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Siebzehntes Kapitel.

In der letzten Zeit, wo in unsern Verhältnissen immer mehr Störungen eintraten, waren Diana und ich nie in den Abendstunden zusammengekommen. Der Büchersaal stand mir, wie jedem andern Mitgliede der Familie, zu allen Stunden bei Tag und Nacht offen, und man konnte mich nicht der Zudringlichkeit beschuldigen, so plötzlich und unerwartet ich auch erschien. Ich glaubte fest, daß Diana in diesem Zimmer Vaughan oder sonst jemand, nach dessen Meinung sie ihr Verhalten zu regeln gewohnt war, gelegentlich sah, und zwar zu einer Zeit, wo sie am wenigsten eine Störung befürchten konnte. Das Licht, welches die Fenster des Saales in ungewöhnlichen Stunden erhellte, die vorüberwandelnden Schatten, die ich selber bemerkt hatte, die Fußtritte im Morgentau, die man von der Turmtür bis an die Hinterpforte des Gartens entdecken konnte, die Töne und Gestalten, welche einige Diener, und vornehmlich Andreas, beobachtet und nach ihrer Weise ausgelegt hatten, alles dies verriet, daß der Ort von jemand besucht werde, der nicht zu den gewöhnlichen Hausgenossen gehörte. Da dieser Freund wahrscheinlich in Dianas Schicksal verwickelt sein mußte, so entwarf ich alsbald einen Plan, zu entdecken, wer oder was er war, und inwiefern sein Einfluß gute und böse Folgen für sie haben konnte; vor allem aber wünschte ich zu wissen, durch welche Mittel dieser Unbekannte seinen Einfluß auf Diana erworben hatte und behauptete, und ob er sie durch Furcht oder durch Zuneigung leitete. Mit dem glühenden Verlangen, einen Nebenbuhler zu entdecken, oder vielmehr zu ertappen, ging ich daher in den Garten, um den Augenblick abzuwarten, wo die Fenster des Büchersaals erleuchtet sein würden.

Meine Ungeduld war indes so groß, daß ich an einem Juliabend, eine Stunde vor Anbruch der Dunkelheit, ehe das Licht erscheinen konnte, meine Wache antrat. Es war Sonntag, und die Gänge waren still und einsam. Ich wandelte ein Weilchen auf und nieder, die erfrischende Kühlung des Sommerabends genießend, und sann darüber nach, was für Folgen mein Beginnen unter Umständen haben könnte. Die frische balsamische Luft wirkte beruhigend auf mein heiß wallendes, fieberhaftes Blut, und als der Aufruhr in meinem Gemüt sich etwas legte, begann ich mich zu fragen, was ich für ein Recht hätte, in die Geheimnisse des Fräuleins oder meines Oheims einzudringen. Was ging es mich an, wen mein Oheim in seinem Hause verbergen wollte, wo ich selbst nur als Gast geduldet ward? Und welches Recht hatte ich, Dianas Angelegenheiten nachzuforschen, welche, wie sie selbst gestand, mit einem Geheimnis umhüllt waren, das sie nicht erforscht wissen wollte?

Leidenschaft und Eigenwille hielten ihre Antworten auf diese Fragen bereit. Wenn ich diesen geheimen Gast entdeckte, erzeigte ich aller Wahrscheinlichkeit nach meinem Oheim einen Dienst, da er vermutlich nichts von den Ränken wußte, die in seiner Familie verübt wurden, und einen noch wichtigern Dienst konnte ich Diana Vernon leisten, welche sich, bei der arglosen Einfalt ihres Charakters, in dem geheimen Umgange mit einem Manne von vielleicht zweideutiger und gefährlicher Sinnesart, so vielen Gefahren aussetzte. Wenn ich mich in ihr Vertrauen einzudrängen schien, so geschah es mit der edelmütigen und uneigennützigen Absicht, – ja ich wagte sogar, es Uneigennützigkeit zu nennen – sie zu leiten, zu verteidigen, zu beschützen gegen List, gegen Bosheit – und vor allem gegen den geheimen Ratgeber, den sie zu ihrem Vertrauten gewählt hatte. Das waren die Gründe, die mein Wille dreist meinem Gewissen als gültige Münze darbot, und die das Gewissen trotz aller Zweifel an ihrer Echtheit, gleich einem murrenden Krämer, lieber ruhig hinnahm, als es zum offnen Bruche mit einem guten Kunden kommen zu lassen.

Während ich, diese Dinge für und wider erwägend, durch die grünen Gänge wandelte, traf ich plötzlich den Gärtner, der wie ein Standbild vor einer Reihe von Bienenstöcken in andächtiger Betrachtung versunken stand. Mit einem Auge beobachtete er die Bewegungen des kleinen regen Völkchens, das in seinem Strohhaus sich für den Abend niederließ, und das andere heftete er auf ein Andachtsbuch, das durch langen Gebrauch seine Ecken verloren, und so abgenutzt war, daß es schon eine länglich runde Form erhalten hatte.

»Ich las da eben ein Sprüchlein in des verdienstvollen Quacklebens Werke: »Die Blume süßen Wohlgeruchs, gesäet auf dem Misthaufen dieser Welt,« sprach Andreas, als er mich sah, und machte das Buch zu, seine Hornbrille als Lesezeichen hinlegend.

»Und die Bienen,« bemerkte ich, »lenkten Euch ab von Eurer Lektüre?«

»Sie sind ein widerspenstiges Volk,« erwiderte der Gärtner. »Sechs Tage in der Woche haben sie Zeit zu ihrem Tun, und dennoch, wie man weiß, schwärmen sie immer am Sabbath, und halten die Leute ab, Gottes Wort zu hören. – Doch hier wird des Abends nicht in der Kapelle gepredigt –«

»Wäret Ihr in der Pfarrkirche gewesen, Andreas, wie ich, so hättet Ihr eine vortreffliche Predigt gehört.«

»Ei ja!« erwiderte Andreas mit trotzigem Lachen, »ich hätt' ohne Zweifel gehört, wie dort der Pfarrer in seinem weißen Hemd seine Litanei herunter plapperte und die Musikanten aufspielten, mehr wie zu einer Hochzeit, als zu einer Predigt. Da wäre ich lieber zur Vater Docharty in die Messe gegangen.«

»Docharty?« wiederholte ich, – es war der Name eines alten Priesters, eines Irländers, denk ich, der zuweilen im Schlosse das Amt verrichtete – »ich glaube, Vater Vaughan sei gegenwärtig. Er war gestern hier.«

»Ja,« erwiderte Andreas, »aber er ist gestern nach Greystock oder wer weiß sonst wohin gereist. Es ist jetzt eine rechte Unruhe unter ihnen. Sie sind so geschäftig, wie meine Bienen hier. Gott behüte sie, daß ich die armen Dinger mit den Papisten vergleiche! – Das ist der zweite Schwarm, der erste ist am Morgen geschwärmt. Doch ich denke, sie werden sich über Nacht ruhig verhalten. So wünsch ich Euer Gnaden eine gute Nacht.«

Mit diesen Worten entfernte sich der Gärtner; doch warf er noch einen Abschiedsblick auf die Bienenkörbe zurück.

Ich verdankte ihm die wichtige Nachricht, daß Vater Vaughan nicht mehr im Schlosse war. Wenn also an diesem Abend. Licht im Bücherzimmer erschien, so konnte es entweder nicht das seinige sein, oder er beobachtete ein sehr geheimnisvolles und verdächtiges Betragen. Mit Ungeduld erwartete ich den Untergang der Sonne. Kaum war es Dämmerung, als ein schwacher Schein im Büchersaale sichtbar ward, kaum zu unterscheiden bei dem noch fortdauernden Abendschimmer. Ich entdeckte jedoch den ersten Strahl so schnell, wie der Schiffer, den die Nacht auf hoher See überfällt, das ferne Blinken des Leuchtturms entdeckt, der ihm den Kurs zeigt. Wenn ich bisher bei aller Eifersucht und Neugierde Bedenken gehegt hatte, ob es auch schicklich sei, mich einzumischen, so war jetzt, als sich die erste Gelegenheit bot, Eifersucht und Neugierde zu befriedigen, jedes Bedenken verschwunden. Ich ging in das Haus zurück, und die besuchten Gemächer vermeidend, gleich einem, der seine Absicht zu verheimlichen wünscht, erreichte ich die Tür des Büchersaales. Ich zögerte einen Augenblick, als meine Hand die Klinke berührte – hörte leise Fußtritte drinnen – öffnete die Tür und fand – Diana allein.

Sie schien überrascht, ob über meinen plötzlichen Eintritt oder über sonst etwas konnte ich nicht erraten; allein ihr Wesen zeigte eine so hohe Unruhe, wie ich nie an ihr bemerkt hatte. Nach einem Augenblick war sie jedoch ruhig; und so mächtig ist das Gewissen, daß ich, der sie überraschen wollte, selbst überrascht schien und gewiß der Verlegenste war.

»Ist etwas vorgefallen?« sagte Fräulein Vernon. »Ist jemand im Schlosse angekommen?«

»Niemand, daß ich wüßte,« antwortete ich mit einiger Verwirrung; »ich suchte nur nach Orlando.«

»Da liegt er,« sprach Diana, auf den Tisch zeigend.

Indem ich nach dem Buche suchte und einige andre beiseite legte, sah ich den Handschuh eines Mannes auf dem Tische liegen. Dianas Blicke begegneten den meinigen, und sie errötete tief.

»Es ist eine meiner Reliquien,« sprach sie mit unsichrer Stimme, nicht meine Worte, sondern meine Blicke beantwortend; »es ist einer von den Handschuhen des Großvaters, das Urbild des trefflichen Vandyke, den Ihr bewundert.«

Als wenn sie glaubte, daß die bloße Versicherung nicht genügte, ihre Behauptung glaubhaft erscheinen zu lassen, öffnete sie einen Schiebkasten des großen eichnen Tisches, nahm einen Handschuh heraus und warf ihn mir zu. Wenn ein von Natur aufrichtiges Gemüt sich zu Zweideutigkeit und Verstellung herabläßt, erregt oft die ängstliche Unruhe, womit die ungewohnte Sache verrichtet wird, bei dem Zuhörer einen Zweifel an der Wahrheit. Ich warf einen schnellen Blick auf beide Handschuhe und erwiderte dann ernst: »Die Handschuhe sind sich allerdings in Gestalt und Stickerei ähnlich; allein sie machen kein Paar, da sie beide an die rechte Hand gehören.«

Sie biß sich ärgerlich in die Lippen und errötete von neuem.

»Ihr habt recht, mich nicht zu schonen,« sprach sie mit Bitterkeit. »Andre Freunde würden aus dem, was ich sagte, bloß geschlossen haben, daß ich keine besondre Erkärung über einen Umstand geben wollte, der keine bedarf – wenigstens für einen Fremden. Ihr habt besser geurteilt, und mich nicht allein fühlen lassen, wie gemein Doppelzüngigkeit ist, sondern auch wie unfähig ich bin, mich zu verstellen. Ich sage Euch nun deutlich, daß dieser Handschuh nicht zu jenem gehört, wie Ihr scharfsinnig bemerkt habt. Er gehört einem Freunde, der mir noch teurer ist, als das Urbild von Vandykes Gemälde – einem Freunde, dessen Rat mich geleitet hat und leiten wird, den ich verehre, den ich –«

Sie schwieg. Ich war gereizt durch ihr Benehmen und ergänzte die abgebrochne Rede auf meine Weise: »Den sie liebt, wollte Fräulein Vernon sagen.«

»Und wenn ich so sagte,« erwiderte sie stolz, »wer will mich wegen meiner Zuneigung zur Rede stellen?«

»Ich nicht, Fräulein Vernon, gewiß nicht. Ich bitte Euch, mich nicht einer solchen Anmaßung zu zeihen. Aber,« fuhr ich etwas nachdrücklich fort, da ich auch empfindlich war, »Fräulein Vernon wird hoffentlich einem Freunde verzeihen, dem sie diesen Namen zu entziehen geneigt scheint, wenn er bemerkt –«

»Bemerkt nichts, mein Herr,« fiel sie mit einiger Heftigkeit ein, »außer daß ich mir weder Zweifel an meiner Person noch zudringliche Fragen gefallen lassen will. Von keinem Menschen auf Erden will ich mich verhören und beurteilen lassen, und wenn Ihr diese ungewöhnliche Zeit, Euch sehen zu lassen, gewählt habt, um meine Heimlichkeiten zu erspähen, so ist die Freundschaft oder Teilnahme, die Ihr für mich empfinden wollt, nur eine armselige Entschuldigung unhöflicher Neugier.«

»Ich befreie Euch von meiner Gegenwart,« sprach ich, ebenso stolz wie sie; denn meiner Gemütsart war es von jeher fremd, nachzugeben, selbst wo meine Gefühle am tiefsten ergriffen waren. »Ich erwache aus einem lieblichen, aber täuschenden Traume, und – doch, wir verstehen uns nun.«

Ich hatte die Tür des Zimmers erreicht, als Diana, wie es oft geschah, von einer plötzlichen Regung durchdrungen, mich einholte, meinen Arm ergriff und mit jenem Ausdruck von Hoheit, den sie so wunderbar annehmen konnte, und der, bei der Unbefangenheit und Einfalt ihres Betragens, so besonders anziehend war, mich zurückhielt.

»Halt, Herr Franz!« sprach sie. »Auf diese Weise sollt Ihr mich nicht verlassen. Ich bin nicht so reichlich mit Freunden versehen, daß Ich selbst die undankbaren und selbstsüchtigen wegstoßen könnte. Merkt, was ich sage, Herr Osbaldistone; Ihr sollt nichts von diesem geheimnisvollen Handschuh erfahren –« und, sie hielt ihn bei diesen Worten empor, – »nichts, nein, nicht ein Jota mehr, als Ihr bereits wißt, und dennoch soll er nicht zu einem Fehdehandschuh zwischen uns beiden werden. Mein Aufenthalt hier,« fuhr sie fort, in einen sanftern Ton fallend, »muß notwendig sehr kurz sein, der Eurige noch kürzer. Wir werden uns bald trennen und nie uns wiedersehen. Wir wollen uns nicht streiten und wollen uns die wenigen Stunden, die wir noch beisammen sein werden, diesseits der Ewigkeit nicht durch mein geheimnisvolles Unglück verbittern.«

Ich weiß, nicht, durch welche Zauberkraft dies einnehmende Wesen eine so völlige Herrschaft über ein Gemüt erhielt, das ich manchmal selber nicht beherrschen kann. Beim Eintritt in den Büchersaal war ich entschlossen, eine Erklärung zu suchen. Diana hatte mir dieselbe mit unwilligem Trotz verweigert und mir ins Gesicht gestanden, daß sie einen Nebenbuhler vorziehe; denn wie konnte ich anders den eingestandnen Vorzug des geheimnisvollen Vertrauten auslegen? Und dennoch, als ich das Zimmer verlassen und für immer mit ihr brechen wollte, brauchte sie nur Blick und Ton zu ändern, und von jener wahren und stolzen Empfindlichkeit zu freundlicher, scherzender, mit Wehmut und Ernst gepaarter Gewalt überzugehen, und sie hatte mich zur Annahme ihrer harten Bedingungen gezwungen und auf meinen ursprünglichen Platz zurückverwiesen. »Was hilft das?« sprach ich, als ich mich niedersetzte. »Was kann es helfen, Fräulein Vernon? Warum soll ich Zeuge von Verlegenheiten sein, die ich nicht erleichtern kann, und von Geheimnissen, die ich nicht einmal versuchen darf zu enthüllen, ohne Euch zu beleidigen? So unerfahren Ihr in der Welt seid, kann es Euch doch nicht entgehen, daß eine junge, schöne Frau nur einen männlichen Freund haben kann. Selbst bei meinem Freunde würde ich eifersüchtig sein auf einen dritten, unbekannten und verheimlichten Vertrauten; aber bei Euch, Fräulein –«

»Natürlich seid Ihr eifersüchtig, und zwar nach allen Graden und Launen dieser liebenswürdigen Leidenschaft. Aber, mein lieber Freund, Ihr habt die ganze Zeit über nichts gesprochen, als armseliges Gewäsch, welches Schwachköpfe so lange aus Schauspielen und Romanen nachsprechen, bis sie solchem Kauderwelsch einen wichtigen und mächtigen Einfluß auf ihr Gemüt gestatten. Knaben und Mädchen schwatzen sich in die Liebe hinein, und wenn ihre Liebe schläfrig wird, schwatzen und necken sie sich in die Eifersucht. Aber Ihr und ich, Franz, wir sind vernünftige Wesen, und weder einfältig noch müßig genug, um uns in irgend ein andres Verhältnis, als offne, redliche, uneigennützige Freundschaft, hinein zu sprechen. Jede andre Verbindung zwischen uns ist unmöglich. – Die Wahrheit zu sagen,« fügte sie nach augenblicklicher Pause hinzu, »wenn ich auch so nachgiebig gegen den weiblichen Anstand bin, ein wenig zu erröten über meine Aufrichtigkeit, wir können uns nicht heiraten, wenn wir auch wollten, und wir dürften es nicht, wenn wirs könnten.«

Und gewiß, sie errötete auf das lieblichste, als sie diese grausame Erklärung aussprach. Ich wollte eben ihre beiden Behauptungen angreifen, gänzlich uneingedenk des Verdachtes, der sich mir an diesem Abend bestätigt hatte, aber sie fuhr mit einer kalten Festigkeit, die an Strenge grenzte, fort:

»Was ich sage, ist einfache, unbestreitbare Wahrheit, worüber ich weder Fragen noch Erklärungen haben will. Wir sind also Freunde, Herr Osbaldistone? – Nicht wahr?« Sie hielt die Hand dar, aber die meinige fassend, setzte sie hinzu: »Und nichts andres, jetzt oder künftig, als Freunde.«

Sie ließ meine Hand los. Ich senkte sogleich mit derselben das Haupt, überwältigt von der Güte und Entschiedenheit ihres Wesens. Sie gab schnell dem Gespräch eine andre Wendung. »Hier ist ein Brief,« sprach sie, »richtig und deutlich an Euch überschrieben, der aber, bei aller Vorsicht der Person, die ihn schrieb und beförderte, vielleicht nie in Eure Hände gekommen wäre, hätte nicht ein gewisser Pacolet, ein bezauberter Zwerg, Besitz davon erhalten, den ich, wie alle unglücklichen Mädchen in Romanen, in meinen geheimen Diensten habe.«

Ich öffnete den Brief, überlief den Inhalt, – und das Blatt fiel aus meiner Hand: »Gütiger Himmel!« rief ich unwillkürlich aus, »meine Torheit und mein Ungehorsam haben meinen Vater zu grunde gerichtet!«

Diana erhob sich mit Blicken wahrer und zärtlicher Unruhe. »Ihr erblaßt – Ihr seid krank – soll ich Euch ein Glas Wasser bringen? Ermannt Euch, Herr Osbaldistone, seid stark! Ist Euer Vater – ist er nicht mehr?«

»Er lebt, Gott sei Dank!« sprach ich; »aber in welcher Not und Beschwerde –«

»Wenn das alles ist, so verzweifelt nicht. Darf ich den Brief lesen?« fragte sie und hob ihn auf.

Ich bejahte es, kaum wissend, was ich tat. Sie las ihn mit großer Aufmerksamkeit.

»Was ist dieser Tresham, der den Brief unterschrieben hat?«

»Meines Vaters Geschäftsteilhaber, aber er nimmt nur wenig tätigen Anteil an den Geschäften des Hauses.«

»Er spricht hier von mehreren Briefen, die früher an Euch abgegangen sind,« sprach Diana.

»Ich habe keinen davon erhalten,« erwiderte ich.

»Und wie es scheint,« fuhr sie fort, »ist Rashleigh, der seit Eures Vaters Reise nach Holland die ganze Führung der Geschäfte übernommen hat, vor einiger Zeit mit Waren und Geldsummen, zur Bezahlung ansehnlicher Wechsel, die Euer Vater einigen Personen in London ausgestellt hatte, von London nach Schottland gereist, und man hat seitdem nichts von ihm gehört.«

»Es ist nur zu wahr.«

»Und dann hat man,« fuhr sie, in den Brief blickend, fort, »einen Buchhalter oder dergleichen – Owenson – Owen nach Glasgow geschickt, um Rashleigh, wo möglich, aufzufinden, und man ersucht Euch, gleichfalls dahin zu reisen und ihm in seinen Nachforschungen beizustehen.«

»So ist es, und ich muß sogleich abreisen.« »Bleibt noch einen Augenblick,« sprach Diana. »Das Schlimmste, was aus dieser Sache erfolgen kann, scheint mir der Verlust einer gewissen Geldsumme zu sein, und kann dies Tränen in Eure Augen bringen? Schämt Euch, Herr Osbaldistone!«

»Ihr tut mir unrecht,« Fräulein Vernon,« antwortete ich. »Nicht der Verlust ists, was mich bekümmert, sondern die Wirkung, die er unfehlbar auf meines Vaters Gemüt und Gesundheit haben wird. Sollte seine Zahlungsunfähigkeit erklärt werden, so würde er ins Grab sinken, niedergedrückt von Kummer, Vorwürfen und Verzweiflung, gleich einem Krieger, den man der Feigheit beschuldigt, oder wie ein Mann von Ehre, der Rang und Ansehen in der Welt verloren hat. Alles dies hätte ich vermeiden können durch das geringe Opfer eines törichten Stolzes und einer Arbeitsscheu, die mich zurückhielten, die Geschäfte seines ehrenwerten und nützlichen Berufs zu teilen! Guter Himmel! wie werde ich die Folgen meiner Verirrung wieder gut machen!«

»Ihr müßt sogleich nach Glasgow reisen, wie Euer Freund in diesem Briefe Euch bittet.«

»Aber wenn Rashleigh wirklich den schändlichen und gewissenlosen Plan geschmiedet hat, seinen Wohltäter zu plündern, wie kann ich da Mittel zu finden hoffen, einen so tief angelegten Entwurf zu vereiteln?«

»Die Hoffnung ist freilich ungewiß; allein auf der andern Seite ist es unmöglich, Eurem Vater etwas zu nützen, wenn Ihr hier bleibt. Bedenkt, wenn Ihr den Euch zugedachten Platz eingenommen hättet, so hätte dies Unglück nicht geschehen können; eilt jetzt dorthin, wohin man Euch ruft, und es läßt sich vielleicht wieder gut machen. – Aber wartet, bleibt hier, bis ich wiederkomme.«

Sie ließ mich allein. Nach wenigen Minuten kam sie zurück und hielt ein Papier in der Hand, das wie ein Brief gefaltet und versiegelt, aber ohne Ueberschrift war. »Ich will Euch,« sprach sie, »diese Probe meiner Freundschaft anvertrauen, weil ich die vollkommenste Zuversicht in Eure Ehre setze. Wenn ich die Natur Eures Unfalls recht verstehe, so müssen die Geldsummen, welche in Rashleighs Händen sind, an einem gewissen Tage – ich glaube, der zwölfte September ist genannt – wieder erlangt werden, damit sie zur Zahlung jener Wechsel gebraucht werden können. Lassen sich daher hinreichende Summen vor jener Zeit finden, so ist Eures Vaters Kredit gesichert.«

»Gewiß, so verstehe ich Treshams Brief« – ich blickte noch einmal hinein und setzte hinzu: »Es ist ohne Zweifel so.«

»Gut in diesem Falle,« sprach Diana, »wird Euch mein kleiner Pacolet nützlich sein. – Dieser Brief enthält einen Zauber. Nehmt ihn hin, und öffnet ihn nicht eher, bis andre gewöhnliche Mittel fehlgeschlagen haben. Wenn Ihr durch eigne Anstrengungen das Ziel erreicht, so habe ich das Vertrauen auf Eure Ehre, daß Ihr ihn vernichtet, ohne ihn zu öffnen oder öffnen zu lassen. Aber wo nicht, so könnt Ihr das Siegel brechen zehn Tage vor der verhängnisvollen Zeit, und Ihr werdet Nachweisungen finden, die Euch wahrscheinlich von Nutzen sind. – Lebt wohl, Franz, wir sehen uns nie wieder –, aber denkt zuweilen an Eure Freundin Diana Vernon.«

Sie reichte mir die Hand, aber ich drückte sie an meine Brust. Sie seufzte, als sie sich aus der Umarmung wand, gegen die sie sich nicht wehrte, eilte durch die Tür, welche zu ihrem Wohnzimmer führte, und ich sah sie nicht wieder.


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