daher auch in der Regel sehr schwer, sich im Civildienst zurecht zu finden; es fehlt ihm in diesem die rücksichtslose Grobheit auf kameradschaftlicher Grundlage.

Nach sechsmonatlichem Exercitium kam das große Ereigniß des Avancements zum Bombardier. Es war ein erhebendes Gefühl, jetzt der Vorgesetzte von Hunderttausenden zu sein und von allen Gemeinen pflichtmäßig gegrüßt zu werden. Dann folgte das Commando zur reitenden Artillerie, darauf die interessante Schießübung, bei der mir zuerst die Erkenntniß meiner technischen Begabung kam, da mir alles selbstverständlich schien, was den meisten schwer wurde zu begreifen. Endlich, im Herbst des Jahres 1835, erhielt ich das ersehnte Commando zur vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule nach Berlin und damit die Erfüllung meines sehnlichen Wunsches, Gelegenheit zu finden, Nützliches zu lernen.

Die drei Jahre, welche ich vom Herbst 1835 bis zum Sommer 1838 auf der Berliner Artillerie- und Ingenieurschule zubrachte, zähle ich zu den glücklichsten meines Lebens. Das kameradschaftliche Leben mit jungen Leuten gleichen Alters und gleichen Strebens, das gemeinschaftliche Studium unter der Leitung tüchtiger Lehrer, von denen ich nur den Mathematiker Ohm, den Physiker Magnus und den Chemiker Erdmann nennen will, deren Unterricht mir eine neue, interessante Welt eröffnete, machten diese Zeit für mich zu einer außerordentlich genußreichen. Dazu kam, daß ich in einem meiner Brigadekameraden, William Meyer, einen wirklichen Freund gefunden hatte, mit dem mich fortan innige, opferfreudige Freundschaft bis zu seinem Tode verband. Ich hatte schon auf dem Lübecker Gymnasium den Anlauf zu einem solchen intimen Freundschaftsbunde genommen, da ich glaubte, in einem Mitschüler einen wirklichen Freund gefunden zu haben, doch als ich ihn einst besuchen wollte, ließ er sich verläugnen, und ich hatte doch deutlich gesehen, daß er zu Hause war und sich vor mir verbarg. Das erschien mir als ein so unverzeihlicher Bruch aufrichtiger Freundschaft, daß ich ihn mit tiefem Schmerze von mir stieß und es niemals wieder über mich gewann, ihm freundschaftliche Gesinnung zu zeigen.

William Meyer lernte ich bei der reitenden Artillerie in Burg kennen, wohin er bereits vor mir commandirt war. Er hatte eine wenig ansehnliche Figur, war in keiner Hinsicht hervorragend oder talentvoll, hatte aber einen klaren Verstand und gefiel mir schon damals durch sein gerades, ungeschminktes Wesen und seine unbeeinflußte Aufrichtigkeit und Zuverlässigkeit. Wir schlossen uns auf der Schule innig an einander an, lebten und studirten zusammen, bezogen ein gemeinsames Quartier und setzten dies später überall fort, wo die Verhältnisse es gestatteten. Unsere notorische Freundschaft und der Umstand, daß ich zuerst gegen die »Tyrannei der Fähnriche« revoltirte, was zu einem Duell mit meinem Stubenältesten führte, bei dem Meyer mir secundirte, bewirkten sonderbarer Weise, daß fast bei allen Paukereien, die im Laufe des ersten Jahres auf der Schule folgten, Meyer und ich zu Secundanten der gegnerischen Parteien gewählt wurden.

Diese Duelle hatten nur in wenigen Fällen gefährliche Verwundungen zur Folge, übten aber insofern eine sehr nützliche Wirkung aus, als sie einen gesitteten Umgangston unter den jungen Leuten herbeiführten. Unser Jahrgang war der erste, bei dem die Avantageure in beschränkter Zahl auf Grund eines ziemlich strengen Eintrittsexamens eingestellt und dann nach Absolvirung eines Dienstjahres zur Schule commandirt wurden. Früher machte man keinen Unterschied zwischen Officiers- und Unterofficierscandidaten, und es wurden dann oft erst nach Ablauf mehrerer Dienstjahre, die zum Theil in den Kasernen verbracht werden mußten, die Tüchtigsten oder auch wohl die Bestempfohlenen zur Schule commandirt. Der etwas rüde Umgangston, der von dem langen Verkehr mit ungebildeten Kameraden an den jungen Leuten haften geblieben war, fand in den Duellen das beste und am schnellsten wirkende Heilmittel.

Die dreijährige Schulzeit verlief für mich ohne wesentliche äußere Erlebnisse. Obschon ich sehr an Anfällen von Wechselfieber litt und auch einmal wegen Verletzung des Schienbeins mehrere Monate im Lazareth liegen mußte, gelang es mir doch, die drei Examina – das Fähnrich-, das Armeeofficier- und schließlich das Artillerieofficierexamen – glücklich, wenn auch ohne Auszeichnung, zu bestehen. Ich hatte mir mit eisernem Fleiße das für diese Examina nöthige Gedächtnißmaterial eingepaukt, um es nachher noch schneller wieder zu vergessen, hatte aber alle mir frei bleibende Zeit meinen Lieblingswissenschaften, Mathematik, Physik und Chemie gewidmet. Die Liebe zu diesen Wissenschaften ist mir mein ganzes Leben hindurch treu geblieben und bildet die Grundlage meiner späteren Erfolge.

Groß war die Freude, als ich nach Absolvirung der Schule mit meinem Freunde Meyer einen vierwöchentlichen Urlaub zum Besuche der Heimath erhielt. Meine Geschwister, deren Zahl schon auf zehn gewachsen war, und auch meine Eltern kannten mich kaum wieder. Das ganze Dorf freute sich mit ihnen über die Wiederkehr des »Muschü's«, welches der hergebrachte Titel der Söhne »des Hofes« war. Es gab wirklich rührende Wiedersehensscenen mit den braven Leuten unseres und der benachbarten Dörfer, die übrigens großen Respect vor den preußischen Officieren hatten, denen sie das gefürchtete Hungerleiden der Preußen allerdings nicht ansehen konnten.

Meine ältere Schwester Mathilde feierte damals ihre Hochzeit mit dem Professor Karl Himly aus Göttingen, der mir bis zu seinem Tode ein lieber Freund geblieben ist. Hans und Ferdinand waren Landwirthe geworden. Der dritte meiner jüngeren Brüder, Wilhelm, war auf der Schule in Lübeck und sollte Kaufmann werden. Die nächstfolgenden, Friedrich und Karl, besuchten ebenfalls die Schule in Lübeck,, wo sie bei einem jüngeren Bruder meiner Mutter, dem Kaufmann Ferdinand Deichmann, in Pension gegeben waren.

Daß Wilhelm Kaufmann werden sollte, wollte mir gar nicht gefallen. Einmal theilte ich damals die Abneigung der preußischen Officiere gegen den Kaufmannsstand, und dann interessirte mich auch Wilhelms eigenthümliches, etwas verschlossenes aber intelligentes Wesen und sein klarer Verstand. Ich bat daher meine Eltern, ihn mir nach meiner künftigen Garnison Magdeburg mitzugeben, um ihn die dortige angesehene Gewerbe- und Handelsschule besuchen zu lassen. Die Eltern willigten ein, und so nahmen wir ihn denn mit uns nach Magdeburg, wo ich ihn in einer kleinen Pensionsanstalt unterbrachte, da ich reglementsmäßig das erste Jahr in der Kaserne wohnen mußte.

Nach Ablauf dieses Jahres, das ich ganz dem strengen Militärdienste zu widmen hatte, bezog ich mit Freund Meyer ein Stadtquartier und nahm den damals sechszehnjährigen Wilhelm nun zu mir. Ich hatte väterliche Freude an seiner schnellen Entwicklung und half ihm in freien Stunden bei seinen Schularbeiten. Auch veranlaßte ich ihn damals, den nicht befriedigenden mathematischen Unterricht auf der Schule aufzugeben und statt dessen Englisch zu treiben. Es ist dies für sein späteres Leben von Bedeutung geworden. Mathematischen Unterricht gab ich ihm selbst jeden Morgen von 5 bis 7 Uhr und hatte die Freude, daß er später ein besonders gutes Examen in der Mathematik machte. Mir selbst war dieser Unterricht sehr nützlich, auch trug er dazu bei, daß ich allen Verlockungen des Officierlebens siegreich widerstand und meine wissenschaftlichen Studien energisch fortsetzte.

Leider wurde dieses brüderliche Zusammenleben durch die immer bedenklicher lautenden Mittheilungen des Vaters über den Gesundheitszustand unsrer geliebten Mutter sehr getrübt. Am 8. Juli 1839 erlag sie ihren Leiden und ließ den selbst kränklichen, durch Kummer und schwere materielle Sorgen niedergebeugten Vater mit der großen Schaar noch unerzogener Kinder in einer höchst traurigen Lage zurück. Ich unterlasse es, den tiefgehenden Schmerz über den Verlust der Mutter zu schildern. Die Liebe zu ihr war das feste Band, das die Familie zusammenhielt, und die Furcht, sie zu betrüben, bildete für uns Geschwister stets die wirksamste Schutzwehr für unser Wohlverhalten.

Ich erhielt einen kurzen Urlaub zum Besuche der Heimath und des Grabes der Mutter. Leider flößte mir schon damals die geschwächte Gesundheit des Vaters nur wenig Zutrauen zu der Fortdauer eines geordneten Familienlebens ein, in welchem die jüngeren Geschwister sich gedeihlich würden entwickeln können. Die Richtigkeit meiner trüben Anschauung wurde nur zu bald bestätigt. Kaum ein halbes Jahr später, am 16. Januar 1840, verloren wir auch den Vater.

Nach dem Tode der Eltern wurden vom Vormundschaftsgericht Vormünder für die jüngeren Geschwister bestellt und die Bewirthschaftung der Domäne Menzendorf meinen Brüdern Hans und Ferdinand übertragen. Meine jüngste Schwester Sophie wurde vom Onkel Deichmann in Lübeck an Kindesstatt angenommen, während die jüngsten Brüder Walter und Otto unter der Pflege der Großmutter zunächst noch in Menzendorf blieben.

Die wissenschaftlich-technischen Studien, denen ich mich jetzt mit verstärktem Eifer hingab, wären mir im folgenden Sommer beinahe sehr schlecht bekommen! Ich hatte gehört, daß mein Vetter, der Hannöversche Artillerieofficier A. Siemens, erfolgreiche Versuche mit Frictionsschlagröhren angestellt hatte, die anstatt der damals noch ausschließlich gebrauchten brennenden Lunte zum Entzünden der Kanonenladung benutzt werden sollten. Mir leuchtete die Wichtigkeit dieser Erfindung ein, und ich entschloß mich, selbst Versuche nach dieser Richtung zu machen. Da die versuchten Zündmittel nicht sicher genug wirkten, so rührte ich in Ermangelung besserer Geräthschaften in einem Pomadennapf mit sehr dickem Boden einen wässrigen Brei von Phosphor und chlorsaurem Kali zusammen und stellte den Napf, da ich zum Exerciren fortgehen mußte, gut zugedeckt in eine kühle Fensterecke.

Als ich zurückkam und mich mit einiger Besorgniß nach meinem gefährlichen Präparate umsah, fand ich es zu meiner Befriedigung noch in derselben Ecke stehen. Als ich es aber vorsichtig hervorholte und das in der Masse stehende Schwefelholz, welches zum Zusammenrühren gedient hatte, nur berührte, entstand eine gewaltige Explosion, die mir den Tschako vom Kopfe schleuderte und sämmtliche Fensterscheiben sammt den Rahmen zertrümmerte. Der ganze obere Theil des Porzellannapfes war als feines Pulver im Zimmer umhergeschleudert, während sein dicker Boden tief in das Fensterbrett eingedrückt war.

Als Ursache dieser ganz unerwarteten Explosion stellte sich heraus, daß mein Bursche beim Reinmachen des Zimmers das Gefäß in die Ofenröhre gesetzt und dort einige Stunden hatte trocknen lassen, bevor er es wieder an denselben Platz zurücktrug. Wunderbarer Weise war ich nicht sichtlich verwundet, nur hatte der gewaltige Luftdruck die Haut meiner linken Hand so gequetscht, daß Zeigefinger und Daumen von einer großen Blutblase bedeckt waren. Leider war mir aber das rechte Trommelfell zerrissen, was ich sogleich daran erkannte, daß ich die Luft durch beide Ohren ausblasen konnte; das linke Trommelfell war mir schon im Jahre vorher bei einer Schießübung geplatzt. Ich war in Folge dessen zunächst ganz taub und hatte noch keinen Laut gehört, als plötzlich die Thür meines Zimmers sich öffnete und ich sah, daß das ganze Vorzimmer mit entsetzten Menschen angefüllt war. Es hatte sich nämlich sofort das Gerücht verbreitet, einer der beiden im Quartier wohnenden Officiere hätte sich erschossen.

Ich habe in Folge dieses Unfalles lange an Schwerhörigkeit gelitten und leide auch heute noch hin und wieder daran, wenn sich die verschlossenen Risse in den Trommelfellen gelegentlich wieder öffnen.

Im Herbst des Jahres 1840 wurde ich nach Wittenberg versetzt, wo ich ein Jahr lang die zweifelhaften Freuden des Lebens in einer kleinen Garnisonstadt genießen mußte. Um so eifriger setzte ich meine wissenschaftlichen Studien fort. In jenem Jahre wurde in Deutschland die Erfindung Jacobis bekannt, Kupfer in metallischer Form durch den galvanischen Strom aus einer Lösung von Kupfervitriol niederzuschlagen. Dieser Vorgang nahm mein Interesse in höchstem Grade in Anspruch, da er offenbar das Eingangsthor zu einer ganzen Klasse bisher unbekannter Erscheinungen war. Als mir die Kupferniederschläge gut gelangen, versuchte ich auch andere Metalle auf dieselbe Weise niederzuschlagen, doch wollte mir dies bei meinen beschränkten Mitteln und Einrichtungen nur sehr mangelhaft glücken.

Meine Studien wurden durch ein Ereigniß unterbrochen, welches durch seine Folgen die Richtung meines Lebensganges wesentlich änderte. Die in kleineren Garnisonstädten so häufigen Zwistigkeiten zwischen Angehörigen verschiedener Waffen hatten zu einem Duell zwischen einem Infanterieofficier und einem mir befreundeten Artillerieofficier geführt. Ich mußte dem letzteren als Secundant dienen. Obgleich das Duell mit einer nur unbedeutenden Verwundung des Infanterieofficiers endete, kam es doch aus besonderen Gründen zur Anzeige und zur kriegsgerichtlichen Behandlung. Die gesetzlichen Strafen des Duellirens waren damals in Preußen von einer drakonischen Strenge, wurden aber gerade aus diesem Grunde fast immer durch bald erfolgende Begnadigung gemildert. In der That wurden durch das in Magdeburg über Duellanten und Secundanten abgehaltene Kriegsgericht diese zu fünf, jene zu zehn Jahren Festungshaft verurtheilt.

Ich sollte meine Haft in der Citadelle von Magdeburg absitzen und mußte mich nach der eingetroffenen Bestätigung des kriegsgerichtlichen Urtheils daselbst melden. Die Aussicht, mindestens ein halbes Jahr lang ohne Beschäftigung eingesperrt zu werden, war nicht angenehm, doch tröstete ich mich damit, daß ich viel freie Zeit zu meinen Studien haben würde. Um diese Zeit gut ausnutzen zu können, suchte ich auf dem Wege zur Citadelle eine Chemikalienhandlung auf und versah mich mit den nöthigen Mitteln, um meine elektrolytischen Versuche fortzusetzen. Ein freundlicher junger Mann in dem Geschäfte versprach mir, nicht nur diese Gegenstände in die Citadelle einzuschmuggeln, sondern auch spätere Requisitionen prompt auszuführen, und hat sein Versprechen gewissenhaft gehalten.

So richtete ich mir denn in meiner vergitterten aber geräumigen Zelle ein kleines Laboratorium ein und war ganz zufrieden mit meiner Lage. Das Glück begünstigte mich bei meiner Arbeit. Aus Versuchen mit der Herstellung von Lichtbildern nach dem vor einiger Zeit bekannt gewordenen Verfahren Daguerres, die ich mit meinem Schwager Himly in Göttingen angestellt hatte, war mir erinnerlich, daß das dabei verwendete unterschwefligsaure Natron unlösliche Gold- und Silbersalze gelöst hatte. Ich beschloß daher, dieser Spur zu folgen und die Verwendbarkeit solcher Lösungen zur Elektrolyse zu prüfen. Zu meiner unsäglichen Freude gelangen die Versuche in überraschender Weise. Ich glaube, es war eine der größten Freuden meines Lebens, als ein neusilberner Theelöffel, den ich mit dem Zinkpole eines Daniellschen Elementes verbunden in einen mit unterschwefligsaurer Goldlösung gefüllten Becher tauchte, während der Kupferpol mit einem Louisdor als Anode verbunden war, sich schon in wenigen Minuten in einen goldenen Löffel vom schönsten, reinsten Goldglanze verwandelte.

Die galvanische Vergoldung und Versilberung war damals, in Deutschland wenigstens, noch vollständig neu und erregte im Kreise meiner Kameraden und Bekannten natürlich großes Aufsehen. Ich schloß auch gleich darauf mit einem Magdeburger Juwelier, der das Wunder vernommen hatte und mich in der Citadelle aufsuchte, einen Vertrag ab, durch den ich ihm das Recht der Anwendung meines Verfahrens für vierzig Louisdor verkaufte, die mir die erwünschten Mittel für weitere Versuche gaben.

Inzwischen war ein Monat meiner Haft abgelaufen, und ich dachte wenigstens noch einige weitere Monate ruhig fortarbeiten zu können. Ich verbesserte meine Einrichtung und schrieb ein Patentgesuch, auf welches mir auch auffallend schnell ein preußisches Patent für fünf Jahre ertheilt wurde. Da erschien unerwartet der Officier der Wache und überreichte mir zu meinem großen Schrecken, wie ich bekennen muß, eine königliche Kabinetsordre, die meine Begnadigung aussprach. Es war wirklich hart für mich, meiner erfolgreichen Thätigkeit so plötzlich entrissen zu werden. Nach dem Reglement mußte ich noch an demselben Tage die Citadelle verlassen und hatte weder eine Wohnung, in welche ich meine Effecten und Einrichtung schaffen konnte, noch wußte ich, wohin ich jetzt versetzt werden würde.

Ich schrieb deshalb an den Festungscommandanten ein Gesuch, in dem ich bat, mir zu gestatten, meine Zelle noch einige Tage benutzen zu dürfen, damit ich meine Angelegenheiten ordnen und meine Versuche beendigen könnte. Da kam ich aber schlecht an! Gegen Mitternacht wurde ich durch den Eintritt des Officiers der Wache geweckt, der mir mittheilte, daß er Ordre erhalten habe, mich sofort aus der Citadelle zu entfernen. Der Commandant hatte es als einen Mangel an Dankbarkeit für die mir erwiesene königliche Gnade angesehen, daß ich um Verlängerung meiner Haft gebeten. So wurde ich denn um Mitternacht mit meinen Effecten aus der Citadelle geleitet und mußte mir in der Stadt ein Unterkommen suchen.

Glücklicherweise wurde ich nicht wieder nach Wittenberg geschickt, sondern bekam ein Commando nach Spandau zur Lustfeuerwerkerei. Meine bekannt gewordene Erfindung hatte mich in den Augen meiner Vorgesetzten wohl als weniger qualificirt für den praktischen Dienst erscheinen lassen! Die Lustfeuerwerkerei war ein Ueberbleibsel aus der alten Zeit, in der das »Constablerthum« noch eine Kunst war, als deren Krone die Herstellung von Feuerwerken angesehen wurde. Mein Interesse für die mir zugewiesene Thätigkeit war groß; frohen Muthes zog ich gen Spandau und nahm von den für die Lustfeuerwerkerei bestimmten Räumen in der Citadelle Besitz.

Meine neue Beschäftigung war in der That ganz interessant, und ich lag ihr mit um so größerem Eifer ob, als der Luftfeuerwerkerei-Abtheilung eine große Bestellung auf ein Feuerwerk zuging, welches am Geburtstage der Kaiserin von Rußland im Parke des Prinzen Karl in Glienicke bei Potsdam abgebrannt werden sollte. Durch die Fortschritte der Chemie waren in jener Zeit die Mittel zur Herstellung sehr schöner farbiger Flammen gegeben, die den alten Constablern noch unbekannt waren. Mein Feuerwerk auf dem Havelsee bei Glienicke brachte mir daher namentlich durch die Pracht der Feuerwerksfarben viel Ehre und Anerkennung ein. Ich wurde zur prinzlichen Tafel gezogen und erhielt die Aufforderung, mit dem jungen Prinzen Friedrich Karl eine Segelwettfahrt zu machen, da das Segelboot, mit dem ich von Spandau nach Glienicke gefahren war, sich durch große Schnelligkeit auszeichnete. Ich besiegte mit ihm auch den späteren Sieger großer Schlachten, der mir schon damals durch sein entschlossenes, thatkräftiges Wesen oder durch seine »Schneidigkeit«, wie man sich heute ausdrückt, in hohem Grade auffiel.

Mit dem Abbrennen dieses Feuerwerks war mein Commando zur Lustfeuerwerkerei beendet, und ich wurde zu meiner Freude nach Berlin zur Dienstleistung bei der Artillerie-Werkstatt commandirt. Durch diese Versetzung wurde mein größter Wunsch erfüllt, Zeit und Gelegenheit zu weiteren naturwissenschaftlichen Studien und zur Vermehrung meiner technischen Kenntnisse zu erhalten.

Es waren aber auch noch andere Gründe, die mir diesen Wechsel sehr erwünscht machten. Nach dem Tode meiner Eltern lag mir die Verpflichtung ob, für meine jüngeren Geschwister zu sorgen, von denen mein jüngster Bruder Otto beim Tode der Mutter erst im dritten Lebensjahre stand. Die Domänenpachtung blieb zwar noch eine Reihe von Jahren in den Händen der Familie, aber die Zeiten waren für die Landwirthschaft noch immer unerhört schlecht, so daß die geringen Ueberschüsse, die von meinen Brüdern Hans und Ferdinand durch die Bewirthschaftung erzielt wurden, zur Erziehung der Kinder nicht ausreichten. Ich mußte also suchen, mir eigene Erwerbsquellen zu eröffnen, um meine Verpflichtungen als Familienältester erfüllen zu können, und das schien mir in Berlin leichter möglich als an anderen Orten.

Mein Bruder Wilhelm hatte inzwischen die Magdeburger Schule absolvirt und war dann auf meine Veranlassung ein Jahr lang zu meiner Schwester Mathilde nach Göttingen gegangen, um dort naturwissenschaftliche Studien zu treiben. Darauf trat er als Eleve in die Gräflich Stolbergische Maschinenbauanstalt in Magdeburg ein. Er widmete sich dort mit großem Eifer dem praktischen Maschinenbau, der sich zu jener Zeit in Deutschland durch den beginnenden Eisenbahnbau schnell entwickelte. Ich correspondirte stets eifrig mit Wilhelm und ließ mir dabei häufig die Aufgaben mittheilen, bei denen er constructiv thätig war. Eine solche Aufgabe war die exacte Regulirung von Dampfmaschinen, die durch Wind- oder Wassermühlen in ihrer Arbeitsleistung unterstützt werden. Wilhelms Plan gefiel mir nicht, und ich schlug ihm vor, als Regulirungsprincip ein schweres, freischwingendes Kreispendel anzuwenden, welches durch einen Differential-Mechanismus mit der zu regulirenden Maschine verbunden, eine absolute Gleichförmigkeit ihres Ganges erzielen ließe, anstatt der Verminderung der Unregelmäßigkeiten desselben, wie sie durch den damals noch sehr unvollkommenen Wattschen Regulator nur herbeigeführt werden konnte. Es entwickelte sich aus diesem Vorschlage die Construction des Differenz-Regulators, auf den ich im folgenden noch zurückkommen werde.

In Berlin hatten meine Bemühungen, durch meine Erfindungen Geld zu verdienen, bald Erfolg, obwohl sie mir dadurch sehr erschwert wurden, daß ich als Officier in der Wahl der Mittel zur Einleitung von Geschäften sehr beschränkt war. Es gelang mir, mit der Neusilberfabrik von J. Henniger einen Vertrag abzuschließen, nach welchem ich derselben eine Anstalt für Vergoldung und Versilberung nach meinem Patente gegen Betheiligung am Gewinn anzulegen hatte. So entstand die erste derartige Anstalt in Deutschland. In England hatte bereits ein Herr Elkington auf Grund eines anderen Verfahrens – des jetzt allgemein verwendeten Niederschlags aus Gold- und Silbercyaniden – eine ähnliche Anstalt eingerichtet, die schnell großen Umfang erreichte.

Bei den Verhandlungen über die Berliner Anlage und bei der Einrichtung der Anstalt hatte mich mein Bruder Wilhelm, der eine Urlaubsreise zu mir gemacht hatte, wesentlich unterstützt, auch war es ihm gleichzeitig gelungen, eine Berliner Maschinenbauanstalt zur Anwendung des Differenz-Regulators zu bewegen. Da er offenbar Talent für solche Unterhandlungen zeigte und selbst gern England kennen lernen wollte, so kamen wir überein, daß er versuchen sollte, meine Erfindungen in England zu verwerthen und zu dem Zweck einen längeren Urlaub von seiner Fabrik zu nehmen. Große Mittel konnte ich ihm freilich nicht mit auf den Weg geben, und ich habe mich immer darüber gewundert, daß er trotzdem seinen Zweck erreichte. Er hatte sich mit richtigem Takt gleich direct an unseren Concurrenten Elkington gewendet, der ihn zunächst damit abwies, daß wir nicht das Recht hätten, unser Verfahren in England anzuwenden, da sein Patent ihm das ausschließliche Recht gäbe, elektrische Ströme, die durch galvanische Batterien oder durch Induktion erzeugt wären, zu Gold- und Silberniederschlägen zu verwenden. Wilhelm hatte Geistesgegenwart genug, ihm zu entgegnen, wir verwendeten dazu thermoelektrische Ströme, verstießen also nicht gegen seine Patente. Es glückte mir auch in der That sogleich, eine vielpaarige Thermokette aus Eisen und Neusilber herzustellen, mit der man Gold und Silber aus unterschwefligsauren Lösungen gut niederschlagen konnte. In Folge dessen gelang es Wilhelm, unser englisches Patent für 1500 Lstr. an Elkington zu verkaufen. Dies war für unsere damaligen Verhältnisse eine colossale Summe, die unserer Finanznoth für einige Zeit ein Ende machte.

Nach seiner Rückkehr aus England war Wilhelm wieder in seine Magdeburger Fabrik eingetreten, fand aber an den dortigen kleinen Verhältnissen keinen rechten Geschmack mehr, nachdem er die Großartigkeit der englischen Industrie kennen gelernt und das Leben in England ihm gefallen hatte. Er plante daher, ganz nach England überzusiedeln, und da ich sein Vorhaben billigte, so nahmen wir dort ein Patent auf den gemeinschaftlich weiter ausgebildeten Differenz-Regulator, um dessen Einführung in England zu betreiben.

Ich hatte in dieser Zeit noch zwei weitere Erfindungen gemacht, die Wilhelm dort ebenfalls verwerthen wollte. Die Ausdehnung meiner elektrolytischen Versuche hatte mich dahin geführt, auch gute Nickelniederschläge aus einer Lösung des Doppelsalzes von schwefelsaurem Nickel und schwefelsaurem Ammonium zu erzielen. Diese Vernickelung schien von besonderer Wichtigkeit für gravirte Kupferplatten, die mit Nickelüberzug versehen eine weit größere Zahl von Abdrücken ertrugen, ohne daß die Feinheit des Stiches durch die Vernickelung Einbuße erlitt. Zur Ausbeutung dieses Verfahrens hatte ich einen Vertrag mit einem Berliner Hause abgeschlossen, von dem ich große Vortheile erwartete. Leider wurde aber bald nachher der galvanische Niederschlag von Eisen aus der entsprechenden Eisenlösung erfunden, der vor dem Nickelüberzuge den großen Vorzug hatte, daß er leicht erneuert werden konnte, wenn er abgenutzt war, indem sich das Eisen durch verdünnte Schwefelsäure wieder ablösen und die Platte dann von neuem mit Eisen überziehen ließ. Das machte meine Vernickelung für diesen Zweck werthlos. Sie wurde einige Jahre später von Professor Böttger wieder erfunden und publicirt, hat aber erst in neuerer Zeit größere Anwendung in der Industrie gefunden.

Die zweite Erfindung bestand in der Anwendung des damals bekannt gewordenen Zinkdrucks zu einer rotirenden Schnellpresse. Mit Hülfe eines geschickten Mechanikers, des Uhrmachers Leonhardt, hatte ich ein Modell einer solchen Presse angefertigt, welches die nöthigen Operationen zur Herstellung lithographischer Abdrücke von einer cylindrisch gebogenen Zinkplatte ganz befriedigend ausführte. Doch ergab sich später bei der durch Wilhelm in England bewirkten Ausführung im Großen, daß der Zinkdruck keine schnelle Wiederholung der Abdrücke vertrug. Nach etwa 150 bis 200 Abdrücken mußte die Arbeit für längere Zeit unterbrochen werden, weil sonst eine Verwischung des Umdrucks auf dem Cylinder eintrat.

Als diese Schwierigkeiten meinem Bruder in England begegneten, nahm ich einen sechswöchentlichen Urlaub und besuchte ihn in London, wo er in der Nähe des Mansion Hauses, in einer engen Gasse der City, ein kleines Local für unsere Versuche gemiethet hatte. Trotz der eifrigsten Bemühungen wollte es uns aber nicht gelingen, die Schwierigkeiten zu überwinden. Wir vermochten zwar selbst Jahrhunderte alte Druckschriften durch einen Regenerationsproceß – wenn ich nicht irre, durch anhaltende Erwärmung in einer Lösung von Barytsalzen – umdruckbar zu machen, und unser Verfahren, dem wir den schönen Namen »anastatisches Druckverfahren« gegeben hatten, fand daher in England viel Aufmerksamkeit und trug dazu bei, Wilhelm daselbst bekannt zu machen. Es wurde uns aber doch klar, daß Erfindungsspekulationen eine sehr unsichere Sache sind und nur in äußerst seltenen Fällen zu Erfolgen führen, wenn sie nicht durch volle Sachkenntniß und ausreichende Mittel unterstützt werden.

Mir persönlich brachte die Reise nach England große Anregung und gab zugleich meinen weiteren Bestrebungen eine ernstere und kritische, mehr die sichere Grundlage als den erhofften Erfolg ins Auge fassende Richtung. Diese befestigte sich noch durch meine Rückreise über Paris, wo damals in der Blüthezeit des Regimentes Louis Philipps die erste große französische Industrieausstellung stattfand.

Leider wurde mein Pariser Aufenthalt durch einen unangenehmen Zufall sehr gestört. Ich wollte mich erst in Brüssel entscheiden, ob ich über Paris reisen oder direct den Heimweg einschlagen sollte, verabredete daher mit Wilhelm, daß er mir das zur Verstärkung meiner Reisekasse nöthige Geld nach Paris schicken solle, wenn ich ihn von Brüssel aus dazu auffordern würde. Als ich mich für die Reise nach Paris entschieden hatte, sandte ich ihm deshalb mit der Aufforderung zur Geldsendung meine Pariser Adresse und gab den Brief dem Wirthe meines Gasthauses zur Besorgung.

In Paris auf dem Hochsitze eines Omnibus der messageries générales nach zweitägiger Fahrt angelangt, fand ich die Stadt in Folge der Ausstellung überfüllt, und es gelang mir nur mit Mühe, im hôtel des messageries générales im achten Stockwerk ein kleines Dachzimmer zu erlangen, in welchem man nur dann aufrecht stehen konnte, wenn das zugleich als Dach dienende Fenster horizontal gestellt war. Da meine Kasse durch die Reise bis auf ein Minimum zusammengeschmolzen war, so konnte ich an keinen Umzug denken, bevor die erwartete Geldsendung aus England eingetroffen war. Darüber vergingen aber fast vierzehn Tage. Ein junger Berliner, der zur Ausstellung nach Paris gekommen war, befand sich in ganz derselben Lage. Wir mußten die Kunst, ohne Geld in Paris zu leben, recht gründlich studiren und geriethen zuletzt, da wir gar keine Bekannten oder sonstige Anhaltspunkte in der Stadt hatten, in eine höchst mißliche Lage. Endlich entschlossen wir uns gleichzeitig, unsere letzten Hülfsmittel zur Absendung von Briefen nach London und Berlin zu verwenden, da unfrankirte Briefe damals nicht angenommen wurden. Am Postschalter ergab sich aber, daß meine Casse nicht mehr vollständig dazu reichte. Der junge Berliner – Schwarzlose war sein Name – half mir großmüthig aus, verzichtete dann aber selbst auf die Absendung seines Briefes, weil nun sein Geld nicht mehr reichte.

Diese Großmuth fand ihren Lohn, denn noch an demselben Abend traf der ersehnte Geldbrief von meinem Bruder ein, anstatt erst nach Verlauf einer Woche, wie ich befürchtet hatte. Von dem Hausknecht des Brüsseler Hotels war das Porto unterschlagen, die Brüsseler Postbehörde hatte den Brief daher nicht abgeschickt, dem Adressaten aber geschrieben, er möge das Porto senden, wenn er den Brief haben wolle. Erst als mein Bruder dies gethan und den Brief mit meiner Adresse erhalten hatte, konnte er mir das Gewünschte schicken.

Unsre Noth war damit beseitigt, aber der Pariser Aufenthalt war mir verdorben, denn mein Urlaub war jetzt zu Ende. Ich habe dafür die Bitterkeit wirklicher Geldnoth praktisch kennen gelernt. Von Paris habe ich damals nicht viel mehr als die Straßen gesehen, in denen ich mir den Hunger verlief.

Nach Berlin zurückgekehrt, prüfte ich ernstlich meine bisherige Lebensrichtung und erkannte, daß das Jagen nach Erfindungen, zu dem ich mich durch die Leichtigkeit des ersten Erfolges hatte hinreißen lassen, sowohl mir wie meinem Bruder voraussichtlich zum Verderben gereichen würde. Ich sagte mich daher von allen meinen Erfindungen los, verkaufte auch meinen Antheil an der in Berlin eingerichteten Fabrik und gab mich ganz wieder ernsten, wissenschaftlichen Studien hin. Ich hörte Collegia an der Berliner Universität, mußte aber leider bei den Vorlesungen des berühmten Mathematikers Jacobi bald erkennen, daß meine Vorbildung nicht ausreichte, um ihm bis ans Ende zu folgen. Diese unvollkommene Vorbildung für wissenschaftliche Studien hat mich zu meinem großen Schmerze überhaupt immer sehr zurückgehalten und meine Leistungen verkümmert. Um so dankbarer bin ich einigen meiner früheren Lehrer, unter denen ich die Physiker Magnus, Dove und Rieß hervorheben will, für die freundliche Aufnahme in ihren anregenden Umgangskreis. Auch den jüngeren Berliner Physikern, die mich an der Gründung der physikalischen Gesellschaft theilnehmen ließen, habe ich vieles zu danken. Es war das ein mächtig anregender Kreis von talentvollen jungen Naturforschern, die später fast ohne Ausnahme durch ihre Leistungen hochberühmt geworden sind. Ich nenne nur die Namen du Bois-Reymond, Brücke, Helmholtz, Clausius, Wiedemann, Ludwig, Beetz und Knoblauch. Der Umgang und die gemeinschaftliche Arbeit mit diesen durch Talent und ernstes Streben ausgezeichneten jungen Leuten verstärkten meine Vorliebe für wissenschaftliche Studien und Arbeiten und erweckten in mir den Entschluß, künftig nur ernster Wissenschaft zu dienen.

Doch die Verhältnisse waren stärker als mein Wille, und der mir angeborene Trieb, erworbene wissenschaftliche Kenntnisse nicht schlummern zu lassen, sondern auch möglichst nützlich anzuwenden, führte mich doch immer wieder zur Technik zurück. Und so ist es während meines ganzen Lebens geblieben. Meine Liebe gehörte stets der Wissenschaft als solcher, während meine Arbeiten und Leistungen meist auf dem Gebiete der Technik liegen.

Diese technische Richtung fand in Berlin besonders Nahrung und Unterstützung durch die polytechnische Gesellschaft, der ich mich als junger Officier eifrig widmete. Ich betheiligte mich an ihren Verhandlungen und an der Beantwortung der Fragen, die dem Fragekasten entnommen wurden. Die Beantwortung und Discussion derselben gehörten bald zu meiner regelmäßigen Thätigkeit und bildeten eine gute Schule für mich. Meine naturwissenschaftlichen Studien kamen mir dabei außerordentlich zu statten, und es wurde mir klar, daß technischer Fortschritt nur durch Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse unter den Technikern erzielt werden könnte.

Es herrschte damals noch zwischen Wissenschaft und Technik eine unüberbrückte Kluft. Zwar hatte der verdienstvolle Beuth, der wohl unbestreitbar als Gründer der norddeutschen Technik anzuerkennen ist, im Berliner Gewerbe-Institut eine Anstalt geschaffen, die in erster Linie zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse unter den jungen Technikern bestimmt war. Die Wirkungsdauer dieses Instituts, aus dem später die Gewerbe-Akademie und schließlich die Charlottenburger Technische Hochschule hervorging, war aber noch zu kurz zur Erhöhung des Niveaus der Bildung bei den damaligen Gewerbetreibenden.

Preußen war in jener Zeit noch ein reiner Militär- und Beamtenstaat. Nur in seinem Beamtenstande war Bildung zu finden, und diesem Umstande ist es wohl hauptsächlich zuzuschreiben, daß auch heute noch ein, wenn auch nur scheinbarer Beamtentitel als ein äußeres Kennzeichen eines gebildeten und achtbaren Mannes anerkannt und erstrebt wird. Von den Gewerbebetrieben hatte nur die Landwirthschaft, aus der sich Militär wie Bureaukratie fast ausnahmslos rekrutirten, eine auch von diesen Ständen geachtete Stellung. Es gab damals in dem Jahrhunderte lang durch zahllose Kriege verwüsteten und verarmten Lande keinen wohlhabenden Bürgerstand mehr, der durch Bildung und Vermögen dem Militär- und Beamtenstande das Gleichgewicht hätte halten können. Zum Theil Schuld dieser Verhältnisse war es wohl auch, daß die in Preußen unter der Herrschaft der weitblickenden Hohenzollern immer hoch angesehenen Träger der Wissenschaft es mit ihrer Würde nicht vereinbar hielten, ein persönliches Interesse für den technischen Fortschritt zu zeigen. Dasselbe galt von der bildenden Kunst, deren Träger es für ihrer unwürdig hielten – und theilweise, wie ich glaube, noch halten – einen Theil ihrer schöpferischen Kraft zur Hebung der Kunstindustrie zu verwenden.

Durch meine Thätigkeit in der polytechnischen Gesellschaft kam ich zu der Ueberzeugung, daß naturwissenschaftliche Kenntnisse und wissenschaftliche Forschungsmethode berufen wären, die Technik zu einer noch gar nicht zu übersehenden Leistungsfähigkeit zu entwickeln. Sie brachte mir ferner den Vortheil, persönlich mit den Berliner Gewerbetreibenden bekannt zu werden und selbst eine Uebersicht über die Leistungen und Schwächen der damaligen Industrie zu erhalten. Ich wurde oft von Gewerbetreibenden um Rath gefragt und erhielt dadurch Einsicht in die benutzten Einrichtungen und Arbeitsmethoden. Es wurde mir klar, daß die Technik nicht in plötzlichen Sprüngen vorschreiten kann, wie es der Wissenschaft durch die schöpferischen Gedanken einzelner bedeutender Männer oft möglich geworden ist. Eine technische Erfindung bekommt erst Werth und Bedeutung, wenn die Technik selbst so weit vorgeschritten ist, daß die Erfindung durchführbar und ein Bedürfniß geworden ist. Darum sieht man auch so oft die wichtigsten Erfindungen Jahrzehnte lang schlummern, bis sie plötzlich zu großer Bedeutung gelangen, wenn ihre Zeit gekommen ist. –

Unter den wissenschaftlich-technischen Fragen, die mich damals hauptsächlich beschäftigten und zugleich Anlaß zu meinen ersten litterarischen Arbeiten boten, hatte die erste ihre Ursache in einer brieflichen Mittheilung meines Bruders Wilhelm über eine interessante Arbeitsmaschine, die er zu Dundee in Schottland in Thätigkeit gesehen hatte. Aus seiner spärlichen Mittheilung ging hervor, daß diese Maschine nicht durch Dampf, sondern durch erhitzte Luft betrieben wurde. Mich interessirte diese Idee außerordentlich, da sie die Grundlage zu einer vortheilhaften Umgestaltung der ganzen Maschinentechnik zu bilden schien. In einem Aufsatze unter dem Titel »Ueber die Anwendung der erhitzten Luft als Triebkraft«, den ich im Jahre 1845 in Dinglers Polytechnischem Journale veröffentlichte, beschrieb ich die Theorie solcher Luftmaschinen und gab auch eine Skizze der Construction einer solchen, wie ich sie mir als ausführbar dachte. Meine Theorie stand schon ganz auf dem Boden des Princips von der Erhaltung der Kraft, das in jener Zeit von Mayer aufgestellt und von Helmholtz in seiner berühmten Schrift »Ueber die Erhaltung der Kraft«, die er zuerst in der physikalischen Gesellschaft vortrug, mathematisch entwickelt wurde. Später haben meine Brüder Wilhelm und Friedrich sich viel mit diesen Maschinen beschäftigt und sie in verschiedenen Formen ausgeführt. Auch sie mußten aber leider dabei die Erfahrung machen, daß die Technik noch nicht weit genug vorgeschritten war, um die Erfindung mit Vortheil anwenden zu können. Nur kleine Maschinen ließen sich auf Grundlage jenes Princips so herstellen, daß sie dauernd gut arbeiteten; für große fehlte und fehlt noch jetzt das richtige Material zur Construction der Erhitzungsgefäße.

In demselben Jahre noch ließ ich in Dinglers Journal eine Beschreibung des schon erwähnten Differenz-Regulators erscheinen, dem ich inzwischen in Gemeinschaft mit meinem Bruder Wilhelm die verschiedenartigsten Ausführungsformen gegeben hatte.

Eine Frage, welche mich bereits längere Zeit beschäftigt hatte, war ferner die einer exacten Messung von Geschoßgeschwindigkeiten. Der als geschickter Mechaniker bekannte Uhrmacher Leonhardt hatte im Auftrage der Artillerie-Prüfungscommission eine Uhr gebaut, die einen Zeiger mit großer Geschwindigkeit drehte, wenn er elektromagnetisch mit dem Uhrwerk verbunden wurde. Das An- und Loskuppeln des Zeigers durch das fliegende Geschoß hatte aber große Schwierigkeiten, deren Ueberwindung trotz aller Bemühungen nicht recht gelingen wollte. Dies brachte mich auf die Idee der leichter durchzuführenden Benutzung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeitsmessung. In einem in Poggendorffs Annalen veröffentlichten Aufsatze »Ueber die Anwendung des elektrischen Funkens zur Geschwindigkeitsmessung« wies ich die Möglichkeit nach, durch einen schnell rotirenden, polirten Stahlcylinder, auf dem einfallende elektrische Funken eine deutliche Marke hinterlassen, die Geschwindigkeit der Geschosse in jedem Stadium ihrer Bahn exact zu messen. Auch enthielt dieser Aufsatz schon den erst viele Jahre später von mir ausgeführten Plan, die Geschwindigkeit der Elektricität selbst in ihren Leitern nach derselben Methode zu ermitteln.

Mein Interesse für elektrische Versuche wurde durch die Betheiligung an den Arbeiten Leonhardts, der gleichzeitig mit Versuchen beschäftigt war, welche der Generalstab der Armee über die Frage der Ersetzbarkeit der optischen Telegraphie durch elektrische anstellen ließ, auf das lebhafteste angeregt. Im Hause des Hofraths Soltmann, des Vaters eines mir enger befreundeten Brigadekameraden, hatte ich Gelegenheit, das Modell eines Wheatstoneschen Zeigertelegraphen zu sehen, und hatte mich an den Versuchen betheiligt, ihn zwischen dem Wohnhause und der durch einen großen Garten von ihm getrennten Anstalt für künstliche Mineralbrunnen in sicheren Gang zu bringen. Dies wollte aber niemals recht gelingen, und ich erkannte bald die Ursache dieser Mißerfolge. Sie lag wesentlich im Constructionsprincipe des Apparates, welches verlangte, eine Kurbel so gleichmäßig mit der Hand zu drehen, daß die erzeugten einzelnen Stromimpulse stets hinreichende Stärke hatten, um das Zeigerwerk des Empfangsapparates fortzubewegen. Das war schon nicht sicher zu erreichen, wenn die Apparate im Zimmer arbeiteten, und war ganz unmöglich, wenn ein wesentlicher Theil des Stromes durch die damaligen, unvollkommen isolirten Leitungen verloren ging.

Leonhardt suchte diesen Uebelstand im Auftrage der Commission dadurch zu beseitigen, daß er die Stromimpulse durch ein Uhrwerk, also in ganz regelmäßigen Zeitintervallen, ausführen ließ, was immerhin eine Verbesserung war, aber bei wechselndem Stromverluste doch nicht ausreichte. Dies machte mir klar, daß die Aufgabe am sichersten zu lösen sei, wenn man aus den Zeigertelegraphen selbstthätig laufende Maschinen machte, von denen jede selbstthätig die Stromleitung unterbräche und herstellte. Wurden zwei oder mehrere solcher elektrischen Maschinen in einen elektrischen Kreislauf gebracht, so konnte ein neuer Stromimpuls erst eintreten, wenn alle eingeschalteten Apparate ihren Hub vollendet und dadurch die Stromleitung wieder geschlossen hatten. Es erwies sich das in der Folge als ein sehr fruchtbares Princip für unzählige elektrotechnische Anwendungen. Alle heute verwendeten selbstthätig wirkenden Wecker oder Klingelapparate beruhen auf der hier zuerst eingeführten Selbstunterbrechung nach vollendetem Hube.

Die Ausführung dieser Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung übertrug ich einem mir aus der physikalischen Gesellschaft bekannten jungen Mechaniker, Namens Halske, der damals in Berlin eine kleine mechanische Werkstatt unter der Firma Böttcher & Halske betrieb. Da Halske anfänglich Zweifel hegte, ob mein Apparat auch functioniren würde, so stellte ich mir selbst aus Cigarrenkisten, Weißblech, einigen Eisenstückchen und etwas isolirtem Kupferdraht ein paar selbstthätig arbeitende Telegraphen her, die mit voller Sicherheit zusammen gingen und standen. Dieses unerwartete Ergebniß enthusiasmirte Halske so sehr für das schon mit so mangelhaften Hülfsmitteln durchführbare System, daß er sich mit größtem Eifer der Ausführung der ersten Apparate hingab und sich sogar bereit erklärte, aus seiner Firma auszutreten und sich in Verbindung mit mir gänzlich der Telegraphie zu widmen.

Dieser Erfolg sowohl wie die wachsende Sorge für meine jüngeren Geschwister reifte in mir den Entschluß, den Militärdienst zu verlassen und mir durch die Telegraphie, deren große Bedeutung ich klar erkannte, einen neuen Lebensberuf zu bilden, der mir denn auch die Mittel liefern sollte, die übernommenen Pflichten gegen meine jüngeren Brüder zu erfüllen. Ich war daher eifrig mit Fertigstellung meines neuen Telegraphen beschäftigt, der die Brücke zu den neu zu gründenden Lebensverhältnissen bilden sollte. Da trat ein Ereigniß ein, welches alle meine Pläne über den Haufen zu werfen drohte.

Es war damals eine Zeit großer religiöser und politischer Bewegung in ganz Europa. Diese fand in Deutschland ihren Ausdruck zuerst in der freireligiösen Bewegung, die sich sowohl gegen den Katholicismus wie gegen die streng protestantische, damals zur Herrschaft gelangte Richtung wendete. Johannes Ronge war nach Berlin gekommen und hielt öffentliche Vorträge im Tivolilocale, die von aller Welt besucht wurden und großen Enthusiasmus erregten. Namentlich die jüngeren Officiere und Beamten, die damals fast ausnahmslos liberale Gesinnung hegten, schwärmten für Johannes Ronge.

Gerade als dieser Ronge-Cultus auf seinem Höhepunkte angelangt war, machte ich mit sämmtlichen Officieren der Artillerie-Werkstatt – neun an der Zahl – nach Schluß der Arbeit eine Promenade im Thiergarten. »Unter den Zelten« fanden wir viele Leute versammelt, die lebhaften Reden zuhörten, in denen alle Gesinnungsgenossen aufgefordert wurden, für Johannes Ronge und gegen die Dunkelmänner Stellung zu nehmen. Die Reden waren gut und wirkten vielleicht gerade deswegen so überzeugend und hinreißend, weil man in Preußen bis dahin an öffentliche Reden nicht gewöhnt war. Als mir daher beim Fortgehen ein Bogen zur Unterschrift vorgelegt wurde, der mit theilweise bekannten Namen schon beinahe bedeckt war, nahm ich keinen Anstand, auch den meinigen hinzuzufügen. Meinem Beispiel folgten die übrigen, zum Theil viel älteren Officiere ohne Ausnahme. Es dachte sich eigentlich Keiner dabei etwas Schlimmes. Jeder hielt es nur für anständig, seine Ueberzeugung auch seinerseits offen auszusprechen.

Aber groß war mein Schreck, als ich am anderen Morgen beim Kaffee einen Blick in die Vossische Zeitung warf und als Leitartikel einen »Protest gegen Reaktion und Muckerthum«, und an der Spitze der Unterschriften meinen Namen und nach ihm die meiner Kameraden fand.

Als ich bald darauf – eine halbe Stunde vor Beginn des Dienstes – auf dem Werkstattshofe erschien, traf ich die Kameraden schon alle in großer Aufregung versammelt. Wir mußten fürchten, ein schweres militärisches Vergehen begangen zu haben. In dieser Annahme wurden wir auch bald bestärkt durch das Erscheinen des Commandeurs der Werkstätten, eines braven und höchst liebenswürdigen Mannes, der uns in großer Erregung erklärte, daß wir uns sämmtlich durch diese That zu Grunde gerichtet hätten und ihn selbst ebenfalls.

Es vergingen einige sorgenvoll verlebte Tage. Dann kam ein Parolebefehl, daß der Inspecteur der Werkstätten, General von Jenichen, uns eine Kabinetsordre mitzutheilen habe. Die Kabinetsordre lautete zwar streng tadelnd, doch gnädiger als wir zu hoffen gewagt hatten. Der General hielt uns eine längere Rede, in der er uns das Ungehörige und Tadelnswerthe unsrer Handlungsweise auseinandersetzte. Ich war auf den Schluß dieser Rede einigermaaßen gespannt, da ich mit dem General, der ein hochgebildeter und sehr humaner Mann war, einen ganzen Monat lang Kissinger Brunnen getrunken hatte und genau wußte, daß seine Ansichten von den durch uns unterschriebenen eigentlich nicht verschieden waren. »Sie wissen«, sagte der General zum Schlusse, indem er seinen Blick auf mich richtete, »daß ich der Ansicht bin, daß jeder Mann, und namentlich jeder Officier, stets offen seine Meinung sagen soll, Sie haben aber nicht bedacht, daß offen und öffentlich himmelweit verschiedene Dinge sind!«

Wir erfuhren bald, daß wir zur Strafe sämmtlich zu unsrer Brigade oder unserm Regimente, wie es jetzt wieder heißt – zurückversetzt werden sollten. Für mich war das ein fast unerträglich harter Schlag, der alle meine Lebenspläne störte und es mir unmöglich machte, weiter für meine jüngeren Brüder zu sorgen. Es galt daher, ein Mittel zu finden, um diese Versetzung zu verhindern. Das war nur durch eine militärisch wichtige Erfindung zu erreichen, die meine Anwesenheit in Berlin erforderte. Die Telegraphie, mit der ich mich schon lebhaft beschäftigte, konnte diesen Dienst nicht leisten, denn es glaubten damals erst Wenige an ihre große Zukunft, und meine Projekte waren noch in der Entwicklung begriffen.

Da fiel mir zum Glück die Schießbaumwolle ein, die kurz vorher von Professor Schönbein in Basel erfunden, aber noch nicht brauchbar war. Es schien mir unzweifelhaft, daß sie sich so verbessern ließe, daß sie militärisch anwendbar würde. Ich ging daher sogleich zu meinem alten Lehrer Erdmann, Professor der Chemie an der königlichen Thierarzneischule, trug ihm meine Noth vor und bat ihn um die Erlaubniß, in seinem Laboratorium Versuche mit Schießbaumwolle anzustellen. Er erlaubte es freundlich, und ich ging eifrig ans Werk.

Ich hatte die Idee, daß man durch Anwendung stärkerer Salpetersäure und durch sorgfältigere Auswaschung und Neutralisirung ein besseres und weniger leicht zersetzbares Produkt erzielen könne. Alle Versuche schlugen aber fehl, obschon ich rauchende Salpetersäure höchster Concentration verwendete; es entstand immer ein schmieriges, leicht wieder zersetzbares Produkt. Als mir die hoch concentrirte Salpetersäure ausgegangen war, suchte ich sie einmal bei einer Probe durch Zusatz von concentrirter Schwefelsäure zu verstärken und erhielt zu meiner Ueberraschung eine Schießbaumwolle von ganz anderen Eigenschaften. Sie war nach der Auswaschung weiß und fest wie die unveränderte Baumwolle und explodirte sehr energisch. Ich war glücklich, machte bis spät in die Nacht hinein eine ansehnliche Quantität solcher Schießwolle und legte sie in den Trockenofen des Laboratoriums.

Als ich nach kurzem Schlafe am frühen Morgen wieder nach dem Laboratorium ging, fand ich den Professor trauernd unter Trümmern in der Mitte des Zimmers stehen. Beim Heizen des Trockenofens hatte sich die Schießbaumwolle entzündet und den Ofen zerstört. Ein Blick machte mir dies und zugleich das vollständige Gelingen meiner Versuche klar. Der Professor, mit dem ich in meiner Freude im Zimmer herumzutanzen suchte, schien mich anfangs für geistig gestört zu halten. Es kostete mir Mühe, ihn zu beruhigen und zur schnellen Wiederaufnahme der Versuche zu bewegen. Um elf Uhr Morgens hatte ich schon ein ansehnliches Quantum tadelloser Schießwolle gut verpackt und sandte es mit einem dienstlichen Schreiben direct an den Kriegsminister.

Der Erfolg war glänzend. Der Kriegsminister hatte in seinem großen Garten eine Schießprobe angestellt und, da sie brillant ausfiel, sofort die Spitzen des Ministeriums zu einem vollständigen Probeschießen mit Pistolen veranlaßt. Noch an demselben Tage erhielt ich eine officielle, direkte Ordre des Kriegministers, mich zur Anstellung von Versuchen in größerem Maaßstabe zur Pulverfabrik nach Spandau zu begeben, die bereits angewiesen sei, mir dazu alle Mittel zur Verfügung zu stellen. Es ist wohl selten eine Eingabe im Kriegsministerium so schnell erledigt worden! Von meiner Versetzung war keine Rede mehr. Ich war bald der einzige von meinen Unglücksgefährten, der Berlin noch nicht hatte verlassen müssen.

Die Versuche in großem Maaßstabe, die in der Spandauer Pulverfabrik unter meiner Leitung angestellt wurden, führten nicht zu dem im ersten Feuereifer erwarteten Ergebniß, daß die Schießwolle allgemein das Pulver ersetzen würde. Zwar gaben sowohl die Schießproben mit Gewehren wie auch die mit Kanonen recht gute Resultate, es stellte sich aber doch heraus, daß die Schießwolle selbst keine hinlänglich constante Verbindung war, da sie sich in trocknem Zustande allmählich zersetzte und unter Umständen auch von selbst entzünden konnte. Außerdem hing die Schußwirkung von dem Grade der Zusammendrückung der Schießwolle und der Art ihrer Entzündung ab. Mein Bericht ging also dahin, daß die nach meiner Methode vermittelst einer Mischung von Salpeter- und Schwefelsäure hergestellte Schießwolle ausgezeichnete Eigenschaften als Sprengmittel habe und geeignet scheine, anstatt des Sprengpulvers zu militärischen Zwecken verwendet zu werden, daß sie aber das Schießpulver nicht allgemein ersetzen könne, da sie keine hinlänglich feste, chemische Verbindung darstelle und ihre Wirkung nicht constant genug sei.

Diesen Bericht hatte ich schon eingesandt, als Professor Otto in Braunschweig meine Methode der Darstellung brauchbarer Schießwolle neu erfand und publicirte. Meine frühere Thätigkeit in der Sache und mein Bericht an das Kriegsministerium blieben natürlich geheim, und Otto gilt daher mit Recht als Erfinder der brauchbaren Schießwolle, da er die Methode ihrer Herstellung zuerst veröffentlicht hat. So ist es mir vielfach gegangen. Es erscheint zunächst zwar hart und ungerecht, daß Jemand durch frühere Publikation die Ehre einer Entdeckung oder Erfindung sich aneignen kann, die ein Andrer, der schon lange mit Liebe und gutem Erfolge an ihr gearbeitet hat, erst nach vollkommener Durcharbeitung publiciren wollte. Andererseits muß man jedoch zugeben, daß irgend eine bestimmte Regel über die Prioritäten festgesetzt werden muß, da für die Wissenschaft und die Welt nicht die Person, sondern die Sache selbst und deren Bekanntmachung in Betracht kommt.

Nachdem die Gefahr der Versetzung von Berlin auf diese Weise glücklich beseitigt war, konnte ich mich mit größerer Ruhe der Telegraphie widmen. Ich sandte dem General Etzel, dem Chef der unter dem Generalstabe der Armee stehenden optischen Telegraphen, einen Aufsatz über den damaligen Stand der Telegraphie und ihre zu erwartenden Verbesserungen. In Folge dessen wurde ich zur Dienstleistung bei der Commission des Generalstabes commandirt, welche die Einführung der elektrischen Telegraphen anstatt der optischen vorbereiten sollte. Es gelang mir, das Vertrauen des Generals und seines Schwiegersohnes, des Professors Dove, in so hohem Grade zu gewinnen, daß die Commission meinen Vorschlägen fast immer beitrat und mich mit der Ausführung beauftragte.

Man hielt es damals für ganz ausgeschlossen, daß eine an Pfosten befestigte, leicht zugängliche Telegraphenlinie sichern Dienst thun könne, da man glaubte, daß das Publikum sie zerstören würde. Es wurden daher überall, wo man auf dem europäischen Continente elektrische Telegraphen einführen wollte, zunächst Versuche mit unterirdischen Leitungen gemacht. Am bekanntesten sind diejenigen des Professors Jacobi in Petersburg geworden. Dieser hatte Harze, Glasröhren und Kautschuk als Isolirmittel verwendet, doch keinen dauernd befriedigenden Erfolg erzielt. Auch die Berliner Commission hatte solche Versuche begonnen, die jedoch ebensowenig eine genügende, haltbare Isolation ergaben.

Zufällig hatte mir damals mein Bruder Wilhelm aus London eine Probe von einem neu auf dem englischen Markte erschienenen Material, der Guttapercha, als Curiosität zugeschickt. Die ausgezeichneten Eigenschaften dieser Masse, im erwärmten Zustande plastisch zu werden und, wieder erkaltet, ein guter Isolator der Elektricität zu sein, erregten meine Aufmerksamkeit. Ich überzog einige Drahtproben mit der erwärmten Masse und fand, daß sie sehr gut isolirt waren. Die Commission ordnete auf meinen Vorschlag größere Versuche mit solchen, durch Guttapercha isolirten Drähten an, die im Sommer 1846 begannen und 1847 fortgesetzt wurden. Bei den im Jahre 1846 auf dem Planum der Anhaltischen Eisenbahn verlegten Proben war die Guttapercha durch Walzen um den Draht gebracht. Es stellte sich aber heraus, daß die Walznaht sich mit der Zeit löste. Ich construirte daher eine Schraubenpresse, durch welche die erwärmte Guttapercha unter Anwendung hohen Druckes ohne Naht um den Kupferdraht gepreßt wurde. Die mit Hülfe einer solchen, von Halske ausgeführten Modellpresse überzogenen Leitungsdrähte erwiesen sich als gut isolirt und behielten ihre Isolation dauernd bei.

Im Sommer 1847 wurde die erste längere unterirdische Leitung von Berlin bis Großbeeren mit derartig isolirten Drähten von mir gelegt. Da sie sich vollkommen bewährte, so schien die Frage der Isolation unterirdischer Leitungen durch Anwendung der Guttapercha und meiner Preßmaschine jetzt glücklich gelöst zu sein. In der That sind seit jener Zeit nicht nur die unterirdisch geführten Landlinien, sondern auch die submarinen Kabellinien fast ausnahmslos in dieser Weise isolirt. Die Commission nahm in Aussicht, sowohl die mit Guttapercha umpreßten Leitungen wie auch mein Zeiger- und Drucktelegraphensystem den in Preußen zunächst zu erbauenden Telegraphenlinien zu Grunde zu legen.

Mein Entschluß, mich ganz der Entwicklung des Telegraphenwesens zu widmen, stand nunmehr fest. Ich veranlaßte daher im Herbst des Jahres 1847 den Mechaniker J. G. Halske, mit dem die gemeinsamen Arbeiten mich näher verbunden hatten, sein bisheriges Geschäft dem Socius zu überlassen und eine Telegraphenbauanstalt zu begründen, in die ich mir den persönlichen Eintritt nach meiner Verabschiedung vorbehielt. Da Halske ebensowenig wie ich selbst disponible Geldmittel hatte, so wandten wir uns an meinen in Berlin wohnenden Vetter, den Justizrath Georg Siemens, der uns zur Einrichtung einer kleinen Werkstatt 6000 Thaler gegen sechsjährige Gewinnbetheiligung darlieh. Die Werkstatt wurde am 12. October 1847 in einem Hinterhause der Schöneberger Straße – wo Halske und ich auch Wohnung nahmen – eröffnet und entwickelte sich schnell und ohne weitere Inanspruchnahme fremden Kapitals zu dem weltbekannten Etablissement von Siemens & Halske in Berlin mit Zweiggeschäften in vielen Hauptstädten Europas.

Die verlockende Aussicht, mich vermöge meiner dominirenden Stellung in der Telegraphencommission zum Leiter der künftigen Preußischen Staatstelegraphen aufzuschwingen, hatte ich von mir gewiesen, da ein Dienstverhältniß mir nicht zusagte und ich die Ueberzeugung gewann, ich würde der Welt und mir selbst mehr nützen können, wenn ich mir volle persönliche Unabhängigkeit verschaffte. Doch wollte ich meinen Abschied vom Militär und damit von meinem Commando zur Telegraphencommission erst dann nehmen, wenn die Commission ihre Aufgabe vollständig erfüllt hätte und eine definitive Ordnung des künftigen Telegraphenwesens eingetreten wäre.

Ich kämpfte damals in der Commission dafür, daß die Benutzung der herzustellenden Telegraphenlinien auch dem Publikum gestattet würde, was in militärischen Kreisen großer Abneigung begegnete. Die große Geschwindigkeit und Sicherheit, mit der meine inzwischen in Preußen patentirten Zeiger- und Drucktelegraphen auf der oberirdischen Linie zwischen Berlin und Potsdam und auf der unterirdischen zwischen Berlin und Großbeeren arbeiteten – eine Leistung, die mit derjenigen der früheren Semaphoren gar nicht zu vergleichen war – trugen aber wesentlich dazu bei, eine dem Publikum günstigere Auffassung herbeizuführen. Die Kunde von den überraschend günstigen Resultaten dieser Versuche machte damals in den höheren Gesellschaftskreisen Berlins die Runde und brachte mir die Aufforderung der Prinzessin von Preußen, ihrem Sohne, unserm späteren Kronprinzen Friedrich Wilhelm und Kaiser Friedrich, in Potsdam einen Vortrag über elektrische Telegraphie zu halten. Dieser von Experimenten auf der Berlin-Potsdamer Linie begleitete Vortrag und eine an ihn sich knüpfende Denkschrift, in der ich auseinandersetzte, welche Bedeutung die Telegraphie in Zukunft erlangen würde, falls man sie zum Gemeingute des Volkes machte, haben offenbar viel dazu beigetragen, die höheren Kreise hierfür zu gewinnen.

Für den März des Jahres 1848 schrieb die Commission auf meinen Antrag eine öffentliche Concurrenz aus und setzte die dabei von den Telegraphenleitungen und Apparaten zu erfüllenden Bedingungen fest. Den Siegern wurden Preise ausgesetzt, auch sollten sie die Anwartschaft auf die späteren Lieferungen erhalten. Ich hatte ziemlich sichere Aussicht, auf dieser, am 15. März 1848 eröffneten Concurrenz mit meinen Vorschlägen den Sieg davonzutragen, als der 18. März der Concurrenz sowohl wie der Commission selbst ein jähes Ende bereitete.

In meine interessanten Arbeiten versunken hatte ich wenig Zeit gefunden, an der wilden Bewegung der Geister Theil zu nehmen, die sich seit der Pariser Februarrevolution über ganz Deutschland verbreitete. Mit elementarer Gewalt brauste der mächtige Strom der politischen Aufregung dahin und riß alle die schwachen Dämme nieder, welche die bestehenden Gewalten ihr ziel- und planlos entgegenstellten. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, daß sie sich ohne gewaltsamen Umsturz ändern ließen, durchdrang das ganze deutsche Volk und reichte selbst bis in höhere Schichten der preußischen Civil- und sogar der Militärverwaltung. Das politische und nationale Phrasenthum, dessen Hohlheit erst durch die späteren Ereignisse offenbart wurde, übte damals noch seine ungeschwächte Wirkung auf die Massen aus, und seine Entwicklung wurde mächtig unterstützt durch das außerordentlich schöne Sommerwetter, welches diese ganze Zeit in Deutschland herrschte.

Die Straßen Berlins wurden ununterbrochen von erregten Menschen durchfluthet, die sich gegenseitig die übertriebensten Gerüchte über den Fortschritt der Bewegung in Deutschland mittheilten und überall improvisirten Volksrednern zuhörten, welche sie verbreiteten und zu gleichen Thaten anfeuerten. Die Polizei schien aus der Stadt verschwunden zu sein, und das Militär, welches durchweg treu seine Pflicht erfüllte, machte sich kaum ernstlich bemerkbar. Da kam die überwältigende Nachricht von dem Siege der Revolution in Dresden und Wien, kurz darauf die Erschießung des Postens vor dem Bankgebäude und schließlich das Mißverständniß auf dem Schloßplatze. Dies trieb auch die ruhigen Bürger, die sich zu einer vermittelnden Bürgerwache zusammengeschaart hatten, auf die revolutionäre Seite. Ich sah von meinen Fenstern aus, wie eine Abtheilung dieser Bürgerwache in großer Erregung vom Schloßplatze herkam und auf dem Platze vor dem Anhaltischen Thore Schärpen und Stäbe zusammenwarf mit dem Rufe »Verrath! Das Militär hat auf uns geschossen!« In wenigen Stunden bedeckten sich die Straßen mit Barrikaden, die Wachen wurden angegriffen und zum Theil überwältigt, und der Kampf mit der Garnison, die sich meist auf die Vertheidigung beschränkte und ohne jede Ausnahme der Fahne treu blieb, verbreitete sich schnell über einen großen Theil der Stadt.

Ich selbst war damals durch mein Commando zu einer Specialcommission außer Verbindung mit einem militärischen Truppentheile und wartete klopfenden Herzens auf das Ende des unseligen Kampfes. Da erschien mit Beginn des folgenden Tages die königliche Proklamation, die den Frieden herstellte.

Um dem Könige für diese Proklamation zu danken, zogen am Vormittage des 19. März die Bürger auf den Schloßplatz. Es duldete mich nicht länger im Hause, und so schloß ich mich ihnen in Civilkleidung an. Ich fand den ganzen Platz mit einer großen Menschenmenge bedeckt, die ihrer Freude über die Friedensproklamation allseitig lebhaften Ausdruck gab. Doch bald änderte sich die Scene. Es kamen lange Züge an, welche die Gefallenen auf den Schloßplatz brachten, damit, wie man sagte, der König sich selbst überzeugen könnte, welches Unheil seine Soldaten angerichtet hätten. Es ereignete sich die schreckliche Scene auf dem Balkon des Schlosses, auf dem die Königin in Ohnmacht niedersank, als ihr Auge auf die blutige Menge der Todten fiel, die man zu ihren Füßen aufgehäuft hatte. Dann kamen immer neue Züge mit Todten, und als der König dem Geschrei nach seinem Erscheinen nicht wieder Folge leistete, bereitete sich die begleitende, aufgeregte Menge vor, das Schloßthor zu erbrechen, um dem Könige auch diese Todten zu zeigen.

Es war dies ein kritischer Moment, denn unfehlbar wäre es im Schloßhofe, wo ein Bataillon zurückgehalten war, zu erneutem Kampfe gekommen, dessen Ausgang zweifelhaft erscheinen mußte, da das übrige Militär die Stadt auf königlichen Befehl verlassen hatte. Da kam ein Retter in der Noth in der Person des jungen Fürsten Lichnowsky. Von einem in der Mitte des Schloßplatzes aufgestellten Tische aus redete er die Menge mit lauter, vernehmlicher Stimme an. Er sagte, Se. Majestät der König habe in seiner großen Güte und Gnade dem Kampfe ein Ende gemacht, indem er alles Militär zurückgezogen und sich ganz dem Schutze der Bürger anvertraut habe. Alle Forderungen seien bewilligt, und man möge nun ruhig nach Hause gehen! Die Rede machte offenbar Eindruck. Auf die Frage aus dem Volke, ob auch wirklich Alles bewilligt sei, antwortete er »Ja, Alles, meine Herren!« »Ooch det Roochen?« – erscholl eine andere Stimme, »Ja, auch das Rauchen«, war die Antwort. »Doch im Dierjarten?« – wurde weiter gefragt. »Ja, auch im Thiergarten darf geraucht werden, meine Herren.« Das war durchschlagend. »Na, denn können wir ja zu Hause jehn«, hieß es überall, und in kurzer Zeit räumte die heiter gestimmte Menge den Platz. Die Geistesgegenwart, mit welcher der junge Fürst – wahrscheinlich auf eigene Verantwortung hin – die Concession des freien Rauchens auf den Straßen der Stadt und im Thiergarten ertheilte, hat vielleicht weiteres schweres Unheil verhütet.

Auf mich machte diese Scene auf dem Schloßplatz einen unauslöschlichen Eindruck. Sie zeigte so recht anschaulich den gefährlichen Wankelmuth einer erregten Volksmenge und die Unberechenbarkeit ihrer Handlungen. Andererseits lehrte sie auch, daß es in der Regel nicht die großen, gewichtigen Fragen sind, durch die Volksmassen in Bewegung gesetzt werden, sondern kleine, von jedermann lange als drückend empfundene Beschwerden. Das Rauchverbot für die Straßen der Stadt und namentlich den Thiergarten mit dem steten kleinen Kriege gegen Gensdarmen und Wachen, der damit verbunden war, bildete in der That wohl die einzige Beschwerde, die von der großen Masse der Berliner Bevölkerung wirklich verstanden wurde, und für die sie in Wahrheit kämpfte.

Mit dem Siege der Revolution hatte in Berlin zunächst jede ernste Thätigkeit ihr Ende. Die ganze Regierungsmaschine schien erstarrt zu sein. Auch die Telegraphencommission hörte einfach auf weiter zu functioniren, ohne aufgehoben oder auch nur suspendirt zu sein. Ich verdanke es der Energie meines Freundes Halske, daß unsere Werkstatt ihre Thätigkeit während der ganzen nun folgenden schweren Zeit ruhig fortsetzte und Telegraphenapparate fabricirte, obgleich es an Bestellungen gänzlich fehlte. Persönlich war ich in einer schwierigen Lage, da meine amtliche Thätigkeit aufgehört hatte, ohne daß mir eine andere angewiesen war, und es andererseits nicht anging, meinen Abschied zu fordern, während allgemein angenommen wurde, daß ein auswärtiger Krieg in naher Aussicht stände.

Da trat wieder, wie so oft in meinem Leben, ein Ereigniß ein, welches mir eine neue und schließlich für mich günstige Richtung gab.

In Schleswig-Holstein war der Aufstand gegen die dänische Herrschaft mit Erfolg durchgeführt. Die nationale Frage wurde dadurch mächtig angeregt, und Freischaaren bildeten sich in ganz Deutschland, um den gegen fremde Unterdrücker kämpfenden Brüdern im äußersten Norden Hülfe zu bringen. Auf der anderen Seite rüsteten sich die Dänen zur Wiedereroberung des Landes, und die Kopenhagener Zeitungen forderten die Regierung einstimmig auf, den Centralpunkt der revolutionären Bewegung, die Stadt Kiel, durch ein Bombardement zu strafen.

Mein Schwager Himly war im vorhergegangenen Jahre als Professor der Chemie nach Kiel berufen und wohnte dicht am Hafen. Schwester Mathilde schrieb mir in großer Angst und sah im Geiste ihr Haus schon in Trümmern liegen, da es den Bomben der dänischen Kriegsschiffe ganz besonders exponirt war. Die Seebatterie Friedrichsort, wie die kleine Festung am Eingange des Kieler Hafens damals benannt wurde, war noch in dänischen Händen, der Eingang in den Hafen stand der dänischen Flotte daher vollständig offen.

Dies brachte mich auf den in jener Zeit noch ganz neuen Gedanken, den Hafen durch unterseeische Minen mit elektrischer Zündung zu vertheidigen. Meine mit umpreßter Guttapercha isolirten Leitungen boten ein sicheres Mittel dar, solche Minen im richtigen Zeitmomente auf elektrischem Wege vom Ufer aus zu entzünden. Ich theilte diesen Plan meinem Schwager mit, der ihn lebhaft ergriff und sofort der provisorischen Regierung für die Vertheidigung des Landes unterbreitete. Diese billigte ihn und schickte einen besonderen Abgesandten an die preußische Regierung mit der Bitte, mir die Erlaubniß zur Ausführung des Planes zu ertheilen. Meiner Sendung oder auch nur Beurlaubung zu diesem kriegerischen Zwecke stand jedoch entgegen, daß noch Friede zwischen Preußen und Dänemark herrschte. Mir wurde aber in Aussicht gestellt, daß ich den gewünschten Urlaub erhalten solle, wenn die Verhältnisse sich änderten, wie man erwartete.

Ich benutzte diese Zeit des Abwartens zur Vorbereitung. Es wurden große Säcke aus besonders starker, durch Kautschuk wasserdicht gemachter Leinewand angefertigt, von denen jeder etwa fünf Centner Pulver fassen konnte. Ferner wurden in aller Eile isolirte Leitungen und Zündvorrichtungen hergestellt und die nöthigen galvanischen Batterien zur elektrischen Zündung beschafft. Als der Departementschef im Kriegsministerium, General von Reyher, in dessen Vorzimmer ich täglich auf Entscheidung wartete, mir endlich die Mittheilung machte, daß er soeben zum Kriegsminister ernannt und der Krieg gegen Dänemark beschlossen sei, und daß er mir den erbetenen Urlaub als erste feindliche Handlung gegen Dänemark bewillige, waren meine Vorbereitungen schon beinahe vollendet, und noch denselben Abend trat ich die Reise nach Kiel an.

In Altona, wo große Aufregung herrschte, erwartete mich bereits mein Schwager Himly; eine Extralokomotive führte uns weiter nach Kiel. Die Nachricht der preußischen Kriegserklärung war schon bekannt geworden, wurde aber noch vielfach bezweifelt. Mein Erscheinen in preußischer Uniform wurde mit Recht als Beweis des ersehnten Factums aufgefaßt und erregte auf dem ganzen Wege nach Kiel und in diesem selbst unermeßlichen Jubel.

In Kiel hatte mein Schwager unterdessen schon alle Anstalten getroffen, um mit der Legung der Minen schnell vorgehen zu können, da man täglich das Erscheinen der dänischen Flotte erwartete. Es war eine Schiffsladung Pulver von Rendsburg bereits eingetroffen, und eine Anzahl großer Stückfässer stand gut gedichtet und verpicht bereit, um einstweilen statt der noch nicht vollendeten Kautschuksäcke benutzt zu werden. Diese Fässer wurden schleunigst mit Pulver gefüllt, mit Zündern versehen und in der für große Schiffe ziemlich engen Fahrstraße vor der Badeanstalt derart verankert, daß sie etwa zwanzig Fuß unter dem Wasserspiegel schwebten. Die Zündleitungen wurden nach zwei gedeckten Punkten am Ufer geführt und der Stromlauf so geschaltet, daß eine Mine explodiren mußte, wenn an beiden Punkten gleichzeitig die Contacte für ihre Leitung geschlossen waren. Für jede Mine wurden an den beiden Beobachtungsstellen Richtstäbe aufgestellt und die Instruction ertheilt, daß der Contact geschlossen werden müsse, wenn ein feindliches Schiff sich in der Richtlinie der betreffenden Stäbe befinde, und so lange geschlossen bleiben müsse, bis sich das Schiff wieder vollständig aus der Richtlinie entfernt habe. Waren die Contacte beider Richtlinien in irgend einem Momente gleichzeitig geschlossen, so mußte das Schiff sich gerade über der Mine befinden. Durch Versuche mit kleinen Minen und Booten wurde constatirt, daß diese Zündeinrichtung vollkommen sicher functionirte.

Inzwischen war die Schlacht bei Bau geschlagen, in der die schleswig-holsteinschen Turner und die deutschen Freischärler von den Dänen besiegt und zum Theil gefangen genommen wurden. Es war merkwürdig, wie schnell und mächtig der nationale Haß und die kriegerische Leidenschaft der sonst so ruhigen schleswig-holsteinschen Bevölkerung jetzt aufloderten. Am schärfsten äußerte sich dies in der Stimmung der Frauen. Ich erlebte dafür ein charakteristisches Beispiel.

In einer Gesellschaft ließ sich ein schönes und liebenswürdiges junges Mädchen die Construction der zum Schutze der Stadt Kiel verlegten Minen und die Methode der Zündung von mir erklären. Als sie vernahm, daß im günstigen Falle das ganze Schiff in die Luft fliegen und die ganze Bemannung zu Grunde gehen könnte, fragte sie erregt ob ich denn glaubte, daß es Menschen gäbe, die eine so entsetzliche That verüben und mit einem Fingerdrucke Hunderte von Menschenleben vernichten könnten. Als ich dies bejahte und mit der kriegerischen Nothwendigkeit zu entschuldigen versuchte, wandte sie sich zornig von mir ab und mied mich von da ab sichtlich. Als ich sie nach kurzer Zeit wieder in einer Gesellschaft traf, war inzwischen die Schlacht bei Bau geschlagen; Wrangel war im Begriff, mit den preußischen Truppen in Schleswig-Holstein einzurücken, und die Kriegsfurie hatte die Geister mächtig ergriffen. Zu meiner Ueberraschung kam meine schöne Feindin gleich auf mich zu, als sie meiner ansichtig wurde, und fragte, ob meine Minen auch noch in Ordnung wären. Ich bejahte dies und sagte, ich hegte die Hoffnung, daß sie ihre Wirksamkeit bald an einem feindlichen Schiffe würden zeigen können, da es hieße, daß eine dänische Flotte zum Bombardement Kiels unterwegs sei. Ich beabsichtigte damit wieder ihren Zorn zu erregen, der ihr so gut gestanden hatte. Zu meiner großen Ueberraschung sagte sie aber mit haßerfüllter Miene: »Ach, es würde mich grenzenlos freuen, ein paar Hundert dieser Unmenschen in der Luft zappeln zu sehn!« Ihr Bräutigam war bei Bau verwundet und gefangen worden und wurde angeblich mit den übrigen Gefangenen auf dem Kriegsschiff »Droning Maria« von den Dänen schlecht behandelt. Daher dieser plötzliche Umschwung ihrer menschenfreundlichen Stimmung!

Es hieß damals in der That, daß in Kopenhagen beschlossen sei, Kiel zu bombardiren, noch bevor es von den deutschen Truppen besetzt würde. Mir wurde dabei doch etwas bange um die Stadt, denn das Fahrwasser erwies sich bei genauer Untersuchung für Schiffe mittlerer Größe breiter, als ursprünglich angenommen war. Die dänische Flotte konnte sich auch ruhig bei Friedrichsort vor Anker legen und das Bombardement in aller Muße durch Kanonenboote ausführen. Ich hielt es deshalb für äußerst wichtig, daß die Festung Friedrichsort nicht in dänischem Besitz bliebe. Dieselbe sollte nur von einer sehr kleinen Anzahl dänischer Invaliden besetzt sein, ihre Eroberung schien daher nicht schwierig.

Ich trug meine Ansicht dem neu ernannten Commandanten von Kiel, einem hannöverschen Major, vor. Er stimmte mir vollständig bei, hatte auch die Nachricht erhalten, daß in der That eine dänische Escadre unterwegs sei, um Friedrichsort zu besetzen, bedauerte aber ohne Mannschaft zu sein, also nichts thun zu können. Als ich an die Kieler Bürgerwehr erinnerte, die gewiß bereit sein würde, bezweifelte er dies zwar, erbot sich aber, Generalmarsch schlagen zu lassen und der Bürgerwehr meinen Vorschlag zu unterbreiten. Diese kam auch schnell in ansehnlicher Zahl zusammen, und ich versuchte ihr den Nachweis zu führen, daß es zum Schutze des Lebens und Eigenthums der Kieler Bürger unbedingt nöthig sei, Friedrichsort zu besetzen, was heute noch leicht ausführbar wäre, aber morgen vielleicht nicht mehr.

Meine Rede hatte gezündet. Nach kurzer Berathung erklärte sich die Bürgerwehr bereit, noch in der kommenden Nacht die Festung zu besetzen, wenn ich das Commando übernehmen wollte, wozu ich mich natürlich gern verstand. So wurde denn eilig mit Hülfe des Stadtcommandanten, der zwar keine Mannschaft, aber ziemlich gefüllte Magazine zu seiner Verfügung hatte, aus der Bürgerwehr ein Expeditionscorps von 150 Mann gebildet, dem sich noch eine Reserve von 50 Mann anschloß.

Gegen Mitternacht waren wir auf dem Wege nach Holtenau, von wo aus der Sturm auf die Festung erfolgen sollte. Meine Truppe marschirte lautlos und tapfer auf die Zugbrücke los, die glücklicherweise niedergelassen war, und mit lautem Hurrah nahmen wir von der Festung Besitz. Ein Widerstand irgend welcher Art machte sich leider nicht bemerklich. Ich schlug mein Hauptquartier im Commandanturgebäude auf, und es wurde mir dort bald die aus sechs alten Feuerwerkern und Sergeanten bestehende und, wie es schien, von den Dänen ganz vergessene Besatzung gefangen vorgeführt. Die Leute wurden einstweilen unter Arrest gestellt und am folgenden Tage als erste Kriegsgefangene nach Kiel transportirt; es waren geborene Schleswig-Holsteiner, die offenbar froh waren, auf diese Weise ihre Entlassung aus dem dänischen Heeresverbande zu erhalten.

Bei Tagesgrauen erhielt ich die Meldung, daß auf der Rhede ein dänisches Kriegsschiff läge, und bald darauf wurde ein Spion eingebracht, der ihm vom Walle aus Signale gegeben hatte. Es war ein zitternder alter Mann, der von kräftigen Armen gefesselt mir vorgeführt wurde. Bei dem angestellten Verhör ergab sich, daß es der Garnisonpastor war, dem es zu unruhig in der sonst so stillen Festungsruine geworden, und der deshalb den Fischern des auf der anderen Seite des Hafeneinganges gelegenen Dorfes Laboe das verabredete Signal zur Hersendung eines Bootes gegeben hatte.

Das kleine Kriegsschiff blieb ruhig auf seinem Ankerplatze liegen, sendete ein Boot nach Laboe und ging nach dessen Rückkehr wieder in See. Ich hatte in der Festung eine mächtige schwarzrothgoldene Fahne aufhissen und die Wälle besetzen lassen, so daß das Schiff die Meldung nach Kopenhagen überbringen konnte, die Seebatterie Friedrichsort sei von einer deutschen Truppe besetzt, wie auch bald in dänischen Zeitungen zu lesen war.

Es begann nun ein recht munteres Leben in der Festung. Meine Bürgerwehrtruppe that gewissenhaft ihre Schuldigkeit. Bei der Organisation des Dienstes fand ich zu meiner Ueberraschung unter der Mannschaft Angehörige bekannter schleswig-holsteinscher Adelsfamilien und angesehene Bürger der Stadt Kiel. Sie unterwarfen sich aber alle ganz unbedingt dem selbstgewählten Commando eines jungen preußischen Artillerieofficiers. Ich ließ die Wälle aufräumen, die Scharten ausbessern und die vorgefundenen alten Kanonen auf die noch vorhandenen Bettungen schaffen. Das Pulvermagazin wurde in Ordnung gebracht und durch Kieler Handwerker ein Ofen zum Glühendmachen der Kugeln erbaut. Wesentlich unterstützte mich bei diesen Arbeiten mein mir ohne Ordre aus Berlin nachgefolgter Officiersbursche, Namens Hemp, ein intelligenter, tüchtiger Mann, der mich später bei allen Telegraphenbauten begleitete und schließlich Oberingenieur der Indo-Europäischen Telegraphenlinie wurde, welche Stellung er bis zum vorigen Jahre bekleidet hat. Mit seiner Hülfe wurde die Bedienungsmannschaft für eine Kanone nothdürftig ausgebildet, so daß wir schon am dritten Tage nach der Besetzung einen Probeschuß abgeben konnten, der weithin die militärische Besetzung von Friedrichsort verkündete.

In den nächsten Tagen erhielten wir viel Besuch aus Kiel. Nicht nur der Commandant der Stadt und sogar ein Mitglied der provisorischen Regierung besuchten uns, sondern auch die Frauen und Verwandten der Bürgerwehr kamen in großer Zahl, um sich von dem Wohlergehn ihrer Angehörigen persönlich zu überzeugen. Nach Verlauf einer Woche fing indessen meine Mannschaft an beträchtlich zusammenzuschmelzen, da die Frauen ihren Männern bei den Besuchen überzeugend nachwiesen, daß sie zu Hause unentbehrlich seien. Ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, daß es unmöglich wäre, die Bürgerwehrmänner, die sich ihren häuslichen Geschäften nur schwer entziehen konnten, für längere Zeit in Friedrichsort zurückzuhalten. Andererseits war noch ganz Holstein von Militär entblößt, und die schwachen Reste der schleswig-holsteinschen Truppen standen den wieder in Nordschleswig einrückenden Dänen gegenüber.

Ich war daher vor die Wahl gestellt, entweder meine Eroberung wieder aufzugeben oder mir einen Ersatz für die Bürgerwehr zu verschaffen. Die Bauernjugend der Probstei – des der Festung Friedrichsort gegenüberliegenden, das südliche Ufer des Kieler Hafens bildenden Landstrichs – schien mir besonders geeignet, diesen Ersatz zu bilden. Ich zog deshalb, von einer kleinen Truppe der Bürgerwehr begleitet, mit Fahne und Trommel zunächst nach Schönberg, dem Hauptorte der Probstei, rief die Dorfältesten zusammen und stellte ihnen vor, daß es ihrer eigenen Sicherheit wegen durchaus nöthig wäre, daß sie ihre erwachsenen Söhne zur Besetzung der Festung hergäben. Es entspann sich eine lange, schwierige Verhandlung mit den Vollbauern und ihren Frauen, die sich hinter ihren Gebietern aufstellten und auch direct an den Verhandlungen betheiligten. Die Leute meinten, wenn »die Herren«, nämlich die Regierung, es für nöthig erachteten, daß ihre Söhne marschirten, so könnten sie es ja so anordnen; dann wisse man, was man zu thun habe. Wenn die Dänen in ihr Land, die Probstei, wirklich einfielen, dann wollten sie sich wohl auch ohne Commando wehren, aber »in det Butenland up de annere Sid det Waters« wollten sie nicht freiwillig gehen.

Als die Bauernschaft unter lauter Zustimmung des weiblichen Chorus dabei unabänderlich stehen blieb, wurde ich zornig. Ich erklärte sie in plattdeutscher Sprache, die ich aus meiner Jugendzeit noch kannte, für dumme Esel und feige Memmen und sagte ihnen, in Deutschland hätten die Weiber mehr Courage wie hier die Männer. Zum Beweise las ich ihnen aus einem Zeitungsblatte die Nachricht vor, daß sich in Bayern bereits eine Weibertruppe gebildet hätte, um das Land gegen die Dänen zu schützen, da es den Männern daselbst an Muth fehlte. Die würde ich abwarten, um die Festung mit ihnen zu vertheidigen!

Das wirkte. Als ich im Begriff stand, mit meiner kleinen Truppe wieder abzuziehen, kam eine Deputation der Altbauern und bat mich noch zu warten, sie wollten sich die Sache noch einmal überlegen, da es ihnen doch nicht paßte, daß die Weiber ihr Land vertheidigen sollten. Ich erklärte mich dazu bereit, verlangte aber, daß die Dorfschaft wenigstens 50 Mann stellte, sonst lohnte die Sache nicht. Wir wurden darauf gut verpflegt, und eine Stunde später standen in der That 50 junge Männer bereit, um mitzugehen, gefolgt von hoch mit Lebensmitteln aller Art beladenen Fahrzeugen, »damit ihre Jungens in der Festung doch nicht zu hungern brauchten«, wie mir die Schulzenfrau erklärte. So zogen wir von Dorf zu Dorf mit ähnlichem Erfolge, und am späten Abend marschirte ich mit 150 kräftigen Bauernjungen und einer ganzen Lebensmittelkarawane wieder in die Festung ein.

Ich entließ darauf die Bürgerwehr bis auf eine Anzahl Freiwillige, die mich bei der Leitung und Ausbildung meines Bauernfreicorps unterstützen wollten, und hatte die Freude zu sehen, daß sich in kurzer Zeit eine ganz brauchbare Truppe aus ihm herausbildete. Waffen, Munition und militärische Abzeichen erhielt ich von dem stets hülfreichen Commandanten der Stadt Kiel, dessen Name mir leider entfallen ist. Mein Freicorps war als solches von der provisorischen Regierung anerkannt und erhielt auch die übliche Besoldung. Bei der militärischen Ausbildung der Leute leistete mir wieder mein schon genannter Bursche Hemp, den ich zum Artilleriechef ernannte, ausgezeichnete Dienste. Die Kanonen waren zwar alt und schlecht, aber ein kurzer 24-Pfünder und eine Haubitze waren immerhin brauchbar; das dänische Blockadeschiff, welches die Rhede des Hafens nicht mehr verließ, schien die glühenden Kugeln, die wir ihm stets zusandten, wenn es sich bis auf Schußweite näherte, doch einigermaaßen zu respectiren.

Eines Morgens wurden wir durch die Meldung alarmirt, daß drei große dänische Kriegsschiffe auf der Rhede lägen. Es schien in der That, als ob ein Angriff auf die Festung beabsichtigt würde – der ja auch in Anbetracht ihrer schlechten Verfassung und Ausrüstung große Chancen gehabt hatte. Der schwächste Punkt der Festung war das auf den inneren Hafen mündende Eingangsthor. Die Zugbrücke war verfallen, der Graben wasserfrei und das die Einfahrt deckende Ravelin nur noch in den Umrissen vorhanden. Da inzwischen mein Schwager Himly die vorläufig für die Minen benutzten Stückfässer zum Theil schon durch die aus Berlin eingetroffenen Gummisäcke ersetzt hatte, so ließ ich eins von diesen jetzt entbehrlich gewordenen Fässern nach Friedrichsort schleppen, um es dort als Flattermine zur Vertheidigung des Festungsthores zu verwenden. Ich hatte am Tage vor der Alarmirung in der Mitte des alten Navelins eine tiefe Grube ausheben und das Faß darin versenken lassen. Da es bei dieser Arbeit Nacht geworden war, so blieb die Grube offen und wurde durch einen Posten bewacht. Als am andern Morgen die Alarmirung stattfand, beauftragte ich meinen Bruder Friedrich – der mir ebenso wie später auch meine Brüder Wilhelm und Karl nach Kiel und Friedrichsort nachgefolgt war – die Zündleitung fertig zu machen, um die Mine im Falle eines Sturmes vom Walle aus entzünden zu können.

Die Schiffe hatten sich jetzt der Festung wirklich auf Schußweite genähert. Meine drei brauchbaren Kanonen waren besetzt und der Ofen zum Glühendmachen der Kugeln in voller Thätigkeit. Ich verbot aber zu schießen, bevor die Schiffe die Einfahrt forcirten. Die übrige Mannschaft hatte ich auf dem Festungshofe versammelt, um sie einzutheilen und zur Tapferkeit zu ermahnen. Da stieg plötzlich vor dem Festungsthore eine gewaltige Feuergarbe hoch empor. Ich fühlte eine starke Zusammendrückung und unmittelbar darauf eine gewaltsame Ausdehnung des Brustkastens; die erste Empfindung war vom klirrenden Einbruch aller Fensterscheiben der Festung begleitet, während bei der zweiten sämmtliche Ziegelsteine der Dächer sich fußhoch erhoben und darauf mit großem Getöse niederfielen.

Natürlich konnte es nur die Mine sein, deren Explosion das Unheil angerichtet hatte. Da traf mich gleich schwer der Gedanke an meinen armen Bruder Fritz. Ich lief zum Thore hin, um nach ihm zu sehen, doch begegnete er mir unversehrt schon innerhalb desselben. Er hatte die Mine fertig gemacht, die Batterie auf dem Wallgange aufgestellt, den einen Zünddraht mit dem einen Batteriepol verbunden und den andern an einem Baumzweige befestigt, um ihn zur Zündung gleich zur Hand zu haben, und wollte mir dies eben melden, als die Explosion eintrat und der Luftdruck ihn vom Walle hinab in das Innere der Festung schleuderte. Der ziemlich heftig wehende Wind hatte den zweiten Zünddraht vom Baume losgerüttelt, wobei er gerade auf den anderen Batteriepol fiel und dadurch die Zündung bewirkte.

Schlimmer war es dem Posten ergangen, der auf der Brustwehr der Ravelinspitze gestanden hatte, als die Explosion eintrat. Ich fand ihn auf der andern Seite des Explosionstrichters scheinbar todt auf dem Boden liegen, neben ihm sein Gewehr mit dem Bajonett voran bis zur Hälfte des Laufs in die Erde eingegraben. Der gewaltige Luftzug, den die in der offnen Grube explodirende Mine verursachen mußte, hatte den Mann offenbar mit sich in die Höhe gerissen und über den Minenkrater hinweggeschleudert. Glücklicherweise hatte er aber sein Gewehr krampfhaft festgehalten, und dadurch war der Stoß beim Niederfallen gemildert worden. Der Mann kam nach Verlauf einer Stunde wieder zur Besinnung; er blutete zwar aus Mund, Nase und Ohren und wurde später am ganzen Körper blau, war aber sonst unverletzt und nach etlichen Tagen wieder dienstfähig. Ernster beschädigt war der Kieler Militärarzt, der nach Friedrichsort geeilt war, als das Erscheinen des dänischen Geschwaders gemeldet wurde, und in dem Augenblick die Zugbrücke passirte, als unmittelbar neben ihm die Explosion stattfand. Er war mit seinem Fuhrwerk in den Wallgraben gestürzt und hatte sich dabei einige Quetschungen zugezogen. Auch hatte sich der Koch stark verbrüht, der gerade eine gefüllte Suppenschale die Treppe des Erdgeschosses hinauftrug und durch die Explosion hinabgestürzt wurde.

Aeußerst merkwürdig waren die mechanischen Wirkungen, welche die Explosion, die als ein Schuß aus einem offnen, durch Erde gebildeten Rohre mit einer Ladung von fünf Centnern Pulver zu betrachten war, in weitem Umkreise hervorbrachte. In der ganzen Festung war kein Raum von einiger Größe geschlossen geblieben. Entweder hatte der Luftdruck die Thüren oder Wände eingedrückt, oder es hatte, wenn sie dem widerstanden, die darauf folgende Leere sie auseinandergesprengt. Die Fensterscheiben waren selbst im Dorfe Laboe und in Holtenau gesprungen. Die Druckdifferenz muß im Innern der Festung noch mindestens eine Atmosphäre betragen haben, sonst hätte sie nicht in so weiter Entfernung noch solche Wirkungen hervorbringen können.

Als ich auf den Platz zurückkehrte, wo ich meine Truppe verlassen hatte, fand ich ihn leer und fürchtete schon, daß die Leute sich im ersten Schrecken zerstreut und verkrochen hätten. Ich sah aber zu meiner Freude bald, daß sich alle auf den ihnen angewiesenen Plätzen befanden. Sie hatten geglaubt, eine dänische Bombe sei eingeschlagen und der Angriff habe begonnen.

Die dänischen Schiffe hatten indessen ihr Vorgehen aufgegeben, kehrten auf die Außenrhede zurück und verließen auch diese bald bis auf das Blockadeschiff. In den Kopenhagener Zeitungen war kurz darauf zu lesen, eine der unterseeischen Minen, mit denen der Hafen von Kiel gepflastert sei, wäre zufällig bei Friedrichsort in die Luft geflogen und hätte die Festung zerstört. In der That muß der Anblick von den Schiffen aus ganz überraschend gewesen sein. Die rothen Ziegeldächer aller Gebäude der Festung überragten die niedrigen Wälle und gaben ihr ein lebhaft farbiges Ansehen. Unmittelbar nach der Explosion waren aber sämmtliche Ziegel niedergefallen und man sah gar keine Häuser mehr.

Daß die Dänen gewaltigen Respect vor den Minen bekommen hatten, beweist die Thatsache, daß trotz der notorischen Schwäche der artilleristischen Vertheidigung des Kieler Hafens während beider schleswig-holsteinschen Feldzüge kein dänisches Schiff in denselben eingelaufen ist. Obgleich diese ersten unterseeischen Minen nicht in Thätigkeit gekommen sind, haben sie also doch eine ganz entschiedene militärische Wirkung ausgeübt. Ich darf mich daher wohl darüber beschweren, daß die militärischen Schriftsteller späterer Jahre diese erste, vor den Augen der ganzen Welt erfolgte und damals viel besprochene Hafenvertheidigung durch unterseeische Minen vollständig ignorirt haben. Sogar deutsche Militärschriftsteller haben später dem Professor Jacobi in Petersburg die Erfindung der Unterseeminen zugeschrieben, obgleich dessen Versuche bei Kronstadt viele Jahre später ausgeführt wurden und er selbst gar nicht daran dachte, mir die Erfindung und die erste Ausführung im Kriege streitig zu machen. Als die Minen nach dem Friedensschlusse wieder aufgefischt und gehoben wurden, erwies sich das Pulver in den Kautschuksäcken trotz zweijährigen Liegens im Seewasser noch vollständig staubtrocken. Es ist also nicht zu bezweifeln, daß die Minen bei eintretender Gelegenheit ihre Schuldigkeit gethan haben würden.

Bald nach der beschriebenen Explosion in Friedrichsort rückte das Gros der preußischen Armee unter Wrangels Commando in Schleswig-Holstein ein. Ich erhielt kurze Zeit darauf ein directes Schreiben aus dem Hauptquartier, in welchem ich wegen meiner Hafenvertheidigung durch Unterseeminen und wegen der Besitznahme der Seebatterie Friedrichsort belobt wurde. Es wurde mir darin ferner mitgetheilt, daß eine Compagnie eines der neugebildeten schleswig-holsteinschen Bataillone unter Lieutenant Krohn die dauernde Besetzung der Festung übernehmen würde, und mir aufgetragen, zu einer genau bestimmten Zeit mit meinem Bauernfreicorps zur Mündung der Schlei zu marschiren, sie an einer passenden Stelle zu überschreiten und die Landbevölkerung der Provinz Angeln anzutreiben, dänische Flüchtlinge, die sich nach beabsichtigter Schlacht bei Schleswig dort zeigen würden, aufzugreifen. Nach erfolgter Ablösung durch die schleswig-holsteinsche Compagnie marschirte ich daher zur vorgeschriebenen Zeit nach Missunde, ging dort bei Tagesanbruch über die Schlei und führte meine ganz tapfer marschirende Schaar auf Flensburg zu. Schon am frühen Morgen hörten wir den Donner der Kanonen bei Schleswig. Die Bevölkerung verhielt sich sehr ruhig und schien auch gar nicht geneigt, sich in dieser Ruhe stören zu lassen. Dänen waren nicht zu sehen; wir hörten aber am Abend von Landleuten, daß die dänische Armee geschlagen sei und von den Preußen verfolgt sich über Flensburg zurückzöge. In der Nähe Flensburgs bestätigte sich dies Gerücht; die preußische Avantgarde hatte die Stadt bereits besetzt.

Da ich keine weiteren Aufträge für mein Freicorps hatte und mich auch nicht berechtigt fühlte, die Leute noch länger zurückzuhalten, nachdem die Festung, für deren Vertheidigung sie geworben waren, militärisch besetzt war, so entließ ich sie in die Heimath, der sie schleunigst wieder zueilten, und ging selbst nach Flensburg, um meine Meldung abzustatten. Das erwies sich aber als sehr schwierig, da in Flensburg noch eine grenzenlose Verwirrung herrschte. Die Straßen waren mit Kriegsfahrzeugen aller Art vollständig verbarrikadirt, und keine Militär- oder Civilbehörde war aufzufinden. Endlich traf ich im Gedränge auf den mir von Berlin her bekannten preußischen Hauptmann von Zastrow, dem ich meine Noth klagte. Dieser theilte mir mit, daß er das Commando über ein neuformirtes schleswig-holsteinsches Truppencorps mit einer Batterie erhalten und Ordre habe, am folgenden Tage mit demselben nach Tondern zu marschiren. Es fehle ihm aber sehr an Officieren, und er schlüge mir vor, mich ihm anzuschließen und das Commando über die Batterie zu übernehmen. Er würde das formell bei dem Höchstkommandirenden regeln und auch meine Meldung an denselben übermitteln. Mir gefiel dieser Vorschlag sehr, da es mir nicht angenehm sein konnte, vom Kriegsschauplatze gerade jetzt wieder ins Friedensquartier nach Berlin zu gehen. Ich schrieb daher meine Meldung über die Ausführung des mir ertheilten Befehls und zeigte an, daß ich das Bauernfreicorps entlassen habe und in Ermangelung einer anderweitigen Bestimmung einstweilen das mir angetragene Commando einer schleswig-holsteinschen Batterie übernehmen würde.

So ritt ich denn am folgenden Tage an der Spitze der mir zugewiesenen Batterie über den sterilen Rücken des »meerumschlungenen« Landes gen Tondern. Die Freude sollte aber nicht lange dauern. Im Marschquartiere angekommen, erhielt ich vom Commandanten eine durch Stafette überbrachte Ordre aus dem Hauptquartier, nach der ich mich sofort bei dem Höchstcommandirenden zu melden hatte. In Folge dessen requirirte ich mir ein Fuhrwerk, langte gegen Mitternacht wieder in Flensburg an und meldete mich sofort im Hauptquartier. Ich wurde in ein großes Zimmer des ersten Hotels von Flensburg geführt und fand dort an länger Tafel eine Menge Officiere jedes Ranges und aller Waffengattungen versammelt. Auf dem Sopha vor der schmalen Seite der Tafel saßen zwei jüngere Prinzen, während General Wrangel den ersten Platz neben dem Sopha an der einen Langseite der Tafel einnahm. Als ich meine Meldung abgestattet hatte, erhob sich der General und mit ihm die ganze Versammlung, da es gegen die Etikette war zu sitzen, wenn der Höchstcommandirende stand.

Der General sprach seine Verwunderung darüber aus, daß ich schon da sei, da er doch erst vor etlichen Stunden die Ordre für mich ausgefertigt habe. Als ich erklärte, ich sei gleich nach Beendigung des Marsches umgekehrt, meinte er, ich müsse sehr müde sein und solle eine Tasse Thee trinken. Auf seinen directen Befehl mußte ich mich auf seinen Platz setzen und eine Tasse Thee trinken, während die ganze hohe Gesellschaft zu meiner großen Verlegenheit stehen blieb. Es machte auf mich den Eindruck, als wollte der Höchstcommandirende die Gelegenheit benutzen, um zu zeigen, daß er Verdienste ohne Unterschied des Ranges ehre, und dabei gleichzeitig ein kleines Etikettenexercitium vornehmen. In der darauf folgenden Unterhaltung drückte mir der General seine Anerkennung für den Schutz des Kieler Hafens durch Seeminen, sowie für die Besitznahme der Festung Friedrichsort aus. Weiterhin sagte er, es wäre jetzt nöthig, den Schutz des Kieler Hafens möglichst stark zu machen und auch den Hafen von Eckernförde durch Seeminen zu sichern, da er die Absicht hätte, mit der ganzen Armee in Jütland einzurücken. Als ich dagegen einwandte, daß der Eckernförder Hafen zu offen und sein Fahrwasser zu breit wäre, um seine Vertheidigung auf Minen stützen zu können, und daß einige gut angelegte Batterien dies mit größerer Sicherheit bewirken würden, entspann sich in der Gesellschaft eine längere Discussion über das vermeintliche Uebergewicht der Schiffsartillerie über Landbatterien, in der ich mir die Bemerkung erlaubte, daß eine gut gelegene und durch Erdwall gedeckte Batterie von acht 24-Pfündern, die mit glühenden Kugeln schösse, den Kampf mit dem größten Kriegsschiffe aufnehmen könne. Die Behauptung, daß eine Landbatterie durch einige Breitsalven von einem Kriegsschiffe rasirt werden könne, sei kriegsgeschichtlich nicht bewiesen, und einer Beschießung mit glühenden Kugeln würde kein Holzschiff lange widerstehen können.

Das Endresultat dieser Audienz war, daß mir formell die Vertheidigung der Häfen von Kiel und Eckernförde übertragen wurde. Ich ward zum Commandanten von Friedrichsort ernannt und erhielt eine offene Ordre an den Commandanten der Festung Rendsburg, in der dieser angewiesen wurde, meinen Requisitionen an Geschützen, Munition und Mannschaft für Friedrichsort und die am Hafen von Eckernförde anzulegenden Batterien nachzukommen. Dieser Ordre wurde in Rendsburg auch Folge geleistet – allerdings mit einigem Widerstreben, da die Festung selbst nur sehr mangelhaft zur Vertheidigung ausgerüstet war. Friedrichsort wurde jetzt mit brauchbaren Kanonen versehen und möglichst in Vertheidigungszustand gesetzt. In Eckernförde erbaute ich eine große Batterie für schwere 12- und kurze 24-Pfünder am flachen Ufer etwas östlich von der Stadt und eine Haubitzenbatterie auf dem Hügellande am nördlichen Ufer des Hafens.

Weder Friedrichsort noch Eckernförde kamen in diesem Feldzuge zu irgend einer ernstlichen Thätigkeit, aber im nächsten Jahre wurden die von mir angelegten Batterien bei Eckernförde rühmlichst bekannt durch ihren siegreichen Kampf mit einem dänischen Geschwader, in welchem das Linienschiff Christian VIII. in Brand geschossen und die Fregatte Gefion gefechtsunfähig gemacht und erobert wurde.

Nach Vollendung der Befestigung von Friedrichsort und der Batterien bei Eckernförde fing meine Thätigkeit an etwas eintönig zu werden. Sie beschränkte sich im wesentlichen auf die Bewachung des vor Friedrichsort liegenden feindlichen Blockadeschiffs und die Controle des die Hafeneinfahrt passirenden Schiffsverkehrs. Das Kieler Militär-Commando hatte das Auslaufen von Handelsschiffen ohne specielle Erlaubniß untersagt und der Seebatterie Friedrichsort den Befehl ertheilt, es nöthigenfalls gewaltsam zu verhindern. Dies führte zu einer kleinen militärischen Action, die etwas Abwechslung in unser einförmiges Leben brachte.

Eines Abends kreuzte ich mit dem Boote der Kommandantur die Hafeneinfahrt, um die auf dem gegenüberliegenden Ufer von mir angelegte Batterie Laboe zu besuchen, als eine holländische Barke mit vollen Segeln auf mich zufuhr, in der offenbaren Absicht, den Hafen zu verlassen, ohne die vorschriftsmäßige Meldung abzustatten. Ich rief dem Kapitän zu, er solle beilegen und sich melden, da er andernfalls von der Festung aus beschossen werden würde. Der Holländer und seine Frau, welche die ganze Schiffsbesatzung zu bilden schienen, nahmen meine Warnung aber nicht für Ernst, erklärten vielmehr, sie würden sich um das Verbot nicht kümmern. Während diese Verhandlung noch stattfand, blitzte es aber schon vom Festungswalle auf, und ein Warnungsschuß schlug dicht vor dem Schiffe ins Wasser, wie das Reglement es vorschrieb. Trotzdem setzte das Schiff seinen Kurs mit vollen Segeln fort. Jetzt folgte von der Festung sowohl wie von der Batterie Laboe Schuß auf Schuß, und bald gesellte sich noch lebhaftes Gewehrfeuer eines am Ufer aufgestellten Militärpostens hinzu. Der tapfere Holländer ließ sich aber nicht irre machen und verschwand nach glücklicher Passirung der Einfahrt im Dunkel der inzwischen eingebrochenen Nacht.

Ausgesandte Fischer fanden das Schiff am nächsten Morgen außerhalb des Hafeneinganges verankert und die Besatzung eifrig beschäftigt, den erlittenen Schaden, der namentlich durch die Gewehrkugeln bewirkt war, wieder auszubessern. Die Tapferkeit des Holländers erklärte sich sehr einfach dadurch, daß er das Steuer festgebunden, als er wirklich Kugeln pfeifen hörte, und sich mit seiner Frau vorsichtig unter die Wasserlinie zurückgezogen hatte, wo beide völlig geschützt waren. Ich selbst war mit meiner Bootsbemannung den Kugeln schutzlos preisgegeben und konnte mich später wenigstens rühmen, einmal ohne Wanken im Artilleriefeuer gestanden zu haben! Uebrigens muß ich bekennen, daß das zischende Geräusch der vorbeisausenden Kanonenkugeln gerade keine angenehmen Empfindungen in mir hervorgerufen hat.

Auch das dänische Blockadeschiff brachte uns im Spätsommer schließlich noch eine interessante Unterbrechung des monotonen Festungslebens.

Ich erhielt aus dem Hauptquartier die Mitteilung, daß die Freischaaren unter dem Commando des bayrischen Majors von der Tann einen nächtlichen Angriff auf das Blockadeschiff ausführen würden, und den Befehl, dieses Unternehmen mit allen Mitteln der Festung bestens zu unterstützen. Bald darauf stellte sich von der Tann mit seinem Adjutanten, einem Grafen Bernstorff, bei mir ein und nahm Quartier in Friedrichsort. Das Freicorps sammelte sich bei Holtenau, wo auch die Boots-Escadre organisirt wurde, die den nächtlichen Angriff ausführen sollte. Am Tage vorher fand auf dem Festungshofe eine Paradeaufstellung des Freicorps statt, die mir nicht viel Vertrauen auf das Gelingen des gewagten Unternehmens einflößte. Es fehlte den Leuten vielleicht nicht an kühnem Muthe, wohl aber an Disciplin und ruhiger Entschlossenheit. Von der Tann und sein Adjutant bemühten sich vergebens, das wilde Durcheinander in militärische Ordnung umzuwandeln.

Der Plan zu dem Handstreich ging von einem Manne aus, der in der dänischen Marine früher irgend einen untergeordneten Posten bekleidet hatte. Es war ein Herkules, der seine gewaltigen Glieder in eine goldstrotzende Admiralsuniform eigener Phantasie steckte und die Leute mit lauttönender Stimme zu muthigen Thaten anspornte. So fragte er die in Reihe und Glied stehenden Leute, was sie machen würden, wenn sie an Bord gelangt wären und ihnen Dänen entgegenkämen. Der eine erklärte, er würde den nächsten niederstechen, ein anderer fand es angemessener, ihn niederzuschlagen, und so fort. Der »Admiral« hörte das ruhig mit an, richtete sich dann aber hoch auf und fragte mit blitzenden Augen und den zugehörigen Gesten: »Wißt Ihr, was ich machen werde? – Ich nehme die beiden nächsten Dänen und reibe sie an einander zu Pulver!« Vertrauen auf künftige Heldenthaten konnte das nicht einflößen.

Die Boots-Escadre sollte Nachts um 11½ Uhr in größter Stille und ohne jedes Licht die Festung passiren und dann gegen das Blockadeschiff zum Angriff vorgehen, wenn ein von der Festung gegebenes Signal bezeugte, daß das feindliche Schiff in gewohnter Ruhe verharre. Das Signal wurde rechtzeitig gegeben, es wurde aber etwa 1 Uhr, ehe die ersten Boote bei der Festung anlangten. Darauf vergingen nahezu zwei Stunden, ohne daß irgend etwas geschah, und endlich kam die ganze Bootsmenge ohne jede Ordnung und unter lautem Getöse zurück. Der »Admiral« hatte erst das Blockadeschiff nicht finden können, und dann wollte er beobachtet haben, daß das Schiff alarmirt und mit Enternetzen versehen wäre, so daß ihm offenbar der geplante Angriff verrathen worden sei. Unter Verrathgeschrei kehrte die Expedition nach Holtenau zurück und löste sich bald darauf ganz auf. Am nächsten Morgen lag das Schiff an seiner gewohnten Stelle, und es war mit den schärfsten Fernrohren keine besondere Armirung gegen einen drohenden Angriff zu erkennen.

Wie von der Tann mir vertraute, war das Unternehmen aus Mangel an Disciplin und an der zu großen Menge anregenden Getränkes gescheitert, und ihm selbst war die Lust vergangen, einen weiteren Versuch zu machen. Mir thaten die tüchtigen und liebenswürdigen bayrischen Officiere sehr leid wegen dieses Mißerfolges. Von der Tann blieb noch mehrere Tage mein Gast in der Festung, und ich habe mich in späteren Lebensjahren oft mit Vergnügen jener angenehmen Zeit erinnert, wenn der Ruhm der Thaten des »Generals von der Tann« zu mir drang.

Mit meiner officiellen Ernennung zum Commandanten von Friedrichsort und dem Auftrage, durch Anlage von Batterien für die Vertheidigung des Hafens von Eckernförde zu sorgen, hatte meine Stellung den etwas abenteuerlichen Charakter verloren, der ihr bis dahin anhaftete. Sie hatte damit aber auch einen großen Theil des Reizes eingebüßt, den sie bisher auf mich ausübte. Namentlich als ich meine Aufgaben erfüllt hatte und der Beginn der Friedensunterhandlungen weitere kriegerische Thätigkeit sehr unwahrscheinlich machte, ergriff mich immer lebhafter die Sehnsucht nach der Wiederaufnahme meiner wissenschaftlich-technischen Thätigkeit in Berlin.

Dort waren inzwischen große Veränderungen eingetreten. Die militärische Commission für die Einführung der elektrischen Telegraphen war auch formell aufgelöst und die Telegraphie dem neugeschaffenen Handelsministerium unterstellt. Zum Leiter dieser Abtheilung war ein Regierungsassessor Nottebohm ernannt, der bereits in der Telegraphencommission einen Verwaltungsposten bekleidet hatte. Es war der Entschluß gefaßt, auf dem von der Commission betretenen Wege fortzuschreiten und zunächst in aller Eile eine unterirdische Leitung von Berlin nach Frankfurt a. M., wo die deutsche Nationalversammlung tagte, erbauen zu lassen. In Folge dessen gelangte an mich die Anfrage, ob ich geneigt sei, den Bau dieser Linie nach den von mir der Commission gemachten Vorschlägen zu leiten. Falls ich darauf einginge, sollte beim Kriegsminister mein Commando zur Dienstleistung beim Handelsministerium beantragt werden. Obgleich mir die Unterstellung unter den Regierungsassessor Nottebohm nicht sehr zusagte, nahm ich die Berufung doch an, da sie mich von dem jetzt so eintönig gewordenen militärischen Leben in der kleinen Festung erlöste und mir Gelegenheit bot, meine Vorschläge in großem Maaßstabe zur praktischen Ausführung zu bringen.

In Berlin fand ich Halske bereits eifrig mit Arbeiten für die zu erbauende Linie beschäftigt. Man hatte beschlossen, die Linie ganz unterirdisch anzulegen, da man befürchtete, daß oberirdische Leitungen in jener politisch so hoch erregten Zeit zerstört werden würden. Die mit umpreßter Guttapercha isolirten Leitungen sollten ohne äußeren Schutz in einen anderthalb Fuß tiefen Graben auf dem Eisenbahndamm verlegt werden. Der von mir vorgeschlagene Schutz der Leitungen durch Umhüllung mit Eisendrähten, Eisenröhren oder Thonrinnen wurde der großen Kostspieligkeit wegen nicht genehmigt. Mit der Berliner Gummiwaaren-Fabrik von Fonrobert & Pruckner war bereits ein Vertrag für die weitere Herstellung unterirdischer Leitungen abgeschlossen. Es war dies dieselbe Fabrik, der ich mein Modell zur Umpressung von Kupferdrähten mit Guttapercha überlassen, und die auch die Versuchsleitung von Berlin nach Großbeeren mit einer nach jenem Modell erbauten Umpressungsmaschine hergestellt hatte. Ich mußte mich darauf beschränken, für möglichst gute Isolirung der Leitungen Sorge zu tragen. Dem stellten sich aber insofern erhebliche Schwierigkeiten entgegen, als durch den plötzlich eintretenden großen Bedarf an Guttapercha die gut isolirende Qualität derselben dem Markte bald entzogen wurde.

Um dieses Hinderniß des verlangten schnellen Fortschritts der Arbeit nach Möglichkeit zu beseitigen, beschloß man, die kurz vorher in England erfundene Vulcanisirung der Guttapercha, d. h. ihre innige Mischung mit Schwefel in Anwendung zu bringen, wodurch auch bei schlechterer Qualität der Guttapercha die Isolirung sowohl wie die Widerstandsfähigkeit der Leitungen gegen äußere Beschädigungen erhöht wurde. Leider erwies sich die Vulcanisirung später als ein Fehlgriff, da der Schwefel sich mit dem Kupfer des Leiters verband und dadurch allmählich auch die nächstliegenden Schichten der Guttapercha kupferhaltig und leitend wurden. Diesem Uebelstande war es namentlich zuzuschreiben, daß die zur Zeit der Legung so vollkommen isolirten Leitungen nach wenigen Monaten schon einen Theil ihrer Isolation verloren hatten.

Auf die Prüfung der Leitungen in der Fabrik wurde besonders große Sorgfalt verwendet. Halske fertigte für diesen Zweck Galvanometer an, die an Empfindlichkeit alle bis dahin bekannten weit übertrafen. Bei den Prüfungen mit diesen empfindlichen Galvanometern beobachtete ich im Jahre 1847 zum ersten Mal die auffallende Erscheinung, daß auch ein vollkommen isolirtes, in Wasser liegendes Leitungsstück beim Einschalten einer Batterie einen kurzen Strom gab, dem bei Ausschluß der Batterie ein gleich starker, entgegengesetzt gerichteter Strom folgte. Es war dies die erste Beobachtung der elektrostatischen Ladung durch galvanische Ketten. Ich war anfangs geneigt, hierin eine Polarisationserscheinung zu erblicken, da man das Galvanometer damals noch nicht für fähig hielt, den Durchgang statischer Elektricität anzuzeigen. Die Erscheinungen auf längeren, gut isolirten Linien sollten es mir aber bald ganz unzweifelhaft machen, daß man es mit elektrostatischer Flaschenladung und nicht mit Polarisationserscheinungen zu thun hatte.

Die anfängliche Schwierigkeit, fehlerhaft isolirende Stellen in einem längeren Leitungsstücke zu finden, vermochte ich auf folgende Weise zu überwinden. Der mit Guttapercha umpreßte, trockne Draht wurde durch ein gegen Erde isolirtes, mit Wasser gefülltes Gefäß gezogen, während die zweite Spirale dünnen, übersponnenen Drahtes, die den Elektromagneten eines Neefschen Hammers umgab, zwischen den isolirten Kupferdraht und Erde eingeschaltet wurde. Wenn nun ein mit der Erde in leitender Verbindung stehender Arbeiter einen Finger in das Wasser des isolirten Gefäßes tauchte, so empfand er in dem Augenblicke elektrische Erschütterungen, in welchem eine fehlerhafte Stelle des mit Guttapercha umpreßten Drahtes in das Wasser eintauchte. So gelang es, alle kleinen, auf keine andere Art zu entdeckenden Isolationsfehler aufzufinden und nach ihrer Beseitigung Leitungen von außerordentlich hoher Isolirung zu erhalten.

Ueber die eben beschriebene Modification des Neefschen Hammers möge hier noch folgende Bemerkung ihre Stelle finden. Ich hatte diese Modification bereits im Jahre 1844 hergestellt und ihr den Namen Voltainductor gegeben. Es bot sich mir schon damals Gelegenheit, die medicinische Wirkung der in der zweiten Umwindung eines solchen Voltainductors inducirten Wechselströme zu beobachten. Mein Bruder Friedrich litt in jener Zeit sehr an rheumatischem Zahnweh, welches alle seine sonst ganz gesunden Zähne ergriffen hatte und keinem ärztlich verordneten Mittel weichen wollte. Die Experimente mit meinem neuen Voltainductor brachten uns auf die Idee, zu versuchen, ob die durch ihn erzeugten Wechselströme den unerträglichen Schmerz nicht beseitigen oder doch vermindern würden, wenn man sie durch die Zahnwurzeln leitete. In der That war dies bei einem besonders schmerzhaften Vorderzahn der Fall. Der Schmerz war im ersten Momente gewaltig, hörte aber dann sofort ganz auf. Mit der großen Willenskraft, die meinem Bruder Friedrich von jeher eigen war, behandelte er jetzt sogleich seine sämmtlichen Zähne mit Durchleitung von Wechselströmen durch die Zahnwurzeln und hatte darauf den seit Wochen nicht gehabten Genuß vollständiger Schmerzlosigkeit. Leider stellten sich aber schon am zweiten Tage langsam wieder Schmerzen ein. Durch wiederholte Elektrisirung ließen sie sich zwar von neuem beseitigen, doch wurde die darauf folgende schmerzlose Zeit immer kürzer, und schließlich blieb die Wirkung ganz aus. Dieser meines Wissens erste Versuch der medicinischen Verwendung elektrischer Ströme hat mir damals ein gewisses Mißtrauen gegen diese Anwendung derselben eingeflößt. Es schien mir, als ob ihre Wirkung nur vorübergehend, nicht dauernd heilkräftig wäre.

Der nun folgende Herbst des Jahres 1848 war für mich ein außerordentlich interessanter und bewegter. Die Linie nach Frankfurt a. M., wo das deutsche Parlament tagte und der Reichsverweser residirte, sollte aus politischen Gründen so schnell wie irgend möglich vollendet werden. Dies wurde aber einerseits durch die unruhigen politischen Verhältnisse, andrerseits durch ganz unerwartete Erscheinungen erschwert, die bei den unterirdischen Leitungen auftraten. Diese Erscheinungen begegneten zuerst meinem Freunde Halske, dem die Besetzung der fertigen Theile der Linie mit Sprechapparaten oblag, während ich mit Herstellung der Leitung zwischen Eisenach und Frankfurt beschäftigt war, die man sich doch entschlossen hatte oberirdisch zu führen, da die Eisenbahn noch im Bau begriffen und zum Theil sogar das für sie erforderliche Terrain noch gar nicht erworben war.

Halske fand zunächst bei kürzeren Linien, daß unsre selbstunterbrechenden Zeigertelegraphen wesentlich schneller gingen, als es dem Widerstande der Linie entsprach. Als die Leitung von Berlin bis Cöthen fertiggestellt war, mithin eine Länge von etwa 20 deutschen Meilen hatte, lief der gebende Apparat mit doppelter Geschwindigkeit, während der Empfangsapparat stehen blieb. Diese damals unerklärliche Erscheinung trat um so früher ein, je besser die Linie isolirt war, was Halske zu dem Hülfsmittel führte, die Isolirung der Linie durch Anbringung künstlicher, wässriger Nebenschlüsse absichtlich zu verschlechtern.

Auch die oberirdische Leitung brachte unerwartete Schwierigkeiten. Da, wo das künftige Eisenbahn-Terrain noch nicht angekauft war, wollten die Grundbesitzer die Aufstellung der Pfosten nicht gestatten. Dieser Widerstand trat namentlich in den nicht preußischen Ländern Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt hervor, als der Gegensatz zwischen der Regierung Preußens und der Reichsverwaltung nach Wiederherstellung der Ordnung in Berlin durch das Einrücken der aus Schleswig-Holstein zurückkehrenden Armee sich bedeutend verschärft hatte. Es gelang mir damals nur durch die Erwirkung einer offnen Ordre des Reichsverwesers Erzherzog Johann, meine Aufgabe durchzuführen. Doch auch technische Schwierigkeiten stellten sich ein. Die Linie wurde mit Kupferdrahtleitung ausgeführt, da passende Eisendrähte in Deutschland damals nicht zu beschaffen waren und man diesen Leitungen auch noch mit einem gewissen Mißtrauen gegenüberstand. Die üblen Erfahrungen, die wir im vorhergehenden Jahre mit der Linie Berlin-Potsdam gemacht hatten, die trotz aller verwendeten Isolirmittel bei Regenwetter so schlecht isolirt war, daß der gute Dienst der Apparate gestört wurde, hatten mich zur Anwendung von glockenförmigen Isolatoren aus Porzellan geführt. Diese besaßen den großen Vorzug, daß die innere Fläche der Glocke auch bei Regenwetter immer trocken bleiben mußte, wodurch die Isolation unter allen Umständen gesichert war. In der That gelang es auf diese Weise, eine fast vollkommene Isolirung herbeizuführen. Leider hielt ich es damals nicht für nöthig, die Enden der verwendeten Kupferdrähte mit einander zu verlöthen, ein festes Zusammendrehen schien mir ausreichend. Später stellte sich heraus, daß dies ein Irrthum war. Bei ruhigem Wetter functionirten die Apparate sehr gut, bei starkem Winde aber war der Widerstand der Leitung so merkwürdig veränderlich, daß die Apparate den Dienst versagten. Erst die nachträglich ausgeführte Verlöthung aller Verbindungsstellen bereitete diesem Uebelstande ein Ende.

Sehr störend machte sich auch die atmosphärische Elektricität geltend. Bei dem Uebergange vom Flachlande zum Gebirge durchliefen oft Ströme wechselnder Richtung die Leitung und erschwerten das Arbeiten der Apparate. Ein verspätetes Herbstgewitter richtete starke Zerstörungen an, die mich veranlaßten, Blitzableiter zum Schutze der Leitungen und Apparate zu construiren. Um die wirksamste Form von Blitzableitern zu ermitteln, stellte ich zwischen zwei parallelen Leitungen Spitzen, Kugeln und Platten in gleichen Abständen von einander auf und beobachtete die Entladungsfunken einer großen Batterie von Leydener Flaschen, die zwischen diesen drei nebeneinander eingeschalteten Blitzableitern übergingen. Es stellte sich dabei heraus, daß sehr schwache Entladungen ihren Weg allein durch die Spitzen nahmen, während stärkere hauptsächlich durch die Kugeln und sehr starke in einer großen Zahl von Funken fast ganz durch die Platten ihre Ableitung fanden. Wirklichen Blitzen gegenüber erwiesen sich daher einander nahe gegenüberstehende, gerauhete Metallplatten als besonders wirksam. Auch der Einfluß der Nordlichter machte sich öfter, und zu Zeiten sehr störend, bemerklich, namentlich auf der unterirdischen, im wesentlichen von Osten nach Westen verlaufenden Linie. So konnte während der großen Nordlichter im Herbst des Jahres 1848 wegen heftiger, schnell wechselnder Ströme in der Leitung Tagelang zwischen Berlin und Cöthen nicht gesprochen werden. Es war dies die erste Beobachtung des Zusammenhanges zwischen Erdströmen, magnetischen Störungen und Nordlichtern.

Als die unterirdische Leitung bis Erfurt vorgerückt war, wollten Halskes flüssige Nebenschließungen nicht mehr ausreichen. Mittlerweile hatte ich aber die Ueberzeugung gewonnen, daß das eigenthümliche Verhalten der unterirdischen Leitungen nur der schon bei den Prüfungen in der Fabrik beobachteten elektrostatischen Ladung, wobei der Draht die innere, der feuchte Erdboden die äußere Belegung einer Leydener Flasche bildet, zugeschrieben werden könne. Entscheidend hierfür war der Umstand, daß die in einer vollständig isolirten Leitung gebundene und durch den Ausschlag einer freischwingenden Magnetnadel gemessene Elektricitätsmenge sowohl der elektromotorischen Kraft der eingeschalteten galvanischen Batterie wie der Länge der Leitung proportional war; daß ferner die elektrische Spannung der Ladung in einer geschlossenen Leitung der an jedem Punkte des Leitungskreises nach dem Ohmschen Gesetze auftretenden elektrischen Spannung entsprach. Nachdem ich dies erkannt hatte, ließen sich die Hindernisse, die dem Sprechen auf längeren unterirdischen Leitungen entgegenstanden, durch passende Einrichtungen, wenn auch nicht ganz beseitigen, so doch für den praktischen Gebrauch unschädlich machen. Es waren das die Anwendung von Nebenschlüssen zur Leitung in Form metallischer Widerstände ohne Selbstinduktion und die selbstthätige Translation, durch welche mehrere geschlossene Linienstücke zu einer einzigen großen Linie verbunden wurden.

Meine Theorie der elektrostatischen Ladung geschlossener wie offener Leitungen fand übrigens selbst in naturwissenschaftlichen Kreisen anfänglich keinen rechten Glauben, da sie gegen die in jener Zeit herrschenden Vorstellungen verstieß. Ueberhaupt ist es heute, wo man kaum noch begreift, wie ein civilisirter Mensch ohne Eisenbahnen und Telegraphen leben kann, nicht leicht, sich auf den damaligen Standpunkt zu versetzen, um zu verstehen, welche Schwierigkeiten sich uns damals in Dingen entgegenstellten, die jetzt als ganz selbstverständlich betrachtet werden. Vorstellungen und Hülfsmittel, die heute jedem Schuljungen geläufig sind, mußten in jener Zeit oft erst mit Mühe und Arbeit errungen werden.

Ich hatte die Genugthuung, daß diese erste größere Telegraphenlinie – nicht nur Deutschlands, sondern ganz Europas – schon im Winter des Jahres 1849 in Betrieb genommen werden konnte, so daß die in Frankfurt erfolgte Kaiserwahl mit ihrer Hülfe noch in derselben Stunde in Berlin bekannt wurde. Die günstigen Resultate dieser Linie veranlaßten die preußische Regierung zu dem Beschlusse, sogleich auch eine Linie von Berlin nach Cöln und zur preußischen Grenze bis Verviers zu erbauen und darauf weitere Linien nach Hamburg und Breslau folgen zu lassen. Alle diese Linien sollten ihrer Sicherheit wegen unterirdisch, nach dem System der Linie Berlin-Eisenach, erbaut werden, obwohl sich bei dieser bereits entschiedene Mängel herausgestellt hatten. Da diese Mängel namentlich darin bestanden, daß die nur anderthalb bis zwei Fuß tief in dem meist losen Sande der Eisenbahndämme liegenden Leitungen leicht durch Arbeiter und stellenweise auch durch Ratten, Mäuse und Maulwürfe beschädigt wurden, so beschloß man, die Leitungen 2½ bis 3 Fuß tief einzugraben; von einem äußeren Schutze wurde aber auch hier der Kosten wegen abgesehen.

Ich hatte mich bereit erklärt, auch die Leitung des Baues der Linie nach Cöln und Verviers zu übernehmen, falls ich weiteren militärischen Urlaub erhielte, und falls mein Freund William Meyer, der mich stets in seiner freien Zeit getreulich bei meinen Arbeiten unterstützt hatte und daher vollständig informirt war, zu meiner Hülfeleistung commandirt würde. Beides wurde mir zugestanden, und so begannen wir denn schon im Frühjahr 1849 den Bau der Linie gleichzeitig an mehreren Punkten. Meyer hatte viel organisatorischen Sinn und eignete sich besonders gut zur Leitung von Arbeiten, bei denen viele Kräfte harmonisch zusammenwirken müssen. Schwierigkeiten entstanden durch die Ströme Elbe und Rhein, bei denen eine lebhafte Schiffahrt Beschädigungen der Leitung durch Schleppanker befürchten ließ. Diese Gefahr war namentlich beim Rheinübergange groß, da die Leitungen hier fast auf der ganzen Flußbreite durch Schleppanker und Geräthschaften der Fischer bedroht waren. Eine Umspinnung mit Eisendraht, die bei der Elbe und den Uebergängen über kleinere Flüsse angewendet wurde, erschien für den Rhein nicht ausreichend, da die mit scharfen Spitzen versehenen Geräthschaften der Schiffer und Fischer die isolirte Leitung zwischen den Drähten hindurch erreichen und beschädigen konnten, und da eine Umkabelung nicht stark genug zu machen war, um schleppenden Ankern großer Schiffe zu widerstehen. Ich ließ daher für den Rhein eine besondere, aus schmiedeeisernen Röhren hergestellte Gliederkette anfertigen, in deren Höhlung die isolirten Leitungen Aufnahme fanden, während eine starke, durch eine Reihe von schweren Schiffsankern unterstützte Ankerkette dazu bestimmt war, die Röhrenkette vor den Schleppankern thalwärts fahrender Schiffe zu beschützen. Diese erste größere, mit äußerem Schutze versehene Unterwasserleitung hat sich sehr gut bewährt. Als sie viele Jahre später, nach Erbauung der festen Eisenbahnbrücke, wieder aufgenommen wurde, hingen an der Schutzkette eine Menge Schiffsanker, welche die Schiffer hatten kappen müssen, um wieder frei zu werden. Die Kette hatte also ihre Schuldigkeit gethan.

Ein recht schwieriger und lehrreicher Bau war der der Linie von Cöln über Aachen nach Verviers in Belgien, wo der Anschluß an die inzwischen in Angriff genommene oberirdische Linie von Brüssel nach Verviers stattfinden sollte. Es waren hier sehr viele Tunnel zu passiren, in denen die Leitungen durch eiserne, an den Tunnelwänden befestigte Röhren geschützt werden mußten. Auf großen Strecken des Bahndammes mußte der Graben für die Einbettung der Leitung durch Pulversprengung hergestellt werden.

Während des Baues dieser Linie lernte ich den Unternehmer der Taubenpost zwischen Cöln und Brüssel kennen, einen Herrn Reuter, dessen nützliches und einträgliches Geschäft durch die Anlage des elektrischen Telegraphen schonungslos zerstört wurde. Als Frau Reuter, die ihren Gatten auf der Reise begleitete, sich bei mir über diese Zerstörung ihres Geschäftes beklagte, gab ich dem Ehepaare den Rath, nach London zu gehen und dort ein eben solches Depeschen-Vermittlungsbureau anzulegen, wie es gerade in Berlin unter Mitwirkung meines Vetters, des schon genannten Justizraths Siemens, durch einen Herrn Wolff begründet war. Reuters befolgten meinen Rath mit ausgezeichnetem Erfolge. Das Reutersche Telegraphenbureau in London und sein Begründer, der reiche Baron Reuter, sind heute weltbekannt.

Als der Anschluß der inzwischen vollendeten belgischen Telegraphenlinie an die preußische in Verviers erfolgt war, erhielt ich eine Einladung nach Brüssel, um dem Könige Leopold einen Vortrag über elektrische Telegraphie zu halten. Ich fand die ganze königliche Familie im Brüsseler Schlosse versammelt und hielt vor ihr einen langen, von Experimenten begleiteten Vortrag, dem sie mit gespannter Aufmerksamkeit und schnellem Verständniß folgte, wie die an den Vortrag sich knüpfende, eingehende Discussion bewies.

Es trat jetzt an mich die endgültige Entscheidung der Frage heran, welche Richtung ich meinem künftigen Leben geben sollte. Die Militärbehörde hatte nur widerstrebend die Verlängerung meines Commandos zur Dienstleistung beim Handelsministerium bewilligt und bestimmt erklärt, daß eine weitere Verlängerung nicht erfolgen würde. Mir blieb nun die Wahl, entweder in den activen Militärdienst zurückzutreten, oder zur Staatstelegraphie überzugehen, bei der mir die Stellung als leitender Techniker zugesichert war, oder endlich jedem Dienstverhältniß zu entsagen und mich ganz der wissenschaftlichen und technischen Privatthätigkeit zu widmen.

Ich entschied mich für das letztere. Wieder in den militärischen Garnisondienst zurückzukehren, wäre mir nach dem bewegten und erfolgreich thätigen Leben, das ich hinter mir hatte, ganz unmöglich gewesen. Der Civildienst sagte mir durchaus nicht zu. Es fehlte in ihm der kameradschaftliche Geist, der die drückenden Rang- und Machtunterschiede mildert und erträglicher macht, es fehlte in ihm auch die ungeschminkte Offenheit, welche selbst mit der Grobheit versöhnt, die beim Militär einmal herkömmlich ist. Meine kurzen Erfahrungen im Civilstaatsdienst gaben mir hinreichende Gründe für die Bildung dieser Anschauung. Solange meine Vorgesetzten nichts vom Telegraphenwesen verstanden, ließen sie mich ganz ungehindert arbeiten und beschränkten ihre Eingriffe und Vorschriften auf Fragen von financieller Bedeutung. Das änderte sich bald in dem Maaße, in welchem mein nächster Vorgesetzter in der Verwaltung, der Regierungsassessor, spätere Regierungs- und Baurath Nottebohm, sich während der Arbeiten Sachkenntniß erwarb. Es wurden mir Leute zugewiesen, die ich nicht brauchen konnte, technische Anordnungen getroffen, die ich als schädlich erkannte, kurz, es kamen Reibungen und Differenzen vor, die mir die Freude an meiner Arbeit verdarben.

Dazu kam, daß die Schwächen der unbeschützt im losen Erdreich der Eisenbahndämme liegenden isolirten Leitungen sich bereits immer bedenklicher zu zeigen anfingen. Es entstanden Isolationsfehler, die nur schwer zu finden und zu beseitigen waren; Drahtbrüche ohne Isolationsverminderung traten auf, die oft nur einige Stunden dauerten und deren Lage daher schwer zu bestimmen war. Mit der Aufsuchung und Reparatur der Fehler wurden meist unerfahrene Leute beauftragt, welche die Linie an unzähligen Stellen durchschnitten, um den Fehler einzugrenzen, und durch ungeschickt ausgeführte Ausgrabungen und Verbindungen den Grund zu neuen Fehlern legten, die dann wieder mir und dem System zur Last gelegt wurden. Trotzdem ging man mit einem fast blind zu nennenden Vertrauen zu immer neuen Anlagen dieser Art über. Es mochten wohl die damaligen politischen Verhältnisse sein, welche die schnelle Herstellung eines den ganzen Staat umfassenden Telegraphennetzes selbst auf die Gefahr hin geboten, daß dasselbe nicht von langer Dauer wäre. Der von mir vorgeschlagene äußere Schutz der Leitungen durch Eisenröhren, wie beim Rheinübergange, oder durch Umkabelung mit Eisendrähten, auf deren Herstellung sich eine Cölner Firma auf meine Veranlassung bereits eingerichtet hatte, wurde als zu theuer und zu langsam ausführbar erklärt; es blieb bei dem provisorischen Charakter der ersten Versuchsanlagen.

Andrerseits hatte die Werkstatt für Telegraphenapparate, die ich mit meinem Freunde Halske begründet und in die ich mir den persönlichen Eintritt vorbehalten hatte, sich unter dessen tüchtiger Leitung durch hervorragende Leistungen bereits große Anerkennung verschafft. Die hohe Bedeutung der elektrischen Telegraphie für das praktische Leben war erkannt, und namentlich die Eisenbahnverwaltungen begannen, die Leistungsfähigkeit ihrer Bahnen und die Sicherheit ihres Betriebes durch Anlage von Telegraphenlinien für den Nachrichten- und Signaldienst zu erhöhen. Es tauchte dabei eine Fülle interessanter wissenschaftlicher und technischer Aufgaben auf, zu deren Lösung ich mich berufen fühlte. Meine Wahl konnte daher nicht zweifelhaft sein. Ich bat im Juni des Jahres 1849 um meinen Abschied vom Militär und legte bald darauf auch mein Amt als Leiter der Technik der preußischen Staatstelegraphen nieder. Letztere Stellung erhielt auf meinen Vorschlag mein Freund William Meyer, der gleichzeitig mit mir seinen Abschied als Officier nahm.

Ich hatte es in den vierzehn Jahren meines Militärdienstes bei den damaligen schlechten Avancementsverhältnissen eben über die Hälfte der Secondelieutenants gebracht, erhielt daher, wie gebräuchlich, meinen Abschied als Premierlieutenant »mit der Erlaubnis, die Uniform als Armeeofficier mit den vorschriftsmäßigen Abzeichen für Verabschiedete zu tragen«. Auf die mir für mehr als zwölfjährigen Officiersdienst zustehende Pension verzichtete ich, da ich mich gesund fühlte und kein vorschriftsmäßiges Invaliditätsattest einreichen mochte. Die Genehmigung meines Abschiedsgesuches war übrigens mit einer tadelnden Bemerkung über einen Formfehler meines Gesuches versehen. Die politische Rückströmung war damals schon so stark geworden, daß mir die im dänischen Kriege bewiesene deutsche Gesinnung in den herrschenden Kreisen zum Vorwurf gereichte.

Trotz dieses geringen Endresultates meines Militärdienstes sehe ich doch mit einer gewissen Befriedigung auf meine Militärzeit zurück. Es knüpfen sich an sie meine angenehmsten Jugenderinnerungen, sie bahnte mir den Weg durchs Leben und gab mir durch errungene Erfolge das Selbstvertrauen zur Anstrebung höherer Lebensziele.


Wenn auch mein Wirken und Streben durch den Austritt aus jedem Dienstverhältniß nicht wesentlich geändert wurde, so erhielt doch mein Leben dadurch eine festere, ganz auf eigene Leistungen hinweisende Richtung. Es galt jetzt für mich, das Geschäft, welches schon meinen Namen trug, durch tüchtige Leistungen möglichst emporzuheben und mir als Mann der Wissenschaft wie als Techniker persönliches Ansehen in der Welt zu erringen. Obgleich meine Neigungen ganz auf Seiten der naturwissenschaftlichen Forschung standen, sah ich doch ein, daß ich zunächst meine ganze Kraft technischen Arbeiten zuwenden müßte, da deren Resultate mir die Mittel und Gelegenheit zu wissenschaftlichen Arbeiten erst verschaffen sollten – und auch wirklich verschafften.

Wissenschaftliche und erfinderische Thätigkeit wurde mir in dieser arbeitsvollen Zeit fast ausnahmslos durch das technische Bedürfniß vorgeschrieben. So verlangten die damals sehr überraschend und störend auftretenden Ladungserscheinungen an den unterirdischen Leitungen ein eingehendes Studium. Ferner war es nothwendig, ein System für die Bestimmung der Lage von Leitungs- und Isolationsfehlern in unterirdischen Leitungen durch Strommessungen an den Leitungsenden festzustellen. Die Unsicherheit der Strommessungen führte zu der Nothwendigkeit, sie durch Widerstandsmessungen zu ersetzen, und dadurch zur Aufstellung fester, reproducirbarer Widerstandsmaaße und Widerstandsskalen. Es mußten zu diesem Zwecke auch die Methoden und Instrumente für Strom- und Widerstandsmessungen verbessert und für den technischen Gebrauch geeignet gemacht werden – kurz, es hatte sich eine ganze Reihe wissenschaftlicher Aufgaben gebildet, deren Lösung das technische Interesse gebot.

Ich widmete mich diesen Aufgaben, soweit es meine Inanspruchnahme durch die technischen Unternehmungen des Geschäftes erlaubte, mit besonderer Vorliebe und wurde dabei durch die bildende Kunst und das mechanische Talent meines Socius Halske sehr wirksam unterstützt. Dies gilt namentlich von den zahlreichen Verbesserungen der telegraphischen Einrichtungen und Hülfsmittel, die jener Zeit entstammen und dank der soliden und exacten Ausführung, die sie in unsrer Werkstatt unter Halskes Leitung fanden, sich schnell allgemeinen Eingang in die Telegraphentechnik verschafften. Der große Einfluß, den die Firma Siemens & Halske auf die Entwicklung des Telegraphenwesens ausgeübt hat, ist wesentlich dem Umstande zuzuschreiben, daß bei ihren Arbeiten der Präcisionsmechaniker und nicht mehr wie früher der Uhrmacher die ausführende Hand darbot.

Zu Publikationen in wissenschaftlichen und technischen Zeitschriften fand sich damals keine Zeit; auch Patente wurden nur in wenigen Fällen genommen. Ein deutsches Patentrecht gab es noch nicht, und in Preußen wurden Patente ziemlich willkürlich auf drei bis fünf Jahre ertheilt, waren also ohne praktischen Werth. Es fehlt daher in der Mehrzahl der Fälle den in jener Zeit von uns ausgegangenen Erfindungen und Verbesserungen der Ursprungsstempel durch Publikation oder Patentirung.

Recht auffällig ist dies einmal vor etlichen Jahren hervorgetreten. Es hatte sich in den Vereinigten Staaten Jemand gefunden, der behauptete, Erfinder der unterirdischen Leitungen, namentlich der mittelst umpreßter Guttapercha isolirten, zu sein, und noch nach Verlauf von mehr als einem Vierteljahrhundert Patentrechte darauf geltend machte, die der großen amerikanischen Telegraphengesellschaft bedeutende Verluste zu bringen drohten. Die Gesellschaft sandte eine besondere Commission unter Leitung ihres Direktors, des »Generals« Eckert, nach Berlin, um Zeugnisse durch gedruckte Publikationen darüber aufzusuchen, daß ich bereits im Jahre 1846 mit Guttapercha umpreßte Leitungen hergestellt hätte. Ich mußte den Herren auf ihre schriftliche Anfrage erwiedern, daß nichts Gedrucktes darüber aufzufinden wäre, daß aber die Acten der Commission des Generalstabes und der späteren Telegraphendirektion den vollen Beweis enthielten. Dies genügte jedoch nicht für den Proceß. Die Amerikaner wählten nun einen anderen, sehr praktischen Weg, um sich gedruckte Mittheilungen über die Sache zu verschaffen. Sie zeigten in vielen deutschen Blättern an, daß sie für die Mittheilung einer noch im Jahre 1847 gedruckten Beschreibung der auf dem Planum der Anhaltischen Eisenbahn gelegten unterirdischen Telegraphenleitungen eine namhafte Summe zahlen würden. Das half. Schon nach wenigen Tagen kamen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands Zeitungsausschnitte mit der gewünschten Beschreibung. Die Commission beglückwünschte mich als jetzt unzweifelhaft anerkannten Erfinder der Guttaperchaleitungen und reiste zurück. Die in Aussicht gestellte Publikation der Expertise in Amerika unterblieb aber, wie es hieß, weil inzwischen ein Compromiß mit dem betreffenden Erfinder der Gesellschaft größere Vortheile gebracht hatte.

In Deutschland war seit dem Bau der Linien nach Frankfurt a. M. und Cöln das System der unterirdischen Leitungen Mode geworden. Nicht nur Staatstelegraphenlinien von Berlin nach Hamburg, Breslau, Königsberg und Dresden wurden unterirdisch mit zwei Fuß tief eingegrabenen, unbeschützten Leitungen hergestellt, sondern auch die Eisenbahnen zogen es vor, solche unterirdischen Leitungen anzulegen, obgleich sich die Anzeichen des bald zu erwartenden Unterganges dieser Anlagen täglich mehrten. Namentlich fanden sich immer häufiger – besonders an den ersten Linien, die auf den sandigen Bahndämmen anderthalb bis zwei Fuß tief verlegt waren – Zerstörungen durch Ratten und Mäuse. Die über zwei Fuß tief gelegten Leitungen waren zwar in der ersten Zeit keinen solchen Zerstörungen ausgesetzt, aber auch bei ihnen traten sie später ein.

Ich glaubte damals, ein Ueberzug von Blei würde diesem Uebelstande vollständig abhelfen. Um die Leitungen mit Blei zu überziehen, verfuhr ich anfangs folgendermaaßen. Es wurden Bleiröhren gerade ausgestreckt, dann eine Hanfschnur mittelst eines Gebläses durch sie hindurchgeblasen und mit ihrer Hülfe der mit Guttapercha isolirte Leitungsdraht in das Rohr hineingezogen. Darauf ließ man das Rohr durch ein Zieheisen gehen, um es zum festen Anschluß an die Isolirschicht des Leiters zu bringen. Später gelang es, das Bleirohr direct um den isolirten Draht zu pressen, wenn das Blei genau eine bestimmte Temperatur angenommen hatte und sie dauernd beibehielt. Die Schwierigkeit der fortlaufenden Controle dieser Temperatur überwand ich durch eine thermoelektrische Einrichtung.

Solche mit äußerem Bleimantel umgebene Leitungen wurden von Halske und mir im Anfange der fünfziger Jahre vielfach verlegt. So unter anderem bei dem Telegraphensystem, das wir für die Polizeiverwaltung und den Feuerwehrdienst der Stadt Berlin einrichteten. Diese Bleileitungen haben eine lange Reihe von Jahren durchaus befriedigend functionirt. Sie wurden dann nach und nach durch Kabelleitungen ersetzt, doch haben sich bis heute, nach Verlauf von 40 Jahren, noch vollkommen gute Bleileitungen erhalten. Nur wo das Blei von verwesender organischer Substanz im Erdboden berührt und dadurch zur Bildung von essigsaurem und kohlensaurem Blei prädisponirt wird, ist es schnellem Verderben ausgesetzt.

Der eben erwähnte Polizei- und Feuerwehrtelegraph sollte fünfzig in der Stadt Berlin vertheilte Stationen derart mit dem Centralbureau im Polizeipräsidium und dem Centralbureau der Feuerwehr verbinden, daß die Feuermeldungen gleichzeitig allen Stationen mitgetheilt würden, während die polizeilichen Meldungen nur im Centralpolizeibureau zu empfangen und verstehen sein sollten. Unsere Einrichtung löste diese interessante Aufgabe sehr befriedigend und hat über zwanzig Jahre lang gut und sicher gearbeitet, fiel dann aber auch dem einfacheren Morseschen Schreibsystem zum Opfer.

Der Morsesche Schreibtelegraph wurde in Deutschland zuerst durch einen Mr. Robinson bekannt, der im Jahre 1850 mit einem solchen in Hamburg Vorstellungen gab. Die Einfachheit des Morseschen Apparates, die verhältnißmäßige Leichtigkeit der Erlernung des Alphabets und der Stolz, welcher Jeden, der es zu handhaben gelernt hat, erfüllt und zum Apostel des Systems werden läßt, haben in kurzer Zeit alle Zeiger- und älteren Letterndruckapparate verdrängt. Halske und ich erkannten dieses Uebergewicht des auf Handgeschicklichkeit beruhenden Morsetelegraphen sogleich und machten es uns daher zur Aufgabe, das System mechanisch nach Möglichkeit zu verbessern und zu vervollständigen. Wir gaben den Apparaten gute Laufwerke mit Selbstregulirung der Geschwindigkeit, zuverlässig wirkende Magnetsysteme, sichere Contacte und Umschalter, verbesserten die Relais und führten ein vollständiges Translationssystem ein. Dieses bestand in einer Einrichtung, durch die sich alle in einem Telegraphenstromkreise cirkulirenden Ströme selbstthätig auf einen angrenzenden, mit eigener Batterie versehenen Kreis übertragen, so daß die ganze Linie zwar in mehrere abgesonderte Stromkreise eingetheilt ist, aber doch ohne Beihülfe der Telegraphisten der Zwischenstationen direct zwischen den Endstationen gesprochen wird.

Ein solches Translationssystem hatte ich schon im Jahre 1847 für meine Zeiger- und Drucktelegraphen ausgearbeitet und einen zu diesem Zweck von mir construirten Apparat, den sogenannten Zwischenträger, der Commission des Generalstabes vorgeführt. Ihre volle Bedeutung erhielt die Translation aber erst durch die Anwendung auf den Morseapparat; zur Ausführung gelangte sie zum ersten Male auf der Linie Berlin-Wien, die in Breslau und Oderberg mit Translationsstationen versehen wurde. Es sei hier erwähnt, daß die Einrichtung später von Professor Dr. Steinhell, dem damaligen Direktor der österreichischen Telegraphen, durch Anbringung eines selbstthätigen Contactes am Laufwerke des Schreibapparates noch sehr wesentlich verbessert wurde.

Am längsten blieben die Eisenbahnverwaltungen den Zeigertelegraphen mit Selbstunterbrechung treu. Bei diesem System hatten wir uns aber selbst einen Concurrenten großgezogen, der uns später recht hinderlich wurde. Dr. Kramer, Schullehrer in Nordhausen, hatte der Telegraphencommission seinerzeit einen kleinen Wheatstoneschen Zeigertelegraphen vorgelegt, den er von einem Uhrmacher hatte herstellen lassen. Der Kramersche Apparat leistete auch nicht entfernt dasselbe wie meine selbstunterbrechenden Zeigertelegraphen und wurde deshalb von der Commission zurückgewiesen. Dem gutherzigen General von Etzel und mir selbst that der arme Mann aber leid, weil er seine ganzen Ersparnisse auf den Bau des Apparates verwendet hatte, und da der Commission für solche Gefühle keine Mittel zur Verfügung standen, ließ ich mich bereit finden, dem Dr. Kramer seinen Apparat für fünfhundert Thaler abzukaufen. Bereits ein halbes Jahr später trat Kramer aber mit einem neuen Apparate auf, bei dem er mein System der Selbstunterbrechung mit der Modifikation benutzt hatte, daß er noch ein Uhrwerk verwendete, um den Zeiger mechanisch fortzubewegen. Die damalige Patentbehörde sah in der Anwendung der Selbstunterbrechung keinen Grund, ihm nicht ebenfalls ein Patent zu ertheilen. Diese Kramerschen, gleich den unsrigen selbstthätig mit einander laufenden Zeigertelegraphen arbeiteten trotz ihrer leichten Uhrmacherconstruction gut und eben so sicher wie die unsrigen, thaten uns daher großen Schaden. –

Seit meinem Eintritt in das Geschäft war meine Zeit durch constructive Arbeiten für die Fabrik und durch zahlreiche, von meiner Firma übernommene Anlagen von Eisenbahntelegraphen vollständig in Anspruch genommen. Doch fand ich im Winter 1849/50 eine Zeit der Muße, die ich dazu benutzte, meine Erfahrungen über telegraphische Leitungen und Apparate für eine Publikation zusammenzustellen. Im April 1850 legte ich meine Arbeit unter dem Titel »Mémoire sur la télégraphie électrique« der Pariser Akademie der Wissenschaften vor. Es wurde mir dies durch einen glücklichen Zufall ermöglicht, der mich in Paris mit meinem Freunde du Bois-Reymond zusammentreffen ließ, welcher der Akademie eine eigene Arbeit vorlegen wollte und mir seine freundschaftliche Beihülfe für die französische Umarbeitung meines Aufsatzes widmete. Ich gedenke noch immer mit großem Vergnügen der anregenden und für mich höchst interessanten und lehrreichen Zeit dieses etwa vierwöchentlichen Aufenthaltes in Paris, des Zusammenwohnens mit Freund du Bois und des Verkehrs mit den berühmtesten Pariser Naturforschern. Zu den Mitgliedern der von der Akademie zur Prüfung meiner Arbeit ernannten Commission gehörten Pouillet und Regnault. Den Bericht über meine Vorlage erstattete Regnault in einer Sitzung der Akademie, zu der du Bois und ich formelle Einladungen erhalten hatten. Als Opponent trat Leverrier auf, der den ebenfalls der Akademie vorgelegten Bainschen elektrochemischen Telegraphen protegirte. Der präsidirende Secrétaire perpétuel Arago machte aber der Opposition Leverriers ein kurzes Ende, indem er den Dank der Akademie für die Vorlage und den Beschluß ihrer Aufnahme in die » Savants étrangers« aussprach.

Auf mich hat diese öffentliche Prüfung meiner Erstlingsarbeit auf telegraphischem Gebiete durch berühmte Mitglieder der ersten wissenschaftlichen Behörde der Welt einen tiefen und sehr anregenden Eindruck gemacht. Es sprechen ja viele Gründe gegen eine solche officielle Prüfung wissenschaftlicher und technischer Leistungen, die eine Art behördlicher Stempelung bildet und der freien Entfaltung der Wissenschaft leicht schädlich werden kann, sie ist auch nur zulässig unter voller Controle durch die Oeffentlichkeit der Sitzungen, kann dann aber sehr nützlich und anregend wirken.

Durch mein in die » Savants étrangers« aufgenommenes Mémoire und einen noch in demselben Jahre in Poggendorffs Annalen veröffentlichten Aufsatz »Ueber elektrische Leitungen und Apparate«, der den Inhalt des Mémoire, soweit er sich auf unterirdische Leitungen bezog, vollständig wiedergab, ist meine Priorität in manchen wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften unzweifelhaft festgelegt. Trotzdem sind später von anderer Seite auf einzelne derselben unberechtigte Ansprüche erhoben worden. Es führt mich das dazu, über den in neuerer Zeit immer fühlbarer zur Geltung kommenden Mangel einer internationalen litterarischen Gerechtigkeit hier einige Bemerkungen zu machen. Man muß zunächst zugeben, daß es im Laufe der letzten Jahrzehnte immer schwerer, ja beinahe unmöglich geworden ist, das ungeheuer ausgedehnte Material wissenschaftlicher und technischer Publikationen, noch dazu in so vielen verschiedenen Sprachen, vollständig zu übersehen. Es ist auch natürlich, daß diejenigen, die ihr ganzes Interesse eigenen Leistungen zuwenden, besonders aber die, welche thätig an der Fortentwicklung unserer naturwissenschaftlichen Technik mitarbeiten, schwer Muße finden, um die Leistungen Anderer, welche in der gleichen oder in verwandten Richtungen arbeiten, selbst bei Beherrschung der in Frage kommenden Sprachen, eingehend zu studiren, und daß sie im allgemeinen auch wenig Neigung haben, ihre Aufmerksamkeit der Vergangenheit zuzuwenden. Als Beispiel hierfür möchte ich auf den genialsten und erfindungsreichsten Physiker aller Zeiten, auf Faraday hinweisen. Dieser lernte die mit umpreßter Guttapercha isolirten Leitungen erst viele Jahre nach ihrer Erfindung kennen, als man in England anfing, sie zu Unterseekabeln zu verwenden, bei denen der äußere Schutz des isolirten Leiters durch Umkabelung mit Eisendrähten hergestellt wurde. Die überraschenden Ladungserscheinungen, die Faraday an diesen Kabeln beobachtete, bewogen ihn, einen Aufsatz darüber zu publiciren. Als du Bois-Reymond ihm aber ohne weiteren Commentar einen Abdruck meines, der französischen Akademie überreichten Mémoire übersandte, säumte Faraday nicht, seiner Arbeit eine zweite folgen zu lassen, in der er die betreffenden Abschnitte meiner Abhandlung anführte und die Erklärung abgab, daß mir die Priorität sowohl der Beobachtung als auch der Erklärung des Phänomens unzweifelhaft zustände. Andere englische Schriftsteller, wie Wheatstone, Jenkin und viele Andere, haben freilich weder auf diese Erklärung Faradays noch auf meine sonstigen Publikationen irgend welche Rücksicht genommen.

In Deutschland herrschte früher die gute Sitte, der Beschreibung von eigenen wissenschaftlichen oder technischen Entdeckungen und Erfindungen stets eine Beschreibung der Leistungen der Vorgänger auf dem betretenen Wege vorauszuschicken und dadurch den zu beschreibenden Fortschritt gleich historisch einzureihen – eine Sitte, die leider in anderen Ländern niemals in gleich gewissenhafter Weise ausgeübt worden ist. Bisher gereichte es daher gerade den Deutschen zum Ruhme, mehr als andere Nationen fremde Verdienste anzuerkennen und eigene Leistungen immer an die vorangegangenen Anderer anzuknüpfen. Durch die in Deutschland weiter als in anderen Ländern verbreitete Kenntniß fremder Sprachen wurde dies wesentlich erleichtert, aber auch abgesehen davon betrachtete die deutsche Wissenschaft es stets als ihre Ehrenpflicht, litterarische Gerechtigkeit gleichmäßig gegen Inländer und Ausländer zu üben, und man darf wohl hoffen, daß dies auch künftig so sein wird und wir dadurch von dem litterarischen Piratenthum verschont bleiben, das sich leider auch bei uns schon bedenklich breit zu machen droht.

Ich will aber auf die in neuerer Zeit beliebt gewordene Praxis, es Jedermann zu überlassen, seine wirklichen oder vermeintlichen Verdienste selber festzustellen und zu vertheidigen, da dies für Andere zu beschwerlich ist, im Verfolg dieser Blätter insoweit eingehen, als ich am Schlusse der Darstellung meiner verschiedenen Lebensperioden selbst diejenigen Punkte kurz zusammenstellen werde, die nach meinem Dafürhalten für die Fortentwicklung der naturwissenschaftlichen Technik von Bedeutung gewesen sind, und auf die mir nachweislich die Priorität der Entdeckung, Erfindung oder ersten Anwendung zusteht. Daß ich dabei hier und da wiederhole, was schon in anderem Zusammenhange vorgebracht war, wird freilich unvermeidlich sein. Sollte ich mich hin und wieder irren und ältere Ansprüche Anderer nicht genügend berücksichtigen, so bitte ich auch mir gegenüber Nachsicht walten zu lassen.

Ueber die mit der Publikation meines » Mémoire sur la télégraphie électrique« und des entsprechenden Aufsatzes in Poggendorffs Annalen abschließende Periode, deren Uebersicht ich jetzt folgen lassen will, werde ich mich sehr kurz fassen können, da das wichtigste derselben, als direct in meinen Lebensweg eingreifend, schon ausführliche Berücksichtigung erfahren hat.


Als ich im Jahre 1842 mein erstes preußisches Patent nachsuchte, war in Deutschland noch kein Verfahren einer galvanischen Vergoldung oder Versilberung bekannt. Ich hatte mit allen mir bekannten Gold- und Silbersalzen experimentirt und außer den unterschwefligsauren auch die Cyan-Verbindungen geeignet gefunden. Das Patent wurde mir aber nur auf die ersteren ertheilt, da inzwischen Elkingtons englisches Patent auf die Benutzung der Cyansalze bekannt geworden war. Trotz der schönen Gold- und Silberniederschläge, die man aus unterschwefligsauren Salzen erhält, haben in der Folge doch die Cyansalze das Feld behauptet, da ihre Lösungen beständiger sind.

Die meinem Bruder Wilhelm gestellte Aufgabe, einen Regulator zu construiren, der eine mit einem Wasserrade verbundene Dampfmaschine genau derart regulirte, daß das Wasserrad stets seine volle Arbeit leistete, die Dampfmaschine aber den jederzeit erforderlichen Ueberschuß an Arbeitskraft hergäbe, führte mich auf die Idee der sogenannten Differenz-Regulirung. Dieselbe bestand darin, ein freischwingendes Kreispendel zur Hervorbringung einer ganz gleichmäßigen Rotation zu benutzen und durch dasselbe eine Schraube drehen zu lassen, während die zu regulirende Maschine eine auf dieser Schraube sitzende, verschiebbare Mutter in gleichem Sinne drehte. Die Mutter muß sich dann so lange auf der Schraube nach rechts oder links verschieben, als sie sich schneller oder langsamer dreht als die Schraube, und kann so den Gang der Maschine vollkommen reguliren, indem sie sogleich aufhört, sich weiter zu bewegen, wenn die Geschwindigkeit der Maschine genau gleich der des Kreispendels ist. Der nach diesem Princip ausgeführte Differenz-Regulator oder » chronometrical governor«, wie Bruder Wilhelm, der ihn praktisch ausbildete und wesentlich vervollkommnete, denselben später in England nannte, hat sich in der Maschinenpraxis zwar keinen allgemeinen Eingang verschafft, weil er nicht so einfach und billig ist wie der in späterer Zeit erheblich verbesserte Wattsche Regulator, er hat ihr aber in der Differentialbewegung, die wir in den verschiedensten Formen durchführten, ein fruchtbares Constructionselement zugeführt.

Meine Beschäftigung mit der Aufgabe, Geschoßgeschwindigkeiten exact zu messen, die durch Leonhardts geniale Uhr nicht vollkommen gelöst wurde, ließ mich erkennen, daß nur eine Methode, bei der keine Massen in Bewegung gesetzt und zur Ruhe gebracht zu werden brauchten, zum Ziele führen würde. So kam ich dazu, den elektrischen Funken zur Lösung der Aufgabe zu benutzen. Mein Vorschlag bestand darin, auf einen schnell und gleichmäßig rotirenden polirten Stahlcylinder elektrische Funken von einer seiner Peripherie möglichst genäherten feinen Spitze überspringen zu lassen und aus dem gegenseitigen Abstande der von diesen Funken erzeugten Marken und der bekannten Umdrehungszahl des Cylinders die Geschwindigkeit der Kugel, die an bestimmten Stellen ihres Laufes die Funken veranlaßte, zu berechnen. Diese Methode der Geschwindigkeitsmessung mit Hülfe von Marken, die ein überspringender elektrischer Funke in polirten Stahl einbrennt oder auf berußter Stahlfläche aussprengt, hat sich seitdem vollständig bewährt und wird noch heute namentlich zur Messung der Geschwindigkeit von Geschossen in Gewehr- und Geschützrohren verwendet.

An der Schilderung der Stirlingschen Heißluftmaschine, die ich im Jahre 1845 von Bruder Wilhelm erhielt, erregte der Gedanke, die bei einer Operation nicht verbrauchte Wärme zur Wiederbenutzung bei der nächstfolgenden Operation aufzuspeichern, mein ganz besonderes Interesse. Derselbe erschien mir als ein neu eröffnetes Eingangsthor in ein noch unbekanntes, großes Gebiet der naturwissenschaftlichen Technik. Es geschah das zu einer Zeit, in welcher der die heutige Naturwissenschaft durchdringende und leitende Gedanke des ursächlichen Zusammenhanges aller Naturkräfte die Geister unbewußt beherrschte, bis er bald darauf durch Mayer und Helmholtz zum wissenschaftlichen Gemeingut erhoben wurde. Der Grundsatz des Kreislaufs der Wärme bei Arbeitsmaschinen und des Wärmeäquivalentes der Arbeit fand in dem Aufsatz »Ueber die Anwendung der erhitzten Luft als Triebkraft«, zu dessen Veröffentlichung Stirlings Maschine mich veranlaßte, schon klaren Ausdruck. Als hauptsächlichen Erfolg dieses Aufsatzes betrachte ich aber, daß er meinen Brüdern Wilhelm und Friedrich als Ansporn zu ihren späteren, bahnbrechenden Arbeiten auf dem Gebiete der Wärmeökonomie gedient hat.

In meinem ersten Zeigertelegraphen vom Jahre 1846 führte ich das Princip der Selbstunterbrechung des elektrischen Stromes sowohl für die Apparate selbst als auch für die Wecker consequent durch. Das Princip bestand wesentlich darin, den Ankerhub des bekannten Neefschen Hammers durch Einfügung eines beweglichen Contactstückes, des sogenannten Schiebers, nach Bedarf zu vergrößern. Meine auf diesem Princip beruhenden Zeiger- und Typendruck-Telegraphen unterschieden sich von den damals bekannten Wheatstoneschen dadurch, daß es selbstgehende Maschinen waren, die isochron mit einander liefen, bis einer der Apparate durch Niederdrücken einer Buchstabentaste auf dem betreffenden Buchstaben mechanisch angehalten wurde, worauf alle übrigen gleichfalls auf demselben Buchstaben stehen blieben und beim Typendrucker dieser Buchstabe abgedruckt wurde. Die Beschreibung dieser Apparate sowie der meisten meiner weiteren Erfindungen und Verbesserungen telegraphischer Leitungen und Apparate bis zum Jahre 1850 ist in meinem, der Pariser Akademie mitgetheilten » Mémoire sur la télégraphie électrique« enthalten. Ich begnüge mich hier damit, dir wichtigsten wissenschaftlichen und technischen Fortschritte, deren Priorität mir durch diese Publikation gewahrt ist, übersichtlich zusammenzustellen:

Einführung der Selbstunterbrechung des elektrischen Stromes am Ende eines jeden Ankerhubes von vorgeschriebener Höhe. Man kann statt dessen auch sagen: Vergrößerung der Hubhöhe des Neefschen Hammers durch einen dem Schieber der Dampfmaschine entsprechenden Mechanismus. Es beruhen hierauf alle selbstthätigen elektrischen Wecker ohne Uhrwerk und viele andere Constructionen.

Herbeiführung des synchronen Ganges zweier oder mehrerer elektrischen Maschinen dadurch, daß ein neuer Hub erst erfolgen kann, wenn alle Selbstunterbrechungen wieder geschlossen sind, also die Ankerbewegung aller eingeschalteten Apparate vollendet ist.

Herstellung isolirter Leitungen für unterirdische oder unterseeische Telegraphen durch Umpressung mit Guttapercha.

Construction von Maschinen, welche die Guttapercha ohne Verbindungsnaht um die zu isolirenden Drähte pressen.

Entdeckung der Ladungserscheinungen an isolirten unterirdischen oder unterseeischen Leitern und Aufstellung des Ladungsgesetzes für offene und geschlossene Leitungen.

Aufstellung der Methoden, Messungen und Formeln zur Bestimmung der Lage von Leitungs- und Isolationsfehlern an unterirdischen Leitungen.


Die unterirdischen Leitungen, die ohne äußeren Schutz sowohl wie die mit Bleiarmatur, hatten inzwischen auch über Deutschlands Grenzen hinaus immer weitere Anwendung gefunden; unter anderen Staaten hatte Rußland das System derselben adoptirt und Petersburg mit Moskau durch eine unterirdische Leitung verbunden. In Preußen machte aber die an den ersten Linien schon bald nach ihrer Erbauung eingetretene Verschlechterung unaufhaltsame Fortschritte. Die Gründe, die dazu beitrugen und schließlich zu völligem Verderben der Leitungen führten, sind bereits erwähnt. Das durch die politischen Verhältnisse bedingte, beinahe krankhafte Bestreben, so schnell wie nur möglich und mit geringsten Kosten ein den ganzen Staat umfassendes, unterirdisches Leitungssystem herzustellen, hatte verhindert, die Leitungen mit einer Armatur zu versehen und tief genug einzubetten, um sie vor Beschädigungen durch Arbeiter und vor Angriffen der Nagethiere zu sichern. Der Versuch, die unbrauchbar gewordenen Leitungen durch solche mit einem Bleimantel zu ersetzen, erwies sich als nutzlos, weil die Nagethiere sogar die schützende Bleidecke zerfraßen. Es fehlte ferner gänzlich an einem gehörig geschulten Personal, um das ausgedehnte Leitungsnetz in Ordnung zu halten und die auftretenden Fehler ohne Schädigung der ganzen Anlage zu beseitigen. Durch ungeschickt ausgeführte Aufsuchung und Ausbesserung aufgetretener Fehler entstanden zahllose neue Löthstellen, die in sehr primitiver Weise durch Umklebung mit erwärmter Guttapercha isolirt wurden und so zu immer neuen Fehlern führten. Es stand daher zu befürchten, daß die unterirdischen Leitungen in kurzer Zeit ganz unbrauchbar werden würden.

Diese traurige Sachlage bewog mich zur Abfassung einer Brochüre unter dem Titel »Kurze Darstellung der an den preußischen Telegraphenlinien mit unterirdischen Leitungen gemachten Erfahrungen«, in der ich auf die vorliegenden Gefahren hinwies und Vorschläge für Verbesserungen in der Behandlung der Linien machte, zugleich aber auch die mir damals von allen Seiten aufgebürdete Schuld am Zusammenbruche des von mir vorgeschlagenen Leitungssystems energisch zurückwies. Es war natürlich, daß die Veröffentlichung dieser Brochüre mich in Differenzen mit der Verwaltung der preußischen Staatstelegraphen brachte. In der That hörte für mehrere Jahre jede Verbindung derselben mit meiner Person sowohl wie mit meiner Firma vollständig auf. Es wurden uns alle Bestellungen entzogen und unsere Specialconstructionen anderen Fabrikanten als Modelle übergeben. Dies bildete eine schwere Krisis für unser junges Etablissement, das sich schnell zu einer Fabrik mit einigen Hundert Arbeitern hinaufgeschwungen hatte. Glücklicherweise bot die Eisenbahntelegraphie, die damals ebensowenig wie die Eisenbahnen selbst verstaatlicht war, einen unabhängigen Markt für unsere Fabrikate. Der Bruch mit der Staatstelegraphie trug aber auch viel dazu bei, uns mehr dem Auslande zuzuwenden und dort Absatz für unsere Erzeugnisse, sowie Gelegenheit zu größeren Unternehmungen zu suchen.

Da in den auswärtigen Unternehmungen meiner Firma, von denen ich nun zu berichten haben werde, meine jüngeren Brüder eine sehr wesentliche Rolle spielen, so wird es angemessen sein, vorher einen Rückblick auf meine Familie und namentlich meine Brüder während des zuletzt geschilderten Abschnittes meines Lebens zu thun.


Das Leben meines Bruders Wilhelm ist von einem wohlbekannten englischen Schriftsteller, Mr. William Pole, in großer Ausführlichkeit und mit gewissenhafter Benutzung aller ihm zugänglichen Quellen beschrieben worden. Ich brauche daher im Folgenden nur solche Ereignisse seines Lebens zu berühren, die auf mein eigenes Leben rückwirkend waren. Zunächst will ich schon hier bemerken, daß ich mit Wilhelm während seines ganzen Lebens in lebhafter Correspondenz und regem persönlichen Verkehr gestanden habe, was uns beiden zu großem Nutzen gereicht hat. Wir theilten uns alle wichtigeren Ereignisse unseres Lebens mit, ebenso neue Pläne und Bestrebungen, discutirten unsere abweichenden Ansichten und kamen fast immer, wenn nicht schriftlich, so bei der nächsten Zusammenkunft, die in der Regel zwei Mal im Jahre stattfand, zu einem freundschaftlichen Einverständniß. Der Umstand, daß ich mich in höherem Grade naturwissenschaftlich, Wilhelm sich mehr als Techniker und praktischer Ingenieur ausgebildet hatte, brachte es mit sich, daß wir uns dementsprechend gegenseitig eine gewisse Autorität zuschrieben, wodurch unser Zusammenarbeiten sehr erleichtert wurde. Daß wir nicht eifersüchtig auf einander waren, uns vielmehr freuten, wenn der Eine zur Anerkennung des Anderen in seiner derzeitigen Heimath beitragen konnte, bestärkte und sicherte unser gutes Einvernehmen.

Nachdem wir im Jahre 1846 unsere geschäftliche Verbindung zur Durchführung unserer Erfindungen gelöst hatten, war Wilhelm als Ingenieur in renommirte englische Maschinenbauanstalten eingetreten, um sich zunächst seinen Lebensunterhalt zu sichern. Doch »die Katze läßt das Mausen nicht«, sagt ein deutsches Sprüchwort; es dauerte nicht lange, so steckte er ebenso wie ich selbst wieder tief in eigenen Erfindungen. Es bestand aber jetzt der Unterschied zwischen uns, daß ich mich auf die Lösung der zahlreichen Aufgaben beschränkte, welche die Telegraphie und überhaupt die Anwendung der Elektricitätslehre auf das praktische Leben mir entgegentrugen, Wilhelm dagegen mit Vorliebe schwere Probleme der Thermodynamik zu lösen suchte. Namentlich hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, die Schwierigkeiten, die sich Stirling in Dundee bei der Ausbildung seiner Heißluftmaschine entgegenstellten, durch Einführung des Wärmeregenerators bei der Dampfmaschine zu umgehen. Die Versuche mit diesen Regenerativ-Dampfmaschinen, Regenerativ-Verdampfern und -Condensatoren nahmen Jahre lang seine Zeit und Mittel in Anspruch, ohne seinen Constructionen allgemeinen Eingang in die Technik zu verschaffen. Dagegen glückte es ihm, eine Aufgabe, an der auch ich in Berlin längere Zeit mit unvollständigem Erfolge gearbeitet hatte, in praktischer Weise zu lösen, nämlich die Wassermesserfrage. Die patentirten Siemens-Adamsonschen Reactions-Wassermesser haben lange Jahre den Markt beherrscht und Wilhelm gute Einnahmen gebracht. Erst in späterer Zeit wurden sie durch die Berliner Construction der Stoß- oder Strudelmesser ersetzt, die auch von Wilhelm dann adoptirt wurde.

Der gute Fortgang, den die Fabrikation von telegraphischen und anderen elektrischen Apparaten in unserer Berliner Fabrik nahm, und die große Anerkennung, deren sich unsere Constructionen allseitig erfreuten, legten es nahe, eine geschäftliche Verbindung Wilhelms mit der Firma Siemens & Halske einzuleiten. Er trat zunächst in ein Agenturverhältniß zu derselben, um ihr Bestellungen in England zuzuführen, und verstand es mit großem Geschick, die Aufmerksamkeit der englischen Techniker auf die Leistungen der Berliner Firma zu lenken. Besonders wurde dies durch die erste große Weltausstellung gefördert, die im Sommer 1851 in London stattfand. Siemens & Halske beschickten dieselbe sehr reichhaltig; ihre Ausstellungsobjecte fanden allgemeine Anerkennung und trugen der Firma die höchste Auszeichnung – Council medal – ein.

Meine Brüder Hans und Ferdinand waren ihrem landwirthschaftlichen Berufe treu geblieben. Nach Aufgabe der Pachtung der Domäne Menzendorf waren sie nach Berlin gekommen, wo nach und nach sämmtliche Brüder mit Ausnahme Wilhelms sich zusammengefunden hatten, und es war beiden von dort aus bald gelungen, passende Stellungen auf ostpreußischen Gütern zu erhalten.

Friedrich war von Lübeck aus schon in sehr jugendlichem Alter zur See gegangen und hatte einige Jahre lang auf Lübeckschen Segelschiffen eine Reihe größerer Seefahrten mitgemacht. Dies hatte seinen anfangs unüberwindlichen Hang zum Seeleben doch etwas abgekühlt, und er schrieb mir eines Tages, daß er große Lust hätte, etwas zu lernen. Ich ließ ihn darauf nach Berlin kommen, um ihn durch Privatunterricht zum Besuche einer Seemannsschule vorzubereiten. Er gab sich den Studien mit großem Eifer und bestem Erfolge hin und gewann auch bald großes Interesse an meinen eigenen Bestrebungen und Experimenten. Das neue geistige Leben interessirte ihn schließlich in solchem Maaße, daß die Neigung zum Seeleben, dessen Schattenseiten er vollauf kennen gelernt hatte, den neuen Eindrücken gegenüber nicht Stand hielt. Dazu kam, daß die gänzliche Veränderung in Kleidung, Lebensweise und Klima ihn an rheumatischen Leiden erkranken ließ, die er nur schwer überwinden konnte. Er unterstützte mich fortan bei meinen technischen Arbeiten und war eifrig bestrebt, die großen Lücken auszufüllen, welche die Seemannslaufbahn in seinem Wissen verursacht hatte.

Der in der Reihe der Geschwister folgende Bruder Karl hatte ebenso wie Friedrich die ersten Jahre nach dem Tode der Eltern beim Onkel Deichmann in Lübeck zugebracht und hatte dann in Berlin seine Schulbildung vollendet. Dort nahm er schon frühzeitig an meinen Arbeiten Theil und wurde mein getreuer, immer zuverlässiger Assistent bei meinen ersten technischen Unternehmungen, insbesondere unterstützte er mich bei der Anlage der ersten unterirdischen Leitungen.

Daß mir im Frühjahr 1848 meine Brüder Wilhelm, Friedrich und Karl nach Kiel und Friedrichsort nachfolgten, habe ich schon erzählt. Der überall mächtig erstandene deutsch-nationale Sinn hatte ihnen daheim keine Ruhe gelassen. Wilhelm übertrug ich den Bau und das Commando der Batterie, die ich der Festung Friedrichsort gegenüber in Laboe erbauen ließ, während Friedrich und Karl als Freiwillige in den Dienst der neugebildeten schleswig-holsteinschen Armee eintraten und bis zum Abschluß des Waffenstillstandes in dieser Stellung blieben. Bei dieser Gelegenheit verabredeten wir, daß Fritz seine weitere technische Ausbildung unter Wilhelms Leitung in England finden sollte. Karl trat in eine chemische Fabrik bei Berlin ein, die er aber bald wieder verließ, um mir bei den Telegraphenanlagen und Leitungsreparaturen behülflich zu sein. Im Jahre 1851 war er mit Friedrich Vertreter der Berliner Fabrik auf der Londoner Weltausstellung und führte mit Geschick die sich an sie knüpfenden geschäftlichen Verhandlungen. Eine Filiale in Paris, die wir darauf unter seiner Leitung begründeten, wollte zwar nicht die erhofften Früchte bringen, trug aber viel zu seiner socialen und geschäftlichen Ausbildung bei.

Von den beiden jüngsten Brüdern war Walter zugleich mit Karl von Lübeck nach Berlin gekommen und besuchte hier die Schule. Otto brachte ich auf das Pädagogium in Halle, da es mir an Zeit gebrach, mich persönlich so eingehend wie nöthig mit seiner Erziehung zu beschäftigen.

Von unseren beiden Schwestern war die ältere, mit Professor Himly in Kiel verheirathete Mathilde bereits glückliche Mutter einer schmucken Kinderschaar. Sie hat stets redlich mit mir die Sorge um die jüngeren Geschwister getheilt und denselben nach Möglichkeit die ihnen so früh entzogene mütterliche Liebe zu ersetzen gesucht. Meine jüngste Schwester Sophie war, wie schon erwähnt, nach dem Tode der Eltern vom Onkel Deichmann in Lübeck an Kindesstatt angenommen worden. Anfang der fünfziger Jahre faßte Deichmann den Entschluß, mit seiner Familie nach Nordamerika auszuwandern. Es waren hauptsächlich politische Gründe, die diesen Entschluß hervorgerufen hatten. Nach der Niederwerfung der Revolution in Deutschland und Oesterreich, nach der Preisgabe Schleswig-Holsteins und der tiefen Demüthigung Preußens machte die Hoffnungslosigkeit große Fortschritte in Deutschland. Rußlands Macht erschien damals so riesengroß, daß man den Ausspruch Napoleons auf St. Helena, in fünfzig Jahren würde Europa entweder republikanisch oder kosakisch sein, schon in letzterem Sinne erfüllt glaubte. Obwohl ich selbst durch die traurige Wendung unsrer politischen Zustände ebenfalls tief niedergedrückt war, konnte ich mich doch einer so pessimistischen Auffassung nicht anschließen. Ich wies daher nicht nur die dringende Aufforderung des Onkels, selbst nach Amerika mitzugehen, zurück, sondern suchte auch zu verhindern, daß eines meiner Geschwister an der Auswanderung theilnähme. Insbesondere verweigerte ich die Zustimmung zur Mitnahme meiner Schwester Sophie, wobei mich ihr officieller Vormund, Herr Ekengreen, lebhaft unterstützte. Leider hatten wir aber kein Recht, Sophie zurückzuhalten, da sie formell vom Onkel adoptirt war.

In dieser Nothlage kam uns Gott Amor zu Hülfe. Ein junger Rechtsgelehrter in Lübeck, Dr. jur. Crome, hatte das in seiner Nachbarschaft heranwachsende Mädchen mit Wohlgefallen beobachtet und wollte nur seine Blüthezeit abwarten, um sich als Freier zu melden. Da brachte die Schreckenskunde der beabsichtigten Auswanderung seinen Entschluß vorzeitig zur Reife. Er bat um die Hand der erst Sechszehnjährigen, und kurz vor der Abreise der Adoptiveltern wurde bereits die Hochzeit gefeiert. Wir älteren Geschwister haben es nicht bereut, dies begünstigt zu haben. Der junge Ehemann soll zwar in den ersten Tagen seiner Ehe von Eifersucht schwer geplagt worden sein, weil die junge Frau gewisse Fächer ihres Schrankes ihm geflissentlich vorenthielt, auch bei seinem unerwarteten Eintritt Sachen, mit denen sie beschäftigt war, eifrig vor ihm zu verbergen suchte. Doch bekannte sie ihm dann auf sein ungestümes Verlangen unter Thränen – es wäre das neue Kleid ihrer Lieblingspuppe, zu dessen Vollendung die schleunige Hochzeit ihr nicht Zeit gelassen hätte.

Es verdient bemerkt zu werden, daß meinen Brüdern die angeborenen Charaktereigenschaften, wie sie sich in ihrer frühesten Jugend offenbarten, bis in das höhere Alter treu geblieben sind und ihrem Lebensgange eine ganz bestimmte Richtung gegeben haben. Dies gilt besonders von den drei Brüdern, mit denen mich gemeinschaftliches Leben und Streben am meisten verband, von Wilhelm, Friedrich und Karl.

Wilhelm hatte schon als Kind ein in sich gekehrtes, vielleicht etwas verschlossenes Wesen. Er hing mit großer Liebe an seinen Angehörigen, wollte dies aber nie merken lassen. Von frühester Jugend an war er ehrgeizig und ein wenig zur Eifersucht geneigt. Als ihm durch seinen Altersnachfolger Fritz die Bevorzugung in der Zärtlichkeit von Mutter, Großmutter und Geschwistern streitig gemacht wurde, entwickelte sich in ihm ein tiefer Groll gegen den kleinen Nebenbuhler – eine Empfindung, die, wie ich glaube, nie wieder gänzlich in ihm erloschen ist, trotz aller geschwisterlichen Liebe und Hülfsbereitschaft, die er demselben später so vielfach bewiesen hat. Er besaß einen sehr klaren Verstand und eine schnelle Auffassungsgabe, wußte stets mit großer Leichtigkeit dem Gedankengange Anderer zu folgen, sowie den Geist des Erlernten in sich aufzunehmen und lebendig zu machen. Aus dem guten Schüler entwickelte sich ganz consequent ein logisch denkender, systematisch ordnender Kopf, ein tüchtiger Ingenieur und Geschäftsmann. Seine großen Erfolge in England verdankt er hauptsächlich der ihm eigenthümlichen Begabung, sich aus dem ihm offen stehenden Schatze deutscher Wissenschaft leicht und schnell das anzueignen, was für den Augenblick von praktischem Werthe war, sowie der weiteren Gabe, diese wissenschaftliche Kenntniß stets gegenwärtig zu haben und in den ihm entgegentretenden technischen Fragen immer sogleich den Stützpunkt zu entdecken, wo der wissenschaftliche Hebel zu ihrer Förderung oder Lösung anzusetzen sei. Wesentlich unterstützt wurde er dabei allerdings noch durch den Umstand, daß er zu einer Zeit nach England kam, wo naturwissenschaftliche Bildung daselbst nur sehr vereinzelt, wenngleich dann in hervorragendem Grade, vertreten war, und wo ein lebendiges Zusammenwirken zwischen Wissenschaft und Praxis dort noch ebenso fehlte wie in Deutschland. So gelang es ihm, nicht nur selbst Tüchtiges zu leisten, sondern sich auch durch lebendiges und thatkräftiges Eingreifen in das in England so hoch entwickelte wissenschaftlich-technische Gesellschaftsleben um dieses selbst und damit um die gesammte englische Industrie wesentliche Verdienste zu erwerben.

Fast diametral entgegengesetzt waren die geistigen Anlagen seines Nachfolgers in der Reihe der am Leben gebliebenen Geschwister. Friedrich war kein guter Schüler. Es ist ihm immer schwer geworden, dem Gedankengange eines Anderen bis an das Ende zu folgen; dagegen war er von Kindheit an ein ausgezeichneter Beobachter und hatte die Gabe, seine Beobachtungen stets mit einander zu verknüpfen und sich selbst verständlich zu machen. Um die Gedanken Anderer wirklich zu verstehen und sich anzueignen, mußte er sie selbstthätig nacherfinden oder doch nachdenken. Diese Eigenschaft des steten, selbstthätigen, unbeeinflußten Denkens und Fortbildens gab seinem Wesen einen grübelnden Anstrich und seinen Leistungen eine ausgesprochene Originalität. Fritz ist der geborene Erfinder, dem zuerst der Erfindungsgedanke, wenn auch zunächst in ganz unklarer, nebelhafter Form in den grübelnden Sinn kommt, und der darauf mit rastloser Energie und unermüdlichem Fleiße die Grundlage des Gedankens prüft, sich dabei die ihm etwa fehlenden Kenntnisse aneignet und schließlich seinen Gedanken entweder als falsch oder unausführbar verwirft, oder ihn zu einer brauchbaren und dann fast immer originellen Erfindung ausarbeitet. Dabei war Friedrich niemals ein Diplomat und ebensowenig ein die Worte und Handlungen sorgfältig abwägender Geschäftsmann. Er ging und geht noch jetzt überall seinen geraden, nur durch ihm angeborene freundliche und wohlwollende Gesinnung beeinflußten Weg, der ihn auch in der Regel zum gewünschten Ziele führt, da er ihn stets wohl überlegt und mit größter Energie bis zu Ende verfolgt.

Den auf Fritz folgenden Bruder Karl möchte ich für den von uns Allen am normalsten beanlagten erklären. Er war stets zuverlässig, treu und gewissenhaft, ein guter Schüler, ein liebevoller, anhänglicher Bruder. Sein klarer Blick und allseitig gut ausgebildeter Verstand machten ihn zu einem tüchtigen Geschäftsmann und, bei seinem großen technischen Verständniß und richtigen Taktgefühl, zu einem ausgezeichneten Leiter geschäftlicher Unternehmungen. Karl war das richtige Bindeglied zwischen uns vier Brüdern, die wir eigentlich alle wesentlich verschieden von einander waren, aber durch die alles überwindende brüderliche Liebe während unseres ganzen Lebens zu gemeinschaftlichem Wirken zusammengehalten wurden.

Um auch mich selbst an die vorstehende Charakteristik meiner Brüder anzuschließen, will ich nur bemerken, daß ich von allen guten und schlechten Eigenschaften der eben geschilderten drei Brüder ein gutes Theil besaß, daß diese Eigenschaften aber durch meinen besonderen Lebensweg in ihrer äußeren Erscheinung sehr zurückgedrängt wurden. Meine Pflicht zu thun und Tüchtiges zu leisten, ist jederzeit mein eifriges Bestreben gewesen. Anerkennung zu finden, war mir zwar wohlthuend, doch war es mir immer zuwider, mich irgendwie vorzudrängen oder zum Gegenstande einer Ovation machen zu lassen. Vielleicht war mein stetes Bestreben »mehr zu sein, als zu scheinen« und meine Verdienste erst von Anderen entdecken zu lassen, aber nur eine besondere Form der Eitelkeit. Ich will mich ihrer in diesen Blättern auch möglichst enthalten.


Das Jahr 1852 bildete einen entscheidenden Wendepunkt in meinem persönlichen sowohl wie in meinem geschäftlichen Leben.

Mit Beginn dieses Jahres trat ich die erste Reise nach Rußland an. Die geschäftliche Verbindung meiner Firma mit der russischen Regierung war schon im Jahre 1849 durch den Kapitän von Lüders eingeleitet worden, der damals im Auftrage seiner Regierung eine Rundreise durch Europa machte, um das beste System elektrischer Telegraphen zu ermitteln, und dann unser System für die von Petersburg nach Moskau zu erbauende Linie in Vorschlag brachte. Bei Siemens & Halske wurden nur die Apparate – Zeigertelegraphen und Meßinstrumente – bestellt, da die russische Regierung den Bau der unterirdischen Leitung selbst unternahm. Verhandlungen über weitere Bestellungen erheischten jetzt meine Anwesenheit in Petersburg.

Meine Reise führte über Königsberg, wohin mich schon lange ein sehnsüchtiges Verlangen zog, ohne daß ich mich zur Hinreise zu entschließen vermocht hätte. Es wohnte dort der bekannte Geschichtsforscher Drumann, der eine Tochter meines Onkels Mehlis in Clausthal geheirathet hatte und dadurch mit mir verschwägert war. Im Jahre 1844 hatte mich die Cousine Drumann auf einer Reise nach Clausthal in Berlin aufgesucht und sich mit ihrer jüngsten Tochter Mathilde einige Tage daselbst aufgehalten. Ich machte mich den Damen während dieser Zeit als Cicerone nützlich und verlebte mit ihnen sehr angenehme, anregende Tage. Die Rückreise sollte wieder über Berlin gehen, und ich freute mich auf das Wiedersehen der liebenswürdigen Cousine und ihrer hübschen und klugen Tochter. Die Freude wurde leider durch ein sehr trauriges Ereigniß gestört.

Die Professorin Drumann traf krank in Berlin ein und starb schon nach einigen Tagen an einer Lungenentzündung im Gasthause. Ich war der einzige Verwandte, sogar der einzige Bekannte der Familie in Berlin und hatte daher alle Pflichten des Familienhauptes zu erfüllen. Mein Mitgefühl wurde durch den grenzenlosen Schmerz des armen, vereinsamten Mädchens auf eine harte Probe gestellt. Die baldige Ankunft des Bruders der Verstorbenen, des Regierungsrathes Mehlis aus Hannover, und seiner Frau erleichterte mir zwar die schwere und ganz ungewohnte Aufgabe, die mir hier beschieden war, doch wollte mir das Bild des so schmerzerfüllt und hülflos sich mir anschließenden jungen Mädchens nicht wieder aus dem Sinn kommen. Seitdem waren nun acht Jahre dahingegangen, in denen die anfänglich lebhafte Correspondenz allmählich eingeschlafen war. Mein Bruder Ferdinand hatte sich inzwischen mit der älteren Schwester Mathildes verlobt und mit Beihülfe des Professors Drumann das Rittergut Piontken in Ostpreußen gekauft. Als er seine Braut aber dorthin heimholen wollte, erkrankte diese an einem chronischen Lungenleiden, dem sie trotz der treuen Pflege ihrer einzigen Schwester nach mehrjährigen, schweren Leiden erlag. Für mich war jetzt die Zeit gekommen, einen lange gehegten Wunsch zu erfüllen, ohne meinem alten Vorsatze untreu zu werden, erst zu heirathen, wenn meine eignen Mittel dies erlauben würden. Halske hatte gut gewirthschaftet. Wir hatten in Berlin ein ansehnliches Grundstück, Markgrafenstraße 94, gekauft, auf dessen Hinterterrain eine hübsche, geräumige Werkstatt errichtet wurde, während das neu ausgebaute Vorderhaus gute Wohnungen für uns gab. Es fehlte also zum Heirathen nur die Braut, und so konnte ich denn bald nach meiner Ankunft in Königsberg, am Geburtstage meiner Mutter – am 11. Januar des Jahres 1852 – die so lange verhaltene Frage an Mathilde Drumann richten, deren Bejahung mich dann zum glücklichen Bräutigam machte.

Ein langes Verweilen in Königsberg gestatteten meine geschäftlichen Dispositionen nicht, da ich bereits am 20. Januar in Riga erwartet wurde, wo wir eine Telegraphenleitung nach dem Hafenplatze Boldera anzulegen hatten, welche mittelst eines Stahldrahtseiles die breite Düna überspannen sollte.

Es gab damals noch keine andere Reiseform in Rußland als die Extrapost. Diese war auf den Hauptstraßen recht gut organisirt, natürlich den Verhältnissen entsprechend. Durchschnittlich alle zwanzig bis dreißig Werst – eine Werst ist etwas mehr als ein Kilometer – waren auf den Poststraßen feste Häuser mit Stallungen gebaut, in denen man Unterkunft und Pferde fand, wenn solche disponibel waren und man einen Regierungsbefehl an die Posthalter hatte, durch den sie angewiesen wurden, dem Reisenden gegen Zahlung der Taxe Postpferde für eine bestimmte Reise zu geben. War man im Besitze einer solchen Ordre – Podoroschna genannt – so erhielt man, falls man keine eigne Equipage hatte, einen kleinen vierrädrigen Bauernwagen ohne Federn, Ueberdeck oder sonstigen Luxus, bespannt mit drei, gewöhnlich nicht schlechten Pferden, von denen das mittlere in eine Gabeldeichsel eingeschirrt und die beiden äußeren mit einer Wendung nach außen angespannt waren. Bei einer richtigen »Troika« muß das stärkere mittlere Pferd Trab laufen, während die Seitenpferde es in Rechts- und Links-Galopp begleiten. Als Sitz hat der Reisende in der Regel seinen Reisekoffer oder ein Bund Stroh – und damit Gott befohlen fort im Galopp, der erst bei der nächsten Station wieder aufhört, wenn die miteilende Fama die Trinkgelder des Reisenden zu rühmen weiß.

Eine solche Postreise will erst gelernt sein. Man muß ganz frei und stark vorgebeugt auf seinem Koffer sitzen, damit das eigene Rückgrat die Feder bilde, die das Gehirn vor den heftigen Stößen der Räder auf den meist nicht allzuguten Straßen schützt. Versäumt man diese Vorsicht, so bekommt man unfehlbar bald heftige Kopfschmerzen. Man gewöhnt sich jedoch ziemlich schnell an diese Reiseform, die auch ihre Reize hat, lernt es sogar bald, ganz fest in der wiegenden Stellung zu schlafen, und begegnet dabei instinctiv allen Unbilden der Straße durch zweckmäßige Gegenbewegungen. Wenn zwei Reisende eine solche »Telega« benutzen, pflegen sie sich durch einen Gurt zusammen zu schnüren, damit ihre Schwankungen so regulirt werden, daß sie nicht mit den Köpfen aneinander stoßen. Ich habe übrigens gefunden, daß das Telegenreisen ganz gut bekommt, wenn man es nicht übertreibt. Freilich Courieren, die wochenlang ohne Unterbrechung Tag und Nacht auf der Telega sitzen müssen, sollen diese Reisen oft den Tod gebracht haben.

Bis Riga war die Telegenreise recht angenehm und interessant. Dort herrschte aber volles Winterwetter, und man konnte nur noch mit Schlitten weiterreisen. Die russischen »Kibitken« sind niedrige, ziemlich kurze Schlitten, die für längere Reisen mit Matten vollständig abgeschlossen werden. Vom Kutschersitze ist der innere Raum durch eine Mattenwand getrennt, in der zwei Fensterchen angebracht sind, die dem Innern spärliches Licht geben. Eine Mattenklappe an jeder Seite des Schlittens ermöglicht das ziemlich beschwerliche Aus- und Einsteigen.

Da ich zum ersten Male in das eigentliche Rußland reiste und gar kein Russisch verstand, so mußte ich mich in Riga nach einem Reisegefährten umsehen. In einer Zeitungsannonce meldete sich ein solcher, der eine eigene Kibitka besaß und fertig deutsch und russisch sprach. Wie sich erst im Laufe der Reise herausstellte, war es – eine ältere Rigaer Kaufmannsfrau, die sich ihre jährliche Einkaufsreise nach Petersburg auf diese Weise billiger stellen wollte. Sie hatte den Schlitten mit Stroh und Betten so voll gepackt, daß man nur darin liegen konnte und dann die Mattendecke nahe über dem Gesicht hatte. Es war grimmig kalt geworden, und je näher wir unserm Ziele kamen, desto stärker wurde der trockene, scharfe Nordostwind, der bei 18° Réaumur unter Null jeder wärmenden Hülle spottete. Da lernte ich auf russische Art heißen Thee in großen Mengen trinken, sobald eine Station erreicht war, denn dadurch allein konnte man sich erwärmen.

Als wir am dritten Morgen die Station Narva erreicht hatten, wurden wir das Opfer einer kleinen Kriegslist, wie sie von den Posthaltern vielfach und in den verschiedensten Formen angewendet wurde. Der Posthalter erklärte mit größter Bestimmtheit, daß es uns nichts nütze weiter zu reisen, da auf den Stationen vor Petersburg alle Pferde für eine große kaiserliche Bärenjagd in Beschlag genommen wären. Scheinbar gerührt von den lauten Klagen meiner Russin, erbot er sich schließlich, uns ein Paar besonders kräftige Pferde zu geben, die uns noch denselben Abend nach Petersburg bringen würden. Das Geschäft wurde abgeschlossen, und der schlaue Russe glaubte schon, sich durch Erdichtung der Bärenjagd das Fahrgeld bis Petersburg gesichert zu haben. Unsere weiteren Abenteuer sollten ihm aber einen Strich durch die Rechnung machen.

Unser Kutscher war ein junger Bursche ohne Pelz und wärmendes Fußzeug. Daß er oft anhielt, schien uns erklärlich, da er offenbar eines wärmenden Getränkes bedurfte, um nicht zu erfrieren. Schließlich kam er aber gar nicht zurück; ich mußte aus der Kibitka hinausklettern, was bei doppelten Pelzen und trotzdem ziemlich großer Erstarrung seine Schwierigkeiten hatte. Da fand ich denn unsern »Iswoschtschik« in einer nahen Bude mit dem Branntweinglase in der Hand, das der ziemlich verdächtig aussehende, jüdische Inhaber der Bude ihm mit eifrigem Zuspruch wieder füllte. Als ich den Pflichtvergessenen mit den erforderlichen fühlbaren Ermahnungen zum Schlitten zurücktrieb, bemerkte ich auffallende Zeichen weitergehenden Einverständnisses zwischen ihm und dem uns begleitenden Schenkwirth. Es kam mir daher gar nicht unerwartet, als meine Reisegefährtin bald nach Fortsetzung der Fahrt plötzlich ein gewaltiges Geschrei erhob und mir zurief, soeben sei ihr Reisekoffer vom Schlitten hinabgefallen. Sie hatte den Verlust sogleich bemerken können, da der Koffer neben dem Kutscher auf dem Bocke so befestigt war, daß er das eine kleine Fenster verdeckte. Es war sehr schwer, den Kutscher in unserer beengten Lage zum Anhalten zu nöthigen. Schließlich erreichte ich dies dadurch, daß ich das zweite kleine Fenster zerbrach, ihn packte und von seinem Sitze hinabwarf. Der Koffer wurde noch glücklich wieder aufgefunden; der Strick, welcher zu seiner Befestigung gedient hatte, war unzweifelhaft durchschnitten worden.

Es stellte sich jetzt aber bald heraus, daß der Kutscher total betrunken war und uns wiederholt in den Chausseegraben fuhr. Mir blieb schließlich nichts anderes übrig, als mit auf den Bock zu steigen und dem Kutscher die Zügel abzunehmen. Dieser schlief fast unmittelbar darauf fest ein, und kein Schimpfen und Stoßen machte ihn wieder munter. Ich selbst fühlte bald, daß meine Füße erstarrten, und als ich die Zügel wechseln wollte, fand ich, daß meine beiden Hände hart gefroren und ganz unbeweglich waren. Es war mir noch möglich, den Schlitten wieder in den Chausseegraben zu fahren und mit den Zähnen meine Handschuhe auszuziehen. Der Kutscher war beim Anhalten vom Bock gefallen und lag wie todt zu meinen Füßen. Ich konnte daher recht bequem zwei nützliche Handlungen zugleich ausführen, indem ich ihm den Kopf mit Schnee wusch und dadurch auch meine Hände wieder aufthaute. Es dauerte ziemlich lange, ehe ich fühlte, daß Leben in sie zurückkehrte. Bald darauf gab auch der Kutscher wieder Lebenszeichen von sich, indem er Grimassen schnitt und nach einiger Zeit zu klagen und zu bitten anfing. So konnten wir in dunkler Nacht unsern Weg weiter fortsetzen, indem wir neben dem Schlitten hergingen, und erreichten schließlich den Ort Krasnoje-Selo, wo wir beim Postmeister Quartier nahmen. Unsere Klage über den Posthalter in Narva und den uns mitgegebenen Iswoschtschik entschied der Postmeister am andern Morgen sehr kurzer Hand. Er ließ sich von uns das bedungene Fahrgeld bis Petersburg auszahlen, gab dann eigenhändig dem Iswoschtschik eine Tracht Prügel, so lange seine Kräfte aushielten, und schickte ihn damit statt jeder Zahlung an seinen Herrn zurück, während er uns mit seinen eigenen Pferden selbst bis nach Petersburg fuhr.

In Petersburg wurde ich vom Kaufmann Heyse, einem Onkel des Dichters Paul Heyse, sehr freundlich empfangen. Ich kannte die Familie Heyse von Magdeburg her, wo ich während meiner Rekrutenzeit im Hause der Wittwe des als Pädagog und Verfasser einer deutschen Grammatik angesehenen Gymnasialdirektors Heyse viele mütterliche Theilnahme und Freundlichkeit gefunden hatte. Der Petersburger Heyse, ein Sohn des Gymnasialdirektors, war schon in jungen Jahren nach Rußland gegangen und hatte sich dort zum Mitbesitzer eines der angesehensten Handelshäuser aufgeschwungen. Der Verkehr mit der liebenswürdigen, durchaus deutsch gebliebenen Familie wurde mir dadurch erleichtert, daß Heyse mir in einem seiner Wohnung nahegelegenen Wirthshause in der Cadettenlinie der Insel Wasili-Ostrow ein Unterkommen verschaffte.

Petersburg machte auf mich durch seine großartige Anlage, seine breiten Straßen und großen Plätze und namentlich durch den mächtigen Newastrom, der es in mehreren Armen durchfließt, einen bedeutenden Eindruck. Dieser wurde noch verstärkt durch das Fremdartige des Volkslebens und die eigenthümliche Mischung von groß angelegten Palästen mit kleinen, meist ganz aus Holz erbauten Häusern in den breiten, endlosen Straßen. Auch der rege Schlittenverkehr, der im Winter die Straßen erfüllt und den Wagenverkehr fast ganz ausschließt, übt eine eigenartige Wirkung auf den Fremden aus, der Petersburg zum ersten Mal sieht. Daß man die Sprache nicht versteht und nicht einmal die Inschriften an Straßenecken und Läden zu entziffern vermag, giebt einem dabei ein Gefühl der Verlassenheit und Unselbstständigkeit, dem man sich kaum entziehen kann. Um so erwärmender wirkt dagegen der landsmännische Zusammenhang, das hochentwickelte gastfreundliche Familienleben in der großen Fremdenkolonie Petersburgs, namentlich der deutschen, der es sehr zu statten kommt, daß die Ostseeprovinzen Rußlands ihre deutsche Nationalität in den gebildeten Ständen vollständig bewahrt haben. Die höheren Verwaltungsstellen waren damals großentheils von Deutschen aus den Ostseeprovinzen besetzt. Dies erleichterte dem nach Petersburg kommenden Deutschen das Fortkommen in geselliger wie geschäftlicher Hinsicht außerordentlich. Mir war es besonders sehr nützlich, daß sich durch Berliner Empfehlungen die naturwissenschaftlichen Gelehrtenkreise mir öffneten. Ich fand freundliche Aufnahme bei den berühmtesten Trägern der deutsch-russischen Naturwissenschaft, von denen ich die Akademiker Kupffer, Lenz, Jacobi und v. Baer hervorheben will.

Leider erfuhr dieser angenehme und für meine geschäftlichen Unternehmungen vortheilhafte Verkehr eine störende Unterbrechung. Eines Tages fühlte ich mich sehr unwohl. Vergebens suchte ich mich durch russische Bäder und ähnliche, selbst verordnete Kuren und schließlich durch ein Brechmittel, das ich mir zu verschaffen wußte, wieder herzustellen. Nach der darauf folgenden unsäglich qualvollen Nacht besuchte mich zum Glück Freund Heyse, der den Ernst meiner Krankheit erkannte und mir seinen Arzt zuschickte. Ich war von den Masern befallen, die damals in Petersburg grassirten; ihnen folgte eine schwere Nierenentzündung, die mich einige Monate an das Krankenlager fesselte, und an deren Folgen ich noch lange zu leiden hatte.

Abgesehen von diesem persönlichen Mißgeschick waren die Folgen meiner Reise für die Entwicklung unsrer geschäftlichen Beziehungen sehr günstig. Wir erhielten den Auftrag, eine unterirdische Linie von Petersburg nach Oranienbaum mit einer an sie anschließenden Kabelverbindung nach Kronstadt anzulegen.

Der Bau der Kronstädter Linie und die Nothwendigkeit, eine andere Vertretung unserer Firma in Rußland zu organisiren, führte mich schon im Sommer 1852 abermals nach Petersburg. Ich fand dort in dem deutschen Kaufmann erster Gilde, Herrn Kapherr, einen sehr geeigneten Vertreter, der durch seine Thätigkeit und Gewandtheit viel zu den günstigen Erfolgen unserer russischen Unternehmungen beigetragen hat, und gewann auch werthvolle weitere Anknüpfung mit dem Ministerium der Wege und Communicationen, zu dessen Ressort Bau und Betrieb von Telegraphenlinien gehörte.

Meine Hochzeit mit Mathilde Drumann feierte ich am 1. October des Jahres 1852 in Königsberg. Nach kurzem Aufenthalt in Berlin reisten wir an den Rhein und dann nach Paris, wo auch meine Brüder Wilhelm und Karl sich gerade aufhielten. Nach den verflossenen, in Sorgen und schwerer Arbeit verbrachten Jahren genoß ich dort in vollen Zügen mein junges eheliches Glück, noch gehoben durch den traulichen Verkehr mit den Brüdern. Meine Frau hatten die kummervollen Jahre am Krankenlager ihrer geliebten Schwester sehr angegriffen. Um so erfreulicher war es für mich, zu beobachten, wie das neue Glück ihre frühere Jugendfrische von Tag zu Tag wieder mehr hervorrief. Das machte auch mich wieder jung und verwischte die Spuren übermäßiger Arbeit und überstandener Krankheit.

Leider dauerte dieser Sonnenschein in meinem Leben nicht lange. Schon nach ihrem zweiten Wochenbette fing Mathilde an zu kränkeln. Es entwickelten sich in ihr die Keime der schrecklichen Krankheit, an der ihre Schwester gestorben war, und die sie wahrscheinlich während der langen, aufopfernden Krankenpflege in sich aufgenommen hatte. Ein Aufenthalt von anderthalb Jahren in Reichenhall, Meran und anderen Bädern schien sie zwar wiederhergestellt zu haben, doch war das nicht von Dauer. Nach dreizehnjähriger Ehe, in der sie mir zwei Söhne und zwei Töchter geschenkt hat, starb sie nach langen und schweren Leiden. –

Als uns im Frühjahr 1853 der Bau eines Eisenbahntelegraphen von Warschau nach der preußischen Grenze übertragen wurde, machten wir meinem Bruder Karl, der zu Anfang jenes Jahres nach dem Scheitern der Pariser Pläne wieder nach London zurückgekehrt war, den Vorschlag, die Leitung sowohl dieses Baues als auch der weiteren, in Aussicht stehenden Arbeiten in Rußland zu übernehmen. Karl erklärte sich dazu bereit und löste später diese zum Theil sehr schwierigen Aufgaben so befriedigend, daß wir unsere Entschließung, ihn trotz seiner Jugend mit so wichtigen Arbeiten zu betrauen, als eine sehr glückliche bezeichnen mußten. Seiner Thatkraft und Tüchtigkeit haben wir es wesentlich zu danken, daß das russische Geschäft sich nun so schnell und großartig entwickelte.

In Rußland herrschte zu jener Zeit Kaiser Nikolaus, und unter ihm war der mächtigste Mann im Reiche Graf Kleinmichel, der Chef des Ministeriums der Wege und Communicationen. Ich war mit diesem in ganz Rußland gefürchteten Manne bis dahin in keine persönliche Berührung gekommen, da die Verhandlungen durch den schon erwähnten, mir persönlich befreundeten Oberst von Lüders geführt wurden. Als dieser aber erkrankte und in deutschen Bädern Heilung suchen mußte, wurde ich im Frühjahr 1853, als ich eben Bruder Karl erwartete, um ihn nach Warschau zu begleiten, vom Grafen Kleinmichel aufgefordert, zu Besprechungen über Telegraphenanlagen nach Petersburg zu kommen. Ich suchte daher, wie gewöhnlich, bei der russischen Gesandtschaft in Berlin um das Visiren eines Reisepasses nach. Zu meiner Verwunderung bekam ich aber das Visum trotz wiederholter Erinnerungen nicht. Als ich mich beim Gesandten selbst darüber beschwerte, sagte er mir, das Visum dürfe auf Anordnung der Petersburger geheimen Polizei nicht ertheilt werden. Da mir kein Grund für diese Verweigerung angegeben wurde, so blieb mir nur übrig, dem Grafen Kleinmichel zu schreiben, ich könne seiner Aufforderung nicht Folge leisten, da mir die Visirung meines Reisepasses verweigert würde. Es dauerte dann nicht länger als den Courierwechsel zwischen Berlin und Petersburg, daß mir ein Beamter der Gesandtschaft mit vielen Entschuldigungen und der Erklärung, es habe ein Mißverständniß obgewaltet, den visirten Paß überbrachte.

Als ich aber einige Tage später auf der Reise nach Warschau die russische Grenzstation erreicht hatte, fand ich bald, daß ich trotz des angeblichen Mißverständnisses noch zu den Verdächtigen gehörte. Meine Effecten wurden nach Abfertigung aller übrigen Reisenden mit einer Sorgfalt durchsucht, die alle meine Vorstellungen weit übertraf. Es wurde dabei jedes beschriebene und unbeschriebene Papierstückchen zurückbehalten und mir schließlich erklärt, daß man von einer ebenso gründlichen körperlichen Visitation in Anbetracht des guten Ausfalls der bisherigen Revision Abstand nehmen wollte, wenn ich meine Briefschaften sämmtlich übergäbe und auf mein Wort versicherte, daß ich nichts Gedrucktes oder Geschriebenes weiter bei mir führte. Auf meine Erklärung, ich wolle zurückreisen, da mir eine solche Behandlung nicht zusage, wurde mir bedeutet, daß ich jetzt mit meinen Effecten nach Warschau reisen müsse und dort weitere Entscheidungen abzuwarten habe. Ich war also russischer Staatsgefangener!

In Warschau angekommen, beschwerte ich mich bitter über die mir widerfahrene Behandlung bei dem General Aureggio, der als Direktor der Warschau-Wiener Eisenbahn den Contract über den Bau des Eisenbahntelegraphen mit meiner Firma abgeschlossen hatte. Der General versprach mir seine Vermittlung bei dem damaligen Statthalter von Polen, dem Fürsten Paskewitsch. Auf seine Frage, ob ich denn irgend etwas gethan, geschrieben oder gesagt hätte, was mich politisch verdächtig gemacht haben könnte, wußte ich nur anzuführen, daß ich einem russischen Staatsrath auf sein wiederholtes Anerbieten, er wolle mir für meine Verdienste um Rußland einen Orden verschaffen, geantwortet habe, daran würde mir weniger liegen als an dem Auftrage, weitere Telegraphenlinien für Rußland zu bauen. Der Statthalter hatte sehr gelacht, als der General ihm das Bekenntniß meiner Sünde mittheilte, und mir sagen lassen, er würde an meiner Stelle ganz ebenso denken. Ich erhielt sofort meine sämmtlichen Effecten zurück und einen Paß nach Petersburg. Nach kurzem Zusammensein mit Bruder Karl, der mir inzwischen nach Warschau gefolgt war, setzte ich daher meine Reise fort.

Nach sechstägiger Fahrt in einem höchst unbequemen Postwagen in Petersburg angelangt, begab ich mich sogleich zum Grafen Kleinmichel, der, wie ich schon in Warschau gehört, selbst den Befehl ertheilt hatte, mir auf seine Verantwortung hin den Reisepaß zu geben. Der Graf hörte meine Meldung ganz freundlich an und nahm Einsicht in die Zeugnisse über bisher von uns ausgeführte Arbeiten, die ich ihm vorlegte. Ueber die mir zu Theil gewordene Behandlung war er augenscheinlich sehr entrüstet. Als er in einem sehr günstigen Zeugniß des Berliner Polizeipräsidenten Hinkeldey über den von uns angelegten Polizeitelegraphen die Schlußbemerkung fand, daß ich politisch durchaus unverdächtig wäre, trug er mir auf, mit diesem Zeugniß zum Chef der Geheimpolizei, dem General Dubbelt, zu gehen. »Sagen Sie dem General« waren seine Worte, »ich lasse ihm befehlen, das Zeugniß zu lesen, und dann bringen Sie es mir sofort wieder her, ich will es dem Kaiser zeigen!«

Dieser Auftrag setzte mich in nicht geringe Verlegenheit. Zum Glück hatte mir ein Warschauer Geschäftsfreund eine Empfehlung an einen der höheren Beamten der gefürchteten Behörde der Petersburger geheimen Polizei mitgegeben. Ich ging daher zunächst zu diesem und bat ihn um Rath, was ich thun solle, um den Befehl des Grafen auszuführen, ohne dabei anzustoßen. Ich erfuhr von ihm, daß es eine Meldung aus Kopenhagen gewesen wäre, die mich als einen gefährlichen Menschen geschildert habe, der mit den demokratischen Kieler Professoren intim verkehre. Daraufhin sei die Paßverweigerung angeordnet. Offenbar war es der Dank der Dänen für die Minenlegung im Kieler Hafen und den Bau der Eckernförder Batterien, die ihnen allerdings recht unbequem geworden waren. Sowohl der Chef der Geheimpolizei, der in feierlicher Audienz mein Zeugniß entgegennahm und mich darauf seines besonderen Wohlwollens und seiner steten Hülfsbereitschaft bei meinen Unternehmungen versicherte, als auch der Graf Kleinmichel selbst war durch diese Erklärung vollkommen befriedigt.

Ich habe diese interessante Episode meines Lebens in Rußland so eingehend beschrieben, weil sie ein gutes Bild der damaligen Zustände und Machtverhältnisse im Zarenreiche giebt und unsern geschäftlichen Unternehmungen zu großem Vortheil gereicht hat. Graf Kleinmichels Macht war damals so groß, daß ihr, so lange Kaiser Nikolaus lebte, Niemand zu widerstehen wagte. Der Graf hatte Vertrauen zu mir gewonnen und übertrug dasselbe später in vollem Maaße auf meinen Bruder Karl. Nur seinem mächtigen Schutze verdankten wir die Möglichkeit, die großen Werke, deren Ausführung er uns übertrug, glücklich durchzuführen.

Graf Kleinmichel machte mir gegenüber kein Hehl daraus, daß er mich zur Ausführung seiner weiteren Pläne am liebsten ganz in Rußland zurückzuhalten wünschte. Da ich darauf nicht eingehen konnte, kündigte ich ihm, als ich mich Ende Juli verabschiedete, die nahe Ankunft meines Bruders an, der im Linienbau große Erfahrungen hätte und seine Befehle besser ausführen werde, als ich selbst es könnte. Wenige Tage nach meiner Abreise traf Karl in Petersburg ein. Als er sich dem Grafen vorstellte, war dieser überrascht durch seine jugendliche Erscheinung. Er zeigte sich in Folge dessen sehr verdrießlich, gab ihm aber den Auftrag, einen Vorschlag zu machen, wie man die Leitung des im Bau begriffenen Telegraphen nach Oranienbaum und Kronstadt in das Thurmzimmer des kaiserlichen Winterpalais, in dem sich bis dahin die Endstation des optischen Telegraphen nach Warschau befand, einführen könnte, ohne an dem Wohngebäude des Kaisers störende Arbeiten vorzunehmen.

Als Bruder Karl sich das stolze Palais mit dem thurmartig ausgebildeten Erker, worin das Bureau des optischen Telegraphen untergebracht war, aufmerksam ansah, fiel ihm auf, daß in einer Thurmecke keine Wasserrinne niederführte, wie das in den anderen der Fall war. Auf diese Wahrnehmung hin kehrte er sogleich zu dem Grafen zurück, der ihn, ärgerlich über seine vermeintliche Umständlichkeit, ziemlich unwirsch anfuhr, was er denn noch wolle. Karl theilte ihm nun den Plan mit, in der leeren Ecke des Thurmes ein eben solches Rohr anzubringen, wie es in den übrigen vorhanden wäre, und darin die isolirten Telegraphenleitungen hinaufzuführen. Das imponirte dem Grafen. Er schimpfte auf seine Officiere, die nichts Anderes gewußt hätten, als Rinnen in das Mauerwerk zu schlagen, »und nun«, so drückte er sich aus, »muß so ein junger, bartloser Mensch kommen und sieht auf den ersten Blick, wie leicht die Sache zu machen ist«. – So war es Karl gleich bei seinem ersten Auftreten gelungen, den Grafen für sich zu gewinnen, der ihm von diesem Augenblicke an eine Autorität einräumte, der er ebenso wie der meinigen unbedingtes Vertrauen schenkte. Er hat sich hierin auch nicht getäuscht.

Im Herbst 1853 vollendete Karl zu Graf Kleinmichels voller Zufriedenheit die Kronstädter Kabellinie. Es war dies die erste submarine Telegraphenlinie der Welt, die dauernd brauchbar geblieben ist. Die für sie verwendeten, mit Eisendrähten armirten Guttaperchaleitungen bewährten sich vorzüglich. Zugleich mit der Anlage der Linie war uns auch ihre Instandhaltung, die sogenannte Remonte, auf sechs Jahre in Entreprise gegeben. Die Leitung wurde in dieser ganzen Zeit nur einmal durch Schiffsanker schwer beschädigt und nach Ablauf der sechs Jahre in tadellosem Zustande an die Regierung übergeben; sie ist bis in die neueste Zeit in Thätigkeit geblieben und liefert daher auch einen Beweis für die Dauerhaftigkeit gut construirter submariner Kabel.

Im Frühjahr 1854 brach der Krimkrieg aus. Wir erhielten in Folge dessen den Auftrag, so schnell als möglich eine oberirdische Telegraphenleitung längs der Chaussee von Warschau nach Petersburg oder vielmehr nach Gatschina zu erbauen, das mit Petersburg bereits durch eine unterirdische Leitung verbunden war. Ich reiste daher im April 1854 nach Warschau und organisirte dort eine Arbeiterkolonne, die unter dem Commando des Hauptmanns Beelitz, eines früheren Kameraden von mir, der in den Dienst unserer Firma getreten war, von Warschau aus mit dem Bau der Linie begann. Dann ging ich nach Petersburg und organisirte dort mit Karl eine zweite Kolonne, die unter seinem Befehl von Gatschina aus der Beelitzschen entgegenarbeitete. So wurde die etwa 1100 Werst lange Linie zur großen Verwunderung der Russen, die an schnelle, gut organisirte Arbeit nicht gewöhnt waren, innerhalb weniger Monate fertiggestellt. Als die beiden Kolonnen auf halbem Wege, in Dünaburg, zusammengetroffen waren, und die Translationsstation daselbst nach Ueberwindung einiger Schwierigkeiten richtig functionirte, konnte Karl dem Grafen Kleinmichel die Vollendung der Linie zur versprochenen Zeit melden. Der Graf war von der Nachricht sehr überrascht und wollte nicht recht an ihre Richtigkeit glauben. Er begab sich sofort in das Stationslocal im Telegraphenthurm des Winterpalais und richtete selbst eine Frage an den Stationschef in Warschau. Erst als er von diesem augenblicklich Antwort erhielt, war sein Zweifel besiegt, und höchlichst verwundert meldete er dem Kaiser das glückliche Ereigniß.

Der gute Erfolg der Warschau-Petersburger Linie bestärkte die russische Regierung in ihrem Entschluß, das ganze Reich mit einem Netze elektrischer Telegraphen zu durchziehen. Es wurde uns der schleunige Bau einer Linie von Moskau, wohin, wie erwähnt, schon eine unterirdische Leitung von Petersburg führte, nach Kiew in Auftrag gegeben. Dann wurden uns in schneller Folge Linien von Kiew nach Odessa, von Petersburg nach Reval, von Kowno zur preußischen Grenze, von Petersburg nach Helsingfors bestellt, die sämmtlich mit Ueberwindung unsäglicher Schwierigkeiten in den Jahren 1854 und 1855 vollendet wurden und dem russischen Staate noch in dem unterdessen tobenden Krimkriege zu großem Nutzen gereichten. Durch die Telegraphen war man in schnellster Verbindung mit Berlin und dem Westen Europas; im Inneren des Reiches ließen sich mit ihrer Hülfe die Truppen- und Materialbewegungen regeln, und die Centralregierung konnte überall bessernd und ordnend eingreifen.

Von den Schwierigkeiten, mit denen die Erbauung dieser Linien für uns verknüpft war, kann man sich einen Begriff machen, wenn man bedenkt, daß sämmtliche Materialien, mit alleiniger Ausnahme der in Rußland beschafften hölzernen Telegraphenpfosten, aus Berlin und dem westlichen Deutschland bezogen werden mußten, daß es in Rußland noch keine anderen Eisenbahnen gab, als die von der preußischen Grenze nach Warschau und von Petersburg nach Moskau, und daß alle Straßen und Transportmittel durch die Kriegstransporte außerordentlich in Anspruch genommen waren. Dazu kam noch, daß der Seetransport der schweren Materialien von deutschen Häfen nach russischen durch die Blockade der letzteren verhindert wurde. Mit großer Noth nur entgingen zwei von Lübeck aus mit Eisendrähten für russische Häfen befrachtete Schiffe der Wegnahme durch englische Kreuzer, indem sie nach Memel flüchteten, von wo ihre Ladung zu Lande weiter befördert wurde.

Die Berliner Firma hatte vollauf mit Beschaffung der Materialien, Anfertigung der Apparate und Organisation der Transporte zu thun, konnte daher meinen Bruder Karl, auf dessen Schultern die ganze Last des Baues der Linien ruhte, direct nur wenig unterstützen. Die hauptsächlichen Gehülfen Karls bei Ausführung dieser Arbeiten waren mein früherer Officiersbursche Hemp, der mir in Schleswig-Holstein so wackere Dienste geleistet hatte, und der eben genannte Hauptmann a. D. Beelitz. Ich selbst war in Berlin unentbehrlich, wo inzwischen der Bau von Eisenbahnlinien seinen ununterbrochenen Fortgang nahm, und mußte mich damit begnügen, wiederholt nach Petersburg zu reisen, um dort organisatorisch einzugreifen und die Verbindung zwischen den Centralpunkten unsrer Thätigkeit aufrecht zu erhalten.

Zu etwas längerem Aufenthalte begab ich mich im Frühjahr 1855 in Begleitung meines Freundes William Meyer – der seine Stellung in der preußischen Staatstelegraphenverwaltung inzwischen aufgegeben hatte und Oberingenieur und Prokurist der Firma Siemens & Halske geworden war – nach Petersburg, um unserm dortigen Baubureau eine den schnell wachsenden Anforderungen entsprechende Organisation zu geben. Wir hatten unsre Aufgabe bereits ziemlich vollendet und dachten ernstlich an die Rückkehr, als ich plötzlich um Mitternacht aufgesucht und fast gewaltsam zum Gehülfen des Grafen Kleinmichel, dem General von Guerhardt geholt wurde. Dieser eröffnete mir, der Kaiser habe den schleunigen Bau einer Telegraphenlinie nach der Krim bis zur Festung Sebastopol befohlen, und der Graf wünsche Kostenangabe und Vollendungstermin bis zum nächsten Morgen um 7 Uhr von mir zu haben. Meine Bedenken hinsichtlich der Schwierigkeit der Beschaffung und des Transportes der Materialien auf dem allein offenen Landwege von Berlin bis Perekop und Sebastopol sowie der Unmöglichkeit eines Linienbaues nach dem Kriegsschauplatze, wo alle Wege und Transportmittel vom Militär in Anspruch genommen wären, wurden durch das in Rußland alles überwindende Wort »der Kaiser will es!« niedergeschlagen. Und in der That bewährte sich dies Zauberwort auch in diesem Falle. Die Linie wurde gebaut.

Als ich nach durcharbeiteter Nacht pünktlich um 7 Uhr zum General kam, erfuhr ich, daß dieser schon vor zwei Stunden zum Grafen befohlen und noch nicht zurück sei. Bald nach 8 Uhr kam er und eröffnete mir, Graf Kleinmichel habe dem Kaiser, der ihn bereits um 6 Uhr zum Bericht befohlen habe, gesagt, ich würde den Bau von Nikolajew bis Perekop binnen sechs Wochen, den von Perekop bis Sebastopol binnen zehn Wochen ausführen, und zwar zu denselben Preisen wie die Linie von Kiew nach Odessa. Ich erklärte beides für unmöglich. Der Transport des Drahtes und der Apparate allein dauere von Berlin nach Nikolajew auf den durch die Militärtransporte zerstörten Wegen mindestens zwei Monate. Die Kosten würden auch selbstverständlich viel höher werden, und auf dem Kriegsschauplatze wäre die Arbeit für Civilisten und namentlich für Fremde fast unmöglich. Das half aber alles nichts und wurde kaum angehört. Der Kaiser hatte ja schon gesprochen! Im Laufe des Tages erhielt ich eine officielle Zuschrift, worin mir mitgetheilt wurde, daß der Kaiser uns seinen Dank für die Rußland bisher in seiner schweren Lage geleisteten Dienste und für das Anerbieten des schleunigen Baues der nothwendigen Linie nach dem Kriegsschauplatze aussprechen ließe, daß er aber von uns erwarte, wir würden die neue Linie in Anbetracht der schweren Kriegszeit billiger als die bisherigen bauen.

Es war das für uns eine äußerst schwierige Lage. Der Sommer war schon halb vorüber, neues Material war auf keine Weise vor Ende desselben an Ort und Stelle zu schaffen, auch war es ohne ein schweres Flußkabel unmöglich, den breiten und sumpfigen Dnjepr zu überschreiten. Und doch mußte dem kaiserlichen Erlasse Folge gegeben werden, soweit es irgend anging. Die einzige Möglichkeit, eine telegraphische Verbindung wenigstens bis zu dem auf der Landzunge, welche die Krim mit dem Festlande verbindet, gelegenen Perekop herzustellen, bestand darin, alle vom Bau der bis dahin vollendeten Linien übrig gebliebenen Materialien zu sammeln, nach Nikolajew zu schicken und die Linie mit einem Umwege von etwa dreißig Werst über Bereslaw zu leiten, wo eine Brücke über den Dnjepr führte, die den Uebergang ohne Flußkabel ermöglichte. Noch im Laufe der Nacht, in der mir die Mittheilung gemacht wurde, hatten wir daher mit allen russischen Stationen telegraphisch correspondirt und den Hauptmann Beelitz, der sich glücklicherweise gerade in Nikolajew befand, zur Station beschieden, um die Möglichkeit, Telegraphenpfosten zu beschaffen, festzustellen. Beelitz antwortete, er müsse erst die jüdischen Holzhändler befragen und habe Boten ausgeschickt, um sie sogleich zur Station zu bescheiden. Dann entspann sich eine eigenartige telegraphische Verhandlung. Beelitz meldet, ein Jude wolle die Stangenlieferung übernehmen, verlange aber fünfzehn Rubel für die gelieferte Stange. Antwort »Wirf ihn hinaus!« Rückantwort »Ist geschehen!« Ein Anderer will es für zehn Rubel thun. Antwort »Wirf ihn auch hinaus!« Rückantwort »Geschehen!« Eine Gesellschaft Anderer verlangt sechs Rubel; mit ihr wurde weiter verhandelt und schließlich ein annehmbares Angebot erzielt, das die rechtzeitige Stangenlieferung sicherte.

Es stellte sich ferner heraus, daß Reservematerialien für die Linie bis Perekop in nahezu ausreichender Menge vorhanden waren, und daß Aussicht war, dünne Eisendrähte für eine provisorische Leitung in Odessa zu erhalten. Die Möglichkeit, den kaiserlichen Willen wenigstens in den wesentlichsten Punkten zu erfüllen, lag also vor; dem Verlangen, die Preise »in Anbetracht der augenblicklichen Nothlage Rußlands« noch herabzusetzen, entsprachen wir dadurch, daß wir uns erboten, den nothwendigen Umweg über Bereslaw auf unsere Kosten auszuführen. Kurz, die Allmacht des kaiserlichen Befehls bewährte sich auch diesmal. Die Linie bis Perekop wurde zur verlangten Zeit fertig, und die Linie bis Sebastopol wurde wenigstens so früh beendet, daß der voraussichtliche Fall der Festung telegraphisch von dort nach Petersburg gemeldet werden konnte.

Diese Anlage einer Linie von etwa 200 Kilometer Länge an einer durch Truppenmärsche und Kriegsmaterial-Transporte occupirten und grundlos gemachten Straße bis in eine belagerte Festung hinein war ein schwieriges Werk, das meinem Bruder Karl, der es leitete, und seinen Gehülfen zur größten Ehre gereicht. Financiell verzehrte es freilich einen ansehnlichen Theil des durch den Bau der übrigen russischen Telegraphenlinien erzielten Gewinnes.

Ich selbst wollte im Juli, nachdem ich soweit als möglich alle Vorbereitungen für den Bau der vom Kaiser befohlenen Linie nach dem Kriegsschauplatz getroffen und die Ueberzeugung gewonnen hatte, daß dieselbe ausführbar sei, wieder nach Berlin zurückreisen, wo meine Frau eben ihrer zweiten Entbindung entgegensah. Zu meiner großen Verwunderung erhielt ich aber von der Polizei trotz wiederholter Eingaben meinen Reisepaß nicht zurück. Als ich mich darüber beim Grafen Kleinmichel beschwerte, erklärte mir dieser, ich dürfe nicht reisen, bevor die im Bau befindlichen Linien und namentlich die nach Sebastopol vollendet seien. Alle meine Einwendungen halfen nichts. Der Graf wollte den einmal gegebenen Befehl, mir den Paß nicht zu visiren, nicht wieder zurücknehmen, und ich war also für nicht absehbare Zeit in Petersburg »internirt«, wie man es nannte.

Da kam zu meinem Glück der Prinz von Preußen nach Petersburg, wie es hieß, um über die Neutralität Preußens im Krimkriege zu verhandeln. Diesen glücklichen Umstand beschloß ich zu benutzen, um der halben Gefangenschaft, in die ich gerathen war, zu entschlüpfen. Ich meldete mich in Peterhof, wo der Prinz Aufenthalt genommen hatte, bei seinem ersten Adjutanten, dem Grafen Goltz, setzte ihm meine schwierige Lage auseinander und bat, der Prinz möchte mir gelegentlich eine Audienz ertheilen, damit die russischen Beamten sähen, daß ich mich seines Schutzes erfreute. In seiner großen Herzensgüte und Freundlichkeit war der Prinz auf meine Bitte eingegangen, und schon am nächsten Tage erhielt ich die officielle Aufforderung der preußischen Gesandtschaft, mich zu einer Audienz im Winterpalais einzufinden. Ich wurde vom Gesandten erwartet und durch eine Reihe von Vorzimmern, die mit hohen Generalen und Beamten angefüllt waren, dem Prinzen zugeführt, der sich in Gesellschaft mehrerer Großfürsten und höchster Würdenträger befand. Der Prinz richtete sehr freundliche Worte an mich, wesentlich des Inhalts, daß ihm die Pfosten der von mir erbauten Telegraphenlinie längs des ganzen langen Weges von der preußischen Grenze bis Petersburg die freudige Gewißheit gegeben hätten, daß er mit der Heimath in steter Verbindung bliebe, und daß er mir seinen Dank dafür auszusprechen wünschte. Der Erfolg dieser Audienz war glänzender, als ich gehofft hatte. Noch an demselben Tage kam ein Polizeibeamter zu mir und übergab mir unter Entschuldigungen wegen des gemachten Versehens meinen Reisepaß. –

Die russische Regierung hatte zugleich mit den Contracten über den Bau der Linien auch Remonte-Verträge auf sechs bis zwölf Jahre mit uns abgeschlossen, die einen großen Verwaltungsapparat nöthig machten. Wir verwandelten daher unser Petersburger Baubureau in ein unabhängiges Zweiggeschäft unter der Leitung meines Bruders Karl, den wir zugleich als Socius in das Hauptgeschäft aufnahmen. In der ersten Linie von Wasili-Ostrow erwarben wir ein großes Gebäude, in welchem der mit der Remonteführung verbundene große Verwaltungsapparat untergebracht und gleichzeitig eine Werkstatt zur schnellen Ausführung aller Reparaturen errichtet wurde. Auch Karl schlug seinen Wohnsitz in ihm auf, nachdem er sich gegen Ende des Jahres 1855 mit der klugen und anmuthigen Tochter unseres bisherigen Vertreters in Petersburg, des obengenannten Herrn Kapherr, verheirathet hatte. Gleich seinem Schwiegervater ließ Karl sich jetzt zum finnischen Unterthan machen, um Kaufmann erster Gilde werden zu können und als solcher das Recht zu haben, Geschäfte jeder Art in Rußland zu treiben.

Ich muß noch eines Umstandes Erwähnung thun, der für unser neues Petersburger Geschäft sehr wichtig war und es besonders einträglich machte. Graf Kleinmichel hatte die Bewachung der Telegraphenlinien anfangs gegen eine ansehnliche, pro Werst berechnete Entschädigung den Chausseeverwaltungen übertragen. Das Resultat war aber, daß in Wirklichkeit gar keine oder doch nur eine höchst unvollkommene Bewachung stattfand. Zufällige oder absichtliche Zerstörungen der Linien wurden in der Regel erst nach Verlauf vieler Tage entdeckt, und die Reparatur erfolgte gewöhnlich erst nach längerer Zeit und oft mangelhaft, so daß auf sicheren Dienst der Telegraphen nie zu rechnen war. Da verlangte der Graf, wir sollten auch die Bewachung der Linien übernehmen, er würde uns dafür die hundert Rubel pro Werst zahlen, die er bisher den Chausseeverwaltungen gäbe. In Wirklichkeit war eine erfolgreiche Bewachung durch uns gar nicht auszuführen, eine solche konnte nur durch eingeborene Leute geschehen, und die hätten für uns sicher nicht besser bewacht als für die Regierung. Trotzdem nahmen wir das Anerbieten des Grafen unter der Bedingung an, daß wir die Ueberwachung und die nöthigen Reparaturen ganz nach unserem Belieben ausführen könnten.

Da uns dies zugestanden wurde, sahen wir von einer eigentlichen Bewachung ganz ab, richteten dagegen ein mechanisches Controlsystem ein, das verhältnißmäßig billig war und sich doch sehr gut bewährte. Alle fünfzig Werst errichteten wir eine Wachtbude, in welche die Leitungen eingeführt wurden. In der Bude befand sich ein Wecker und ein Galvanometer, die derartig in den Stromlauf eingeschaltet waren, daß der Wärter am Spiele der Galvanometernadel jederzeit sehen konnte, ob ein elektrischer Strom die Leitung durchlief. Stand die Nadel eine halbe Stunde lang ruhig, so mußte er mit Hülfe eines einfachen Mechanismus durch wiederholten Erdschluß die Nummer seiner Bude telegraphiren. Die Telegraphenstationen, zwischen denen die Verbindung unterbrochen war, hatten Auftrag, ihre Batterie zwischen Leitung und Erde einzuschalten, und erhielten daher die Meldungen der sämmtlichen Wärterbuden diesseits der Unterbrechungsstelle, erfuhren also dadurch die Lage derselben. Auf jeder Telegraphenstation war ein Linienmechaniker stationirt, der die Pflicht hatte, sogleich nach Meldung einer Störung Extrapost zu nehmen und zur Fehlerstelle zu fahren. Da Befehl gegeben war, unseren Mechanikern sofort und vor allen anderen Reisenden Postpferde zu geben, so wurde der Fehler fast immer im Laufe weniger Stunden verbessert.

In Folge dieser Einrichtung functionirten die russischen Telegraphenlinien während unserer Verwaltungsperiode mit großer Sicherheit, und es kamen nur selten über einen Tag dauernde Unterbrechungen des Dienstes vor, trotz der gewaltigen Länge der Linien und trotz der menschenleeren Steppen, durch die sie großentheils führten. Der uns förmlich aufgenöthigte Contract über die Bewachung der Telegraphenlinien erwies sich bald als sehr vortheilhaft für uns und ersetzte reichlich die Verluste, die wir bei manchen Anlagen erlitten hatten.

Durch die uns übertragene Remonteverwaltung und die fortlaufenden weiteren Linienbauten erlangte unser Petersburger Geschäft große Bedeutung und eine ganz einzig dastehende Stellung im russischen Reiche. Wir erhielten den officiellen Titel »Contrahenten für den Bau und die Remonte der Kaiserlich Russischen Telegraphenlinien« und das Recht für unsere Beamten, Uniformen mit Rangabzeichen zu tragen. Letzteres war zur guten Durchführung unserer Aufgaben unbedingt erforderlich, denn das russische Publikum respectirt nur die Träger von Uniformen. Um dieses Recht zu erwerben, ließ ich in Berlin eine Serie von schönen Uniformen entwerfen. Anstatt der Epauletts, die in Rußland den Officieren vorbehalten waren, wurden auf den Achseln goldene Raupen von verschiedener, mit der Charge wachsender Dicke angebracht. Tüchtige Künstler bildeten dann Gruppen so uniformirter Leute ab. Die in einer schönen Mappe zusammengelegten Bilder machten das Herz jedes Freundes und Kenners von Uniformen lebhafter schlagen. Mit dieser Mappe ausgerüstet, begab sich Bruder Karl zum Grafen Kleinmichel, setzte ihm unsere Noth auseinander und bat um Bewilligung einer Uniform für unsere Beamten. Der Anblick der schönen Bilder besiegte den anfänglichen Widerstand des Grafen; er behielt die Mappe zurück, um sie dem Kaiser vorzulegen, welcher die vorgeschlagenen Uniformen sofort genehmigte.

Ich halte es für meine Pflicht, an dieser Stelle noch der oft geäußerten Ansicht entgegenzutreten, daß wir diese großen und im Allgemeinen für uns günstigen Unternehmungen in Rußland nur mit Hülfe von Bestechungen hätten zum Abschluß bringen können. Ich kann versichern, daß dies durchaus nicht der Fall war. Vielleicht mag das dadurch erklärt werden, daß die Verhandlungen stets direct mit den höchsten Staatsbehörden geführt und abgeschlossen wurden, und daß die politischen Verhältnisse die schleunige Herstellung der nothwendigen telegraphischen Verbindungen dringend erforderten. Es soll damit nicht gesagt sein, daß wir uns nicht unteren Beamten für die bei Ausführung der Linien geleisteten Dienste in landesüblicher Weise erkenntlich gezeigt hätten.



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