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Fliegender Sommer

Die Welt ist sehr vernünftig geworden. Das kommt, sie liest immer in den großen Zeitungen alle die unglaublich vernünftigen Dinge, welche weise Männer erdacht haben. Da fahren nun dem Einen Tag und Nacht kleine Eisenbahnen im Kopfe umher und er hat genug aufzupassen, daß Alles mit rechten Dingen zugeht. Dem Anderen marschirt ein Zahlenregiment nach dem andern durchs Gehirn, und er muß hübsch nachzählen, daß es kein Unglück giebt. Und viele nun gar, die wälzen Tag und Nacht das Wohl und Wehe der Welt in ihren Gedanken umher, so daß sie kaum Zeit behalten, an ihr eigenes zu denken. Die Zeiten sind herbstlich; nur das, was Früchte trägt, wird geschätzt.

Es weht eine verstandesklare Luft, die keine Ferne mit verlockendem Dämmer umhüllt, und es blühen prangende Blumen, die nicht duften. Da kommen nun diese leichten Phantasiegespinnste geflogen, und die Welt wird gleichgültig an ihnen vorübergehen. Nur ein Wandersmann vielleicht fängt sie auf und erfreut sich an ihrem leichten Fädenspiel, ein junges Mädchen vielleicht sieht sinnend sie vorüberziehn, eine fröhliche Kindesseele hascht vielleicht nach ihnen. Und mit denen müßt ihr euch denn begnügen, ihr luftigen Gespinnste. So fliegt denn hinaus und seht zu, wo ihr sie findet.

Berlin, im Juli 1873.

Heinrich Seidel.


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