Willi Seidel
Der Sang der Sakije
Willi Seidel

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Daûd-ibn-Zabal

Gott danken wir,
Daß wie leben dürfen,
Ob wir Honig
Oder Zwiebeln essen,
Ob wir auf Steinen
Oder auf Seide schlafen!

Ein Gesang vibrierte durch die Glutstille des Frühlingsmittags. Das Weizenfeld stand schimmernd grün, starr, saftvoll und prangend; und darüberhin wehten die Rufe des Wiedehopfs, des helmgekrönten Vogels, der mit eitlem Zickzacktrippeln über die Wege rennt. Der Vogel stieß seinen kurzen, leidvollen Schrei aus: »Zeep, zeep«, rief er schrill; dann spreizte er das scheckige Gefieder und stürzte davon, knapp über die Halme: denn der Büffel war am Werk, und der Büffel brauchte ihn.

Ein Lied, so alt wie die Kindheit der Menschen, sang die Sakije, das Räderschöpfwerk aus rotem Akazienholz. Es drehte sich träge, es knarzte und weinte. Was ist die Trauer der Sakije? Sie trauert darüber, daß die Zeit sich nie erfüllen wird, da sie feiern kann; sie singt hoch und summend das Klagelied, das seinen Kehrreim an den Ufern des Stromes unendlich oft wiederholt; und sie seufzt, tief und voll, wie die Schwinge der schwarzen Hummel, oder die des Pillendrehers, der durch den abendlichen Staub der Straßen schwirrt. Und was sie singt, ist die Zeit – die unersättliche Zeit, die uns alle frißt: Gott ist groß! Gott ist sehr groß! Nichts Neues entsteht; und was man erntet, vergeht; Weizen wird Brot und Kleie, und Ful wird gemahlen ober wandert in den Schmortiegel, alles nach Gottes Willen!

Und dieselbe Melodie mit demselben leiernden Auf- und Abschwellen, derselben fremden Rhythmik singt der alte berberiner Bettler, der arm ist wie eine schmutzige Ratte und seine gleichwohl mit Silberringen geschmückte Hand aus dem Schatten einer Mauer streckt; dieselbe Melodie der Junge, der seinen trägen weißen Esel mit einem spitzen Zweig am Bauche stachelt, so daß er von Zeit zu Zeit gewaltig ausholt, er, der von fetten Fremden müdgerittene kleine Esel; dieselbe Melodie klingt nilaufwärts und -abwärts, über Wadi-Halfa bis dorthin, wo der Strom sich trennt; in der glänzenden Stadt Kairo, der Wohlverwahrten, und auf allen Mais- und Baumwollfeldern im Delta ... Sie ist immer dieselbe, und die Zungen haben sie von der Sakije gelernt. Der Sinn des Liedchens, was ist er? Gott tut, was Er will ... und was mich betrifft, so will ich, mit Seiner Erlaubnis, jetzt Saubohnen essen, Busa trinken, einen herrlichen Betrug bewerkstelligen oder schlafen; kurze Sätzchen sind es, kleine Pläne, die das stumpfe Gehirn in Unzahl hervorschwärmen läßt und die einander ähnlich sind wie die Sandfliegen seit Adams Zeit. Mit einemmal barst die Melodie mitten durch; und für das Ohr ward eine weitere Geräuschwelt aufgetan: die entfernterer Sakijen, die wie Kinderstimmen wimmerten und kaum sichtbar waren: ein melodisch klagendes Durcheinander feiner und tiefer Stimmen hinter einem breiten Schleier von Hitze. Nun regte sich ein staubiges Etwas, das auf dem schmalen Treibbalken geschlummert hatte. Es entwickelte sich aus seiner knäuelartigen Stellung heraus zu einer Art Mensch, wenn man ein hellbraunes Ferkel ohne einen Fetzen Lendentuch, mit schlammstarrenden Sohlen und verhornten Knien als Mensch bezeichnen will; dann endlich saß es rittlings auf dem Balken und beschäftigte sich damit, ganz wach zu werden. Der animalische Schlummer des Geschöpfes, das ganz ein Bestandteil der unentwegt kreisenden Sakije gewesen war, hatte Störung erlitten; die pflanzenhaft atmende Seele war grob herausgerissen worden vor die Forderungen des grellen Mittags und der Wirklichkeit ...

Der weibliche Büffel hatte die Tradition, im Kreise zu schreiten, durchbrochen und vorübergehend eine Pause gemacht, um mit klatschendem Geräusch seinen grünen Mist abzulagern. Nachdem er dies getan, vergaß er sich noch eine Weile und genoß diese regelwidrige Unterbrechung mit glasigen Augen und sacht wedelndem Schweif. Er war häßlich wie die Nacht, frisch aus den bildenden Händen des Teufels hervorgegangen, der vor Allah geschworen hatte, mit geschlossenen Augen etwas Schöneres als die Kuh zu erschaffen –: etwas Schöneres als die braune Kuh, das heitere und kluge Tier! Aber die Gamusah blieb ein Zerrbild, ein Kinderschreck aus Grauwackenstein; und diese hier war lange im Dienst. Ihr Bauch war prall und hart; das vom Prügeln enthaarte Leder glänzte speckig; träge Zecken saßen brütend in den breiten Rillen der Rippen; und von dem ganzen erbärmlichen, stumpfen Geschöpf strahlte ein Dunst von Jauche und eine hohe Tonwelle von tausend Fliegen aus. Ja, die Fliegen tummelten sich und hatten ihre Lust; sie überwirbelten sich in der Luft, liefen windschnell in alle Winkel und nippten dankbar und emsig mit ihren gierigen Rüsseln von jeder krätzigen Stelle; sie lagerten ihre Eier in dem Buschwald der plump fächelnden Ohren ab; sie saßen dick und glänzend an den Rändern der hellgrauen porösen Nüstern und bekränzten die dumm vorquellenden Augäpfel, kaum verscheuchbar durch die weichen Wimpern ... Erst jetzt, nachdem eine Kraft aus unbekannter Richtung her eine Gerte herunterschickte, erhoben sie sich wie eine Wolke; und auch der Wiedehopf strich zwischen den Beinen des Büffels davon.

Das, was jetzt auf dem Treibbalken aufrecht stand und die Gerte geschwungen hatte, stellte einen staubigen Jungen vor, einen Fellachenjungen von beiläufig neun Sommern. Er war nicht mager und nicht fett; er war hellbraun wie Nilschlamm und ein Kind des Ackers. Seine gespreizten Zehen krümmten sich um die Balkenkante, und mit dem einen Arm holte er mächtig aus, so mächtig, daß es schien, als müsse die Wucht des Schlages ihn selbst davonraffen, mitten in das fette Grün hinein. Doch blieb er stehen; und nach jedem Schlag, der auf den faulen Büffel prasselte, tat er einen kleinen elastischen Satz und zappelte mit den Schenkeln. Er tat es nicht schweigend, sondern kreischte dabei mit sehr heller Stimme eine langgedehnte Arie, in deren Verlauf der Büffel zum Schwein degradiert und der ehrliche Name seiner sämtlichen Vorfahren getilgt wurde. Während der Büffel sich wiederum in Bewegung setzte, flaute die Ansprache etwas ab und wurde zu einem schleppenden Gesang, zu einem Selbstgespräch, das der Knabe mit seinem zufriedenen, wunschlosen Herzen hielt. Er blickte auch nicht mehr das graue Laster an, das seinen Sklavengang weiterschritt, sondern begleitete mit endlos wiederholten Worten das wiedererwachte Lied der Sakije, tat es ihr gleich und übertrumpfte sie ... So hockte er in all dem Gequietsch und Gesumm auf seinem Hochsitz: das war seine Welt.

Wiewohl rechtschaffen braun, hatte er doch eine hellere Haut als seine Altersgenossen in den umliegenden Dörfern und in Luksor drüben auf der anderen Seite des Stromes. Er war haarlos und blank; geschmeidig wie eine Katze und so schuldlos, daß er dem hellen Tag und seinen vielen Augen ohne Skrupel seine Nacktheit zeigte; er turnte auf dem schmalen Balken, der kaum Platz für sein Rückgrat bot, elastisch umher, als sei er ein breites Pfühl. Mitunter lag er auf dem Bauch und sandte den Blick in die Tiefe des Brunnens hinab, wo die Toneimer mit glucksendem Geplätscher das brackige Wasser erfaßten, um damit an dem zerfaserten Bastseil emporzuklettern. Drunten war es kühl und schwarz. Zuweilen war er selbst herabgerutscht und hatte mit den Beinen in der Nässe gewühlt ... dann aber, von einem Schauder ergriffen, hatte er sich eilends wieder heraufgewunden, als habe der Afrîd ihn mit seinem lichtfeindlichen Blick gestreift, der erdfarbene Afrîd, der in jedem Brunnen seine Zuflucht sucht und zur Nachtzeit bei Sternenglanz wie ein unförmiger Klumpen auf der Achse des Rades hockt.

Und dein Gesicht, Daûd-ibn-Zabal, du kleiner harmloser Teufel? Es war rund; die Nase war sanft gebogen und der Mund, mit breiten, gummiartigen Lippen, stets ein wenig offen ... Die becherähnliche Unterlippe trat schlaff hervor, da die obere Lippe dadurch, daß er die Nüstern krauste, in die Höhe ging und schlohweiße Schneidezähne, wie ein kleines Blinklicht unverwüstlichen Appetits, entblößte. Eine senkrechte Falte teilte die wie poliert glänzende Kinderstirn, und ein sachter Faltenkranz stellte sich um die Augen, die hinter gebogenen Wimpern schwarz blitzten wie versteckte Schätze. Viele Fliegen von der kleinsten Art rannten in den Augengruben umher; und nur ab und zu wischte der schmale Handrücken sie gleichmütig fort. Diese verdrießliche Mimik zeigte Daûd, wenn sein Kopf in der Sonne lag ... Es ist dies die Maske aller Leute, die viel im Freien sind, und deren Gesichtsfeld eitel flammende Sonne ist. Mit frühen Jahren wird ein solches Gesicht alt, und die Falten ätzen sich ein, auch in schattiger Muße; es ist ein böses Ding um diese Falten; sie machen eine arbeitsmüde Fratze aus einem sorglosen Mund, einer ehemals glatten Stirn; sie kriechen auch unter das Kinn und zerreißen die Halshaut älterer Leute in rauhe Wampen wie die der Stiere: sie machen mißtrauische Mienen und verkehren offene Blicke in Ritzen, aus denen Hinterlist blitzt. Aber Daûd war noch sehr jung; und wenn er das Antlitz in den Schatten tat und schlummerte, so entspannten sich seine Züge und wurden weich und kindlich. Er schnob dabei in die eine Achselhöhle hinein, über der sein träger Kopf ruhte, und die Fransen seiner Wimpern bebten tiefschwarz auf dem Elfenbein seiner Wange. Das Amulett, das an der abgezirkelten Haarhecke über seiner Stirne hing, rührte sich leicht im Sommerwind.

Er lag jetzt wieder so zusammengekrümmt, daß seine eine Fußsohle in der Handfläche des freien Armes ruhte. – –

Die Sonne glitt langsam ihren absteigenden Pfad. Grillendurchschrillte Stunden, hitzeschwanger, wandelten vorüber wie Frauen, die lechzende Tonkrüge auf starren Häuptern zu dem Brunnen tragen, aus dem sie eitel Stille schöpfen. Der Weizen wurde an den Spitzen der noch ungespaltenen Fruchtwiegen traumhaft zart bewegt ... Ein wabernder Schleier wie aus feinstem Wasserdunst lag auf den tiefgrünen Strecken; und die Memnonskolosse, umzittert von Hitze, flimmerten in ihren ragenden Konturen am Rand des Gesichtsfelds, kaum erkennbar auf dem ockergelben Hintergrund der ruhig hingelagerten Hügel. Das ganze Tal dampfte von trockener Hitze und verstohlener Fruchtbarkeit, die ihr unerschöpfliches Leben aus den Tiefen des hartgesprungenen Schlammes saugte. Unter regungslosen Palmbeständen, grau und geduckt, wie Zufluchten lichtscheuer Tiere, lagen die Dörfer Naga-el-Kôm und el-Bairat, und westlich, wie Abfälle der Hügel, die zerfallenen Quadermassen der Tempel von Kurna und Medînet-Habu. Der Nil, der wie eine schweratmende riesige Schlange satt in der Sonne lag, schleppte seine graugrüne Wassermenge unmerkbar dahin, überblinkt von der hellen Strandhäuserreihe Luksors. Die Stille war zeitlos; die Luft gleichsam gebändigt von der unverrückbaren Zeit, die wie mit Steinquadern auf ihr lastete; und der Himmel schwelte in weißlicher Farbe gleich flüssig siedendem Metall.

Und an den schlummernden Daûd traten allerlei Traumgeister heran, die von allen Seiten aus dem Weizenfeld auftauchten und es mit ruckweisem Schritt durchmaßen, bis sie mit erstarrtem Lächeln vor ihm standen und ihre verzückten Blicke über ihn spielen ließen, traumekstatisch heiter, Gebilde seines knabenhaften Geistes. Denn in dem schmalen, birnenförmigen Schädel Daûds hausten, ihm selbst unbewußt, Schemen, die zur passenden Stunde ein buntes Leben außerhalb der Wirklichkeit führten, Gestalt annahmen, Kleider trugen, Hände und Knie rührten und unendliche, murmelnde Reden führten, ohne Anfang und Ende, Grillensangreden, die nur Sinn hatten, wenn man ihnen nicht lauschte, sondern ihrem sanften bedeutungslosen Tonfall eigene Gedanken unterschob. Die Schemen kamen zutraulich und schmiegsam heran; sie setzten sich in dem gestampften Umkreis der Sakije nieder und trieben Mittagsphilosophie ... Manchmal war es ein Alter, manchmal waren es schmale Knaben, die mit hochgezogenen Brauen kreischenden Lärm um ein Nichts vollführten, manchmal Weiber, die aus schwarzer Abaja heraus mit schweren Silberspangen geschmückte Arme streckten und sich in die Haare gerieten, wobei ihre blautätowierten Kinne bebten wie die von Kindern, die an Fieber leiden.

Daûd hatte die Empfindung, daß heute ein besonderes Ding seinen Umgang halte, irgendeine Festesfreude, eine Trunkenheit, und daß man es ganz besonders gut mit ihm meine. Der das alles mit süßem Erschrecken empfand, war der träumende Daûd, das Seelchen in der irdischen Kapsel. Der Körper spürte nichts, er war nur da wie eine Weizengrane und hatte nichts mit dem allen zu tun, was die Seele sah ... Er besorgte nur seine behagliche Porenarbeit, sein brünstiges Aufschlucken aller Wärme; er streckte sich nur in unbewußter Sehnsucht und war ein Sinnbild wunschlosen Lebens. Doch was sah der innere Daûd? Das erste war, daß er seinen Vater erblickte, den alten Fellachen Zabal-abu-Dabbûs, und der Vater machte Feiertag, freute sich und johlte; und hinter ihm, wie eine Rotte toller Hunde, stürmten seine Freunde heran, Abu-Afra und Abu-Damûm, jeder ein frischblutendes Vierteil von einem jährigen Zicklein unter dem Arm.

Sie sprangen zu dritt in Hechtsprüngen geradeswegs auf Daûd zu; sie sprangen über den Weizen, daß es eine Art hatte, und waren um zwanzig Jahre verjüngt, was den Knaben nur flüchtig erstaunte. Und als sie vor Daûd standen, sagte Zabal: »Friede über dir, mein Sohn, verlaß die Sakije und komm mit; wir gehen zu Umm-Dabbûs, deiner Mutter, und machen miteinander eine große Schmauserei!« – Daûd war einverstanden, denn es war ja sein jugendlicher Vater, der das sprach; doch zuerst wollte er mancherlei wissen. Er sagte: »Gott sei mit dir, mein Vater! Wo hast du das Zicklein ergattert?« Sprach Zabal: »Wir trafen einen Bauern auf dem Weg zu dem Dorfe Naga-el-Bairat, und da sprach ich zu ihm: ›,Beim Leben der Umm-Dabbûs, du Kuppler, wenn du heute mir, dem Schêsch des Dorfes, nicht Ehrerbietung erweisest, so sollst du in deinem Dasein nicht einmal mehr einen Hund in deiner Hütte schlachten!‹, Da schrie und heulte er, wir aber nahmen ihm das Zicklein, Gott ist groß! Wir sind ganz blutbespritzt, sieh uns an! Und wir werden eine Mahlzeit halten, eine herrliche Schmauserei, und was dich anlangt, so komm ohne Verzug, denn mich dauert es, daß du da sitzest und Fliegen fängst, anstatt mit deinem Vater und seinen Genossen vergnügt zu sein!« – Wahrhaftig, Daûds Vater hatte Ziegenblutspritzer auf den schlotternden Ärmeln seines halbseidenen, offenbar neuen Hemdes; doch achtete er dessen nicht, sondern tat sich mächtig hervor im Reden und Pläneschmieden – – oh, wie tüchtig und jung war er geworden! Die Falten seines sonst verdrossenen Antlitzes waren wie durch Zauberhauch getilgt; seine Gestalt war gestreckt wie die eines Fuchses, der in den Wind schnuppert, beutegierig und nach Erwerb guten Fraßes lüstern. Und nun kam er mit seinen Freunden, um seinen Sohn mit freundlichem Wort von der Fronarbeit zu befreien, wie trunken taumelte er heran, Honig auf der Zunge und Gesang im Herzen ... »Wen aber«, fragte Daûd, »lassen wir bei der Sakije zurück, Vater? Der Büffel feiert, wenn ich ihn nicht prügele!« »Allah!« schrie Zabal, »du hast einen Bruder! Ein kleines Trogschwein, gerade reif für den Acker!« Und siehe, nun tauchte Daûds älterer Bruder widerwillig aus dem Grün hervor.

Seine Mutter hatte sich in der Schwangerschaft an einem Affen versehen; vermutlich war es der Pavian von Port Sudân gewesen, mit dem ziegelroten Gesäß und dem erbsfarbenen Haarmantel, den der alte Nubier Einêgil auf der Landstraße vor den Fremden tanzen ließ. Dieser Bruder Daûds hieß Dabbûs, »Stecknadel«, weil er so klein und erbärmlich war, daß ein rechter Mann ihn mit Fug übersah. Er hatte ungelenke, magere Gliedmaßen; seine Knie glichen dicken Knoten; sein Rückgrat war wie ein Fragezeichen gekrümmt, und sein Kopf gemahnte an den eines Greises oder kaum geborenen Kindes, mit überladendem Hinterkopf und flacher Stirn, breiten, nacktstehenden, zugespitzten Ohrmuscheln (an denen er, als Erstgeborener, einen kleinen silbernen Halbmond trug) und beweglichem Mund, der an eine Schnauze gemahnte und stets in Bewegung war. Sein eines Auge war erloschen; es rollte aber um die Wette mit dem ihm nahe benachbarten zweiten, das schlau und scharf war, schier stechend, und nichts Eßbares außer acht ließ. Das war Dabbûs. Er war zehn Jahre alt und der erklärte Sklave aller Welt.

Dabbûs kletterte jetzt wie eine Spinne auf den Balken, und Daûd sprang herab mit einem seligen Schrei. Er schwebte wie eine Taubendaune in der Luft und im Blau ... Und unter sich, tief und doch deutlich, sah er seinen Vater mit den Genossen weiterrennen. Zabal trug einen Tarbusch, den er mit einem seidenen Tuch umwickelt hatte, und die Fransen dieses Tuches umspielten seinen Nacken wie eine flatternde Fahne. Ja, wenn nicht alles täuschte, so ward Zabal mit jedem Sprung, den er tat, jünger und reicher; er schwang einen dicken Stock, und das Zickleinviertel unter seinem Arm leuchtete rosig herauf. Auf einmal war Daûd ihm dicht auf den Fersen und lief auf plattem Boden, so daß von seinen klatschenden Sohlen der Staub in die Höhe fuhr. Hinter ihnen, durch den Fleischgeruch gelockt, sprangen jappende Hunde, kurzbeinige gelbe Hunde, die knurrten und vor Eifersucht aufeinander winselten ... Da hieß es rennen, und das war kein Kunststück, denn im Traum hat man mehr Sprungfedern in den Gelenken als in der schleichenden Wirklichkeit.

Daûd folgte also fröhlich den sechs roten, gelbbesohlten Schuhen, die vor ihm dahinwirbelten, bis er auf einmal Schatten um sich spürte, aus dem der warme Geruch seines heimatlichen Dorfes wehte. Alles um ihn herum schien sich verändert zu haben, in einem fremden, verschönernden Licht zu ruhn; die Gassen lagen feiertäglich still; Sonnenlicht schwamm funkelnd über dem aufgestapelten Durrahstroh der Dächer, auf denen farbige Hähne stolzierten und emsig krähten, so daß die Luft sich von ihrem Getöse erfüllte ... Die Dorfbewohner hockten, Wasserpfeifen mit Kokusbehältern schmauchend, zufrieden schwatzend unter dem großen Fikusbaum, unter dem blassen Schatten der gelbbraunen Luftwurzeln; von den Kronen der Palmen, die steil und träumend in den Höfen standen, hingen die Datteln klumpenweise, und kleine braune Tauben gurrten und zankten sich in weichen Lauten, auf und nieder trippelnd, auf den Nilschlammfirsten.

Die Männer hatten jetzt das Laufen aufgegeben und schritten ohne ein Zeichen der Ermüdung würdig dahin wie drei Schêschs, die sich getroffen haben und selbander zu Markte gehen. Ihre baumwollenen Mäntel blähten sich; sie setzten ihre Stöcke stramm und selbstbewußt auf den Boden –: heut war ein großer Festtag! Daûd hatte seinen Vater noch nie in so fürstlicher Verfassung gesehen. Bisweilen wandte sich der Vater um und sah ihn zwinkernd an: »Hehe, was, Daûd, das ist nicht ein Tag wie die vielen anderen!« Dann langten sie bei der Hütte an und traten jauchzend ein. Zabal warf seinen Stock in die Ecke und klatschte in die Hände, deren Teller ganz rot von Henna waren. Und siehe: nun steckte Umm-Dabbûs ihren Kopf durch das Mauerloch herein.

Auch sie schien jünger zu sein als sonst ... Sie hatte neben der Eselskrippe gesessen und Dungkuchen gemacht; nun war sie müßig und auf das Wohl der Männer bedacht. Zabal also hob seinen Wollrock und seine halbseidene Kelabije bis zu den Knien und stieg behende durch das Loch im Lehm zu ihr herein; und seine Freunde stießen sich abwechselnd an der Luke und lachten spitzbübisch und lärmend. Dort drinnen sang Zabal ganz hoch und leise; plötzlich brach er ab und kam zurück, mit zerzaustem Backenbart und ausgelassen wie ein junges Kalb. Auch Umm-Dabbûs verbarg ihre Heiterkeit nicht; ihr gestreiftes Leinenhemd hing halbgeöffnet herab; ihre schieferfarbenen Brüste drängten sich kameradschaftlich, mit blauen Ornamenten geziert, aus dem Saum hervor, und ihr Mund war weit gespalten von festlicher Zufriedenheit. Nachdem sie ihre Hände vom Kamelmist gereinigt, fuhr sie schmeichelnd über die Gesichter, und dabei auch über das Daûds; und während sie hin und her ging, klirrte der verzinnte Kupferschmuck an ihren Hand- und Fußgelenken; leise und verführerisch klirrte er, mit zartem Metallton ... Und als sie sich über das mitgebrachte Fleisch und die Eingeweide beugte, um sie zu kochen, traf ein Sonnenblitz durch das Dach ihren kreisförmigen Ohrzierat und entlockte ihm eine gelbe Flamme, die klein und gleißend aufzüngelte, sooft sie den Nacken drehte.

Da schrie Zabal in die lärmende Lustigkeit der Männer hinein: »Bei Gott, Umm-Dabbûs, ich will eine Kasîde singen, einen großen Gesang; deine Ohrringe fordern dazu heraus, denn sie beschimpfen die Leute!« Umm-Dabbûs warf ihm ihren bersimgefärbten Pantoffel an den Kopf und sprach: »Eine Kasîde? O Zabal, sie wird dem Kleiewasser ähneln; denn deine Verse sollten mit Eselsurin an die Kirchenmauern geschrieben werden.« »O du Hündin,« erwiderte der Vater, »horche zu! Der Flötenspieler verbirgt seinen Kinnbart nicht, weshalb soll ich meine Kunst nicht leuchten lassen? Ein beredter Mann baut sein Gedicht aus Perlen; und ich bin wahrlich darin erfahren.« Da lachte sie mit ihrer Kehlstimme recht herzhaft auf und sprach: »O Zabal, heute spreizest du dich wie ein Gemeindewidder; von wannen sollte dir solches Wissen kommen? Sonst denkst du an nichts als an Knüppel und Prügel, an Kleinvieh und Schöpfwerk, an Schlamm und Mistschlepperei, du trägst das Pflugholz hinter dem Nacken, wenn du dich auch als Schêsch gebärdest ... Ihr seid hohle Köpfe und geile Wänste, du samt deinen Genossen. Morgen schüttelst du wieder die Läuse aus deinem Hemd und deinem alten Fasergürtel und rennst mit wirrer Tarbuschtroddel barfuß durch Hitze und Dornen – – – Und du willst eine Kasîde dichten?«

Da warf sich Zabal in die Brust und sprach: »Beim Leben meines Bartes, das will ich. Horche zu, du, deren Liebesgetändel im Ofenqualm den Sprüngen der Affen ähnelt!« Die Freunde fielen fast auf den Rücken, so lachten sie über das Zwiegespräch. Und Zabal begann seinen Gesang.

Es wurde ganz still in der Hütte. Umm-Dabbûs ließ das Fleisch weiterbrodeln und setzte sich mit gekreuzten Beinen lautlos hin, ganz verblüfft und entzückt. Denn nachdem Zabal mit der Zunge tremoliert hatte, als ziehe er zuvörderst mit bebender Hand den Bogen über das Seitenpaar einer Hochzeitsvioline, sang er mit volltönender Stimme wie ein bezahlter Vortragsmeister eine Kasîde, so traumschön, so reich an Bildern und galanten Wendungen, daß Daûd den Mund noch weiter öffnete und ganz schwachatmendes Gehör wurde, und daß die älteren Männer vor Vergnügen mit den Stöcken auf den Boden schlugen, sobald der Refrain wiederkehrte, den Zabal in zitternder Höhenlage und mit geschlossenen Augen zum Dach emporschickte.

»He, du mit dem Schmuck in den Ohren,
Du handelst mit Rosen nach Pfunden!
Wie herrlich hockst du im Mist!
Ich bin Zabal-ibn-Dakka,
Ein Dichter bin ich und Dorf-Schêsch.

He, du mit dem Schmuck in den Ohren,
Du handelst mit Rosen nach Pfunden!
Zichorie wollen wir schmausen;
In Leinöl gebratene Eier;
Ich gebe dir Bündel von Lattich;
Und Buttermilch, lecker in Näpfen.

He, du mit dem Schmuck in den Ohren,
Du handelst mit Rosen nach Pfunden!
Ich bringe dir Ful, frisch gebrochen,
Und Suppe und Bohnen mit Bîsâr;
Wir setzen uns neben die Krippe,
Du drehst dich und tanzest im Staube.

Und nun als Siegel der Rede: –
He, du mit dem Schmuck in den Ohren!
Schick ein Gebet zum Propheten,
Dem Mittler unsrer und aller!
Du handelst mit Rosen nach Pfunden:
Ich flöte zum Dank meine Verse!«

Als Zabal abbrach, war es noch eine Weile still; dann wiegten alle Zuhörer die Köpfe und sprachen inbrünstig: »Allah! Allah!« – – – Umm-Dabbûs vollends war so befriedigt, daß ihr die Handmühle, die sie auf dem Kopfe trug, herunterfiel; dann sprach sie: »Ich tat dir unrecht, Zabal, damit, daß ich dich einen Stümper nannte.«

»Sing sie noch einmal, die Kasîde, o Zabal!« meinten die beiden Freunde und strählten mit den Fingern ihre schwarzen Bärte. »Sie ist herrlich, deine Kasîde!«

»Was hat Gott nicht gegeben!« erwiderte Zabal recht geschmeichelt. »Wohlan denn!« und er sang sein Lied noch einmal, und diesmal mit obszönen Floskeln, die so drastisch waren, daß alle vor Vergnügen schrien. Mit der Zeit hatte sich der Hütteneingang verdunkelt. Die Leute aus dem Dorfe waren erschienen, eben die Gesellschaft unter dem Fikusbaum; die Kasîde war gedämpft zu ihnen herübergeklungen und hatte ihre Neugierde erregt. Nun kamen sie mit ihren Pfeifen, mit Sack und Pack, mit ihren zerlumpten Kindern und breithüftigen Weibern heran und warfen entzückte Blicke durch die Tür.

»Friede über euch!« schrie, sehr aufgeräumt, Zabal. »Kommt herein, wir haben eine große Schmauserei!«

»Hast du Geld, Zabal?« flüsterte Umm-Dabbûs. »Das Gewürz ist deine Sache.«

»Beim Leben deiner Gestalt! Ich bin mittellos.«

»Ich will dir helfen,« sprach Umm-Dabbûs, »weil du die Kasîde sangst. Im Hühnerstall findest du Geld. Nimm einige Doppelpiaster und hole Myrte, Kirschsteine und Minze. Und, um ein übriges zu tun, hole auch Safran, damit du die Kleider deiner Kinder färben kannst; dann sind sie wie Prinzen unter den Kindern des Dorfes. Und wenn du Dabbûs bei der Sakije triffst, so hole auch ihn, damit er seinen Anteil habe!« – – – Daûds, des Knaben, Augen brannten in ihren Höhlen: Geld! Er sah die Silberlinge durch die Wände leuchten; er sah ihren milden Glanz im Hühnerkot, einen stummen Segen, einen versteckten Wert: einen Reichtum!! Er holte sein schmutziges Hemd aus der Ecke und stellte sich vor, wie es ihm stehen würde, wenn man es mit Safran färbe ... Herrlich würde es ihm stehen, er würde nie mehr auf der Sakije reiten, sondern damit umherstolzieren, mitten in der Sonne! Und er würde Neid erregen! Die süße Erwartung rann ihm durch die Glieder; doch dann dachte er, daß Dabbûs, der kleine Affe, ähnlich gelb herumlaufen würde, ähnlich geschmückt; und eine böse Brauenfalte verfinsterte seinen Blick.

Zabal war verschwunden. Und es war inzwischen keineswegs Abend geworden, sondern es blieb hell wie immer: ein ewiger Traumtag funkelte draußen. Und nun erhob sich ein wüstes Geplärr: viele Hände fuhren gierig in die Fleischbrühe, in die Eingeweide, die dampfenden Saubohnen und den Haferzuber hinein; und Umm-Dabbûs saß mitten darunter, schmatzend und feist, mit glatter Haut und drallen Knien, und hieb die allzu unverschämten Schmauser mit einem handfesten Knüppel über den Kopf. Und Daûd selbst schmauste und balgte sich um das Beste. Er war selig, selig und ganz ohne Wunsch – – –

Als Daûd erwachte, war eine unstillbare Sehnsucht nach den Doppelpiastern und nach dem gelben Hemd in ihm zurückgeblieben. Wohl möglich, daß diese Dinge schon lange verstohlen in seiner Brust ihr Wesen getrieben hatten; jetzt standen sie als lockendes, unerreichbares Ziel vor ihm; und während er die Augen auftat, seufzte er schwach auf und wälzte sich von dem Balken herab. Eine Weile noch stand er verkniffenen Blickes da, um sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, und dann prügelte er den Büffel, der wiederkäuend vor ihm lag. Der Büffel hob sich ruckweise und mühsam in die Höhe und begann unter hilflosem Grunzen seinen Frongang wieder abzuschreiten. Die Sakije nahm einen Anlauf; dann fand sie ihre Melodie und sang ihr fatalistisch leierndes Lied, gleichmütig, so, als ob sie nie geschwiegen habe.

Der Abend war da. Die Farbe der Hügel spielte in ein dämmerndes Rostbraun herüber. Der Himmel dunkelte in finsteren Veilchentönen; hellgelbe Flammen loderten noch an den Rändern der Welt; dann wuchs mit ungeheurem Leuchten ein tieforangefarbener Rauch im Westen heran und schluckte, von innen heraus rot erglühend, den violetten Schimmer. Tiefes Urblau machte sich breit, Sterne drangen heran, zu Dutzenden zunächst, dann heerweise, bis die ganze kristallne Glocke mild erschimmerte. Dies alles dauerte kaum die Zeit, da man eine mittlere Sure spricht; dann wurde das Niltal schwarz: und Daûd, der, die Hände unter dem Kopf verschränkt, betrachtend dagelegen war, sah die Silhouetten seiner Eltern näher kommen. Sie hatten die Feldarbeit beendet und stießen mit der Hacke ein jammerndes Tier vor sich her, ein Geschöpf, das, sobald es sich befreit aufreckte, menschliche Maße zeigte; Dabbûs, die »Stecknadel«, den Sklaven aller Welt.

Drüben auf der anderen Seite des Stromes, zeigte sich jetzt die blendende Laternenreihe der Strandpromenade und der hufeisenförmige Lichterkranz der großen Hotelterrasse. An das Drüben dachte Daûd für gewöhnlich nicht viel; heute jedoch, da sein träumender Kopf voller Piaster und prunkhafter Kleider war, stellte er sich die weißen Fremden vor, die verachtungswürdigen, ruhmredigen Fremden, die, wie man ihm berichtet hatte, im Golde wühlen und sich von allen Seiten herrlich beleuchten lassen, wenn sie essen und trinken. Oder die sich mit ihren Frauen (was vollends albern war) herumdrehten, bis sie schwitzten, und dann mit roten Gesichtern pfefferhaltiges Wasser tranken, um stark zu werden – – – das hatte man ihm erzählt! Das wußten die Bootsleute ganz genau, und sie belegten es mit den lärmendsten Eidschwüren! Daûd kicherte in sich hinein.

Dann schloß er sich den Eltern an, vermied es, in ihre griesgrämigen Züge zu blicken und vergaß wieder alles über seinem herrlichen Traum, der ihn wie ein paradiesisches Geheimnis beschäftigte. Er fand ein halb zerkautes Zuckerrohr und saugte, während er heimwärts trabte, die letzte Süßigkeit heraus.


In der Mitte der Nacht wachte er plötzlich auf. Eine unbestimmte Beklemmung hatte ihn geweckt. Und plötzlich war die Erinnerung an seinen Nachmittagstraum wieder da. So, als sei er irgendwo zu Besuch gewesen, doch als habe er gänzlich vergessen, wo. Es war ganz still; draußen ging ein Flüstern um. Seine Eltern lagen wie ein schwarzer Klumpen auf einer Ziegenhaardecke. Neben ihnen, im schwachen Sternlicht, lag Dabbûs, die Nase zwischen den hochgezogenen Knien. Und der junge Daûd hielt eine blinzelnde Augenzwiesprache mit seiner Umgebung, vielleicht durch die Dauer einer halben Stunde; er horchte auf das Pfeifen der Fledermäuse, sah, wie durch die Luke, die die gespaltenen Palmstämme im Dache freiließen, ein Ziegenmelker hin und her strich, und vernahm das sachte Trappeln eines Fuchses, der draußen einsam durch die Gassen trabte.

Und nun beschloß er etwas. Dieser rare Vorgang entwickelte sich in seinem Hirn, ohne daß er mit jemand gesprochen hätte. Das persönliche Ich riß sozusagen seine letzten Keimhüllen durch: ein höchst belangloses, embryonales Ich noch, aber trotzdem eines, das selbständig wurde, sich herausschälte, Eigennutz zeigte, verschmitzte Gedankenfolgen produzierte; kurz, es war die erste Kopftat des kleinen Daûd, und sie beschäftigte ihn seltsam gründlich. Und am Schluß stand das Resultat vor ihm, die formgewordene Idee. Und diese Idee hatte ein gelbes Hemd an, war in Begleitung eines weißen Esels und klimperte mit vielem Silbergeld; und im Hintergrund, schattenhaft, drängten sich viele Inglîz, weiße Gestalten, die alle von dem Wunsch beseelt waren, auf diesem Esel zu reiten, und jede Summe dafür boten.

Er stand leise auf, warf sein schmutziges Hemd um, widerstand der Versuchung, Dabbûs zum Abschied einen Fußtritt zu geben, und ging hinaus. Noch flimmerten die Sterne groß in der schwarzen Bläue. Ein verfrühter Hahn krähte mit unsicherer Stimme. Daûd ging über die Felder, unfern seiner Sakije vorbei, mit deren Bestallung er in Gedanken endgültig seinen Bruder bedachte, und lenkte seinen Schritt dem Nilufer zu, schlafende Wachtelvölker aufstörend. Er schritt auf den Resten der alten Seeumwallung von Birket-Hadu herüber, an der pompös entbreiteten Lebbachakazie vorbei, streifte mit einem milden Blick die schwach beglänzte Landschaft und ging einsam und glücklich über den zersprungenen Nilschlamm durch die kalte Nacht ohne Tau einer freudevollen Zukunft entgegen.

Am Nil angelangt, entledigte er sich, wiewohl er herzhaft fror, seines Hemdes und tänzelte, mit erleichtertem Gewicht, auf den Zehen etwa bis zu einem Viertel der Strombreite. Dann hielt er das Hemd als Bündel mit der Hand über den Kopf und schwamm wie ein Otter auf die andere Seite hinüber. Er erreichte die Lehmböschung, wo die Segelknechte und Steuerer der Dahabijen und Giasen schliefen; und dann trocknete er sich schaudernd ab. Die Strandstraße lag noch totenstill; zuweilen zog brummend ein großer Mistkäfer seines Weges.

Daûd, den die Kälte seines Körpers am Schlafen hinderte, hockte sich an eine Mauer, das Gesicht mit offenen Augen auf die Arme gelegt. Ein nubischer Polizist ging, leise vor sich hinsingend, dicht an ihm vorbei. In der Nacht schläft halb Luksor im Freien; in jedem Winkel atmet ein Schläfer. Das große Hotel lag weißleuchtend da und öffnete seinen Treppenaufgang wie eine riesige Schere. Die ausgehängten Teppiche vor den Krämerbuden regten sich leise im Nachtwind, und der Große Tempel lag dräuend und schwarz. Das Minarett der Moschee Abu'l-Haggâg stieg schlank und zierlich aus seiner plumpen Masse hervor wie der Schaft einer Zierpflanze.

Daûd sah den Morgen erwachen; köstlich war er wie jeder im frühen Jahr. Ein leichter Wind fuhr als Vorläufer der Helle mit einem stetigen, kaum veränderlichen Sausen über die Promenade. Der Himmel ward stumpfer, da die Sterne ins Nichts zurücktraten ... Nur über der einzelnen Palme, die rechts von Daûd aus dem Garten ragte, hing als funkelnde Träne noch der Stern, der am spätesten scheidet. Dann ging über den Himmel ein sachtes Erbleichen, ein süßes Entfärben; die Tinten der Nacht klärten sich zu einem blassen Blau, das königlich an Reich gewann; aus noch unsichtbarer Quelle sog es trunken sein stilles Licht, und der Hügelkranz des Horizontes errötete sacht, bis er zuletzt in einem grellen Gelbrot plastisch erglühte. Ein Leuchten begann allerorten; reinste Farben tauchten auf, wie durch Zauberhauch geweckt. Und als die stille Seligkeit des sich gebärenden Tages ein Ende hatte, als die Sonne, noch durch schwache Flußnebel ihrer Wirkung beraubt, über dem Kamm der Wüste loderte, regte sich das Leben langsam und mit Muße. Es tat das Dunkel aus den schlafblinden Augen ... Und dann, plötzlich, war es da, hungrig und bebend wie ein aufgescheuchtes Tier.

Diese Unruhe der Frühe ergriff auch Daûd. Eine nicht abzuschüttelnde, wachsende Befangenheit nahm jetzt von ihm Besitz, als er mit noch nachttrunkenem Kopf das Leben auf der Strandstraße erwachen sah. Es war nicht häufig, daß er sich freiwillig und ohne bestimmten Zweck nach Luksor begab ... Er hatte immer Genossen gefunden, mit denen er sich gebalgt, und immer einen kleinen Spektakel zum Gaffen ergattert; in den Magazinen kannte er die Angestellten, und an den Eingängen der Hotels saßen seine Freunde, die Bauwabs; er kannte sie gut; sie waren voll höheren Wissens, trugen Prachtgewänder und hatten ihren vertrackten Spaß an ihm. Heute jedoch, da sein Herz ihn fragte: Warum bist du gekommen, Daûd? Willst du stehlen? Hast du ein Schlachtkalb zum Fleischer zu treiben? Wo ist die Ziege mit verknüpften Vorderfüßen, die dir dein Vater zum Verkauf anvertraute? Hast du es auf die dicke Frau abgesehen, die den kurzen gelben Rock und den Hutschleier trägt – eben die, die neulich so beschwerlich auf das Kamel und so plötzlich wieder heruntergelangte? Und willst du sie wieder verspotten und so heftiges Entzücken bezeigen, daß du dich auf dem Boden wälzest und sogar die Treiber zu unbotmäßigem Grinsen reizest, während sie ihr wieder auf die Füße helfen?

Heute, da sein Herz ihn dies alles fragte, mußte Daûd erwidern: Nein, nicht dieser Dinge halber bin ich heute da. Weshalb aber bin ich da? – Ich will Geld verdienen und ein gelbes Hemd erwerben. Auch will ich mir Zuckerwerk kaufen und eitel Halbabrot essen, um stark zu werden. Ich will nicht mehr auf der Sakije sitzen. Es ist hübscher hier. Ich will viel herumhorchen, einen Esel mieten, die Sprache der Inglîz sprechen und ihnen viele Piaster aus der Tasche fischen. Denn wenn ich auch noch dumm und klein bin, so weiß ich doch, daß diese Teufel nichts anderes verdienen, als derb geprellt zu werden.

Aber auf welche Weise sollte er nun seinen Vorsatz ins Werk setzen? Ja, wie, um alles in der Welt, sollte er das machen? – Er überlegte mit gekrauster Stirn, und auf einmal überkam ihn eine rechte Ratlosigkeit, so daß er sich in den Staub warf, zu schreien anhub und mit den Beinen um sich schlug.

Da ertönte hart an seinem Ohr eine blecherne, knarrende Stimme: »O du Sohn von sechzig Hunden; entfleuche flugs; was soll dein Geschrei? – Siehe, du hast mein Gebet mit deinem Atem zerschrien und ungültig gemacht; und nun muß ich von vorn beginnen; Schande über dich und dein Geschlecht!« – Daûd blickte verblüfft auf, da sah er den Kaufmann, dem der nächste Laden gehörte, einen Juwelier und Altertumshausierer, mit zornwetternder Miene vor sich stehen. Sein olivfarbenes, ledernes Gesicht zeigte tiefe Falten der Kränkung; sein schwarzer Schnurrbart zuckte. Daûd erhielt noch einen derben Tritt von einem Saffianpantoffel an die Schulter; dann stand er eilends auf und schlich davon. Er sah noch, wie der Kaufmann in den Laden zurückkehrte, sich auf die Knie niederließ und, leise mit den Lippen bebend, die Hände gespreizt an die Schläfen hob. Daûd bog hinter den Großen Tempel ein und gelangte auf einen kleineren, freien Platz, auf den die Straße El-Mahatta mündet. So vielfach das Leben sich auch schon rührte, er empfand doch, daß in dem Hin und Wider des entfesselten Verkehrs plötzlich eine leise Dämpfung entstand. Jetzt ward es ihm bewußt: eine Stimme, die, an keinen Ort gebunden, scheinbar ursprungslos über ihn dahinwanderte... Eine Stimme, dem hellen Blau entquellend, entrückt und doch körperlich spürbar. Und diese Stimme traf ihn wie eine Lähmung, wiewohl er wußte, was sie rief.

Sie kam von dem frisch gekalkten Minarett der Moschee El-Alabi; und das Minarett leuchtete mit seiner Tropfsteinplastik unter dem Rundgesims weiß im Morgenblau. Über das niedrige Geländer beugte sich ein Kopf, hoben sich schwarze Ärmel, aus denen gespreizte Finger stiegen. So klein, so zierlich sah das aus wie ein Spielzeug, und doch war die Stimme groß und deutlich und flog wie ein feierlicher Vogel über den Platz.

Sie kam herunter mit einem schrillen Unterton und zog wie eine Welle in die Runde... Zuweilen überbot sie sich selbst, ekstatisch überspannt, und starb in einem heiser verzückten Laut dahin, um plötzlich wieder aus dem Dunkel tiefen Klanges und gereinigt zu erwachen, eine ansteigende Beteuerung ruckweise herausschleudernd, bis sie sich wieder tremolierend in atemloser Höhe wiegte. Das ist der Gesang des Muezzin; keiner gleicht ihm. Er singt:

»Gott ist sehr groß!
Ich bekenne, daß Gott
Der Gott ist!
Ich bekenne,
daß Mohammed der Prophet Gottes ist!
Kommt zum Gebet!
Kommt zum Heil!
Gott ist sehr groß!«

Er singt manche der Sätze dreimal mit aller Inbrunst einer fanatischen Erkenntnis. Er ist das Instrument, dessen der Höchste sich gleich einer Posaune bedient. Der Höchste schuf diese Stimme, diesen melodischen Aufschrei zu sich selbst und tat ihn in ein unvollkommenes Gefäß; bewahrt ihn darin; und so ist denn die Stimme die ganze Seele des Muezzins, denn er denkt nicht dabei. Es singt aus ihm. Sein Leben ist ein tierisches; es gehört der Nacht an. Er ist blind.

Die verschrumpften Augenlider sind tief zurückgesunken. Leere Höhlen gähnen in das wundervolle Blau. Er bläht den Hals und wirft den Hinterkopf erhaben und eitel zurück; sein scharfes Profil steigt auf und nieder; sein Gesicht wiegt sich leise zum Beben der offenen Hände. Die Arme, im Ellbogen senkrecht abgeknickt, schweben breit im Licht, im Glanz, als wollten sie ihn einraffen wie die Arme der großen Menschenfischer, die je in diesen Bereichen hausten. Unter ihm sind offene Höfe: die Harems kehren ihr Innerstes zum Licht. Braune Frauen schwatzen halbnackt miteinander, wiegen unmündige Kinder oder liegen noch wie schwarze Bündel in nächtlicher Erschlaffung da. Ein leises, silbernes Gemurmel strömt aus dieser Welt, die von der äußeren streng geschieden ist. Könnte er sehen, der Muezzin, so sähe er viel, so würde eine Flamme von sinnlichen Begierden ihn von unten her umzüngeln, ihn stammeln machen und ihm die Andacht zu Gott aus dem Kopfe treiben. Er würde in manchen eifersüchtig behüteten Schrein seinen gierigen Bettlerblick schlüpfen lassen. Er würde in Gedanken die drei Gebetszeiten des Tages besudeln und verstohlene Völlerei treiben; und aus seinem leeren Inneren würde der Anruf nicht mehr kristallen rein emporfahren, sondern würdelos und schluchzend wie Eselsgeschrei.

Solange der Mensch dort oben sang, hörte Daûd ihm zu. Er hatte sich mitten auf den Platz gesetzt, in fromm meditierender Stellung. Er verstand den Sinn des Gesanges nicht; es war mehr der Klang, der ihn reizte, und der ihm vertraut war wie der Sang der Sakije. Und Daûd erinnerte sich, daß seine Altersgenossen, sogar die dümmsten unter ihnen, schon rechte Moslems waren und bereits etliche Suren beherrschten, wenn sie auch keine Riten kannten und nichts weniger als beteten. In einer dunklen Anwandlung von Schicklichkeitsgefühl zog er das Hemd, das er bis jetzt als formlosen Ballast mit sich geschleppt, manierlich über den Kopf, und dann beschäftigte er sich wieder mit seinem noch recht gestaltlosen Vorsatz ... Seine Genossen waren schon in ihrem sechsten Jahre in die Schule getrieben worden; sie waren ihm füglich überlegen, und hier stand er, war nichts, konnte nichts und fühlte einen Geschmack wie von Galle am Gaumen.

Doch lange war es ihm nicht vergönnt, also bittere Überlegung zu halten, denn der Platz begann sich zu beleben. Die eisernen Scharniere der sich öffnenden Ladentüren knirschten die ganze Straße El-Mahatta herab, so daß ein fröhliches Getöse entstand. Aus den kleinen Schankstuben kamen braune Burschen in gestreiften Hemden heraus und stürzten die Unrateimer über die Straße; die Sonne bebrütete das stinkende Rinnsal und schluckte es nach wenigen Minuten auf. Ein koptischer Priester ging über die Straße, eine große, hagere Gestalt, umwallt von teurer schwarzer Wolle, mit violettem Gürtel und konisch geformter Hauptbedeckung. Er war hell im Gesicht und trug einen schwarzen, runden Bart. Seine Hände, mit kräftigem Adernetz, rafften den Mantel von den gelben Stiefeln zurück, die er mit fast weibischer Vorsicht über jede Pfütze setzte. Ein Fleischer zerrte von einem Karren einen toten Hammel herab; vor seiner Auslage schaukelten an eisernen Haken blutige Vierteile mit weißleuchtendem Fett. Von jener Gegend kam ein erstes, rastloses Fliegensummen: der Mensch war nicht müßig, und das Ungeziefer tat es ihm gleich.

Während Daûd sich entschloß, einen einsameren Ort, womöglich an der Mauer, einzunehmen, ward er eines Esels gewahr, der ihn erstarren machte, denn diesen Esel kannte er bereits aus seinen Träumen. Der Esel trappelte mit einem Geräusch, als ob kleine Stahlhämmer auf den noch nachtkühlen Asphalt fielen, quer über den Platz; er war schneeweiß, etwas größer als die anderen, die Daûd bis jetzt gesehen und in jeder Beziehung ein gehätscheltes Prachtstück. Er stammte offenbar aus Nubien, aus der Gegend von Halfa, denn dort ist die Urwiege aller Rasseesel. Er trabte so stramm dahin, daß es eine Freude war; er bockte leicht mit den Hinterbeinen, und der kalte, graue Fremde, der auf ihm saß (– mit dem schwarzen Augenschutz, der ihm das Ansehen einer Eule gab –), dieser klammerte sich an ihn, wie sich ein böser Geist um eine reine Seele klammert, die entfliehen will. Von dem bunten Samtsattel, nach dem Daûd in aller Eile spähte, sah er nichts als einen lockenden Schimmer, da der Fremde so eifrig auf und nieder flog, daß er in jeder Sekunde einen anderen Teil des Sitzes den Blicken entzog. Dagegen hatte Daûd ein Zaumzeug wahrgenommen, das ihn märchenhaft kostbar dünkte. Hinter dem Esel, mit einem Treiberschrei, der mehr einem Jauchzen glich, kam ein gutgenährter, humoristischer Knabe geflogen, älter als Daûd, mit einem gestickten Baumwollkäppchen und flatterndem, funkelnd blauem Hemd; offenbar einer, der bereits in Piastern wühlen durfte. Der Junge tanzte mit einer Gerte hinterdrein – – – ach, das Leben ist eine Lust! Dann war auf einmal das Zauberbild verschwunden, und Daûd, die Augen aufgerissen, fand sich schwer in diese Welt zurück.

Doch war dies der letzte Anstoß für ihn gewesen, etwas für sich zu unternehmen, und er stand auf und ging die Mauer entlang. Nach einer Weile fand er eine Tür. Er trat in einen gestampften Hof und hörte ein eintöniges Gemurmel. Er befand sich vor einem rechteckigen, niederen Gebäude aus Nilerde, das von gespaltenen Palmstämmen und darübergelegten Palmblattmatten bedeckt war. Unter den Zipfeln der Matten, die zerfasert auf den Seiten herunterhingen, waren zwei löcherartige Fenster: aus diesen Öffnungen drang das lockende Gemurmel. Und instinktiv erfaßte der zögernde Daûd, daß für ihn zunächst dies der Ort sei, wo er aus der Quelle des Wissens schöpfen werde.

Der Eingang zu dem Gebäude war auf der anderen Seite; so ging denn Daûd mit einem Gemisch von Ehrfurcht und Entschlossenheit um die Ecke und stand plötzlich vor einem dämmrigen Raum, in den zwei blendende Lichtbüschel fielen. Gleich darauf unterschied er einen älteren Mann mit einem kurzen Vollbart, der sich über ein Buch neigte. Er überragte einen Kranz von Knaben, die auf kleinen Palmstengelpulten oder in den Händen verzinkte Platten von Eisenblech hielten, auf denen viel Tinte glänzte. Diese Knaben nun beugten sich rhtythmisch in den Hüften und rezitierten mit krausen Stirnen in melodischer Wortfolge eine Lobpreisung Allahs. Nach jedem Satz fuhr die Stimme des Lehrers dunkel hinterdrein.

Das Geleier ertönte noch etwa eine Minute, auf und ab schwellend, müde wie der Grillengesang in Daûds Feldträumereien. Dann wurde der Eindringling bemerkt, oder es wurde vielmehr bemerkt, daß er sich noch nicht empfahl, sondern sich mit neckischer Bescheidenheit als Mitglied der Schule zu fühlen schien. Er war in den Schatten geglitten und traf alle Anstalten zu bleiben, von dem einzigen Wunsch beseelt, um jeden Preis aus seinem Aufenthalt Gewinn zu ziehen. – – Seit man seiner gewahr geworden, hatten die Knaben etwas schleppender rezitiert und waren in gedankenloses Näseln verfallen, denn sie machten sich auf eine spaßhafte Unterbrechung gefaßt. Und richtig: jetzt klappte der Schulmeister ab und erhob sich. Seine arabischen Hosen verschwanden unter dem Kaftan; er warf mit der einen Hand das halbgelöste weiße Wolltuch, das um seinen Tarbusch gewickelt war, heftig über die Schulter. Die Knaben drehten sich so eilig herum, daß die Kuhhorntintenfäster, die sie auf den Bäuchen trugen, kleine Spritzer von sich gaben.

»Friede mit dir!« sagte nach einer kurzen Stille der Schulmeister mit recht ärgerlicher Stimme. »Wer bist du, und weshalb sitzest du hier und störst den erhabenen Unterricht?« Er fischte eine Hornbrille aus dem Ärmel und wand ihre Haken heftig um die Ohren herum.

Daûd war bestürzt. Aber die Gewißheit, daß er in der rechten Schmiede war, gab ihm Kraft. Er begriff nicht, wessen man ihn bezichtigte, aber um jedenfalls sicherzugehen, tat er, was sein kleines Herz ihn hieß: er legte, wie er es bei dem blinden Muezzin bemerkt, die Daumen an die Schläfen und sang, wobei seine Stimme glasschrill aus der ängstlichen Brust herausstieg, das Subh, das Morgengebet, mit den richtigen Worten und Wiederholungen, deren er sich noch vom Morgen her gut bewußt war.

Man ließ ihn gewähren. Der Schulmeister zeigte ein flüchtiges Lächeln, das er gleichwohl, wie seine Stellung es heischte, mit Würde tilgte.

»Du sangst ohne Falsch«, sprach er. »Dies ist das rechtschaffene Frühgebet, wenn der gelbe Schimmer erscheint. – – Wo kommst du her?«

Daûd deutete mit dem Daumen in die Richtung. Dabei sagte er: »Naga-el-Kôm.«

»Und dein Name?«

»Daûd-ibn-Zabal.«

Die kleine Gesellschaft brach in ein Gelächter aus.

»Man lacht,« fuhr der Fiki fort, nachdem er die Lustigkeit mit einem erbosten Husten gedämpft – –, »weil du ein Dorfkind und ein Tölpel bist. Denn hier gibt es nur Söhne von Kaufleuten, die mich bezahlen. Hast du Geld?«

Daûd demonstrierte mit einer einleuchtenden Gebärde, wie es in dieser Hinsicht stand. Der Schulmeister blieb finster stehen und nagte an seiner Lippe. Dies Schweigen war schrecklich. Daûd neigte den Kopf und drehte nur seine bläulichen, schönschimmernden Augen empor, so daß er keine Regung des fürchterlichen Gewalthabers außer acht ließ. Irgend etwas schwante ihm, ein donnernder Schlag, der ihn zermalmen würde wie eine Fliege, oder eine große Gelächterschmach aus diesen fünfzehn Kehlen. Zum mindesten befand er sich schon halb auf der Flucht. Nun aber sprach der Schulmeister, und seine Stimme war mild:

»Für heute magst du bleiben; ich will sehen, ob dein Kopf die Einsicht hat und dein Gemüt guten Willens ist. Ich will dich die Fatha lehren, den erhabenen Eingang alles Wissens, der mit Perlen geziert ist. Und wenn sich dein Kopf gelehrig erweist, so geh zu deinem Vater und sprich zu ihm: ,So und so, und ich will zu dem Schêsch Ali-ibn-Mûsa gehen, auf daß er mich den heiligen Koran lehre'; und bring mir von ihm im Anfang jeden Monats einen Doppelpiaster, ein junges Huhn und eine Wassermelone, wenn sie reifen. Und wenn er eine Abgabe in diesem Sinne leistet, so wird Gott ihm und dir gnädig sein.«

Dies sprach der Schulmeister, und somit war Daûd bestätigt. Die Knaben, nach einer letzten, erheitert abschätzenden Kritik, hatten ihren Lärm eingestellt. Sie wandten sich wieder ihren Blechtafeln zu, und ehe sie weiterlernten, strichen sie ihre buntgestreiften Hemden über den Knien glatt und saßen manierlich wie ein Häuflein Turteltauben, das im Schatten Mittagsruhe hält.

Daûd hatte sich in ihren Kreis einreihen lassen und hielt nun ebenfalls eine Blechtafel in der Hand, ohne zunächst auch nur im entferntesten zu ahnen, was er mit dem Ding machen solle. »Zunächst gewöhne dich an das Schreibzeug, o Daûd-ibn-Zabal«, sprach der Fiki. »Stelle es mit der Linken hart aufs Knie und laß die Rechte locker; das ist die Stellung für die, die Wissen erwerben wollen. Und nun laßt uns noch dreimal die Fatha wiederholen! Und wenn du sie wohl vernommen hast, o Daûd, und das erhabene Wort in deinem Ohr nicht schlummert, so wiederhole sie uns, gleichwie du uns bei deiner Herkunft – (die gesegnet sei) – das Subh gesprochen hast.« Er gab ein Zeichen, und die Knaben, nach vorn und rückwärts sinkend, brachen mit hellen Stimmen und halbgeschlossenen Augen los:

»Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen!
Lob sei Allah, dem Weltenherrn,
Dem Erbarmer, dem Barmherzigen,
Dem König am Tage des Gerichts!
Dir dienen wir, und zu dir rufen um Hilfe wir;
Leite uns den rechten Pfad,
Den Pfad derer, denen du gnädig bist.
Nicht derer, denen du zürnst, und nicht der Irrenden. Amîn!«

Es war dem kleinen Volk sehr geläufig, sie hatten ihre Lust daran, sich zu überschreien. Es klang wie ein kleiner Parademarsch; mit exakten Einsätzen und gemeinsamem In-die-Höhe-Gehen; dabei wackelten sie, die Hände in den Hüften gestemmt, wie eine Reihe Nippesfiguren, die durch eine Schnur gleichzeitig in Bewegung gesetzt werden. Daûd lauschte, wie ein Ertrinkender nach Luft ringt, und so fiel denn das edle Arabisch gleich Saatkörnern auf seine frisch mit Glauben gedüngte Seele. Als die Fatha dreimal verklungen war, winkte ihm der Fiki, und Daûd begann.

Wenn man ihn ansah und schon dem ersten Einsatz horchte, mußte man erstaunt sein. Denn er leierte seine Sure nicht, er sang sie. Er stemmte die schlanken Hände, gleich den anderen, in die Hüften, verfiel aber nicht in das mechanische Wiegen, in den stumpfen Takt, sondern im Gegenteil: er ließ sich von den Worten durchschüttern und hin und her bewegen, von ihrem Sinn zügeln und berauschen: das war etwas Neues, das war eine persönliche Note, die dem braven Fiki nicht entging. Daûds Stimme war klar; es war eine rare, biegsame Stimme. Er begann mit hoher Fistel: das erste Wort »Lob« das er lange dehnte, war kein gleichgültiger Tribut, den er Allah zollte, es war eine Welt für sich; die Ekstase einer ganzen Gemeinde. So spendete er Lob; und die vier folgenden Attribute glänzten auf wie vier goldene Nägel, mit denen er sein Lob an das Tor der »Eröffnung« schmiedete. Den »Tag des Gerichts« ließ er wie eine Posaune mit kleiner Nasalfärbung eine Sekunde lang noch als drohendes Symbol in der Luft hängen; dann begann er, so tief er konnte, den bezeugenden zweiten Teil, sprach ihn als einen einzigen Satz aus dem Staub der sich niederwerfenden Demut heraus, in einem gläubigen Versteckspiel vor der gepriesenen Macht; und am Schluß zischte wie ein Pfeil, den der gepanzerte Moslem entsendet, der abwehrende Haß, der Stolz hervor: »und nicht der Irrenden!« – – – – Nun erst irrten jene wirklich, da Daûd sie irren hieß; nun erst waren sie in Wahrheit die Verdammten!

Der Fiki war ein schlichter Mann. Seine Bildung ging nicht über das Mittelmaß hinaus. Er konnte rechnen, schreiben, und von den Suren waren ihm, wenn es hoch kam, zehn geläufig. Von dem Leiter einer Moschee hatte er einige dürftige Kommentare erhorcht und nicht ohne Mühe behalten; und was ihm entwischte, ließ er ziehen. Er huldigte im allgemeinen dem altägyptischen Prinzip: Der Knabe hat seine Ohren auf dem Rücken! – – Zudem war er, wie es die Talmudisten sind, überzeugt, daß ewiges Herleiern die beste Methode sei, und tat es darin, ohne es zu wissen, dem berühmten Rabbiner gleich, der da schrieb: »Wenn ein Knabe nach vierhundert Erklärungen eine Sache noch nicht versteht, so liegt die Schuld am Lehrer...« – – wobei, wie erhellt, Lehrer wie Schüler recht tief bewertet werden. Der Fiki spürte jedoch das Selbstherabsetzende solcher Anschauung nicht, sondern arbeitete brav; unermüdlich raunzte er seine erläuternden Glossen, an denen er nie ein Wort veränderte, und peitschte die Fußsohlen der Knaben mit einem entfiederten Palmzweig, wodurch der Unterricht oft genug einen dramatischen Verlauf nahm.

Er ersetzte die niederdrückende Bescheidenheit seines Wissens durch eine vorbildliche Strenge im Befolgen der Vorschrift; er betete, was ihm Respekt eintrug, fünfmal zu den vorbedingten Zeiten und war, was die Technik aller Verbindlichkeiten mit dem Himmel anlangte, eine Art Autorität, weshalb ihm alle reicheren Krämer vertrauensvoll ihre Sprößlinge zur Aufzucht überließen und nicht ermangelten, ihn entsprechend mit Backschisch zu verwöhnen.

Abgesehen von der Eitelkeit, die sich in gewaltiger Würde äußerte, war er voll Unschuld, und sein gutmütiges Herz ließ sich leicht erschüttern, wo es einem fremdartigen Eindruck unterlag. Ein solcher hatte ihn jetzt ohne Zweifel getroffen, denn er schwieg eine Weile, nachdem Daûd geendet; dann sagte er tief aus seinem Bart heraus: »O Daûd-ibn-Zabal, ich bin sehr verwundert und heiße dich willkommen. Du hast uns eine neue Art wissen lassen, die Fatha zu singen... Es ist nicht lange her, da war ich in Kairo, um eine Geschäft abzuschließen (und das Geschäft gelang, gelobt sei Gott!). Ich kam aber gerade zu dem Feste Chamm-en-Nessim und hörte Sänger vor den Leuten singen. Und siehe, deine Art, diese Sure zu singen, gleicht ihrer Art in betreff ihrer Vollkommenheit und des Hebens und Senkens der Stimme, wie es der erhabene Sinn heischt: Wo hast du das gelernt?«

Daûd saß, mit seinem Heiligenschein geschmückt, nicht ohne Herzklopfen da und sah keck umher, denn er merkte, daß er festen Fuß faßte. Dann sprach er: »O Schulmeister, ich habe das von der Sakije gelernt beim Naga-el-Kôm, wo meine Heimat ist.«

Die Knaben ließen die Unterlippen hängen, so verblüfft waren sie über den neuen Ausspruch, und dann kreischten sie ihren Hohn über den kleinen Bauern jäh heraus, während sie sich untereinander an den Kelabijen rissen. Selbst der Schulmeister geriet ein wenig aus der Fassung. Dann sprach er: »Nun, ich sehe, daß du noch ein Tölpel bist und des Schliffs ermangelst, weil du das heilige Wort mit deinem Dorfmist vermengst. Du verdientest wahrlich, wenn du nicht das erstemal (gesegnet sei dein Kommen) hier erschienen wärst, die Gerte auf deinen Sohlen zu spüren, bis sie platzen und Blut lassen... Doch es mag geschehen, daß Gott ein Wunder an dir tut und, nachdem er eine Stimme in dich gelegt, die ihn würdig pries, auch mit der Zeit dein dumpfes Hirn erleuchtet und ähnliche Antworten von dieser ungezogenen Art in deiner Kehle erstickt.«

Daûd knickte zusammen; er verstand die Zurechtweisung nicht, und sein eigenes Gesicht, das ihm das blanke Stück Blech, zu dem er es neigte, verzerrt widerspiegelte, flößte ihm Mitleid ein. – Heute ging es noch glimpflich; aber an späteren Tagen trugen ihm so tief empfundene Antworten öfters ein handfestes Echo ein, so daß er trotzig und heulend aus der Schule stürmte und das Tintenblech, auf dem der Irrtum stand, an seinem staubigen Bauche abrieb – denn schon an diesem Tage lernte er schreiben, den Anfang des Alphabets, und seinen geschickten Fingern machte es keine Mühe.

Der Schulmeister war unberechenbar. Er spendete in verschnörkelten Worten reichstes Lob, doch sobald man es beglückt einsog und eine kleine Eitelkeit erwachte, riß er sie grob an ihren zarten Wurzeln wieder aus, damit die eigene, kräftige, allein und ohne Nebenbuhler im Umkreis gedeihe. Das war sein Prinzip. – – –

Inzwischen war die Zeit vergangen. Die Knaben waren hungrig geworden; so wurde denn das Dhur, das Gebet, wenn die Sonne sich zum Zenit begibt, vom Schulmeister geleistet. Die Knaben, blutjung wie sie waren, hatten noch nicht die Verpflichtung, ebenfalls die Kniefälle und die mit Sand fingierte Waschung vorzunehmen; deshalb saßen sie noch wie ungeduldige Affen herum, während der Fiki auf der Bastmatte seine Kniefälle tat. Dann stürmten sie heraus, und Daûd war nicht der letzte. – – –

Er hatte jetzt einen Besitz. Er besaß die Sure und hatte Lob geerntet. Freilich wie es mit den Geschenken an den Schulmeister werden würde, war ihm noch nicht klar. Denn Zabal würde sich wohl schwer bestimmen lassen, auch nur einen kleinen Piaster für einen idealen Zweck zu opfern. Daûd erinnerte sich eines Vorkommnisses vor längerer Zeit. Der Hahn hatte sich eingeklemmt und war verhungert. Da war Daûd zu Zabal gegangen und hatte gesagt: »Vater, der Bespringer der Hühner ist gestorben!« Da hatte Zabal von Herzen aufgeächzt und gesprochen: »Es gibt keine Gewalt und Macht außer bei Gott! Wir sind schwer vom Unglück verfolgt, mein Sohn. Möge Allah uns entschädigen!« Einige der Freunde Zabals hörten das und bezeugten ihm ihr Mitgefühl genau so, als ob ihm ein lieber Verwandter gestorben wäre.

Die Trauer hatte drei Tage gewährt. Daûd konnte auch jetzt noch nicht vergessen, welche Hitze jene Katastrophe in den Köpfen erzeugte und wie groß der Unmut war, der damals hoffnungslos aus rotgeränderten Augen starrte. O Fiki, wußtest du, was du verlangst! Du sagtest so beiläufig: Ein junges Huhn! Wie? Du gingst verschwenderisch mit Wassermelonen und Doppelpiastern um und brachtest Daûds tiefgebeugte Familie an einen Bettelstab, dessen sie gänzlich unvermutend gewesen... Du spieltest mit ihrem Reichtum und bliesest ihn in die Luft; du schmausest schon in Gedanken die Melone und das junge Huhn, und schmatzest, daß dir der Saft der Speisen zu beiden Seiten in den Bart rann – – O Fiki, das war wahrlich nicht gut erwogen!

Daûd bekam ketzerische Gedanken. Dafür, daß ich mir eine Stunde oder zwei die Brust zersprenge, mir die Finger ermüde und die anderen Bambusen und Kinder von Halsabschneidern auf und ab wackeln sehe wie die Tollen, daß ich mir große Zurechtweisungen hole auf Grund von Dingen, die belanglos sind wie Staub und Hühnerfedern – dafür nun heischt dieser Klotz von einem aufgeblasenen Schulmeister mit lächelnd geübter Erpressung eitel Wohlleben und fetten Reichtum. Immerhin aber befand es Daûd schließlich als durchaus notwendig, schreiben und rechnen zu lernen und des Korans innezuwerden; ja, er hatte einen ehrfürchtigen Respekt, eine geheime Liebe zum Koran, und seine Phantasie war erstaunlich regsam, seit die ersten Bilder und Wendungen aus dem Gehörten hervorblühten und seinen Blick bannten wie der Inhalt einer zögernd sich öffnenden Schatzkassette. – –

Zuvörderst nun mußte, um den Vater zur Abgabe zu bestimmen, Politik betrieben werden. Den Gang zu erschweren kam noch die Erwägung, daß er ein straffälliger Ausreißer war, der die Sakije und seine Feldarbeit gewissenlos im Stich gelassen.

Es war Abend, bis er sich entschloß. Sein Hunger war beißend. Er ließ sich als blinder Passagier auf einem Getreidekahn befördern, der leer zurück laviert wurde, um von den Königsgräben kehrende Touristen abzuholen. Er wurde zwar entdeckt und lief Gefahr, wie eine räudige Katze ins Wasser geworfen zu werden. Da er aber eine schlagfertige Suada bewies, mit Flüchen gespickt, die die harmlosen Männer baß erfreuten, ließ man ihn durchschlüpfen, auch ohne die Abgabe der für die Eingeborenen ortsüblichen zwei Millièmes. Und so stand er bald trocken auf dem anderen Ufer und begab sich auf den Heimweg.


Zabal seinerseits, in blaugefärbte Baumwolle gewandet, befand sich noch mitten im Feld und schleppte Mist. Das gleiche tat Umm-Dabbûs. Sie arbeiteten so emsig, daß sie das Kommen Daûds gar nicht bemerkten. Trotzdem machte er einen weislichen Umweg um sie herum... Die Sakije, als er an ihr vorüberschritt, bewegte sich träge und knarzte um einen Ton phlegmatischer als sonst. Über ihr sah Daûd eine kleine groteske Silhouette: seinen Bruder. Daûd kam ins Dorf und schlüpfte in den Stall der eigenen Behausung. Die Hühner fuhren kreischend auseinander, als er hereinkam; auf der anderen Seite ging ein Zicklein heraus mit einem wehen, einsamen Blöken. Daûd vergegenwärtigte sich noch einmal mit zusammengekniffenen Lippen seinen gestrigen Nachmittagstraum, dann tappte er mit der Hand in eine bestimmte Richtung geradeswegs in den Hühnerkot hinein und erfaßte eine in die Erde gelagerte Tonscherbe. Er hob sie auf; da fand er einen Ledersack; er rührte an den Ledersack: das war... Geld! Viel Geld!

Seine kleine Hand kroch hinein und wägte einen Teil auf ihrer Fläche; siehe da, wie gewichtig spreizten sich Zehn- und Zwanzig-Piasterstücke! Wie lieblich und bescheiden blinkte der halbe Frank! Und nun gar, während er die Münzen gleiten ließ, blendete ihn das gelbe Auge eines englischen Pfunds, des dicken, kleinen, gekerbten Rädchens in der Verwaltungsmaschine, das sich nach Millionen dreht, und das, wenn es sein muß, so unhörbar arbeiten kann, daß man sein Dasein kaum spürt; aber es ist da, und seine Treibriemchen sind gar fein gesponnen und reichen weit!

Daûd fühlte förmlich, welch ein Fluidum von unendlicher Angst und von herzklopfendem Argwohn unsichtbar über der Stelle schwebte, wo er das Geld gefunden. Das war seit Jahren hinterzogener Zins, gehäuft auf das Erbteil des Vaters und Großvaters; von letzterem stammte offenbar eine befremdliche türkische Münze, die ihm jetzt zu Gesicht kam. Sicherlich waren die Gedanken beider Eltern mit diesem Schatz verwoben und verquickt; so völlig zwar, daß das Gedankenbildchen mit dem Hühnerstall auf einmal, bei Traumempfänglichkeit, in des Sohnes Hirn zum Vorschein gekommen war. So war das Idyll unter der Tonscherbe doch im letzten Grunde nicht behütet; denn zäher Geiz bei beschranktem Kopf denkt nichts als: mein Geld! Heissa, mein wohlverwahrtes Geld! – – Und so ein Hirnchen, das in diesen Gedankenkreis gerät, lauscht auf wie ein Raubwild, das Witterung erhalten hat, und weiß zunächst nicht woher; dann aber lenkt es der Instinkt unfehlbar an die Quelle.

Während Daûd sich nun Aug' in Auge mit dem Gelde sah, kam ihm wohl der Gedanke, sich ein einziges, ja, bloß ein einziges der größeren Stücke anzueignen, und er schüttete bis auf ein Vierschillingstück die Beute in den Sack zurück. Die Münze mit den Fingern umklammernd, wollte er zurückweichen; da aber überkam ihn ein plötzlicher eiskalter Schreck: ihm war, als wandere sie, als strebe sie selbständig aus seiner Hand zurück wieder unter die Scherbe zu den anderen; und seine abergläubischen Augen glaubten in der Ecke ein Wesen zu erkennen, einen erdfarbenen Afrid von der Gestalt des Dabbûs, der hoch und fein wie eine junge Katze schrie, nicht laut, nur so, als ob dem Lauschenden das Trommelfell erklinge. Daûd verscharrte eiligst seine Beute; dann floh er aus dem Stall, am ganzen Leibe zitternd. Er dämpfte seine Angst dadurch, daß er in dem Wohn- und Schlafraum bei der Feuerstelle nach Essen suchte und von enthülstem Ful und Fleischstückchen, die er hinter der Handgetreidemühle entdeckte, eine Mahlzeit hielt. Sein Appetit war so mächtig, daß ihn seine Befriedigung der Zukunft gegenüber völlig gelassen machte. Denn nun (er hörte sie schon von weitem schnaufen) kamen die Eltern zurück.

Sie atmeten hörbar durch die Nasen und waren ermüdet. Zunächst rührte Daûd sich in der Ecke nicht und verhielt sich mäuschenstill, da er sein böses Gewissen spürte, als er die Eltern sah. Es war halbfinster geworden; durch die Tür sah man noch einen schwefelgelben Streifen am Himmel. Doch war es noch hell genug, daß Daûd die Züge seiner Ernährer betrachten konnte. Sie waren tief durchfurcht und mürrisch. Dabbûs kam herein und verschwand wie ein Gespenst in einem Winkel. Umm-Dabbûs hantierte mit allerlei und sprach mit sich selbst. »Nun sucht sie den Ful«, dachte Daûd. Wahrhaftig, das tat sie; und als sie ihn nicht fand, ward sie recht ungehalten. Sie beschuldigte zunächst Dabbûs, und dann den Vater, der die Zumutung in bilderreichen Wendungen von sich wies. Immerhin schoß damit der Unmut ins Kraut, und die zermürbten Leute schrien sich mit schallenden Stimmen und leidenden Gesichtern an. Endlich beruhigte sich die Frau und zündete eine Funzel an, um noch ein letztes Mal zu suchen, und bei dieser Gelegenheit beleuchtete sie Daûd. »Schande über dich, du Unband«, schrie sie, zunächst nur aus ihrer Stimmung heraus; hierauf fuhr sie ihm mit sehr schnellen Fingern an den Mund und roch an ihrer Hand. »Oh, Unheil über dich Auswurf – du hast den Ful gegessen!!« Sie schwenkte ihre Hand zur Bestätigung gegen den Vater, der wie ein Gewitter näher kam. Er rüstete sich, Daûd zu prügeln, und dabei kamen ihm auch dessen andere Sünden zum Bewußtsein, was seinen Eifer förderte. Daûd wand sich ihm jedoch wie eine Schlange unter den Händen weg, so daß der alte Fellache im entscheidenden Augenblick mit seinem Grimm allein war. Seine müde, eckige Gestalt drehte sich ratlos, da er nicht wußte, wohin Daûd entschlüpft war. Da die Funzel im Gemenge verlöscht war, sprach er in das Dunkel hinein:

»Wo bist du, und warum tust du uns dies an?«

»Hier bin ich, Vater«, erwiderte die Stimme aus undeutlicher Richtung. »Ich habe den Ful gegessen, denn einer, der das erhabene Wort kennt, muß seinen Magen stärken.«

»Was faselst du da vom erhabenen Wort? – Seit wann sprichst du diese Sprache?«

»Seit heute bin ich bei einem Fiki in der Schule, der mich lehrt.«

»Ah, darum hast du die Sakije schmählich verlassen; wie ein Trotzkopf hast du gehandelt. Das kleine Ferkel Dabbûs kann die Büffelkuh nicht treiben; wir haben ihn erprobt. Oh, über dich erbärmlichen Schmutzfink! Und du glaubst, Allah hat dir eine andere Laufbahn gewiesen als das ehrenwerte Gewerbe all derer, die vor dir waren? Du bist noch ein Eidotter, und willst ein Fiki werden? Was lehrte er dich?«

Da sang Daûd seine Sure. Sie klang seltsam eindringlich aus dem Dunkel heraus und rief Demut hervor. Eine Pause entstand; und von jetzt an ward Zabals Tonfall milder.

»Es ist eine gute Sache, das richtige Wort zu beten, wie es geschrieben steht. Wir beten, wie wir es überkommen haben; doch wer spricht uns den heiligen Korân?«

»Dies ist die >Eröffnende<«, dozierte Daûd. »Hierauf, mein Vater, folgt >Die Kuh<. Diese ist zu Medina geoffenbart ...«, fügte er etwas selbstgefällig bei.

»Wunder über Wunder«, rief Zabal aus, während Umm-Dabbûs schwieg und ihre weichgeschlitzten Augen aufriß, wodurch ihre Züge die Schlaffheit religiöser Hingabe annahmen. Daûd benutzte diesen günstigen Augenblick, um zu der praktischen Seite zu kommen.

»Ich werde viel Geld verdienen und werde den ganzen Korân lernen und lesen und schreiben. Bald werde ich auf den Hochzeiten und Beschneidungen als Sänger bezahlt, denn der Fiki lobte meine Stimme; sie sei eitel Schmelz und Wohlklang, sagte er, und er habe ähnliche Stimmen nur in Kairo gehört. Kein Unglück darüber!« fügte er erschrocken bei, als er sich auf diesem riesigen Eigenlob ertappte. Nachdem er ein Weilchen still gewesen, um die Verhütungsformel in ihrer Wirkung nicht zu schwächen, fuhr er fort: »Ich werde auch bei Beschwörungen zugegen sein, und die Afrîds unter dem Dschinn werden wie Spatzen vor dem Adler flüchten. Denn das heilige Wort, welches ich erlernen werde, ist mächtig ganz und gar. Ich werde als Schreiber bezahlt werden und eure Beschwerden an den Mudîr zu Papier bringen; ich werde euch Amulette gegen den bösen Blick verfertigen, euch und allen, die mich darum bitten; ich werde kein Geld dafür nehmen, und Allah wird mich lohnen.«

Die Eltern hatten diese Rede staunend mit angehört. War die schwarze Gestalt dort im nachtdunklen Rahmen der Tür, die so tönend sprach, der schmutzige kleine Büffelwart? Ja, wahrhaftig, da mußte ein Wunder geschehen sein. Und ihre Herzen schwollen ihm entgegen. »Segen über dir! Ja, wir werden von dir einen großen Nutzen haben unser Leben lang!«

»Das weiß Gott«, meinte Daûd voll Überzeugung. »Aber jener Schêsch verschenkt sein Wissen nicht.«

Zabal wurde unruhig, und auch Umm-Dabbûs nestelte an ihrem schwarzen Kopftuch.

»Was heischt der würdige Mann?« fragte Zabal.

»Er läßt dir sagen und spricht: >Wenn du mir im Anfang jeden Monats einen Doppelpiaster übersendest ... und ein junges Huhn ... und eine Wassermelone, wenn sie reifen, so wird Gott mir und dir gnädig sein.<«

Die Wirkung dieser Eröffnung war die, als hätte ein Blitz in der Hütte eingeschlagen. Endlich stöhnte Zabal und sprach: »Allah! Du weißt nicht, was du sprichst, Gott ist groß! Ein junges Huhn! Einen Doppelpiaster jeden Monat! Bin ich ein Effendi? Jeder Tag frißt den anderen auf! Wir sind arm wie Ratten! Woher sollen wir das nehmen?«

»Hast du kein Geld?«

»Bei meinem Bart, keine zehn Millièmes.«

»Du sprachst freventlich: >Bei meinem Bart<; geh in den Hühnerstall und hebe die Topfscherbe auf unter dem Kot, in der Ecke; da ist Geld genug, um zehn Schulmeister für mich fett zu machen!!«

Daûd wich ein wenig zurück. Er warf seine Entdeckung mit schallender Stimme in die Hütte; und dann machte er sich klein. Draußen hockte er sich nieder und lauschte. Zuerst hörte er, an die Mauer gedrückt, nichts als jenes feine, fast unhörbare Katzenmauzen, das die Erscheinung bei dem Gelde ausgestoßen, ehe die Eltern kamen. Dann stieg ein heulender Ton zur Decke, von dem Gekreisch der Umm-Dabbûs begleitet; und Zabal stürmte in den Hintergrund.

Man hörte ihn, hastig atmend, wühlen und mit dem Gelde klimpern. Er zählte mit dem Gefühl der Fingerkuppen. Er saß fassungslos mitten im Mist, und der Dämon des Argwohns und des Geizes wuchs ihm riesengroß über die Schulter und zählte mit. Ja, es war ein kleiner Lärm, als ob vier Hände statt zweier am Werke seien ... Endlich hörte das Klimpern auf; Zabal hatte nichts vermißt und kam von Erregung erschöpft zurück. Mit heiserer Stimme rief er Daûd herein.

»Wer hat dir kundgetan, daß ich mein karges Vermögen dort verwahre?«

»Gott selbst«, sprach Daûd bescheiden.

»Preis Ihm jetzt und immerdar!« erwiderte Zabal mit unsicherer Betonung. »Doch wie geschah das?«

»Gestern nachmittag, um die Zeit des Asr, da ich auf der Sakije schlief, da schickte mir Gott einen Traum. Du und Umm-Dabbûs, ihr wäret jung und vergnügt, und mir schien, als hätten wir eine große Schmauserei.«

»Wenn dem doch so gewesen wäre!« seufzte Zabal halb sehnsüchtig, halb erleichtert auf. »Doch die Zeit ist vergangen und dahin und kehrt nie wieder! Denn jetzt bewuchern uns die Besitzer, und die Barmherzigkeit kommt aus ihrem Herzen heraus wie die Ameisen, wenn man sie auf der Jagd beschwört: >O Ameisen, kommt heraus!< – Sie lassen uns nichts als das Hemd auf dem Leibe. – Doch wie war der weitere Verlauf deines gesegneten Traumes?«

»Wir hatten Zickleinviertel und bereiteten ein Mahl. Wir hatten es wie die Emire, die jeden Tag Kunafa essen. Und du hattest dein Ergötzen mit Umm-Dabbûs ...«

Hier stießen sich die ältlichen Leute in die Seiten; Umm-Dabbûs kreischte wie gekitzelt auf, und auch Zabal gab ein kleines Meckern zum besten. Sie waren wie Kinder, die man mit Fabeln erfreut.

»Und dann sangst du eine Kaside auf die Ohrringe der Umm-Dabbûs – sie waren sehr schön und gelb, fein durchbrochen und klimperten hochzeitlich. Wenn ich Geld verdiene, werde ich ihr solche schenken, wie ich sie im Traume sah, genau dieselben; sie waren unbeschreiblich hübsch.«

»Tu das, und Gott wird dich segnen«, gurrte Umm-Dabbûs.

»Und zum Dank dafür, daß du sangst, sprach Umm-Dabbûs zu dir: ›,Geh in den Hühnerstall und nimm Geld für Gewürz und färbe das Hemd Daûds mit Safran, dann ist er erlesen, und die Leute blicken ihm nach!‹, – Auf diese Weise nun erfuhr ich den Ort des Geldes.«

Die beiden Eltern bedachten eine Weile den Fall, und dann sprachen sie gemeinsam: »Dies ist wahrlich wunderbar! Es ist dir geoffenbart, und du bist bevorzugt. So werden wir dir von dem Geld geben, was der Fiki verlangt, und du bringe es ihm, denn wir sehen, daß du einem höheren Gewerbe vorbehalten bist.« Sie entzündeten die Ölfunzel wieder und stellten das Lichtchen in das Mauerloch. Daûd ließ sich von allen Seiten betrachten, dann sank er nieder, krümmte sich zusammen und schlief den Schlaf des besten Gewissens, wahrend Zabal sich noch einmal des Ledersacks versicherte, unbeholfen und gründlich zählte und ein anderes Versteck für das Geld ergrübelte, ohne Zweifel an der Offenbarung zwar, aber um den kleinen Löwen, der Blut geleckt, nicht in erneute Versuchung zu stürzen. Dabbûs inzwischen, mit ganz schwach glimmenden Augen, sah unbeweglich aus dem Dunkel zu ihm herüber. – – –

Am nächsten Morgen ging Daûd zum Fiki und brachte ihm den ersten Tribut. Das junge Huhn hielt er lebend an den zusammengekoppelten Füßen. Es piepste und hing ganz reglos in seiner unbarmherzigen Hand; nur die Augen waren blank und dumm vor Angst. Als der Fiki das Huhn sah und das Geldstück dazu, ermunterte er sich merklich. Daûd kam in einer Haltung herein, als habe ihn nur eine gelegentliche liebenswürdige Laune angewandelt, dem Schulmeister ein Geschenk zu machen; und so, als zähle er schon jahrelang zum Kreis seiner hoffnungsvollsten Hörer.

Er nahm nun gründlich und gewissenhaft am Unterricht teil und setzte durch seine bescheidenen, aber verschnörkelt und blumenhaft vorgebrachten Fragen den Würdigen mehr als einmal in geheime Befangenheit. Doch da der Fiki über eine gewisse Beredsamkeit verfügte und die Gabe besaß, in Eile Zitate zu erfinden, ob sie nun passen mochten oder nicht, so ward des Knaben helläugige Einfalt stets geblendet und von dem ungeheuren Wortschwall zu Boden gedrückt. Nichtsdestoweniger erlauschte Daûd manche Wendung und manches Gleichnis. Er sah, wenn der Fiki redete, in der Dürre eines Kommentars plötzlich eine bunte Stelle, die ihn fesselte, wie ein wohlgebautes Moscheelein etwa oder eine einsame Palme oder ein blühender Kaktusstock. Meistens zwar wuchsen diese Dinge nicht auf des Bakelschwingers eigenem Acker, sondern es waren wahllos aus dem Korân gezerrte Reminiszenzen oder Aussprüche obskurer Dichter, die er irgendwo erhascht und so pompös von sich tat, daß man es für eigene Eingebung halten mußte und für den gelegentlichen Einfall eines glänzenden Geistes. Es dauerte nicht lange, da kannte Daûd diese Wendungen auswendig und zählte deren acht oder zehn; mehr wurden es nicht, trotzdem er sehr acht gab, und so begnügte er sich und freute sich jedesmal, wenn er mit ihnen Wiedersehen feierte. Dabei spürte er zum erstenmal ein dunkles Bedürfnis, selbst so hübsche Bilderchen zu prägen, eigene, keine gestohlenen Perlen im geheimen aufzureihen – ja, sogar Predigten zu erdichten, die er, in Ermangelung verständnisvolleren Publikums, an Mauern, Ziegen, Katzen oder Kälber hielt.

War die Schule aus, so bekam er zumeist von den Vätern seiner Freunde einen Imbiß. Diese Väter hielten vor ihren offenen Basaren Mittagsmahlzeit; sie aßen Zwiebeln, Gurken oder geschmorte Saubohnen, die sie mit Brotstücken aus der Brühe fischten. Zuerst hatte Daûd, wenn er Hunger spürte, das übliche Liedlein der Bettler gesungen, als der rechte Gassenjunge, der er war; er hatte die Straße hinuntergeflötet: »Meine Mittagsmahlzeit muß deine Gabe sein!« oder »O Mitleiderwecker; o Herr!« Und da er das sehr melodisch sang, lauschten die Tafelnden auf, lachten und winkten ihn heran. – Am meisten fiel für ihn an den Abenden ab, wo er singen konnte: »O Nacht des herrlichen Freitag!« Denn dann war das Volk gütig und vergnügungssüchtig, füllte die Brasserien und die Cafés oder ging Zigaretten rauchend in ein Tingeltangel, ein hellblau gestrichenes Lehmhaus mit einem schreienden, etwas mitgenommenen Plakat, das Daûd schon oft mit Herzklopfen betrachtet. Bekam Daûd nichts, so begnügte er sich mit einem Zuckerrohr, das er irgendwo stahl, und zerschliß es geräuschvoll saugend mit seinen kräftigen Zähnen. Er lehnte sich dann an die zementierte Nilbrüstung und sah die Fellucken landen und abfahren, unter dem unendlichen Gezänk der Bootsleute, oder er blickte den Wasserträgern zu, die, im Seichten hockend, das schmutzige Naß mit den hohlen Händen blitzschnell in die Ziegenschläuche füllten.

Seit Daûd jedoch in der Schule zu einem Musterschüler und Vorsprecher aufrückte, ward sein Ruhm von seinen Freunden nicht verschwiegen, und so hatte er es nicht mehr nötig, sich lüstern an die Kaufleute heranzuschleichen und auf dem Magen Kreise zu beschreiben; sondern sobald die Männer ihn in Begleitung ihrer Halbwüchslinge kommen sahen, machten sie eine kleine einladende Gebärde mit der Hand, nebenhin und fast höflich. Manche unterbrachen ihr Gespräch sogar mit einem kurzen: »Sei Allahs und des Propheten Gast und meiner dazu.« Darauf erlaubten sie seinen zuvor gewaschenen Händen zugleich mit den ihren in den Kübel zu fahren.

Daûd bekam in den Läden vielerlei zu sehen, und seine Augen war nie müßig. Der bescheidene Luxus der Auslagen beschäftigte seine Phantasie wie ein üppiger, leider immer viel zu flüchtiger Traum. Trotz alledem fühlte Daûd sich behaglich und neidlos nach der Vorschrift jenes uralten Liedchens, das überall gelegentlich aufklingt, des stoischen Tagediebliedchens:

»Gott danken wir,
Daß wir leben dürfen,
Ob wir Honig
Oder Zwiebeln essen,
Ob wir auf Steinen
Oder auf Seide schlafen!«


Daûds Genossen waren brauner als er; ja, einer, dessen Vater ein Silberschmied aus Omdurman war, völlig schwarz mit straff gespannter Haut auf dem schnauzenähnlichen Kinn ... Die Haut war zu karg bemessen und zog den Mund auseinander, wodurch das Gebiß glanzvoll schier bis zu den Backenzähnen herausbläkte. Dieser Sawân (so hieß er) war ein großer Springer vor dem Herrn; er hatte als ein rechter Sudanese keine Waden, sondern steinhartes, gleichmäßig um das Schienbein gruppiertes Fleisch und ebenso hornige Schenkel, weshalb es ihm im Laufen keiner gleichtat. Ein anderer, Afr, eines Bäckermeisters Sohn, verkaufte das ringförmige Weizenbrot, das er an Stäben aufgestapelt in einem Korb vor dem Bauche trug. Dieser war es besonders, der Daûd nie hungern ließ, ja sogar Zwiebeln und Gewürz stahl, womit man eine fürstliche, eifersüchtig geheimgehaltene Mahlzeit hinter dem Tor einer Hoteleinfahrt oder in einem trockenen Bewässerungsgraben hielt. Dadurch nun, daß Afr beim Brotschleppen das Kreuz täglich stundenlang höhlte, bekam sein Gang auch in der Muße etwas Drolliges und unnatürlich Gestrecktes, wie der einer schwangeren Frau; und sein Hinterteil trat so steil heraus, daß er zuweilen unter Prügeln zu leiden hatte, deren Motive ihm dunkel blieben. – Dies nun war das Verhängnis Afrs, des Brotverkäufers.

Eines Dritten noch Erwähnung zu tun, so war dies Saffâr, der Sohn eines Schneiders, ein kleiner Berberiner und stämmiger Krauskopf, der Unschönste zwar, aber am farbigsten Gekleidete von Daûds Freunden. Er besaß eine für sein Alter gewaltig gellende Stimme, die er in Anpreisung seiner Ambrakerzchen zur Geltung brachte. Dafür, daß er mit diesem süßlichen und beliebten Weihrauch hausierte, bezog er einen Piaster für den Tag und war somit der reichste unter den Knaben. Wiewohl er sehr tierhaft und wenig umgänglich war, zog man ihn zu allen Unternehmungen hinzu ...

Die vier Jungen lauerten, wenn sie ihrer Geschäfte ledig waren, an den Hotels, um Esel herbeizurufen, sobald die Fremden herauskamen, mit kleinen, frisch erhandelten Peitschchen tändelten und sich nach einer Reitgelegenheit umtaten. Dann fuhren die Knaben frisch von ihrem Scherbenspiel aus dem Staube in die Höhe und unternahmen einen wilden Wettlauf nach dem nächsten Eselstand. Je eher man, wenn auch ungebeten, das Tier herbeischaffte, um so mehr Aussicht hatte man auf einen zuweilen herrlichen Entgelt. Sawân pflegte dabei, wie erklärlich, den Löwenanteil einzuheimsen.

Den weißen Esel, den Daûd damals wahrgenommen, bevor er zum erstenmal die Schule betrat, sah er jetzt häufig, fast täglich, und er trieb einen kleinen Kultus mit ihm in seinem Herzen. Denn er bemerkte jetzt auch, daß der Esel am Hals entzückende geschorene Muster trug, pikant ins Fell gezauberte Arabesken, desgleichen am Bauch, an den Hinterbacken und an der Wurzel des Schwanzes, um die der Künstler einen vielzackigen Stern gebildet. Es war nicht so sehr der propre Esel, der ihn beschäftigte, sondern vielmehr das auf ihn gegründete, neiderregende Dasein des Treibers, jenes älteren humoristischen Knaben mit der blauen Kelabije, der Geld machte, und dessen Gerte wie eine Wünschelrute auf die Taschen der Fremden wirkte ...

Eines Abends war Daûd im Besitz eines großen Piasters und trollte durch die Gassen. Nachdem er sich hinlänglich an einer alten chinesischen Wahrsagerin sattgegafft hatte, die blaue Hosen trug und auf offener Straße unter großem Andrang die Augen eines Steinarbeiters kurierte, kam er an dem Tingeltangel mit dem schreienden Plakat vorüber. Das rhythmisch klirrende Gedröhn der Tamburine lockte ihn an; es drang aus einem mit Hanfgeruch durchsetzten Tabaknebel; und durch die zeitweise zurückwallende, geflickte Samtportiere sah er entzückt sich wiegende Köpfe schimmern. Grob hinausgeworfen, als er sich hineinstahl, legte er seinen Piaster hin und erntete ein erstauntes Grinsen des würdig an der Kasse hockenden Besitzers. Denn wo gibt es einen Gassenjungen, der einen Piaster auf dem Altar einer Illusion opfert!

Dann war er drinnen.

Vor sich sah er zunächst eine Menge verschiedenfarbiger, leerer Pantoffeln, dann eine lange Reihe hochgezogener Füße, deren Zehen sich regten, als versuchten sie es beifallspendenden Händen gleichzutun. Auf einer langen Bank, die Knie im Sitzen gespreizt, die Köpfe von seidendurchschossenen, gefransten Baumwolltüchern oder turbanumsponnenen, blaubetroddelten Tarbuschen bedeckt, saß die Auslese der Honoratioren von Luksor. Sie blähten sich in olivgrünen oder braunen Mänteln, und aus den Ärmelstücken der seidenen gestreiften Hemden fuhren, da sie lebhaft sprachen, gestikulierende Finger hervor. Sie hatten Ringe, diese Finger, mit billigen, bunten Halbedelsteinen oder nachgemachten Skarabäen besetzte Ringe; und Daûd, der sich, ganz klein und unsichtbar, auf dem Boden halb unter eine Bank geflüchtet, ward überrieselt von dem Anblick und von dem Gedanken, welch himmlisches Wohlleben doch auf Erden möglich sei.

Er verhielt sich ganz still und genoß.

Am Ende des Saales befand sich eine mit Kalkfarben bemalte Wand, die, wenngleich sie bloße Staffage war, Daûd im Augenblicke mehr fesselte als das, was sich vor ihr abspielte. Das Gemälde stellte eine Landschaft oder einen Garten vor. Zwei gelbe Straßen, von schnurgeraden Bächen begleitet, durchfurchten ihn in mißhandelter Perspektive. Eine Allee von runden, grünen Bäumen jagte hinter der einen Straße her und stoppte plötzlich, als habe sie erschrocken ihre mangelnde Berechtigung erkannt. Im Vordergrunde lagen violette Beete, Liwanpolstern ähnlich, die man in der Sonne trocknet. Auf den gelben Straßen ergingen sich schwarze Damen und buntgekleidete Leute mit Krummsäbeln, die Kawassen glichen, offenbar aber Prinzen waren. An ihren weißen Turbanen staken Agraffen mit riesigen Reiherbüschen. Sie gingen nicht mit den Damen, kümmerten sich auch augenscheinlich gar nicht um sie; sie waren sich alle ähnlich wie Eier untereinander, und ihre mandelförmigen, schwarzen Augen blickten heiter und nichtssagend unter dick aufgetragenen Brauen hervor, so daß es schien, als verhielten sie sich nur aus Dummheit so diskret.

Der junge Daûd versenkte sich, in das Gemälde; es erschien ihm so köstlich, daß er ganz vergaß, daß es ein Gemälde war. Es war eine Welt des Glücks, und Günstlinge des Reichtums ergingen sich darin, anmutig von Begierden belebt, die sie sich gestatten durften. Ihre zufriedenen Blicke kannten nur die Allee, die violetten Beete, die reizend abgezirkelten Straßen; weiter wußten sie nichts, denn die Weiber waren für sie nicht da. Die gingen im Gänsemarsch auf der anderen Seite. – Beide Teile, Kawassen und Damen, genossen den Augenblick, genossen ihn schon, seit sie auf die Wand gezaubert waren, und würden gleich heiter bleiben, bis der Kalk herunterfiel. Mittlerweile führten sie eine Art entrückten Daseins, und Daûd, der sich mit ihnen in dem Garten befand, spürte es mit Liebe.

Es dauerte eine Weile, bis er sich zurechtfand. Denn nun wurden die Sinne auf das gelenkt, was vor dem Bilde war. Auf einer halbkreisförmigen, mit bunten Kissen belegten Bank saßen die Musikanten, die Fesse trugen, und in ihrer Mitte hockte eine in schwarzen schmutzigen Kreppstoff gehüllte Frau mit einem rollenförmigen Messingschleierhalter über der Nase. Sie alle vollführten mit Pauken, Zimbeln, Lauten und Tamburinen einen großen Lärm und schrien dazu, in aufstachelnder Einförmigkeit, einen Gesang voll unendlicher Wiederholungen.

Nach kurzer Zeit betrat ein junges Weib die Bühne. Zunächst hob sie die Arme gekreuzt vor die Brust in Schulterhöhe. Es schien, als ob sie noch stillstehe und nach dem Einsatz suche, um sich in den Rhythmus einzufügen, jedoch in Wirklichkeit war sie schon längst auf ihre Art in Bewegung. Ein leichtes wellenartiges Zittern durchlief ihre Hüftengegend ... und auf einmal, während sie näselnd zu singen begann, rollte das Becken hin und her, zeigte ein plötzlich entfesseltes, selbständiges Leben, während der Oberkörper noch in völliger Ruhe blieb.

Um die schwarzen Haare trug sie ein blaues, goldgesticktes Tuch, unter dem große dünne Goldringe hervorpendelten. Ihr sehr knappes, goldbordiertes, karminrotes Jäckchen, an den Brüsten kreisförmig ausgeschnitten, bedeckte die Schultern zur Hälfte, wand sich durch die Busenrinne und umschloß den unteren Brustkorb wie ein Panzer. Unter ihm, bald in sanfter Höhlung zurücktretend, bald plastisch vorgeworfen, rührte sich mit vielfachem Muskelspiel der nackte Bauch. Prall um den Ansatz der Schenkel gefügt, hing ein bauschiges rotgoldenes Kleid bis zu den Füßen, die in blauen, bestickten Samtpantoffeln steckten. Das Kleid war in seiner ganzen Länge von goldbordierten Bändern umgeben, die, mit Lametta durchzogen, bei der Kreisbewegung des Bauches abwechselnd glitzerten. Breite Messingmünzen klirrten über der Brust, über dem Schoß und über den Hüften ... Alles an ihr zeigte eine zuckende, ruckweise Belebung, so, als erwachten die Funktionen eines wildgesteigerten Daseinsgefühls auf einem vorher ruhenden Körper.

Die Brüste bebten, sie schienen hervordringend an Rundung zu gewinnen, als sitze in jeder von ihnen eine Vogelseele, die aus dem seidenen Verlies zu entfleuchen dränge. Durch den dünnen Gazestoff, der sie umspannte, schimmerten große dunkle Warzenhöfe. Die Haut zeigte einen schwachen, hellbraunen Ton, der dem tierhaften Spiel der nackten Teile gleichsam eine edle Befugnis verlieh ...

Bisweilen wechselte die Tänzerin die Haltung der Arme, preßte sie gegen die Brust und knickte sie seitlich im Ellbogen ab, mit den Händen fächelnd. Sie war ganz von billigem Schmuck bedeckt. Das allmächtige Bedürfnis, sich dem Manne hinzugeben und dies Verlangen bis an die Grenzen der Möglichkeit zu betonen, hatte aus ihr einen Gegenstand des einfachsten Kultes gemacht, das inkarnierte Idol all der dumpfen und entzückten Hirne, die sie begrüßten. Die Musik wurde schneller, die Sänger jauchzten heiserer. Der Körper folgte ihnen unter heftigem Aufklappen der Fersen auf den Bretterboden. Die Tänzerin hob die Arme wie zu einer unersättlichen Umschlingung all derer, die vor ihr saßen ... dann streckte sie sie ganz steif über dem Scheitel: die Fingerspitzen der rechtwinklig abgebogenen Hände berührten sich: und so bot sich der schlangenhaft bewegliche Körper freier und wilder den Blicken dar. Mit der Zeit ward ihr rundes, grobes Gesicht mit den blau unterstrichenen Augen und den leuchtenden Tätowierungen von Schweiß ganz blank; heftig überreizte Nerven zappelten in den von brünstiger Erschöpfung zerknitterten Lidern, um die Nüstern, um den zum klaffenden Halbkreis verzerrten Mund mit den schmalen, enggruppierten, rotgefärbten Zähnen; und um den Wirbel ihrer Bewegungen schwelte die Flamme einer in sich selbst verbrennenden Gier.

Plötzlich, nach einem letzten, heiseren Aufschrei sämtlicher Begleiter und einem hohen, wimmernd röchelnden Lustschrei des Weibes brach die Musik ab, und die plötzliche Stille hackte gleichsam wie ein brutaler Beilschlag die bebenden Fäden all der Blicke ab, die aufs höchste erregt aus dem Dunkeln starrten. Eine Kluft zwischen

79 den Bankreihen und der Bühne sprang gähnend auf, die fatale Entfernung eroberte ihr Recht, und die lampenhelle Wirklichkeit fuhr ernüchternd in die Köpfe. Ein heftig atmendes, gewöhnlich aussehendes Weib verweilte da oben noch einen Augenblick, mit hündisch nach Luft gierenden Flanken; dann ging sie wankend mit einem erstarrten Lächeln nach rechts hinaus. Die Honoratioren waren die ersten, die, mit beifällig wiegenden Köpfen, wieder zu schwatzen begannen. Einer von ihnen, ein behäbiger Krämer, führte das kugelförmige Bernsteinmundstück seiner Wasserpfeife, deren gewichtiger Apparat von Glas und Messing sich unterhalb seiner Füße breitmachte, ohne viel Andacht wieder an seine breiten Lippen und sog beharrlich schmatzend daran, denn das Kohlestückchen unten auf dem Tabaknapf war halb erloschen. Daûd starrte den Schlauch an, der sich hübsch gemustert wie eine Schlange in die Höhe ringelte... doch er wußte nicht, was er sah, wußte überhaupt vorerst gar nichts mehr von seiner Umgebung, und sein Kopf war tief benommen. Der Gesang begann von neuem mit gleichmütigem Geplärr, intoniert von dem alten Weib mit dem Kinnschleier. Daûd verweilte noch wie in halbem Schlummer; ehe jedoch eine zweite Tänzerin erschien, stahl er sich hinaus, denn ein unerträglicher Druck, der scheinbar im Magen saß und sein kleines Herz angstvoll und allzu emsig schlagen ließ, bedrängte ihn. Es mochte wohl die dicke Luft sein, die ihm Übelkeit verursachte, ihm, dem der reine Atem der Felder Bedürfnis war.

Hinter einer Torfahrt auf einer Pferdedecke schlief er ein. Es mochte Mitternacht sein, vom schwarzen Himmel taute Sternenfrieden: da sah er vor sich eine schimmernde Wirrnis. Aus einem Hintergrund von Rot und Gold wuchs ein nacktes Weib hervor. Sie ließ verzückte Blicke über ihn spielen wie ehemals seine Traumgeister bei der Sakije im Weizenfeld; doch waren diese Blicke seltsam entlegen und rückten weit hinweg, wenn Daûd ihnen begegnen wollte. Das Weib wand sich einsam; ihr Leib spielte, schmiegsam verrenkt, bald gewölbt, bald hohl vertieft, ein unerklärliches Spiel vor einer schwer erglühenden Ferne. Sie spielte mit einem Gedanken, der noch in Keimhüllen steckte, einem unreifen, brennenden Gedanken, und fachte unersättlich und unablässig erste zögernde Pulse an...

Die Dämmerung ist flüchtig. Sie ist ein heißer, qualvoll mit bitterster Kraft geführter Zwiekampf zwischen letztem Sonnenprunk und der tückischen Hydra der Lichtlosigkeit, die schaurig schnell siegt. Die Welt ist noch hell, in ihren Abgrenzungen scharf erkennbar; aber Licht und Schatten sind seltsam tot verquickt. In dieser kurzen Zeitspanne tauchte eines Abends ein Weli auf. Es hieß, er sei die Straße El-Mahatta heraufgekommen und habe sich südlich des Städtchens in einen trockenen Graben gesetzt.

Das Gerücht ging schnell genug von Mund zu Mund, und als man den Weli fand, war es Nacht. Die Gestirne schienen hell genug, um eine Betrachtung zu ermöglichen, die der Neugier Genüge tat. Er trug einen riesenhaften Turban von der Größe eines Rabennestes; darunter tat sich ein verschlossenes, scharfkantiges Gesicht hervor, mit einer vorspringenden Hakennase und zurückgesunkenen, in rätselhafter Trübsal starrenden Augen. Ja, das war offenbar, der Weli saß in dem Sumpf und in den Schlacken eines Leides, einer Bekümmernis, die hehren Ursprungs war – und aus ihr hob sich sein Märtyrerantlitz wie nach Licht dürstend. Seine Hände hingen, über die spitzen Knie gelegt, mit den Tellern nach unten, und die erschlafften langen Finger waren der Erde zugewandt, der Urmutter und zugleich dem Grab alles Vergänglichen. Bisweilen hustete er kurz und bedeutungsvoll; und so oft der Husten seinen Hals erschütterte, schwankte das Rabennest, und er sank gleichsam um einen Leidensgrad tiefer unter seiner wollenen Last. Er war unleugbar erhaben und bemerkenswürdig. Die Leute drängten sich herzu. Man sah strenge Männer, fassungslose Weiber, Arbeiter, Laufjungen und Eseltreiber; kurz, es war eine breite Volksangelegenheit und Aufhebens wert.

Der Weli trug einen schmutzigen, recht geräumigen Kaftan, den er hübsch um sich zu drapieren verstand. Er kümmerte sich keineswegs um die Sensation, die er verursachte. Ein Brennpunkt des Interesses, gebärdete er sich höfisch und voll abwehrender Mimik; er heimste mit keinem Seitenblick die Andacht der Mienen ein und lieh dem Geflüster um sich nicht das geringste Ohr. Es schien ihm sogar lästig zu sein, daß die Fama seiner Heiligkeit so schnell auf die Spur gekommen war. Jedenfalls stellte er die freudige Frömmigkeit auf eine rechte Geduldsprobe. Man harrte aus.

In Khakiuniform, mit engen Hosen, einen martialisch großen Fes auf dem Wollhaar, erschien ein Polizist. Er schwang eine Peitsche aus Nilpferdhaut, die ihrer ganzen Länge nach um den Stiel zurückgewickelt war und so ein gewichtiges Zuchtmittel darstellte. Er schwang sie, daß die Luft zischte, und freute sich darauf, den Auflauf auseinanderzujagen. Er formte schon im Geiste bewährte Schimpfworte, die er zu handhaben verstand, so daß dort, wo er sie hinhauchte, kein Gras mehr wuchs. Doch, o Wunder! Er kam näher –: seine Augen wurden sanft. Der Wolf ward zum wedelnden Hunde; er ließ die Peitsche verschwinden und stellte sich gleich den anderen stumm in den Hintergrund.

Er hatte erfahren, daß der heilige Mann Ruhe wünsche. In Wahrheit hatte der Weli überhaupt keinen Wunsch geäußert, sondern lediglich mit Ausdauer geschwiegen. Jetzt endlich rührte er das Haupt wieder; der Turban sank langsam in den Nacken. Er sah sich um. Seine betrübten Augen schienen niemand zu bemerken ... dann tat er einen gemächlichen Kniefall, ohne sich zu übereilen, und legte die Hände an die Ohren, als ob er auf irgendeine geflüsterte Eingebung lausche. In diesem Augenblick kam Daûd mit seinen Freunden und wand sich, reich mit Fußtritten bedacht, in die Nähe des Grabens, so daß er ein guter Ohrenzeuge des Vorgangs war. Und der einsame Weli warb zur Quelle tiefer Erbauung. Ein Gesang drang unter dem großen Turban hervor: unablässig strömende Sätze, die am Schlusse langgezogen dahinhallten, wie als verquickten sie sich mit dem Ansatz eines Echos in unsichtbarem Gewölbe... und schier noch unter dem Fittich des einen Satzes rührte sich der zweite, so tief und voll tönte der Ausklang in den Ohren. Daûd hörte einen ganz alten Mann neben sich sprechen: »Es ist die Sure der ›,sich Reihenden‹,.« Daûd war hingerissen. Er fühlte sich von den Bildern, die sich aus dem Gesang formten, überschwenglich erschüttert. Er vernahm von der großen Scheidung am »Tag des Gedränges« und von der kreischenden Angst der Verworfenen auf der messerscharfen Brücke... Und dann umwehte ihn das Idyll der Seligen wie Ambraduft:

»Aber die Diener Allahs
Sorgenfrei werden sie leben,
Früchte werden sie speisen
In den Gärten der Wonne,
Auf Polstern einander gegenüber.
Kreisen soll unter ihnen ein Becher aus einem Born,
Weiß, süß den Trinkenden,
Kein Taumel soll in ihm sein,
Und nicht sollen sie sich berauschen,
Und bei ihnen sollen sein züchtig blickende Großäugige,
gleich dem versteckten Ei...«

Als der Weli diese Verse sang, geschah ein Wunder. Ein Licht erglühte unter seinem Kaftan und erhellte die Herzgegend. Es war ein ruhig brennendes Licht, es schwebte wie ein Stern in den Kleidfalten. Es flackerte nicht und verlosch nicht. Der Weli schien es kaum zu bemerken; es schien, als habe es sich von selbst an seiner Inbrunst entzündet. Die Menge starrte entgeistert, ganz Auge, ganz Ohr: nur ein seufzendes, atemloses Geflüster ging um. Dort unten saß der Heilige wie ein Glühwurm in seinem unirdischen Schimmer und sang immer lauter das Ende der Sure... Zum Schluß, als sie in ein Lob Allahs endete, erlosch das Licht, und die Dunkelheit sank herein.

Da stiegen die Leute herab, langsam und ehrfürchtig, und legten kleine Gaben vor dem verstummten Weli nieder. Die Frauen küßten, einen Spruch murmelnd, sein Gewand. – –

Als sich die Menge langsam zerstreut hatte, nahm der Heilige das Lämpchen heraus. Es war schwarz und flach, und wenn man es oben drückte, so glühte es. Es war ihm selbst nicht recht begreiflich, das Teufelslämpchen; es war ihm schauerlich und befremdlich; aber er sagte sich, daß es rundum geschlossen sei und somit das Höllenlicht keinen Ausweg habe. Er machte für sich noch eine kleine Privatillumination, um den Ertrag, der in Zigaretten, Weizenbroten, Obst und einer Schüssel voll Bohnen und Hammelspeck bestand, zu sichten und zur Hälfte aufzuzehren. Dann löschte er sein Licht und fiel satt und zufrieden auf der Stelle in einen sorglosen Schlaf.


Anderen Tages war es das erste für Daûd, daß er den Schulmeister nach dem Weli fragte.

»Ich bin sehr betrübt,« sagte Ali-ibn-Mûsa, »daß ich es versäumte, den heiligen Mann zu hören. Allah strafe mich! Ich saß und rauchte, und mein Magen war gefüllt. Da liefen die Leute vorbei und schrien: ›,Ein Weli, ein Weli! Draußen im Feld!‹, – Und ich Unwürdiger sprach zu mir selbst: ›,Das Feld ist weit entfernt, und bald wird Abu-Gagâz, mein Vetter, kommen, und wir werden miteinander das Brettspiel ziehen – ‹,, also blieb ich in Lässigkeit; doch als ich hörte, der Weli habe ein Wunder getan und einen Schimmer gezeigt, da verfluchte ich mich und sprach das Bußgebet. Heute nun will ich den heiligen Mann gewißlich besuchen.«

»Er sang sehr schön, Schulmeister!« unterbrach ihn Daûd geschäftig. »Er sang die Sure der ›,sich Reihenden‹,!«

»Allah! – Du weißt das! Du bist mir wohlgefällig, Sohn des Zabal! Ich muß dich durchaus loben! Dein Fleiß und deine Beharrlichkeit sind erstaunlich! Was nun den Weli anlangt, so gilt für ihn jenes Wort, das gesprochen ward: ›,Wahrlich, über die Begünstigten Gottes wird keine Furcht kommen, und sie werden keinen Kummer haben.‹, – Welcher Art nun sind diese Personen? fragt ihr mich. Darauf sage ich dir, Daûd, und euch anderen Knaben (o Saffâr, lasse jene Maus frei und zerre sie nicht am Schwanz; denn der erhabene Gott hat ihn ihr gegeben!) – darauf sage ich euch: die Aulija sind solche, die Gott ganz ergeben sind und einen außerordentlichen Glauben besitzen, so daß sie die Macht haben, Wunder zu verrichten. Das Haupt der heiligen Männer ist der Kutb, den Gott segne. Er geht unsichtbar umher und tut Gutes; ja, er ist hier und dort zugleich. Ein Bruder meines Vaters, der die Pilgerfahrt machte, sah ihn auf dem Dach der Kaaba sitzen und vernahm ihn, wie er zur Mitternacht dreimal schrie: ›,O Barmherzigster der Barmherzigen!‹, – – – Dies beschwor mein Vaterbruder, und es wäre Sünde, daran zu zweifeln. Ein anderer Ort, den der Kutb sich wählt, ist die Nische des Bab-es-Suweîli in der Stadt Kairo. Jedes zweite Jahrhundert ruft der Prophet – den Gott segne – den bisherigen Kutb ab und erwählt einen neuen zu seinem Dienst ...

Unter dem Schutze nun dieses einzigartig Begünstigten steht auch jener Mann, den ihr gestern saht; und mich dünkt, er ist von höherem Grad, da er von innen heraus zu leuchten anhebt, wenn er die Worte vom ›,Garten‹, spricht. Dies ist alles, was ich euch über die Aulija berichten kann ... und nun weiter, im ›,Haus Imrân‹,!«

Das war auf der Straße nach Karnak, um die Mittagszeit. Es war ein Tag wie viele andere, und Daûd ging heraus. Er ging allein mit noch nüchternem Magen und machte sich im Gehen viele Gedanken. Sein Inneres war durch manches Neue in Verwirrung gesetzt; dann und wann wachte eine unbestimmte Sehnsucht auf ... Wonach? Ja, wonach? Die Straße vor ihm zog sich, zu grellgelbem Staub getrocknet, unabsehbar dahin. Unter jedem Lebbachbaum ruhte, gleichmäßig um den Stamm verteilt, ein runder, abgezirkelter Schatten: die Sonne stand im Zenit. Das Leben ringsum schwieg; glutheißer Atem des Südwindes rührte sich.

Auf einmal wußte Daûd, wie er so im Staub dahintrottete und Mistkäfer mit der harten Sohle zerknirschte, wonach seine Sehnsucht sich rühre! Geselligkeit war es, wonach ihn verlangte, aber nicht mit Sawân, Afr oder Saffâr, sondern mit einem, der ihm selber ähnlich sei. Denn wenn er auch mit den ungebärdigen Knaben den halben Tag hinter Kälbern und Rindern herrannte, die Bauwabs und die Fremden ärgerte, die Auslagen bestahl und andere noch entzückendere und phantasievollere Scherze trieb, so befielen ihn doch plötzliche Augenblicke einer fremdartigen Ernüchterung. Ihm war, als ob aus einem Versteck heraus eine Stimme spreche: »Warte, o Daûd, warte noch eine Weile, denn bald komme ich!« Wer war das, der fortwährend ein Ich sprach, das seinem eigenen tief verwandt, ja fast überlegen schien? – Es war ein stolz hervorgestoßenes, trotzig befehlshaberisches und doch freundschaftliches Ich, das sich anzeigte ... Dabei, wenn er überlegte, wie der beschaffen sein müsse, der es gesprochen habe, konnte ihm sein Hirn keinen weiteren Fingerzeig geben, und seine Träume gingen fruchtlos ihren bunten Pfad ...

Er warf sich auf der Seite der Straße unter einen Stamm. Und er sah aus dem Schatten der Akazie heraus über den kahlen Graben und die grünen Felder. Sein Blick verweilte bei fernen Palmengruppen und blassen Hügeln. Eine Frau ging vorbei, schwarz und winzig bewegte sie sich wie eine Ameise in einem ungeheuren flachen Teller; die Kanäle blitzten fadendünn wie in Zinn graviert; und links lag der Karnak-Komplex in wuchtiger Ruhe. Ein Kamel wandelte steif auf ihn zu, und ein kleines Mädchen in mohnblumenrotem Kattunhemd führte es hüpfend am Halfter...

Ein Dunst von ewiger Mühsal lag auf dem hitzegeschwängerten Bereich, ein heller Sonnenbrodem, in dem alle Gegenstände zitternd versanken. Und wabernd, flimmernd zerrann das Gesichtsfeld; die Konturen wurden wesenlos und die fernen Schreie einzelner Menschen und Tiere zu stillen Zirptönen ... Das leichte Trappeln eines Esels auf der Straße, hinter dem ein stoßweises Treiberkeuchen flog, sickerte in die Brutstille des Nichts hinein, wie das Ticken einer Uhr, das mit letztem Schwingen der entspannten Feder allmählich endet...

Nichts gleicht dem Blau des Himmels über dem Niltal!

Ist es von Hitze erfüllt, so erbleicht es zu einem fiedenden Weiß, in dem, gleich schwarzen Punkten, die Raubvögel reglos schweben oder, wenn sie mit den Schwingen rudern, in langem Strich nach anderen, gleich hoffnungslos durchgluteten Bereichen ziehen. Rücken die Stunden vor, dann vertieft sich das Blau, zeigt sattere Töne und umgreift immer voller und mächtiger alle Welt im Rund; schwelgerisch durchtränkt es die Dinge und überleuchtet Wüste und Stromland mit gleicher Zärtlichkeit ... Die Augen Daûds schlossen sich. Vor seinen Lidern war flammendes Mittagsweiß. Er schlief ein, und nach mehreren Stunden glaubte er zu erwachen: da sah er geradeswegs in ein strotzendes Blau, in dem der Blick untertauchte; in ein warmes Nichts, worin die eine Farbe allmächtig triumphierte. Vom Blau glitt sein Blick einen Zoll tiefer, in das Grün des Ackers, und dann wieder hinauf ... da war ihm, als sähe er etwas Seltsames sich vollziehen: eine Umwandlung des Nichts in ein Etwas, das langsam Gestalt gewann und sich schwer und lichtschwankend aus dem Blau gebar. Siehe da, ein Menschengewimmel, ein lautloser Prunk unendlich vieler, wallender Gewänder! Und hinter dieser Menge tauchte ein quadratisches Gebäude auf, durchsichtig zunächst, dann gut erkennbar, aus tieferer Bläue geformt. Und mit einem Male wußte er's: das war die Kaaba, und diese Vorstellung war mit einer flüchtigen Erinnerung an den Fiki verknüpft. Doch löste sich jetzt alles Gefühl für die Wirklichkeit auf ... Ein unbeschreiblich milder, gleichmäßiger Sonnenglanz umfunkelte jene Stätte.

Auf einmal schien sich die Menge zu teilen, ja, auf und nieder rinnend, sich zu verflüchtigen, so daß der Platz mit der Kaaba, umkränzt von einer zierlichen Arkadenflucht, frei und einsam lag. Und siehe: unter den schlanken Säulen des Hintergrundes hervor, langsamen Schrittes über das farbenblühende Mosaik des Pflasters, kam ein Zug von Leuten, an deren Spitze einer schritt, dessen Anblick Daûds Herz fast zum Stocken brachte. Er war bärtig, sein Gesicht war scharf und schön, mit adlerförmiger Nase und scharfem Mund; der Kiefer, dessen Gelenk scharf vom Ansatz des Halses trat, drückte einen unerhörten Willen aus. Das, was alles vor ihm niederzuwerfen schien, waren seine Augen. Schwarz und rund glühten sie aus ihren Höhlen, sie funkelten reglos ekstatisch in die Weite, durchdrangen alles, waren untrügliche Spiegel des Fernen und Nahen, ganz erfüllt und durchpulst von einer reichen, sprungbereiten Seele und weitausgreifender Macht, königlicher Duldsamkeit und barbarischer Kraft. Der Mann überquerte den Platz, und unter seinem grünen, seidenen Mantel, der ihn mit verschwenderischem Bausch umwallte, leuchteten seine Schuhe feuerrot hervor. An seiner Seite, rechts und links, schritten zwei Jünglinge, ebenfalls grün gekleidet, mit runden, trauervollen Gesichtern. Sie alle trugen grüne Turbane, und die der vorderen drei Männer waren mit Perlen durchwunden. Eine Gruppe von weißbärtigen Schêschs, die bunte Rosenkränze in den Fingern drehten, beschloß den Zug.

Nun stellte sich der fürstliche Mann vor die Kaaba und rief:

»Komm herab, o Kutb! Deine Zeit ist erfüllt!«

Und eine Stimme vom Dach erwiderte:

»Es ist kein Gott außer Ihm! Und kein Prophet außer Dir!«

Und siehe, vom Dach herab schwang sich ein grüner Vogel und ließ sich auf der Schulter des Propheten nieder.

Auf einmal flogen wie eine Wolke andere Vögel heran, und in ihrem grünen Geflatter verschwand der Hof mit den Arkaden, der Kaaba und den Schêschs; nur Mohammed allein blieb zurück, und zu seinen beiden Seiten die Frühgemordeten, Hassan und Husên. Eine Glorie wuchs hinter ihnen heran: von Moschusduft getränkter Zephir. Und der Prophet zeigte in verschiedene Richtungen, und überall erglänzten Minarette, Kuppeln, glanzvolle Städte. Und Daûd vermeinte den ganzen Nil zu sehen, auf unendliche Meilen hin gesäumt von morgenstillen Palmen ... reiche Dörfer, von Mensch und Vieh überfüllt, sprenkelten die Ufer ... Bis nach Omdurman glaubte er zu sehen, tief in das heiße, üppige, verräterische Herz des Kontinents ...

Nun sanken die Jünglinge nieder, und der Prophet legte ihnen die Hände auf die Häupter. Dann standen sie auf, und der Prophet wandte sich um und schwebte mit ihnen in eine schimmernde Gartenwelt zurück, die ganz hoch oben im Blau entstand. Die grünen Kleider leuchteten noch lange, ehe sie mit dem Garten und der Bläue zu leichtem Duft verschmolzen; und hinter ihnen verschwamm, sonor und schwellend, in erhöhter Farbe ein zweites Mal der Schrei: »Es ist kein Gott außer Ihm! – Und kein Prophet außer Dir!« – – – –

Als Daûd erwachte, kam der Mond über die Wüste herauf, gewaltig groß, und stieg quittengelb in das dunkle Violett des Abends.


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