Arthur Schurig
Seltsame Liebesleute
Arthur Schurig

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Viertes Buch


Agathe an Georg

Gardone, den 11. Mai.

Mein liebster Freund!

Hoffentlich bekommen Sie diesen Sonntagsbrief pünktlich am 13. früh.

Die Zeit fliegt dahin. Schon liegt die jüngste Vergangenheit hinter mir, als hätte sie sich vor Jahren abgespielt. Mein Herz hat allzuviel ertragen müssen. Ich komme mir vor, als sei ich eine ganz Andere geworden denn vor einem halben Jahre. Sicherlich werden auch Sie dies an mir merken. Es ist übrigens nicht zu Ihrem Nachteil. Im Gegenteil.

Der Tod meines armen Bruders hat mich von meinem Leiden befreit. Ihm danke ich meine innere Befreiung. Vor wirklichem großem Schmerze bestehen unsere kleinen Leiden nicht. Ich litt an Dingen, die mir meine Phantasie eingegeben hatte. Angesichts des unsagbaren Verlustes sind alle meine seelischen Kräfte wiedergekommen. Die Pflicht, meine fassungslose Mutter aufzurichten, sie zu trösten, ihr den entrückten einzigen geliebten Sohn zu ersetzen, diese Pflicht mußte mich gänzlich erfüllen. Ich nahm mich mit festem Willen zusammen. Ich zwang mich, wieder gesund, gleichmütig und stark zu werden. Um Trösterin zu sein, muß man sich erst selbst getröstet haben. Und das habe ich fertig gebracht.

Denken Sie nun aber nicht. Sie hätten bei dieser schwer errungenen Genesung keine Rolle gespielt! Sie haben immer vor mir gestanden, gütig, klug, heiter, liebenswürdig. Wie in Ihren besten Tagen. Mein innigster Glaube an Ihre Freundschaft hat mich gestützt. Was das Leben nicht vollbrachte, hat der Tod gefügt, der Tod eines geliebten Menschen. Nichts wird fernere Freundschaft so wie dies stets von neuem heiligen.

Ich werde Sie immer lieben, auf eine eigene Art, aus dem Bedürfnis, Sie glücklich und nie vereinsamt zu wissen. Ich werde Ihnen Mutter, Schwester und Freundin sein. Ihr Glück wird auch mich glücklich machen. Sie brauchen meine Zuneigung zu Ihrem Glücke. Ich werde sie Ihnen niemals entziehen.

Irgendein Dichter hat gesagt, der Schmerz sei der Prüfstein der Liebe.

Immer Ihre Agathe

Wir reisen am 14. zurück.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 5. Juni.

Lieber Georg!

Wir erwarten Sie übermorgen für Nachmittag und Abend.

Eine Bitte:

Erinnern Sie sich an das Ölgemälde von ***: Herbstabend am Gestade von Sirmione? Wir haben beide lange gerade vor diesem schönen Bilde gestanden. Es liegt etwas wie Triumph über die Melancholie darin. Ein sieghaftes reiches Herbstglücksgefühl. Ich habe nun zweitausend Mark dazu bestimmt, ein Bild aus der diesjährigen Ausstellung zu kaufen. Nur habe ich mir eine Nebenbedingung gestellt. Sie haben allerhand gute Bekannte unter den vielen Malern Dresdens. Erkundigen Sie sich einmal, ob der Sirmione-Verherrlicher den Verkauf eines ausgestellten Bildes nötiger oder nicht so nötig hat denn irgendein anderer Dresdener Maler. Im letzteren Falle suchen Sie mir, bitte, den Bedürftigeren. Der Sinn der Bedingung nämlich ist der: jemandem eine stille Hoffnung zu erfüllen. Die Welt ist so voll unerfüllbarer Wünsche.


Georg an Agathe

6. Juni.

Liebste Agathe.

Hurrah, wir haben das Herbstglück! Eben habe ich Ihnen Sirmione gekauft. Leider nur im Bilde. Abgeholt darf es erst im Oktober werden. Wenn Sie es ihm gestatten, will der Künstler sein Werk selbst überbringen und aufhängen. Er will das günstigste Plätzchen suchen. Das Geld hat er mehr denn nötig. Sie sind sein guter Engel. Also nicht nur meiner.

Ich bin morgen nachmittag punkt 4 Uhr bei Ihnen.

Tausend Grüße!

Ihr Georg


Agathe an Georg

Rosenhof, den 8.

Liebster Freund!

Ich habe eben einen schon drei Seiten langen Brief an Sie wieder vernichtet. Wie viele, viele Male ist es Briefen an Sie so ergangen! Das ahnen Sie nicht. Nun beginne ich einen neuen Bogen. Mag mir die Stimmung vorsagen, was sie will: Sie sollen den Brief bekommen. Einen dritten werde ich nicht versuchen.

Gestern beim Gehen haben Sie gesagt: »Auf Wiedersehen am Donnerstag!« Das dauert mir zu lange. Lachen Sie mich nur aus! Was kann ich dafür, daß ich ein so sehnsüchtiges Herz habe und daß sich das dumme Ding gerad an Sie gehängt hat? Das ist schlimm für uns alle beide. Aber ich tröste mich mit Ihren Worten: Man muß sich in alles fügen!

Sie haben mir neulich ein Bändchen von Nikolaus Chamfort eingehändigt, als ich vor Ihren Bücherschränken stand und nach etwas Hübschem zu lesen suchte. Warum gerade Chamfort, den bitteren Verächter der Gesellschaft? Ach, ich weiß es wohl. Sie verstehen es meisterlich, mir gewisse Grundgedanken Ihrer kühlen Weltanschauung mittelbar und unmittelbar von neuem im Gedächtnis zu erhalten. Aber ich lese doch nur, was ich lesen will und wie ich es lesen will! Wir Frauen lesen immer anders als die Herren der Schöpfung.

Ihr Chamfort ist ein sehr kluger Kopf. Er weiß so manches auch über euch Männer, was den Frauen höchst wertvoll ist zu wissen. Er weiß sogar etwas über unsere Freundschaft zu sagen. Hören Sie: »Was der Freundschaft eines Mannes zu einer Frau so viel Reiz verleiht, das sind die zahllosen Untergedanken, die zwischen Männern störend und sinnlos wären, zwischen Mann und Frau aber etwas Wundervolles sind.«

Untergedanken! Ja. Er hätte die Unterströme der Gefühlswelt nicht vergessen sollen. Gedanken bei Euch, Gefühle bei uns. Wenn ich zurückdenke, so erinnere ich mich der seltsamsten Unterströmungen. Was ich für Sie gefühlt, war in den verschiedenen Zuständen weder reine Freundschaft noch reine Liebe. Und meine Furcht vor der höchsten Leidenschaft war im Grunde nicht kleinliche Furcht. Als ich in einer wichtigen Stunde nicht imstande war, meine armselige Droschke zu verlassen, was hatte ich da eigentlich zu fürchten? Warum war meine Liebe so schwach?

Als wir gestern im Garten mit Sophie spielten, rief mir mein Töchterchen zu: »Ach, Mutter, binde Onkel Georg doch das Tuch fester! Er guckt unten durch!«

Sie wurden auf eine Bank gesetzt, und ich mußte Ihnen das Tuch fester um die Augen binden. Ich versuchte es, hinter Ihrem Rücken stehend. Es war zu kurz; es wollte sich nicht machen lassen. Da schlug Sophie vor: »Halt ihm solange mit den Händen die Augen zu, bis ich mich versteckt habe!« Sie wehrten sich belustigt. Aber ich tat es. Meine Hände glitten über Ihr Haar und Ihre Stirn zu Ihren Augen herab. Sie schlössen sich unter meiner Berührung. Ich fühlte die Bewegung Ihrer Lider. Mit einem Male bogen Sie den Kopf zurück. Ich hatte den Drang, Ihre geschlossenen Lippen zu küssen, – einen Augenblick lang. Dann verließ mich dieser leise Wille. Der klare Verstand herrschte wieder über dem dunklen Gefühle.

Das war eine solche Unterströmung, die empordrängte. Ach, was sind wir Menschen für unerklärliche Geschöpfe! Nie gelangen wir zur vollen Freiheit und Einheit.

Seien Sie wahr! Was sind wir beiden? Liebende ohne Liebe.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

10. Juni.

Liebste Freundin.

Das Leben ist eine Komödie.

Sie fühlten sich zu mir gezogen, als Ihre trauten Hände im Spiel mein Gesicht berührten! Und ich, ich war nahe daran, Sie jäh an mich zu ziehen. Der kleine Vorfall symbolisiert unsere seltsamen Beziehungen.

Hätte dieses Ereignis vor ein paar Monaten stattgefunden, wer weiß? Vielleicht hätten sich zwei dunkle Ströme gefunden. Und vielleicht hätten wir uns auch mit dem gefürchteten Nachher recht glücklich abgefunden.

Bedauern Sie es, geliebte Freundin?

Ich bedaure es unsagbar.


Agathe an Georg

Den 12.

Lieber Freund!

Wenn wehmütiges Grübeln Bedauern ist, dann bedaure auch ich. Aber das ist nicht gleichbedeutend mit Zurückrufen-wollen. Lassen wir die alten Tage! Erfreuen wir uns der Unterströmungen, aber sie sollen stumm in ihrer Tiefe dahingleiten.

Einst wollte ich, meine Träume seien nicht bloß Träume, und jetzt bin ich so wunschlos geworden, daß ich selbst im wirklichen Leben oft nur Schattenbilder sehe. Aber man muß leben, muß sogar mehr oder weniger wahllos mit den Andern leben! Und wohl zu meinem Glücke lebe ich in Beziehungen zu einer Anzahl Menschen, die mir völlige Einsamkeit zur Unmöglichkeit machen. Anders wäre es nicht gut für mich. Und darum liebe ich meine Pflichten.

Wir gehen in größerem Kreise nächsten Sonntag zum Rennen nach Reick. Ich rechne auf Ihr Erscheinen. Wir wollen hinterher im Italienischen Dörfchen dinieren. Ist es Ihnen recht? Wenn Sie nicht kommen, habe ich an nichts Freude.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

20. Juni.

Liebste Freundin.

Sie waren am Sonntag auf dem Rennplätze recht wenig nett zu Ihrem alten treuen Freunde! Ihr letztes liebes kleines Briefchen hatte mich durchaus nicht auf diese neue Haltung von Ihnen vorbereitet. Um so schmerzlicher war die Tatsache. Ich gebe gern zu: Sie haben sich auf geistreiche Weise über mich lustig gemacht. Alle lachten, und ich hätte gern selbst mitgelacht. Sie wissen, ich bin nie Spielverderber! Aber ich fühlte leise heraus, daß mir Ihr Spott sagen sollte: Ich bin Dir bös!

Leugnen Sie es nicht! Ich weiß es; ich bin überzeugt davon. Sie hatten eine ganz eigentümliche Art, mich mit halbgeschlossenen Augen anzusehen, eine mir ganz ungewohnte Art zu lachen, zu schweigen, zu reden! Gestehen Sie! Ahnen Sie nicht, welch ungeheuren Schmerz Sie mir mit alledem angetan haben?

Glauben Sie mir, meine liebste Freundin, ich weiß sehr wohl, daß ich von einem gewissen Standpunkt aus ein schlechter Stratege der Liebe war, damals als ich dem Anstürme Ihres Herzens Widerstand leistete. Ich hätte besiegt Sieger sein sollen. Aber glauben Sie mir ebenso: ich liebe Sie viel zu sehr, um jenen Mangel, sei es an Sinnlichkeit, sei es an Galanterie, sei es an was es sein mag, irgendwie zu bereuen. Ich hoffte auf einen höheren Sieg. Hätte ich wirklich weniger Freund und mehr Mann sein sollen?

Beim Diner nach dem Rennen haben Sie sich mit sichtlichem Wohlgefallen Herrn von Wolfframsdorf gewidmet. Sie haben den Worten dieses mir unangenehmen Lebemannes aufmerksamst zugehört. Sagen Sie, sollte es Genugtuung, Vergeltung, Rache sein? Und wofür? Was habe ich Ihnen angetan?

Ich habe Sie den ganzen Abend beobachtet, habe in Ihren Augen gelesen, Ihren geliebten silbergrauen Augen, wenn sie mich mit leisem Spotte streiften. Zum ersten Male, seitdem wir uns kennen, sind Sie mir wie eine Sphinx vorgekommen, wie die Mona Lisa; böse, zwiespältig, rachelüstern, grausam, herzlos.

Mißachten Sie es, nach einer mir verborgenen Wandlung Ihres Ichs, mit einem Male, daß ich Sie zur einzigen Heiligen meines so profanen Lebens erhoben habe? Es war der Beweis meiner höchsten Liebe. Betroffen stehe ich vor etwas in Ihnen, das ich in tiefstem Schmerze Herzlosigkeit zu nennen gezwungen bin.

Ich warne Sie vor Wolfframsdorf. Es mag kleinlich aussehen, und doch tue ich es. Er ist seit einiger Zeit Ihr Begleiter in den Ausstellungen, in der Stadt und überall. Es mag Zufall sein. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man fängt bereits an, davon zu reden. Man sagt, er stelle Ihnen nach.

Seien Sie vorsichtig! Ich rufe es Ihnen als Ihr bester Freund zu.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 21.

Liebster Freund!

Hören Sie auf, mich schlecht zu behandeln! Wofür halten Sie sich mit einem Male? Herr von Wolfframsdorf ist mir völlig gleichgültig. Du mein Gott, er ist witzig, amüsant. Er zerstreut mich ein wenig. Er macht mir den Hof. Meinetwegen. Von meinem Herzen, von meiner Seele gehört ihm nichts. Es ist ihm gar nicht möglich, sich davon zu nehmen.

Sie bilden sich am Ende gar ein, ich wolle Sie eifersüchtig machen! Sie sind ein Kindskopf! Meine Ehre ist Ihre Ehre! Ich vergesse das nicht.

Komm, ich habe dir verziehen!– heißt es in irgendeiner Oper. Die Melodie durchklingt mein Herz, lieber Georg, indem ich Ihnen diese Zeilen schreibe. Wie könnte es in unserer unvergänglichen Freundschaft anders sein?

Kommen Sie heute abend nach dem Rosenhof, Sie schlimmer Eifersüchtiger! Kommen Sie und sehen Sie nicht Dinge, die nicht da sind!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 26.

Mein lieber Freund!

Was für ein Gesicht zogen Sie gestern, als ich Ihnen sagte: Ich liebe Sie wirklich nicht mehr!

Ganz gewiß liebe ich Sie nicht mehr! Ich gebe zu, mein Herz ist zum Sterben leer, aber ich habe mir fest vorgenommen, diese Leere mit irgend etwas zu füllen. Auch ich bin Philosophin geworden, Lebenskünstlerin nach Ihrem Stil, geliebter Meister! Auch ich sehe in der Liebe – wie Sie – eine Krankheit, und zwar eine, die ich mit allen meinen Kräften bis auf den letzten Rest überwinden will und werde.

Als Sie in mein Leben traten, war ich im Glauben, die Liebe könne mich nie versuchen. Mein Herz schlief. Ich hegte keine Sehnsucht nach Leidenschaft. Vordem hatte ich mir einmal ein Götterbild erträumt. Aber diese Träume waren verblaßt, verlorengegangen, vergessen.

Da kamen Sie. Sie redeten sehr bald von Liebe. Aber zur Liebe gehören immer zwei. Als Sie sich allein auf dem Plane sahen, da verzichteten Sie. Es fiel Ihnen schwer. Gewiß. Aber im Grunde waren und sind Sie einer von denen, die das Leben längst überwunden haben. Vielleicht nicht nur das Leben der Äußerlichkeiten! Vielleicht haben Sie einmal am innersten Leben gelitten, am Leben und Lieben. Ich weiß es nicht. Es müßte gewesen sein, ehe wir uns begegneten. Sie stehen beneidenswert sicher über Ihrem Herzen. Ich habe nicht so leicht überwinden können. Und ich verstehe noch immer nicht, woher Sie die geheime große Kraft zu Ihrer starken Lebensüberlegenheit haben.

Ich habe Sie spät zu lieben begonnen. Eines Tages war alle meine Sehnsucht von einst wieder erwacht. Sie hatten viel oder wenig dazu getan, aber ich kann nicht sagen, daß meine Seele in die Irre gegangen wäre, als mein Herz sich zu Ihnen neigte. Nein, dieses grobe Unglück widerfuhr mir nicht. Sie sind seelisch genau der, den ich suchte. Aber Sie wichen mir aus. Sie verschmähten meine Sinnenliebe. Sie verschanzten sich hinter allen möglichen psychologischen Gründen, die mir samt und sonders unmännlich, pedantisch, kleinmütig erschienen, so klug und weise ich sie auch heute preisen mag. Sie hatten nicht den Mut oder den Stolz, noch jung zu sein. Sie hatten kein Vertrauen zu sich selbst. Sie dürfen mir nicht böse sein: Sie waren kein Held; aber es war ja nur Ihr verstandesmäßiges Rüstzeug, hinter dem sich Ihr tiefstes Ich mit aller seiner Gefühlsinnigkeit und Herzensgröße ängstlich verkroch.

Seitdem ich die Herrschaft über mich wieder habe, lache ich über das alles: über mich und über Sie. Nicht aus Spott. Ich kann Ihnen sagen: in jenen Tagen habe ich die dunkelsten Tiefen des Leids kennen gelernt, erlebt. Ich habe schreckliche, qualvolle Stunden durchgemacht, Stunden voller Empfindungen, die mir heute unmöglich sind und unerklärlich. Ich habe Sie bis zum Wahnsinn geliebt! Ich bin toll gewesen.

Und mit einem Male ward ich eine andre. War ich vordem Ich selber? War ich, die ich jetzt so kühl und überlegsam bin, war ich wirklich jenes von Flammen durchstürmte, wankende Geschöpf? Ich war es, verwandelt durch die große Leidenschaft, die nie wieder in mich kommen wird. Große Gefühle, starke Empfindungen, wundervolle Visionen, schöne Worte, ausbrechend in einen gellenden Aufschrei, der im Sturme verhallte. Und alles ist überwunden, niedergerungen, vergessen. Vorüber! Dahin! Ich bin im tollsten Wirbel dieses Sturmes die ehrbare, reine, tugendsame Frau geblieben!

War es ein Glück, war es ein namenloses Unglück? Ich kann es nicht sagen. An meinem Willen lag die Entscheidung nicht. Aber in meiner Natur. Wir tragen alle unser Schicksal in unsern Nerven. In einer gewissen Stunde hatte ich keinen Mut.

Niemals werde ich mir anmaßen, Richterin über andre Frauen zu sein. Ich bin geneigt, den Sünderinnen gegen die sogenannte Moral zuzurufen: Arme Frauen! Aber ich werde fortan jede lieben, die man ächtet, indem ich mich daran erinnere, daß ich ebenso gelitten habe wie die Unglücklichste, daß ich ebenso toll war wie die Tollste!

Ich hatte keinen Mut in jenem Augenblicke der Entscheidung. Aber vorher, ohne Ihren unvergleichlichen Widerstand wäre es doch wohl anders gekommen. Leugnen Sie ihn nicht, lieber trefflicher Josef, und zürnen Sie Frau Potiphar nicht, daß sie Ihnen alles das so freimütig zu beichten wagt! Warum haben Sie mir damals nicht geschworen, ich sei Ihre erste wahre Liebe, die erste und letzte große Leidenschaft Ihres ganzen Lebens ? Warum haben Sie mich nicht als vielerfahrener Troubadour in himmlische Träume gewiegt? Ich, ich hätte Ihnen alles in innigster Lust geglaubt, ich hätte Ihre Beteuerungen im Feuer meiner Sinne noch vergoldet. Wie ein Kind hätte auch ich an die uralten Märchen und Legenden der Liebe geglaubt. Und mein Glaube wäre so stark gewesen, daß ich glückselig geworden wäre!

Mein geliebter Freund, Sie waren nicht so stark, mir diesen Glauben zu schenken! Es wäre der wundervolle Höhepunkt meines armen Lebens geworden. Ach, bisweilen überfällt mich die schmerzlichste Traurigkeit, daß ich sagen und klagen muß:

Vorbei sind die Tage der Rosen!


Georg an Agathe

27. Juni.

Liebe Freundin.

Sie müssen mir verzeihen, wenn ich ein Störenfried bin, wenn ich eifersüchtig aussehe und wenn ich über Sie wache wie ein sorglicher, selbstsüchtiger Ehemann. Ihre Genesung schreitet so furchtbar schnell vorwärts, daß ich es nicht verstehe.

Ich kenne das Leben. Mit zweiundvierzig Jahren ist man bei meiner Entwickelung – Sie nennen mich vielerfahren! – mißtrauisch geworden gegen sich selber wie gegen Andre. Höchst mißtrauisch. Wolfframsdorf liebt Sie. So wie Leute seines Schlages lieben. Er ist vorsichtig, und wenn man ihn ausforscht, gibt er verräterisch verschlossene Antworten: »Wie? Was? Frau von Uechtritz? Ich habe sie eine Ewigkeit nicht gesehen? Ist sie denn noch hier?« – Und dann komme ich zu Ihnen, und Sie sagen mir in Ihrer lieben Freimütigkeit: »Eben war Herr von Wolfframsdorf da.«

Frau Potiphar, Sie sagen, die Tage der Rosen seien vorbei! Wer weiß? Vorläufig nur Ihrer prächtigen Theorie nach. Die femme de trenteans erlebt mitunter wundersame zweite Sommer. Und die Legenden der Liebe weiß ein Wolfframsdorf vielleicht wirksamer vorzutragen als der schwärmerischste Romantiker. Sie haben selbst einmal gesagt: Die Frauen lieben im Manne immer einen imaginären Helden.

Hüten Sie sich!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 28. Juni.

Mein lieber Georg!

Sie ärgern mich. Hüten Sie sich! Wenn Sie so fortfahren, werden Sie mich schließlich verletzen und verwunden. Es paßt Ihnen offenbar nicht, daß ich nicht nach Ihrer Vorschrift langsam gesunde. Das ist unfreundschaftlich von Ihnen. Es steht Ihnen auch schlecht an. Es verträgt sich gar nicht mit Ihrem Wesen.

Mein Trost ob der überwundenen Leidenschaft zu Ihnen ist der glückliche Gedanke, dadurch ein Anrecht auf den Himmel erworben zu haben. Das ist zwar für das weitere irdische Dasein nur ein schwacher Trost, indessen, immerhin ein Trost. Haben Sie mir nicht einmal gesagt, das einzige Geheimnis der Lebenskunst läge darin, sich immer zu trösten zu wissen?

Worin besteht in Ihren Augen mein Unrecht, mein tadelhaftes Verhalten? Darin, daß ich mein farbloses Dasein durch eine Zerstreuung, durch einen harmlosen Flirt, meinetwegen eine Koketterie bunter zu machen suche? Übrigens habe ich das gar nicht einmal gesucht. Die Gelegenheit war die Verführerin. Wozu sollte ich mich dagegen wehren? Sie kennen mich doch so gut! Auch ich habe keinen großen Genuß daran. Aber ich brauche eine Zerstreuung. Ein Spielzeug. So häßlich das klingt. Was soll ich tun? Ich fürchte mich vor einsamen Grübeleien.

Soll ich ganz aufrichtig sein? Ja? Dann muß ich Ihnen gestehen, daß ich Sie doch noch immer liebe!

Das Leben der Menschen ist eine lange Kette von ewigen Widersprüchen. Bin ich nicht der beste Beweis davon? Und sind Sie nicht auch ein Beweis, Sie, der Sie mich einmal leidenschaftlich geliebt haben?

Es ist ganz unmöglich, immerdar ein einheitlicher Mensch zu bleiben. Unser Ich von heute ist nicht mehr das von gestern und noch nicht das von morgen. Gerade der höhere Mensch ist endloser Wandlung unterworfen und von der Stunde an, da er fühlt, daß seine Entwicklungskraft schwindet, stirbt sein Reiz und verblaßt sein Glanz. Von da an beginnt er zu sterben. Ich trage noch lange nicht meine letzten Farben. Und damals? Ihr Ich, das mich liebte, entschwebte in die Ferne, als mein Ich nach ihm verlangte. Die Uhren unserer Herzen gingen noch niemals im Takte.

Machen Sie mir keine Vorwürfe, daß ich mir mein Leben mit einem Male ein bißchen mondän einrichte! Ich tue es, um mich von meiner armen ziellosen Liebe abzulenken. Ich lasse mich im Marktlärm der Gesellschaft ein bißchen betäuben, um die Seufzer meines verlassenen Herzens nicht allzusehr zu hören. Zu meiner völligen Genesung ist mir jedes Mittel gut.

Ich habe bis jetzt immer nur das Glück der Anderen gestreift und mir mein eigenes volles hohes Glück nicht oder noch nicht zu schaffen verstanden. Damit hätte ich genügend Anlaß, in diesem Punkte Fatalistin zu werden. Sie sind es in allem! Soll ich weiter warten? Ach, ich will mir meinen Glauben an mich selbst doch noch wahren. Ich will aus meiner eigenen Asche von neuem erstehen. Ich bin unterlegen und lebe wieder auf. Ich bin unvernünftig und doch vernünftig. Ich hege heiße Hoffnungen und ertrage die wehmütigste Enttäuschung. Immer und überall leide ich und will mich doch meines Lebens freuen. Mutterglück, Freundschaft, Liebe, die Künste und die Natur, das Leben und die Träume, nichts wird mir zum reinen Genuß. Ein Rest von namenloser Sehnsucht opalisiert mir jedes Gefühl. Ich habe alle Mühe angewandt, wunschlos zu werden. Schon verspüre ich wundersame Kräfte. Ahnen Sie noch nicht, welche Kämpfe meinem jetzigen beinahe wieder normalen Zustande vorangegangen sind?

Georg, passen Sie sich meinem neuen Ich endlich an! Ich will Ihnen auch dies danken. Sie brauchen nur zu wollen. Freuen Sie sich meiner vorschreitenden Genesung! Ich fühle, sie geht ihrem Ziele zu. Nehmen Sie mich, wie ich bin! Und seien Sie nicht mißmutig! An manchen Tagen ist meine Seele ernst, hilflos, müde, matt vor schmerzlicher heimlicher Schwere. An solchen Tagen haben Sie mich geliebt. An andern Tagen aber bin ich fröhlich und guter Dinge, fest und selbstbewußt. An solchen Tagen liebe ich mich. Es gibt Tage, wo die Seele die Vorherrschaft hat und nach dem Überirdischen strebt, und Tage, wo das Körperliche, wo Sinnlichkeit und Jugend herrschen und das armselige wirkliche Leben lebenswert machen. Heute habe ich einen Tag der Lebenslust. Hätte die Seele heute die Hegemonie, dann müßte ich bitterlich weinen, daß ich so heiß geliebt habe und daß Sie mich so betrübsam wenig kennen.

Eben habe ich ein Meer von Rosen erhalten. Meine Lieblingsblumen: Malmaisons! Als sie kamen, fiel mir ein, daß sich die Herzen derer, die uns am meisten lieben, in den Sternen verlieren. Verstehen Sie mich?


Georg an Agathe

Montag, 3. Juli.

Liebste Freundin.

Gestern bei Tisch bei Ihrer Freundin waren Sie entzückend! Es gibt Tage, wo man Ihr Herz fühlt, wo es Wärme und Licht über alle ausstrahlt, die um Sie sind. Dann erobern Sie sich alle. In der Harmonie dieser Beleuchtung sehen Sie die Menschen und nehmen sie so. Aber so sind sie nicht. Trauen Sie diesen Trugbildern nicht! Es sind Ihre eigenen Geschöpfe, die Sie an sich ziehen. Nehmen Sie den Schein nicht für das Sein!

Ich kenne Wolfframsdorf sehr genau. Wir waren ja zusammen Leutnants. Er ist der glänzendste Gesellschaftsmensch, den man sich denken kann. Er ist ein guter Kamerad, ein Kavalier in allen Dingen. Nur in einem ist er mir von jeher bedenklich leichtherzig vorgekommen: in seinen Beziehungen zu den Frauen. Er war das als Junggeselle wie später als Ehemann, und er hat sich auch nicht geändert, seitdem ihn seine Frau vor zwei Jahren verlassen hat. Sie haben alle diese Stadien selbst verfolgt. Somit dürften Sie ihn eigentlich nicht verkennen.

Mehr sage ich nicht. Nur das noch, daß ich nicht eifersüchtig bin. Dieses Wort paßt nicht in unsre gute Freundschaft.

Ich drücke Ihnen die Hand.

Ihr getreuester Georg


Agathe an Georg

Rosenhof, am 4. Juli.

Mein lieber Freund!

Sie sind zweifellos eifersüchtig. Das ist eine Schwäche an Ihnen, die mich sehr engherzig dünkt. Das ist also Ihre Achillesferse. Wer hätte es gedacht! In diesem Punkt gleichen Sie den alltäglichen Männern. Da ich Sie aber frei von kleinlichen Mängeln haben will, so werde ich alles aufbieten, Sie zu heilen.

Wolfframsdorf ist mir ungefährlich. Er und alle andern. Wenn mir je ein Mann gefährlich war, dann war es mein Sankt Georg. Die anderen? Ach, die Liebe von heute! Bei den genialen Männern ist Liebe entweder ein Tummelplatz ihrer Sinnenlust, während ihre Seele dem gehört, das ihre rastlose Phantasie, ihr vorausfliegender Geist beschäftigt und über den Alltag erhebt, mögen sie Künstler, Staatsmänner oder große Handelsherren sein. Oder die Liebe ist ihnen ein Spiel, und wehe den armen Opfern. Und die Liebe der Durchschnittsmännlein! Sehr viel Eitelkeit, viel Förmlichkeit, wenig Zartheit und keine Treue! Von der Jagd nach dem Reichtum gar nicht zu reden.

Ich schreibe Ihnen in meinem kleinen gelben Salon, den Sie so lieben. Das Gelb ist Ihre Lieblingsfarbe. Gelb, die Farbe der Herrscher. Eine Marschall-Niel in der blauen venezianischen Vase. Der feine Duft des Zedernholzes um mich. Über mir Corots Elfentanz, ein Geschenk von Ihnen...

Alles um mich herum still und stumm. Der Tag geht zu Ende. Das Abendrot sickert in das Zimmer. Ein Blatt der sterbenden Rose fällt. Das einzige Geräusch. Der Tod einer Blume verursacht die einzige stumme Bewegung. Der Tod bringt Leben. Wie sonderbar! Mein Herz zittert leise. Wie köstlich sterben die Blumen!

Ihre Agathe


Agathe an Georg

Rosenhof, den 7.

Lieber Freund!

Warum erscheinen Sie nicht im Rosenhof? Ist das freundschaftlich? Ist das galant? Ist das artig?

Eveline war eben da. Sie hat mir berichtet, daß Sie gestern im Schöningschen Hause zu Tisch waren. Otto hätte den Wunsch geäußert, in seinem neuen (übrigens prächtigen) Mercedes-Wagen nach Loschwitz zu fahren, um mich zu überraschen. Sonntagsnachmittagskaffee im Rosenhofe. Ein so netter Gedanke! Aber Sie hätten dagegengesprochen. Hätten zu Haus arbeiten wollen.

Was arbeiten Sie?

Es war gegen Ihre Natur recht unliebenswürdig von Ihnen!

Tausend gute Grüße!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

8. Juli.

Meine liebe Freundin.

Gewiß muß ich Ihnen unliebenswürdig erscheinen. Aber Sie sind selbst schuld daran. Am Sonnabend abend wollte ich zu Ihnen zum Abendessen kommen. Ich wußte, daß Sie zu Haus waren. Wie ich nun in der Straßenbahn über die Elbbrücke fahre, da holt mich das von ihm selbst gefahrene Fuchsgespann des Herrn von Wolfframsdorf ein. Als ich dann an der Calberla-Straße ausstieg, kam es im Schritt die Straße schon wieder den Berg herunter. Der Kutscher hielt an, um mich zu fragen, ob er mich die Straße hinauffahren dürfe.

Brav Zweiter sein? Nein! So ließ ich Sie dem Ersten und schlenderte vorüber am Rosenhof, unter den Qualen des Inferno, die Höhe hinan, über die Kügelgen-Straße hinaus, bis an die Waldung. Auf der Bank am Rande habe ich eine Stunde lang geträumt. In der Tiefe, bei den hohen Pappeln, blinkte das rote Dach Ihres Hauses...

Abends war ich mit dem Major v. Plothow bei Grell (Sie finden dieses alte gute Refektorium greulich; ich weiß es!) und habe mich bei einer erlesenen Forster Jesuitengarten zu trösten versucht. Wenn ich gar Alkoholiker werde, tragen Sie die Schuld daran!


Agathe an Georg

Den 9. Juli.

Lieber guter Freund!

Sie sollen nicht grollen, aber Sie dürfen auch nicht unfreundlich und unfreundschaftlich zu mir sein! Mein lieber Ritter ohne Furcht und Tadel, Sie quälen mit raffinierter Geschicklichkeit eine arme Frau! Ein Herz, das Sie ehedem verschmäht haben.

Habe ich mir je merken lassen, wenn ich vorübergehend eifersüchtig auf eine Andere war? Niemals! Gut! Tun Sie desgleichen! Reden Sie nicht mehr von Wolfframsdorf! Er gehört seit vielen Jahren zu den Gästen meines Hauses. Seine Frau war eine gute Bekannte von mir. Daß sich beide nicht verstanden haben, war mir fast schmerzlich. Dann sah ich ihn lange Zeit nicht, bis er mir in La Panne wieder begegnete. Er schilderte mir seine Einsamkeit. Das hat mich gerührt. Mehr als Mitleid fühle ich nicht ihm gegenüber. Was ich an ihm schätze, das ist sein musikalischer Sinn. Er ist ein geradezu künstlerischer Pianist. Aber wozu dies rühmen? Sie kennen ihn ja viel besser als ich. Spricht nicht auch das für ihn, daß Sie mit ihm verkehren – oder verkehrt haben?

Warum find Sie am Rosenhof vorübergegangen? Wenn Sie eingetreten wären, wie das Ihre Freundespflicht war, dann hätten Sie die Rolle des rettenden Engels gespielt. Mich vor einer geschmacklosen Szene bewahrt. Wissen Sie, man hat mir eine ziemlich deutliche Erklärung gemacht und beim Weggehen von der »Blindheit der Frauen« gejammert, die »das Glück am Wege verblühen lassen«.

So steht das Gefecht!

Liebe ist Spiel, sagen Sie. Warum wollt ihr Männer immer zuerst, daß aus Spiel Ernst werden soll? Spiel ist Grazie.

Ich fange an zu bereuen. Ich werde ihn nach und nach aus meinem Heim verbannen. Aber ich bitte Sie, lassen Sie mich dies nicht taktlos übereilt tun!


Georg an Agathe

Liebe Freundin.

Lachen Sie mich aus, verspotten Sie mich! Sie sind nicht im gewöhnlichen Sinne kokett. Das ließe Ihre Natur gar nicht zu. Aber auf Ihre Art können Sie sehr grausam sein.

Darf ich Ihnen sagen, was mich gräßlich aufregt und geradezu verletzt? Die Sorglosigkeit, mit der Sie die Angelegenheit Wolfframsdorf behandeln, wenn ich mit Ihnen darüber spreche, – und die Gewichtigkeit, die Feierlichkeit, der Ernst, die er zur Schau trägt! Er hat einer galanten Freundin den Laufpaß gegeben – verzeihen Sie mir, daß ich (notgedrungen!) davon spreche – und in einer Weise, die der Welt bekannt geworden ist. Ich und andere sind überzeugt, daß er alles daran setzt, um in Ihrem Dasein die erste Rolle zu spielen. Er muß Sie kompromittieren.

Wolfframsdorf behandelt mich höflich-kühl. Er ahnt alte Rechte, die ihn ärgern. Mein Gott, besitze ich sie noch? Langsam und unaufhaltsam wächst zwischen ihm und mir eine instinktive dumpfe Feindschaft. Wenngleich keiner bewußt etwas tut, was sie schüren könnte, fühlen wir sie doch beide.

Sie kennen meinen Enthusiasmus in Dingen der Freundschaft. Es lodert in mir ein ähnliches wildes Feuer, wenn Groll, Haß, Rachlust mein Herz erfüllen. Ich muß einen unbeugsamen Hunnenfürsten unter meinen Ahnen haben! Im Augenblick, wo ich Sie verloren habe, werde ich haltlos sein.

Ich küsse mit aller Inbrunst meiner Seele Ihre geliebten Hände.

Ihr Georg


Agathe an Georg

Den 11. Juli.

Mein geliebter Freund!

Sie sind ein Kind und ein Rebell!

Niemals sollen Sie mich verlieren! Niemals werde ich mein armes Herz einem Andern schenken. Glauben Sie mir das! Seit ich Sie kennen gelernt, könnte ich keinem Andern gehören. Aber Sie haben mich verschmäht! Erinnern Sie sich, bitte, auch an das, was ich über Dankbarkeit und Pflicht gesagt habe! Es hat sich nicht das geringste an den Fesseln geändert, die mich an meinen Mann ketten.

Können Sie wirklich nicht begreifen und glauben, daß mich die große überwundene Leidenschaft für immerdar flügellahm und zur Ungläubigen gemacht hat. Tag und Nacht schwebte ich auf Traumes- und Sehnsuchtsfittichen gegen eine Sonne, bis ich vor dem Ziel wieder hinab zur Erde sinken mußte. Nie wieder versuche ich den Flug. Was ich mit starken Flügeln nicht erreichen konnte, soll ich das mit gebrochenen erhoffen? Ich habe keinen Mut, kein Vertrauen und keine Kraft dazu.

Ich möchte mich auf eine stille Insel retten. Weltfremd möchte ich für mich leben, in einem Traumland, weit weg von den Häßlichkeiten und Kleinlichkeiten des wirklichen Lebens, glücklich, meine kleine Tochter neben mir zu haben und – einen treuen, mich immer verstehenden Freund zu besitzen. Dieses enge Dasein wäre mir genug. Was geht mich die große Welt an? Nichts! Aber ich gehöre mir nicht allein. Sophie wächst heran. Ich darf mich ihr zuliebe weder von der Gesellschaft entfernen, noch mich ihr entfremden. Ich muß meinen Platz darin wahren. Ich muß wenigstens ein wenig der Welt gehören.

Sie sind ein kluger, vielerfahrener Menschenkenner, und mich verstehen Sie in meinem Zusammenhange mit der Außenwelt so wenig! Gehen Sie in sich!

Trotzdem wünsche ich, daß mich mein schlechter Freund heute nachmittag auf ein paar Stunden besucht. Ich werde für niemand anders da sein. Wir wollen uns einmal die Herzen ausschütten. Denken Sie daran, daß wir in acht Tagen nach dem Ober-Engadin reisen. Wir, das sind Agathe, Sophie, meine Schwägerin und Susanne. Nutzen Sie die kurze Frist aus, ehe wir auf viele Wochen getrennt werden! Wir wollen uns noch so oft wie nur möglich sehen.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

Liebe Frau Agathe!

Es ist mir heute abend unmöglich. Ich habe mich verabredet. Darf ich dafür morgen zu Tisch hinauskommen? Geben Sie dem Niklas ein großes Ja auf einem kleinen Kärtchen als Antwort!

Herzlichsten Gruß!

Ihr Georg


Agathe an Georg

Den 13. Juli.

Mein lieber Georg!

Mein heutiger Brief wird Ihnen den festesten Beweis liefern, daß ich Ihnen bis zum letzten meiner Tage die treueste und verständigste Freundin bin und bleibe. Äußerlichkeiten können Ihnen wie mir in Zukunft nichts mehr anhaben. Desto inniger werden wir unser Seelenleben einen.

Gestern um fünf Uhr rief mich Eveline an, ihr Mann hätte eine Loge im Zentraltheater genommen: die Geschwister Wiesenthal. Ein Platz sei für mich bestimmt. Ich nahm an. Sie hatten ja eben die Absage gesandt.

Wir saßen keine zehn Minuten auf unsern Plätzen, als Herr von Wolfframsdorf in unsrer Loge erschien. Er ist ja überall! Ich begrüßte ihn kühl, aber meine Freundin, die offenbar wirklich glaubt, ich goutierte meinen unverscheuchbaren Verehrer, bietet ihm einen Sitz an und bittet ihn, uns Gesellschaft zu leisten. Hauptmann von der Heyden hatte erst in letzter Minute sein Nichtkommenkönnen vermeldet; so war unglücklicherweise ein Stuhl von unsern vier frei. Gerade neben mir. Ich beginne Ihnen zu glauben: Wolfframsdorf ist ernstlich um mich bemüht. Nun tut er mir leid. Trotz meiner unterstrichenen Kälte zögert er nicht einen Augenblick und bleibt.

Um nicht mit ihm zu plaudern, nehme ich mein Glas und mustre die Logen. Ich tue es sonst nie. Es ist mir so furchtbar gleichgültig, wer mit mir im Theater sitzt. Gestern tue ich es also aus Not. Und – wen erblicke ich? Meinen liebsten besten Freund! Sie! Da hatten wir das: Unmöglich!

Mein lieber Georg, jetzt bin ich ganz sicher, Sie rein und wunschlos zu lieben. Mein Herz pochte wohl zuerst, als wolle es zerspringen. Ein Stich, ein Frösteln, ein Zittern. Dann empfand ich nichts mehr. Ich saß da wie gestorben.

Als meine Augen wieder klar sahen, habe ich Ihre Proszeniumloge nicht wieder aus dem Blicke gelassen, wenn ich es mir auch nicht anmerken ließ. Wolfframsdorf hatte sich wohl oder übel Evelinen gewidmet, die ihn zu meinem Glück auch nicht wieder freigab. Zu meinem Glück, sage ich, denn ich hätte ihm sonst vielleicht meinen inneren Zustand verraten.

Ich habe jede Bewegung von Ihnen beobachtet!

Sie saßen hinter Ihrer schönen Begleiterin. Wie besorgt Sie um sie waren! Sie haben ihr den Sessel so gerückt, daß sie die Bühne ganz übersehen sollte. Sie haben ihr die goldene Tasche gereicht, aus der Seitentasche Ihres Smokings heraus! In der ersten Pause kam Ihr Freund Trosky. Sichtlich war er auch gut bekannt mit ihr. Und während die beiden plauderten und lachten, musterten Sie gelangweilt den Zuschauerraum, und da entdeckten Sie – endlich – mich! Ich hatte Ihnen kürzlich von den entzückenden Tänzerinnen vorgeschwärmt. Somit wußten Sie, daß ich sie gesehen hatte. Und ebenso kennen Sie meine Gewohnheit, niemals zweimal dasselbe Programm eines Varieté zu erdulden. Ich mache mir überhaupt nichts aus dem Varieté. Es ist mir zu roh. Nur den modernen Tanz liebe ich. Das hat mich auch zu einer Ausnahme bestimmt.

Georg, bestätigen Sie mir das eine: ich habe in meiner Haltung weder Verwunderung noch Verachtung gezeigt, ich bin kalt gegen Wolfframsdorf geblieben, nicht im geringsten kokett aus verletzter Eitelkeit oder kleinlicher Rache.Ich habe so gut wie nichts gesprochen. Mit einem Worte, ich war die korrekteste Freundin.

Von der Vorstellung habe ich nichts gesehen. Die Lichtflut der Bühne tat mir weh. Ich habe mich an tausend Dinge unsrer gemeinsamen Erlebnisse erinnert und habe gegrübelt, philosophiert, gedacht – in fieberhaftem Durcheinander. Ich war sterbenskrank. Es ist ja nun vorüber! Meine Sehnsucht, meine mißhandelte und doch hoffende Sehnsucht, mich Ihnen ganz zu geben, zu seligster Lust und höchster Freude, diese scheue, unbeholfene Sehnsucht ist zu Grabe gegangen. Nun bin ich ganz geheilt und völlig genesen. Ich liebe Sie nicht mehr meinetwegen. Sie lebt nicht mehr, meine arme Sehnsucht, die ich hegte und pflegte, wenn ich Sie in meinen Träumen liebkoste. Ich habe aufgehört, die Egoistin zu sein, die ich war. Ich bin nicht mehr selbstsüchtig; ich bin ruhig, wunschlos, klug und vernünftig.

Ich mag Sie gern. Sie und alles, was in Ihnen ist, weil Sie der vornehmste und ritterlichste Freund sind. Sie sind gut, zuverlässig, klug, zärtlich, taktvoll. Ich glaube fest an Sie heute wie einst. Die Huldigung, die Sie mir dargebracht haben, indem Sie mich nicht zu einer Ihrer Geliebten gemacht haben, verstehe ich jetzt in heißer Dankbarkeit.

Ich danke Ihnen für den unglücklichen beschämten Ausdruck, den Ihr Gesicht annahm, als Sie mich erkannten. Sie waren in Angst, mir Kummer zu bereiten. War es so? Mein bester Freund, dieser Kummer gehörte zu meiner Entwicklung. Ich habe ihn überwunden.

Gewisse Naturen können nur seelisch treu bleiben. Als Ihre Frau hätte ich mich in diese Erfahrung nicht fügen können. Ich hätte Ihnen die halbe Untreue wohl niemals verziehen. Sie hätte mich Ihnen entfremdet. Und so hätten sich auch unsere Seelen verloren. Haben Sie bis in diese Ferne gesehen?

Da wir nichts denn Freunde sind, so ist nichts geschehen, was uns einander entfremden könnte. Im Gegenteil. Wir haben nun gar keine Geheimnisse voreinander. Die darf es in einer wahren Freundschaft auch nicht geben. Jetzt kenne ich Ihre letzte Schwäche. Das Herz tut mir zwar ein wenig weh, das nun erst ganz freundschaftliche Herz. Doch – genug!

Man kann alles Menschliche grotesk finden. Wolfframsdorf war über Ihr Mißgeschick so erfreut, daß ich aus seinen Mienen grinsende Befriedigung herausgelesen habe. Ich war darüber empört. Er ist also im Innersten kein feinfühliger Mann. Seit dieser Entdeckung verachte ich ihn. Ich habe es ihn sofort merken lassen und einen feindseligen Blick geerntet. Verliebte Männer sind wie böse Tiere.

Soll ich Ihnen noch etwas gestehen? So töricht bin ich! Hätten Sie das gedacht? In der zweiten Pause verließen Sie Ihre Loge und gleichzeitig Wolfframsdorf die unsrige. Ich bildete mir, ich weiß nicht mehr, was Unsinniges und Sonderbares ein, und mein Herz hörte einen Moment auf zu schlagen. Was für unselige Feinde von sich selbst sind phantastische Frauenherzen! Erst als ich Sie, nonchalant und gemächlich, wie Sie immer sind, wenn Sie sich langweilen, in Ihre Loge zurückkommen sah, wurde ich ruhig.

Sie haben sich für heute zu Tisch angesagt. Ich erwarte Sie in nervöser Ungeduld. Es ist zehn Uhr vormittags. Noch acht Stunden! Eine Ewigkeit.

Ihre schwesterliche Agathe


Agathe an Georg

Den 14. Juli.

Mein lieber Freund!

Gestern, den ganzen Abend, so feierlich verstört! Ich habe Sie auf das Zärtlichste behandelt. Ich werde nie anders mit Ihnen sein. Als ich Ihnen das alte provenzalische Abschiedslied zur Laute sang, da haben Sie bei dieser schlichten Volksweise geweint. Es war mir entgangen, weil Sie in der geöffneten Tür im roten Licht der Abendsonne und im beweglichen Widerscheine des Grüns der Bäume saßen, aber Sophie hat mir berichtet: »Onkel Georgs Augen waren voller Tränen! Woran hat er gedacht?«

War es nicht ein wundervoll harmonischer Abend? Waren wir nicht glückIich? Was für schwarzen Gedanken haben Sie nachgehangen?

Vergessen Sie nicht, daß Sie übermorgen, zum Mittwoch, bei Mutter zu Tisch gebeten sind. Ich komme halb zwei Uhr. Sie auch, bitte! Es ist Sophiens Geburtstag, und ihre Freude wäre unvollkommen, wenn Sie nicht kämen.

Ihre Agathe


Agathe an Georg

Mittwoch, den 16.

Bester geliebter Freund!

Ich bin zu Tode erschrocken. Eben lese ich in den Dresdner Nachrichten, daß gestern, am Dienstag, früh sieben Uhr, in der Heide ein Pistolenduell zwischen Herrn G.v.R. und Herrn H.o.W. stattgefunden hat und daß der erstere beim zweiten Kugelwechsel in den rechten Oberarm getroffen und kampfunfähig geworden ist.

Mein Gott, es ist nicht anders: das sind Sie! Jetzt wird mir die Art Ihres Abschiedes neulich, Ihr Verhalten am Sonnabend usw. klar. Am liebsten wäre ich auf der Stelle zu Ihnen gefahren. Nur die Furcht, vielleicht mit Ihrer blonden Freundin zusammenzutreffen, hat mich zurückgehalten. Josef bringt Ihnen diese Zeilen. Er hat strengen Befehl von mir: er muß Sie persönlich sehen und sprechen. Erlauben Sie es ihm, bitte ich Sie. Sonst bin ich nicht ruhig.

Haben Sie jemanden, der Sie pflegt? Wenn nicht, darf ich kommen und es übernehmen?

Ich bin vor Unruhe halbwirr. Mein lieber guter Georg, was haben Sie da getan! Sie, der Sie niemandem etwas zuleide tun, Sie, die Güte und Nachsicht selber! Wenn ich mir vorstelle, daß Sie hätten fallen oder für immer Krüppel bleiben können, daß Sie vielleicht Wundfieber haben und wer weiß was Schlimmes, so bin ich unfähig, klar zu denken. Ich bin in Tränen.

Lassen Sie mir schnell Nachricht zukommen!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

Mittwochs mittags.

Beste gütigste Frau Agathe!

Ich diktiere der Krankenschwester diese Zeilen. Ihr Josef steht daneben und freut sich, daß ich höchst vergnügt bin. Das wird er Ihnen noch mündlich schildern.

Die Wunde tut verteufelt weh, aber sie ist nicht weiter gefährlich. Der Knochen ist unberührt. Der Arzt ist eben gegangen. Er hat mir versichert, in acht Tagen könne ich das Duell fortsetzen. Scherz beiseite, ich fühle mich ganz leidlich. Ein bißchen Fieber. Muß ein paar Tage liegen bleiben. Die Sache ist also im allgemeinen gut abgelaufen.

Leben Sie wohl und sorgen Sie sich nicht ernstlich um mich! Es wird vorübergehen, wie alles vorübergeht. Ich küsse Ihnen die Hand und lasse Sophie vielmals grüßen.

Ihr Georg

Nachschrift: Mein Neffe Michael trifft heute abend aus Bonn ein. Er wollte seine ersten Ferien als Studiosus hier bei mir verleben. Davon kann unter diesen unvorhergesehenen Umstanden natürlich keine Rede mehr sein. Was soll er in einem Krankenzimmer? Er mag eine kleine Reise unternehmen. Er wird sich erlauben, Ihnen morgen nachmittag persönlich Nachricht von mir hinauszubringen.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 17. Juli abends.

Mein lieber Freund!

Ihr Neffe hat uns Ihre Grüße überbracht und allerlei von Ihnen und Ihrem Befinden erzählt. Auch alles, was Sie ihm über das Duell mitgeteilt haben. Ein etwas dürftiger Bericht. Vor allem weiß ich noch immer nichts über den Anlaß Ihres Zwistes mit Herrn von Wolfframsdorf. Wie konnten Sie sich duellieren! Sie Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts! Ich begreife niemals einen Zweikampf unter Männern Ihrer Art. War es denn wirklich unvermeidlich?

Ich mache mir viel Sorgen um Sie. Ihr Diener ist ein Musterstück, aber immerhin: ein guter Diener ist noch lange kein guter Krankenpfleger. Michael hat mir erzählt, die Krankenschwester sei nur bei Tage bei Ihnen. Behalten Sie sie doch lieber dauernd da! Ich mache mir Vorwürfe, Ihre Pflege nicht sofort und ohne konventionelle dumme Bedenken übernommen zu haben. Mögen die Leute denken, was sie wollen! Heute ist Donnerstag. Am Sonnabend werde ich Sie gegen Abend aufsuchen. Ich bin mir das ebenso wie Ihnen schuldig. Ich will Sie ein wenig aufheitern. Michael sagt, Sie seien so still.

Hat Ihnen Ihr Neffe ausgerichtet, daß wir eigentlich schon jetzt, bestimmt aber in acht Tagen in das Ober-Engadin gehen müssen. Sophiens Arzt verbleibt bei seiner Forderung eines Luftwechsels. Der Sommer sei heuer viel zu heiß für sie. Auf jeden Fall warte ich aber mit der Abreise, bis Ihr Arm soweit gediehen ist, daß jedwede Gefahr ausgeschlossen ist. Eher hätte ich keine Ruhe.

Ich habe Michael aufgefordert, sich mir und Mutter anzuschließen. Reden Sie ihm zu! Oder lieber: befehlen Sie es ihm! Er liebt Sie so, daß er mir erklärt hat, er müsse bei Ihnen bleiben.

Wir gehen nach Silvaplana. Meine Schwägerin und Susanne nach Sankt Moritz. Vielleicht kommen Sie als Genesender nach. Machen Sie mir diese Freude!


Georg an Agathe

18. Juli.

Liebste beste Freundin!

Mit der linken Hand zu schreiben, noch dazu im Bett, das ist eine ungewohnte und ungelenkige Sache! Mein Niklas gibt Ihnen zwar Ihrem Wunsche gemäß alle Tage entweder persönlich oder telephonisch einen genauen Krankenbericht, aber mein Freundschaftsgewissen bedrückt mich in einer Hinsicht. Niklas erzählt Ihnen gewiß tausend Einzelheiten, aber in diesem Einen ist er doch zweifellos verschwiegen wie ein Grab.

Sie beklagen meine Verlassenheit. Beste Agathe, so schwer mir das Geständnis fällt: Ihr Mitleid zu mißbrauchen, das bringe ich doch nicht fertig. So muß ich mich schon Ihrer Nachsicht und Ihrer Duldsamkeit anvertrauen. Aus Grauen vor Langerweile und Einsamkeit habe ich gestattet, daß mir die »blonde Magdalena« (wie Sie sie nennen) Gesellschaft leistet und mich pflegt. Seit gestern. Beklagen Sie mich also nicht als einen Verlassenen!

Ich hätte mich gern von Ihren geliebten weißen Händen pflegen lassen. Aber es ist tausendmal klüger so. Das Warum erzähle ich Ihnen später. Aus einem Grunde reut mich freilich die Gastfreundschaft, die ich ihr gewähre. Nun kann ich mir Ihre Besuche nicht erbitten. Das ist sehr schmerzlich für mich. Schmerzlich und – wiederum klug!

Michael habe ich wegkomplimentiert. Was soll er am langweiligen Lager eines Kranken? Zufällig hat ihn einer seiner Studiengenossen auf ein paar Tage zu sich eingeladen, ein junger Herr von Brühl, nach Seifersdorf, dem bekannten Besitztum dieser Familie.

Leben Sie wohl, gütigste Freundin! Ich drücke Ihnen innigst die Hand.

Ihr Georg


Agathe an Georg

Rosenhof, den 20. Juli.

Lieber Georg!

Mein armes Herz hat sich ein letztes Mal zusammengekrampft. Das war die Sterbestunde meiner irdischen Liebe. Seien Sie aber nicht betrübt, daß Sie mir dieses letzte Leid angetan haben. Ich traure ja selbst nicht um diese Liebe. Lassen wir sie ruhen. Friede ihrem Angedenken!

Da Sie in acht Tagen, den Arm in der Binde, wieder ausgehen dürfen, wie ich zu meiner größten Freude höre, so werden wir uns also vor unsrer Abreise sehen, die nunmehr auf Dienstag den 29. festgesetzt ist. Wie freue ich mich darauf! Ich möchte die Reise ja gern noch weiter hinausschieben. Indessen, es ist unmöglich. Der Hauslehrer ist bis zum 10. September beurlaubt. Den kommenden Winter soll Sophie tüchtig lernen, damit sie zu Ostern in der Quarta des Mädchengymnasiums Aufnahme findet. Sie ist, wie Sie wissen, im Juli zwölf Jahre alt geworden. Ich möchte, sie soll sich im Gebirge recht ordentlich erholen. Mit einem Worte, wir müssen fort.

Michael, mit dem ich gestern gegen Abend ein Viertelstündchen durch den Fernsprecher geplaudert habe, begleitet uns. Das wird sehr nett. Er hatte Geldbedenken. Sein Vater halte ihn sehr knapp. Ich habe ihm versichert, daß Sie für eine genügende Reisekasse bereits gesorgt hätten.

Gestern, bei meiner Schwägerin, habe ich Herrn von Szanto getroffen. Durch Susannens Ungeschicklichkeit kam die Rede bei Tisch auf das unselige Duell. Die Gesellschaft hat sich allerlei Vermutungen und Märchen gebildet. Widerlich, diese banale Klatschsucht! Man behauptete also auch gestern, der Anlaß des Wortwechsels zwischen Ihnen und Wolfframsdorf (also doch damals im Theater!) sei die Tatsache, daß Sie ihm die Freundin abtrünnig gemacht hätten. Da warf die superkluge Susanne mit einem sonderbaren Blick auf mich ein: Aber Kinder, seit wann schießt man sich wegen so etwas!

Meine Schwägerin brachte das Gespräch gewaltsam auf ein anderes Thema. Mir war es ganz heiß geworden. Georg, warum sind Sie in dieser Angelegenheit so gar nicht offen zu mir, Ihrer vielgepriesenen besten Freundin? Das Wörtchen »klug«, das zweimal in Ihrem letzten Briefe wiederkehrt, verstärkt meinen Argwohn. Mein Gott, ich bin am Ende gar die Veranlassung dieses Zweikampfes. Hat sich Wolfframsdorf damals eine Bemerkung über mich erlaubt? Sie haben ihn sehr scharf zurückgewiesen. Szanto ist Zeuge des Vorganges gewesen. Ich wage ihn jedoch ohne Ihre Erlaubnis nicht auszufragen. Ich bitte Sie, klären Sie mich auf! Es ist Ihre Freundespflicht. Ich fühle mich schuldig. Hat sich eine harmlose kleine Koketterie so grausam gerächt? Ich zittre, wenn ich an diese mögliche Erklärung der Dinge denke.


Georg an Agathe

24. Juli.

Liebste gütige Freundin!

Sie fordern die Wahrheit! In diesem Falle ist es von mir beinahe unritterlich und prahlerisch, Ihrem Verlangen zu willfahren. Theoretisch ist Offenheit gerechtfertigt, ja, aber es fällt mir unsagbar schwer, sie in der Praxis zu betätigen. Eine Bedingung: erwähnen wir die Angelegenheit dann niemals wieder! Die Medisance hat Sie und mich in der letzten Zeit – wie soll ich das möglichst humorvoll in Worte fassen? – na, sagen wir: in einen Topf geworfen. Sie wie ich, wir kümmern uns um die bösen Zungen nicht. Trotzdem, die Sache ärgerte mich um Ihretwillen. Um dem Gerede die Spitze abzubrechen, ließ ich mich häufig in lebemännischer Gesellschaft sehen. Sie verstehen! Absichtlich. Daß Sie mich dabei ertappen sollten, das wollte ich natürlich nicht. Daß es geschah, machte mich an jenem Abend sehr nervös. Wolfframsdorf war das Opfer meiner Nervosität. Er erlaubte sich eine respektslose Bemerkung.

Ich bin eigentlich ein Duellgegner. Zumal, nachdem ich der Gesellschaft den Beweis gegeben habe, daß Feigheit nicht der Grund meiner Verachtung des Zweikampfes ist, werde ich mir kein Blatt mehr vor den Mund nehmen, wo es gilt, Duelle zu verspotten. Trotzdem gibt es Fälle, in denen ein Duell unter den heutigen Verhältnissen nur schwer, vielleicht gar nicht zu vermeiden ist. Die braven Europäer sind große Kinder. Und die sie regieren, erfreuen sich der Narretei. Was nützen alle Vorschläge zur Abschaffung dieser traditionellen Farce, wenn sie nicht von allerhöchster Stelle kommen?

Zurück zu uns! Der Klatsch ist der Meinung, der Anlaß zu dem Duell sei die blonde Magdalena. Ich habe diese alberne Legende aus klugen Gründen nicht dementiert. Ihre schöne Nichte war scharfsichtiger als die Masse. Das hat mich außerordentlich gefreut.

Ich werde meine Beziehungen zu dem blonden Wesen sehr bald wieder abbrechen. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan! Übrigens ist auch sie im Wahne, ich hätte mein edles Blut für sie verspritzt. Aus Eitelkeit oder Dankbarkeit – wer kennt das Menschenherz? – pflegt sie mich wirklich mit Hingabe und großer Sorgfalt. Zum Dank habe ich ihr vier Wochen Aix-les-Bains versprochen. Der Ort liegt ganz entzückend. Unweit Genf. Ich habe schon einmal amüsante Tage dort verlebt. Sobald ich reisefähig bin, verschwinden wir hier von der Bildfläche. Der Arzt hat mir den Ort zur Nachkur empfohlen.

Verzeihen Sie mir großmütig die Berührung von Dingen, die Ihnen häßlich erscheinen. Jetzt werden Sie aber alles klar sehen. So soll es immer zwischen uns sein.

Hat meine linke Hand nicht prächtig schreiben gelernt?

Leben Sie wohl! Ich küsse Ihnen die lieben Hände.


Agathe an Georg

Am 24. abends.

Mein geliebter Freund!

Ich hatte die Wahrheit vom ersten Moment an im Gefühl! Ich möchte Sie schelten, daß Ihre Treue zu mir allzuweit gegangen ist, aber ich vermag es nicht. Eins sage ich Ihnen aber, vielmehr schwöre ich Ihnen feierlich, daß mein Verhalten zur großen Welt nie je Anlaß geben wird, daß Sie ein zweites Mal Ihr Leben für mich einsetzen müssen. Wie soll ich Ihnen das erstemal vergelten?

Ich drücke Ihnen innigst die Hände.

Immer Ihre Agathe


Agathe an Georg

Rosenhof, den 28. Juli.

Mein lieber Freund!

Ihr Diener vermeldet mir eben, daß Sie morgen noch nicht ausgehen dürfen. Erst in ein paar Tagen. Das ist für uns alle beide sehr betrüblich. Da Sie mir aber versichern lassen, von irgendwelcher Gefahr könne keine Rede mehr sein, so soll es bei der Abreise am 29. bleiben.

Ich nehme Abschied von Ihnen. Niklas bringt Ihnen mit den gelben Rosen ein paar Bücher, Altes und Neues, die ich für Sie besorgt habe. Vertreiben Sie sich einsame Stunden damit! Leben Sie wohl! Vergessen Sie mich nicht!

Niklas hat versprochen, mir alle Tage über Ihr Befinden zu depeschieren. Hoffentlich geht es auch bald wieder mit dem Schreiben.


Agathe an Georg

Siloavlana, den 3. August.

Mein lieber Freund!

Ich sitze mit Sophie auf einer blütenbestickten Matte am Julier. Drunten der stille grüne See. Rechts, blendend weiß, der Piz della Margna. Gegenüber die Wasserfälle und der Piz Corvatsch. Links, in der Ferne, wie ein buntes Bildchen in dunkelgrünem Rahmen, Sankt Moritz. Nah betrachte ich es nicht gern. Diese Riesenbaukästen dünken mich in dieser großen Natur allzu geschmacklos.

Sie kennen dies alles. Sie haben mir früher lebhaft davon erzählt. Ich wollte, Sie wären mit da und zeigten mir Ihre Lieblingsplätze.

Silvaplana klingt wie ein Märchenname. Und es liegt auch märchenschön. Ich bin bezaubert. Eine wunderbarere Landschaft kann es nicht geben. Der Gedanke, wieder von hinnen zu müssen, macht mich schon im voraus schwermütig.

Gestern lag der See da, smaragden, spiegelglatt, ganz verschlafen. Heute ist er erregt. Weiße Kämme glitzern auf und nieder. Durch die Wellen leuchtet die Sonne. Das nimmt ihm jede bestimmbare Farbe. Aber auch in dieser Wandlung entzückt er mich.

Allemal, wenn ich einen versonnenen Weg, einen träumenden Winkel im Walde, einen jubelnden Ausblick entdecke, frage ich, ob Sie auch einmal da gewesen seien. Wenn ich solche Blicke in dies Zauberland tue, möchte ich immer, daß Sie es ebenso gesehen hätten. Und dann wünsche ich mir. Sie wären da, um Ihnen zu sagen, was sich doch nicht schreiben läßt.

Wenn ich es versuche, komme ich mir oft merkwürdig unbeholfen vor. Und warum? Weil ich Ihnen bereits im Augenblicke des Genusses, in der Einbildung, alles das erzählt habe, was ich Ihnen hinterher zum zweiten Male im Briefe sagen möchte und dann nicht im Entferntesten vermag. Denn der Nachhall ist nicht mehr der Inhalt der schönen Stunde. Das schafft in mir einen fast schmerzlichen Zwiespalt. Ach, und ich möchte doch zu jeder Minute harmonisch sein, nicht nur in den Stunden auf den Höhen der Stimmung. Harmonisch wie die Landschaft um mich herum. Die Natur ist immer vollkommen. Wir nur tragen Unvollkommenheit hinein, wir, die ruhelosen, unvollkommenen, problematischen Menschen.

Ich habe Blumen gepflückt. Die Alpenflora entzückt mich. Ich liebe die Blumen, die hier wachsen, über alles. Die Alpenblumen duften auf so eigene, ganz sonderbare Weise. Am stärksten die purpurrote leuchtende Männertreue. Sie wächst übrigens nur auf den höchsten Höhen, die Männertreue.

Heute habe ich noch keine Nachricht von Niklas. Von Ihnen selbst überhaupt noch keine, seit wir hier sind.

Michael ist nach Sankt Moritz gegangen, Susanne abzuholen. Sie glauben nicht, wie sehr ich ihn in mein Herz eingeschlossen habe. Er ist ein prächtiger junger Mensch.

Schreiben Sie mir!


Georg an Agathe

Dresden, 4. August.

Liebste ferne Freundin.

Mein Arm ist so gut wie geheilt. Seit gestern ist jede Gefahr beseitigt. Kurz, ehe Sie abreisten, war eine Verschlimmerung eingetreten. Fieber und so weiter. Wir haben es Ihnen verheimlicht. Wie gern wäre ich vor Ihrem Weggange hinausgeeilt zu Ihnen, Lebewohl zu sagen!

Es ist sehr unbequem, mit der linken Hand schreiben zu müssen. Seien Sie mir also nicht bös, daß ich so wenig schreibe. Übermorgen gehe ich endlich wieder aus, den Arm natürlich in der Binde. Ich freue mich sonderbarerweise gar nicht mehr darauf. Ich bin trübsinnig. Vielleicht durch die lange Zeit der Stubenluft.

Seien Sie gegrüßt. Sie, Sophie, Michael, Susanne, alle!

Zärtlichst gesinnt bin ich

der Ihre,

Georg


Agathe an Georg

Silvaplana, den 6. August.

Mein lieber guter Freund!

Ich habe es nicht gefühlt, daß Sie kränker waren, als Sie zugaben! Ich habe geglaubt, was man mir sagte. Keine bange Ahnung hat mich gehindert, froh und guter Laune abzureisen. Und nun geht es Ihnen offenbar gar nicht gut. Ich habe große Lust, an Ihren Arzt zu schreiben. Mag er denken, was er will! Er ist ein so vernünftiger Mensch. Gewiß findet er meine Anfrage durchaus natürlich und recht. Ich möchte nur nicht, daß mein kranker Freund Anlaß hätte, auf mich bös zu sein.

Sie sind melancholisch. Wenn jener Satz wahr wäre, daß die Seele, die viel gelitten, Heilkraft über andre Seelen besitzen soll, dann müßte ich Sie heilen können. Aber sagen Sie mir: von welchem Übel? Das Wort »trübsinnig« brennt mir geradezu in die Augen, wenn ich Ihren letzten Brief wieder in die Hände nehme. Es ist ein verzweiflungsvolles Gefühl für mich, daß Sie mir so fern sind, und daß ich nichts für Sie tun kann.

Ich war heute vor dem Dejeuner auf dem Muottas Muraigl. Ich habe über die weißen Gipfel hinweg nach Norden ausgeschaut in die blaue Ferne – nach Ihnen. Ich mache mir große Vorwürfe. Es lag vielleicht in meiner Hand, ein gewisses Ereignis zu verhindern. Sie werden das nie zugeben, aber ich komme über diesen Gedanken nicht hinweg.

Jegliche Gesellschaft widert mich an. Die Menschen unsrer Gesellschaft, sind sie nicht fast alle Drohnen? Innerlich arm und klein, äußerlich elegant und anmaßend, alles in allem unfruchtbar und unnütz? Die sportliebenden Drohnen sind mir die allergräßlichsten. Welche Armseligkeit, einer Betätigung Wert beizumessen, in der der Dümmste und Albernste Meister sein kann! Ich nehme nur den Sport aus, der unter Todesgefahren die Naturgewalten besiegt.

Susanne wird von zwei Dandies der Hof gemacht, schicken hübschen Jungen, die nichts im Kopfe haben als Tennis, Segeln, Golf usw. Im Geiste vergleiche ich Sie mit diesen kleinen Helden der Gesellschaft. Sie haben sich im Sinne der Männer der Renaissance erzogen. Wo gibt es aber unter der jüngsten Generation junge Leute, die ebenso ihren Vollblüter zu meistern wissen, wie ihre eigenen Ideen über irgendein seltenes Buch, die Schönheit einer Landschaft, die Reize einer fernen Kultur verliebt vorzutragen?

Wenn Sie wieder gesund sind, schenken Sie mir etwas, um was ich Sie herzinnig bitte! Die Nachricht, daß Sie sich einer bestimmten Beschäftigung mit Eifer widmen. Lassen Sie Ihre reichen Gaben nicht im Brachland verderben. Verachten Sie mit mir die Drohnen, indem Sie keine sind! Lieben Sie mich darin! Dann wird Sie keine Melancholie mehr heimsuchen!

Ihre getreueste Agathe


Agathe an Georg

Silvaplana, den 7. August.

Liebster Freund!

Alle Morgen erfreut mich der immer besser lautende telegraphische Krankenbericht. Sie gehen heute zum ersten Male wieder aus. Meinen herzlichsten Glückwunsch!

Aus Ihrer heutigen Depesche lese ich etwas wie weltmännische Resignation. Was haben Sie? Beichten Sie! Will die Magdalena Sie nicht nach Aix-les-Bains begleiten? Ich würde es bedauern. Sie sollen nicht einsam sein. Oder hat sich sonst ein Rosenblatt über den jetzt doch moosweichen Pfad Ihres Erdenganges gelegt? Erzählen Sie! Ich werde Sie trösten.

Graf Szanto ist gestern hier eingetroffen. Er will von uns Abschied nehmen. Man hat ihn nach Wien versetzt. Er ist betrübt, sein angenehmes Leben an der Dresdner Gesandtschaft beendet zu sehen. Arbeit hatte er dort so gut wie nicht.

Eben treten Susanne und ihr Anbeter in das Schreibzimmer, wo ich sitze und dies schreibe. Beide strahlen vor Lebenslust und Jugendmut. Das Abschiednehmen des Ungarn wird darin auslaufen, daß er uns Susanne entführt. Ich meine natürlich: nach allen Regeln der Konvenienz. Die beiden passen vortrefflich zueinander. Zwei wohlerzogene, leichtlebige Menschen ohne geistige Tiefen. Zwei gute Durchschnittsgeschöpfe. Als solche jagen sie keinem besonderen hohen Ideale nach. Und so werden sie auch mit dem Alltagsglücke zufrieden sein.


Georg an Agathe

Dresden, 10. August.

Meine liebe Freundin.

Sie haben richtig geraten. Aix-les-Bains ist vom Programm gestrichen. Magdalena hat mich verlassen. Ich bin herzlos froh darüber. Mit meiner Trübsal hat dieses Zwischenspiel nichts zu schaffen.

Szanto hat mir, ehe er nach Sankt Moritz eilte, seinen Abschiedsbesuch gemacht. Also: Er und Susanne! Ich wünsche den beiden von Herzen Glück.

Ich bin heute ein schlechter Briefschreiber. Ich möchte Ihnen so gern etwas recht Liebes und Herzliches sagen. Aber ich fürchte überschwenglich zu werden und Ihnen dann unnatürlich zu erscheinen oder gar sentimental. Nichts ist mir schrecklicher als Rührseligkeit. Begnügen Sie sich darum, bitte ich Sie, mit der wortkargen, aber innigen Versicherung, daß ich Ihrer zärtlichst gedenke.

Mein Arm ist völlig wiederhergestellt.


Agathe an Georg

Silvaplana, den 12. August.

Mein lieber Georg!

Immer noch Trübsal, Melancholie! Ich will sie Ihnen verjagen. Kommen Sie flugs her! Ich werde Ihnen im bequemsten Fremdenhof, den es hier gibt, das allerbeste Zimmer mieten mit dem schönsten Blick auf den köstlichen Piz della Margna.

Susanne und der Ungar sind nunmehr förmlich Verlobte. Er ist gestern als erklärter Sieger nach Wien abgereist. Die beiden werden noch im Herbst heiraten. Das große Rad des Lebens hat die Lose zweier Menschen zusammengebracht. Glück oder Unglück? Was harrt ihrer? Wer weiß es? Niemand, auch nicht der erfahrenste Seelen- und Schicksalskenner, hätte den Mut, ihnen zu sagen: Ihr jagt einer Illusion nach, die sich unmöglich erfüllen kann. Seid bescheiden in Euern Erwartungen! Je weniger man erhofft, desto wertvoller ist einem das Wenige, das man findet!

Was hätte es für einen Sinn, ihnen zuzurufen: Liebe ist Illusion? Man könnte ihnen doch keine andre Freude als Ersatz bieten. Susanne ist durchaus ein Weltkind. Eitel und selbstzufrieden. Äußerliche Triumphe sind ihr der höchste Genuß. Allein der Grafentitel vor ihrem künftigen Namen und die neunzackige Krone darüber bereiten ihr ein kindisches Vergnügen.

Wie ganz anders ist meine Sophie geartet! Mir bangt um ihr Schicksal. Sie bedarf einmal eines Herzens-Aristokraten. Er kann meinetwegen Meyer oder Schulze heißen. Nur muß er ein voller Mensch sein. Sie ist schon zwölf Jahre alt, und so ist der Tag nicht mehr allzufern, wo ich sie einem Unbekannten hingeben muß. Wie vieler Liebe und Sorglichkeit bedarf es für mich, um die Vertraute ihres scheuen Herzens und ihrer geheimsten Gedanken bis dahin zu bleiben! Ich will ihre Freundin, nicht nur ihre Erzieherin sein. Vielleicht gibt es irgendwo einen jungen Mann, dem eine glückliche Mutter Herz und Seele rein bewahrt hat. Vielleicht fügt es ein guter Engel, daß wir ihn finden. Ich will dann gern alles Leid vergessen und vergeben, das mir zugeteilt war.

Ein törichter Traum: ich wünschte. Sie wären zwanzig Jahre alt. Sie, dessen Gefühlsart und Geistesgaben, Vorzüge und Fehler ich so genau kenne wie meine eigenen. Lachen Sie mich nicht aus. Liebster! Es ist mir sehr ernst zumute.

Ewig Ihre Agathe


Georg an Agathe

Paris, 14. August.

Geliebte Freundin,

Ihr Wunsch, mich einer ernsten einzigen Tätigkeit zuzuführen, hat sich schneller erfüllt, als wir je denken konnten. Das Schicksal geht oft wunderliche Wege.

Mein leichtsinniger Bruder hat seinem Leben am 12. August ein Ende gesetzt. Einzelheiten darüber werde ich Ihnen später erzählen. Die Tat ist hier in Paris geschehen, und niemand außer mir und Ihnen soll je erfahren, daß es kein Unfall war, sondern Verzweiflung und Lebensüberdruß.

Ich bin allein hierhergekommen, um ihn, fern von unserm Erbbegräbnis, hier zu bestatten. Einen Verwandtenkreis haben wir nicht.

Michael, Eberhards einziger Sohn, der letzte derer von Rockau, ist von mir noch nicht in Kenntnis gesetzt. Ich bitte Sie, nehmen Sie mir freundschaftlich dieses traurige Amt ab. Ihn hierher zu rufen, halte ich für unnötig. Trösten Sie ihn! Ich weiß nicht, ob er an seinem Vater hängt. Der Tote hat sich nie um ihn gekümmert. In den letzten Jahren haben sich beide kaum gesehen. Mein Bruder war ein Ahasver, der nirgends Ruhe und Rast fand, immer den seltensten Genüssen nachjagend. Sein unseliger Stern fügte es, daß er nach großen Enttäuschungen ein rein materieller Genußmensch geworden ist. Ich bin einen andern Weg gegangen. Habe ich darum aber das geringste Recht, meinen armen Bruder zu verdammen? Nein.

Michael ist nun mein Sohn. Sein Vater hat ihm nichts als tolle Schulden hinterlassen. Ich werde alle meine Kräfte einsetzen, die wirren Geldverhältnisse zu ordnen und wieder gesund zu machen. Da ich nicht heiraten werde, ist Michael mein Erbe. Rockau wird fortan von mir bewirtschaftet werden. Einen tüchtigen Inspektor haben wir ja zum Glück; er konnte sich bisher nur nicht recht entfalten, weil mein Bruder nichts von ihm verlangte als immer wieder Geld.


Agathe an Georg

Silvaplana, den 16. August.

Mein geliebtester Freund!

Die plötzliche Wendung Ihres Schicksals, das mir am Herzen liegt, hat mich erschüttert, zugleich aber mit freudigster Zuversicht erfüllt. Sie sind nun nicht mehr unnütz in der Welt. Bester, Sie waren es ja längst nicht mehr, von jener Stunde an, da Sie meinen Lebenspfad betraten. Ich lebte, aber es war doch nur ein Scheinleben. Wie viel ist seitdem geschehen! Sie haben mich zu einer zufriedenen, mit ihrem Leben aufrichtig und vollkommen ausgesöhnten Frau gemacht. Die Dankbarkeit eines Mitmenschen in so hohem Maße errungen zu haben wie Sie die meine, ist das nicht etwas? Viel sogar, sehr viel? Von nun an werden Sie für Ihren Michael leben und kämpfen. Das wird Ihr volles Glück sein.

Wenn Sie einer Hilfe in materieller Hinsicht bedürfen, um Ihrem Schützling das Gut seiner Vorfahren zu erhalten, dann erwarte ich, daß Sie sich nicht an fremde Leute wenden, sondern immer zuerst an Ihre Freundin, die Ihrem Michael die Mutter ersetzen möchte. Ich gehöre nicht zu den engherzigen Egoisten, die eine Freundschaft durch Geldangelegenheiten gefährdet sehen. Im Gegenteil. Also keine falsche Scham in diesem Punkte! Ich gehöre Ihnen mit allem, was ich besitze, und ich werde allezeit eine Glücksempfindung erleben, wenn ich Ihnen irgendwie nützlich sein darf. Und wenn Sie einmal die letzten Bedenken nicht überwinden können, dann sagen Sie sich einfach, daß Sie es für Ihren Neffen tun müssen.

Michael gleicht Ihnen in vielen Dingen. Auch er ist Idealist und Romantiker, und da er noch in der ersten Jugend steht und frisch und unverdorben ist, noch nicht von Erfahrungen und Enttäuschungen heimgesucht, so ist er ein prächtiger junger Mann. Das Leben hat ihm nur erst Schönes zu schenken begonnen. Reichen Sie mir Ihre väterliche Hand: wir wollen miteinander das Mögliche tun, um ihm alle seine Illusionen zu erhalten. Er will Gelehrter werden, also das, was Sie hatten werden sollen!

Er und Sophie sind schnell ein Herz und eine Seele geworden. Sie bringt ihm alle Tage selbstgesuchte schöne Alpenblumen, Enzian und Männertreue und Herbstzeitlosen. Um sich dankbar zu erweisen, zerbricht er sich den Kopf, wie er ihr allerhand kleine Dienste erweisen könne. Seine noch unbeholfene Galanterie ist so recht die des werdenden Gelehrten. Ich glaube, er wird einmal ein Muster von Gründlichkeit. Somit ist er gar nicht nach seinem unglücklichen Vater geartet. Mit einem Worte, er hat unser aller Herzen gewonnen.


Georg an Agathe

Rockau, 20. August.

Beste Freundin und Schwester,

ich bin nicht mehr in Unruhe und Sorge, daß sich unser Herzensband je wieder lockern könnte. Diese Zuversicht verleiht mir Selbstachtung und den unbeschreiblich heiteren Mut, die Mühe und Arbeit eines verantwortungsreichen Lebens auf mich zu nehmen. Ich empfinde meine Pflichten wie eine süße leichte Last. Gefalle ich Ihnen in dieser Verjüngung? Ich fühle sie selber wie ein spätes, kaum noch erhofftes Glück: das echte reife Herbstglück.

Sie, Mutter meinem Michael! Schöneres konnten Sie mir nicht verheißen. Soll ich Ihnen gestehen, welcher Wunsch mich beim Lesen Ihrer zärtlichen Worte ergriffen hat? Sophie und Michael Hand in Hand durch ihr ganzes Leben schreiten zu sehen.

Das ist natürlich nichts als ein heimlicher Wunsch. Niemals würde ich durch eine Aussprache in den Lebensgang unsere geliebten Sohnes einzugreifen wagen. Aber eine leise Ahnung flüstert mir die Erfüllung dieses letzten meiner Wünsche zu. Ihre Sophie wird Ihr Ebenbild, und in Michael ist der junge Georg wieder erstanden, so wie er vor zweiundzwanzig Jahren in die Welt ging. Was sich Ihnen im Leben nicht erfüllt hat, und was es mir nicht gehalten – das soll es diesen beiden jungen Menschen gewähren!

Was sagen Sie dazu, Geliebteste?


Agathe an Georg

Silvaplana, den 22. August.

Liebster Freund!

Was ich dazu sage? Wollte es Gott so fügen! Es würden nicht nur zwei Menschen glücklich, sondern vier Herzen! Ich bin tiefbewegt über diese Aussicht in die Zukunft. Ich zittere für dieses ferne Glück.

Wir wollen aber auch uns beide nicht vergessen. Gebärden wir uns nicht wie zwei ganz alte Menschenkinder: Sie mit Ihren zweiundvierzig und ich mit meinen dreiunddreißig Jahren? Ich habe lächeln müssen, als ich mir das eben vergegenwärtigte. Beinahe schon Großmutter und Großvater! Können wir den Winter des Lebens so gar nicht erwarten? Sie beginnen den arbeitsreichen und damit vielleicht den wichtigsten Teil Ihres Daseins und ich, – ich fühle mich alles andre denn alt. Ich habe mich selber wiedergefunden, und ich schaue genau so tatenlustig auf das Kommende wie Sie! Dieses stolze Selbstbewußtsein danke ich Ihnen. Wie verworren war der Gang meiner inneren Erstarkung! Unsre Briefe enthalten die Urkunden hierüber, den Kriegstagebericht.

Das erweckt einen Wunsch in mir: Ich möchte alle meine Briefe an Sie einmal hintereinander lesen und über diesen Zeugen bestandener Kämpfe träumen und sinnen. Senden Sie mir das Kästchen! Sie bekommen es wieder.


Georg an Agathe

26. August.

Meine liebste Agathe,

ja, Kämpfen, ehrlichen wackeren Herzenkämpfen ist in diesen Briefen ein Denkmal gesetzt. Den Frieden, der ihnen gefolgt, soll uns kein Feind je wieder entreißen. Die wunderlichste Freundschaft hat uns beide geläutert. Wir gehören einander auf immerdar an, untrennbar und unersetzlich, in einem erlesenen Glücke, im Glücke der seltsamsten Liebesleute!


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