Arthur Schurig
Seltsame Liebesleute
Arthur Schurig

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Erstes Buch


Georg, Freiherr von Rockau, an Frau Agathe von Uechtritz

Dresden, 12. November 1909.

Gnädige Frau,

ich bitte, Ihnen übermorgen zur Teestunde meinen Besuch machen zu dürfen. Ich möchte Ihnen das Buch persönlich bringen, von dem ich Ihnen gestern vorgeschwärmt habe. Sie waren willig, es mir zuliebe auch zu lesen. Tun Sie es! Ich bringe es Ihnen, wenn Sie es mir erlauben. Eben, ehe mir Niklas, mein treuer Diener, den ich aus dem Vaterhause übernommen, die Lampe auf dem Schreibtisch anschaltete und anknipste und zurechtrückte, mit behutsamer, ganz leiser, umständlicher Sorglichkeit, die mich an dem alten Mann immer von neuem rührt, (ahnt er, wie köstlich mir meine Träumereien sind?)–eben hatte mir die heure tendre der Dämmerung den ganzen gestrigen Abend zurückgezaubert. Einen lieben unvergeßlichen Abend! Ach, wie viele Abende bin ich gezwungen, mich an die große Gesellschaft zu verlieren, und am Tage darauf erinnert mich nichts daran! Ich habe eben gesagt: gezwungen. Nein, das wäre unaufrichtig. Denn ich bin ein freier Mann, vielleicht ein viel-zu-freier. Ich verachte jedwede Knechtschaft, auch die der Gesellschaft, und lege wenig Wert drauf, den mir zukommenden Platz in ihr einzunehmen. Gleichviel brauche ich Menschen, soignierte Menschen, innerlich wie äußerlich verwöhnte Leute um mich herum – wie der Fisch sein Wasser. Manchmal vermag ich bis zum Enthusiasmus lebhaft zu reden. Aber schon ein paar Minuten später begnüge ich mich wieder damit, still und bescheiden zu beobachten. Und es ergreift mich etwas wie tiefe Sehnsucht nach Weltflucht. Das ist keine Komödie vor mir selber. Wie soll ich es Ihnen erklären? Ich gehe immer von neuem in die Welt, aber nie verschenke ich mich mehr denn halb. Diese Hälfte jedoch muß ich dieser Sirene als Tribut zollen. Sonst ginge ich an Melancholie zugrunde. Die lachende Lebenslust der Andern, ihre heimlichen oder offenbaren Leidenschaften, ihre Schönheit oder Scheinschönheit, ihre Schwächen und Heucheleien bringen mein einsames Herz in feine Schwingungen, in eine Art Musik. Ich muß es greifbar vor mir haben, dieses tolle volle Leben der Andern. Selber aber zugreifen, derb zugreifen? Nein. Es ist doch tausendmal süßer, sich die Augen, das Gehör, die schlummernden Nerven vom Leben nur leise streicheln zu lassen, leise wie die gespannte Saite vom Violinbogen, – aber immer ohne dem wirklichen Leben allzunahe zu kommen.

Verzeihen Sie mir, verehrte gnädige Frau, daß ich Ihnen so unbefangen mein Herz ausschütte. Ich war ins Plaudern geraten. Und nun mag ich den Brief nicht durch einen andern – konventionellen ersetzen. Was geschrieben ist, sei geschrieben! Ich wage zu hoffen, daß Sie alles das nicht als aufdringlich empfinden. Nichts liegt mir ferner. Ich stehe im Banne unserer Seelenverwandtschaft. Bereits gestern, während unserer Unterhaltung bei dem Diner, habe ich mich der entzückenden Einbildung nicht erwehren können, daß wir schon seit langer, langer Zeit gute Freunde seien. Ich weiß es wohl: es ist ein seltenes Glück, von solch feiner, vager, sehnsüchtiger, in gewöhnliche Worte kaum faßbarer Melodie in der Seele eines Andern den vollen Widerhall zu finden. Vielleicht treibt meine Phantasie ein loses Spiel mit mir, während Sie den gestrigen Abend, das Buch – und mich bereits vergessen haben. Wenn dem so wäre, gnädige Frau, dann lassen Sie es mich nicht allzu hart erfahren. Ich würde unsagbar darunter leiden.


Agathe von Uechtritz an Georg von Rockau

Loschwitz, Rosenhof, Sonnabend den 13.

Sehr geehrter Herr von Rockau!

Es wird mir eine Freude sein. Sie morgen nachmittag bei mir zu sehen. Den gestrigen Abend beim Oberhofmarschall, der etwas langweilig begonnen hatte und dank Ihrer liebenswürdigen Art zu plaudern so angenehm verronnen ist, habe ich in viel zu lebhafter Erinnerung, als daß ich zaudern könnte. Sie sind willkommen! Auch auf das Buch freue ich mich. Ich habe den Titel keineswegs vergessen: Das Leben des Grafen Frederico Gonfalonieri. Von der Ricarda Huch. Das war es doch? Eine Apotheose der Resignation haben Sie es genannt. Gerade darum wird es mir vielleicht viel zu sagen haben.


Georg an Agathe

15. November.

Verehrteste gnädige Frau,

namenlos froh bin ich darüber, daß der geheimnisvolle Drang, der mich unwiderstehlich zu Ihnen geleitet, keine unselige Täuschung war. Glauben Sie mir, wir sind dazu geschaffen, einander gute Freunde zu sein. Ich bin glücklich, daß wir uns gefunden haben. Offen gestanden, als ich gestern die Diele Ihres lieben Landhauses betrat, war ich im Zauber dieser mir neuen Umgebung ein wenig, ich muß sogar bekennen, stark unruhig und unsicher. Der heitere Gleichmut, auf den ich mich unter geselligen Menschen ziemlich selbstbewußt zu verlassen gewohnt bin, der war gänzlich weg. In alle vier Winde verflogen. Ich hatte Herzklopfen. Lachen Sie mich ruhig aus, mich, der ich ein Dutzend Jahre Soldat war, sogar ein sogenannter kecker Reitersmann! Ich verdiene das wirklich.

In jenem Augenblicke hatte ich das Gefühl, vor dem jähen unabwendbaren Verlust eines schon lange im Herzen getragenen und längst liebgewonnenen Glückes zu stehen. Kennen Sie dieses seltsame schwere Gefühl? Es ist mit der Feigheit verwandt. Am liebsten möchte man wieder umkehren, aus Herzensnot und banger Angst, das Geliebte verlieren zu können. Wäre es so gekommen und hätte ich Sie, kaum gefunden, schon wieder verloren, – ich gestehe Ihnen: ich hätte den bitterlichsten Schmerz meines Lebens erfahren. Gewiß hätten Sie Ihrem Gaste sein Herzeleid angemerkt, und er, der sich mit weltmännischer Leichtlebigkeit bei Ihnen angesagt, wäre in lächerlicher Weise, seiner schönen Selbstbeherrschung bar, von Ihnen gegangen.

Nach dieser ehrlichen Beichte können Sie sich vorstellen, wie glückselig ich darüber bin, daß Sie mich so gütig aufgenommen haben. Sie waren entzückend, froh gelaunt und doch ernst; zwanglos und dabei in gewissen Ihrer Bewegungen wundervoll feierlich, zum Beispiel, als Sie den Tee bereiteten. Dolcessa feminile! Und alles das im Rahmen der reizendsten Häuslichkeit, die ich je kennen gelernt. Ich begreife, daß Sie sich ungern, sei es auch nur für kurze Stunden, davon trennen.

Ich brauche bloß die Augen ein paar Augenblicke zu schließen, und es steht wieder vor mir: Ihr Landhaus, so wie man es von weitem schaut, unten vom Strom oder vom andern Elbufer aus, ein Abbild eines der alten träumenden Bozener Herrensitze, in die ich seit Jahren verliebt bin. Wenn ich Ruhloser einmal wer weiß wo weilen sollte, fern in Afrika oder in einem der Hochgebirge Asiens, und schon jahrelang: Ihr Haus stünde bei jedem Gedanken an die Heimat im Geiste vor mir, frisch und lebendig, mit seinen hellen Farben, seinen traulichen Umrissen, den sanften Linien der Berge und Bäume darüber und darum. Alles das leuchtet und lebt vor mir: die ockergelben Mauern, das stumpfwinkelige breite Dach mit den lachenden roten Ziegeln, der burgartige Turm – dann (näher gekommen) das Gartentor aus weißem Holz, die lange schmale Treppe hinauf unter dem halbentlaubten Rosengange, (in den Tagen der Blüte muß er köstlich sein!) – und schließlich oben der kleine gelbe Salon, in dem wir zwei unvergeßliche Stunden verlebt!

Nehmen Sie meinen innigsten Dank für alles!

Ganz der Ihre,

Georg Rockau

Eben bekomme ich von Frau Eveline, Ihrer liebenswürdigen Freundin, die Mitteilung, daß sie den Winter hindurch alle Montage ihre Freunde bei sich sieht. Sie hatte mich bereits neulich, als ich mich von ihr und ihrem Manne verabschiedete, dazu aufgefordert und zwar – darf ich so plauderhaft sein? – mit der geheimnisvollen Bemerkung: Verpassen Sie den nächsten Montag nicht! Frau von Uechtritz wird Gedichte vorlesen. Rainer Maria Rilke, ihren Liebling. Das wird wundervoll! – Sollte die schöne Frau Eveline mit echt weiblichen Scharfsinn bereits ahnen, wie unsagbar gern ich Sie habe? Ich freue mich auf diese Montage. Fortan werde ich also das Glück genießen, Sie an den Freitagen bei Ihrer Frau Schwägerin, an den Montagen im Hause Schöning und einen Abend in der Woche vielleicht in der Oper zu sehen. Und wenn Sie mir noch dazu allergnädigst erlauben, daß ich mich in den Tagen dazwischen hin und wieder im Rosenhof einstelle, dann werde ich das sonnigste Leben der Welt führen und mich als den Verwöhntesten aller Menschen preisen. Wie herrlich haben es doch die Frauen, daß so viel Huld in ihren Händen des Verschenktwerdens harrt!


Agathe an Georg

Rosenhof, am 15.

Lieber Herr von Rockau!

Auch ich freue mich von Herzen über unsere wachsende Freundschaft. Zwei Seelen eilen einander zu. Das ist immer etwas Wunderbares. Indessen, indessen! Meine Ängstlichkeit wird Ihnen spießbürgerlich vorkommen. Drei Worte in Ihrem letzten Brief haben mich ein wenig erschreckt.

Sie wissen, welche.

Lassen Sie mich offen reden, wie das in einer höheren Freundschaft Gesetz sein muß. Denn eine alltägliche, oberflächliche, nichts weiter bedeutende, die wollen wir doch alle beide nicht zwischen uns.

Sie sind impulsiv und dabei Grübler und Träumer. Also eine Widerspruchsnatur. Das ist kein Vorwurf. Ich weiß sehr wohl, gerade die wertvollsten Menschen sind zunächst komplizierte Geschöpfe; sie machen eine langwierige, oft stürmische und wechselvolle Entwicklung durch. Je glühender dieses Chaos ist, um so reiner und geläuterter geht der fertige Mensch schließlich daraus hervor.

Seien Sie ehrlich! Es ist eine leise Leidenschaft, nicht eigentliche Freundschaft, die Ihr Herz stürmisch macht. Ich habe diese Empfindung. Und darum muß ich Ihnen sagen: ich fühle, daß ich mich vor Ihrem siegreichen Elan zu hüten habe. Nehmen Sie das nicht für banale Eitelkeit! Gerade weil ich keinen Flirt mit Ihnen will, sage ich es Ihnen freimütig. Es ist mir ernst ums Herz. Ich hege für Sie echte Freundschaft, seelische Freundschaft. Meine Ungezwungenheit dürfen Sie aber niemals als Emanzipation deuten. Ich bin im Kern meines Wesens recht altmodisch, was mir aber kein Grund ist, die leider so seltene wahre Freundschaft zwischen Mann und Frau für etwas Unmögliches zu halten. Im Gegenteil, ich möchte dieser begehrten Wunderblume die allerzärtlichste Pflege widmen. Helfen Sie mir dabei – ich bitte Sie herzlich darum – indem Sie das gemeinsame Heiligtum unserer Freundschaft, an dessen stille Pforte Sie klopfen, immer wieder nur mit dem festen Willen betreten, Ihrer zweiten, philosophischen Natur mehr Rechte einzuräumen denn der wohl nur halbüberwundenen ersten, recht weltlichen.

Ich werde am Montag nicht zu Schönings gehen. Wähnen Sie aber nicht, daß mich zu diesem Entschlüsse das übliche mondäne Spiel veranlasse. Nein, ich will keinen Flirt mit Ihnen.

Warum gehe ich nun nicht zu Eveline? Das fragen Sie sicher! Warum? Ja, wie soll ich das in Worte fassen, ohne Ihnen zu viel oder zu wenig zu sagen? Warum? Ich muß es Ihnen gestehen, es geschieht ganz einfach aus Vorsicht, aus Scham, oder wie Sie das nennen mögen. Sie verscheuchen mich mit Ihrer schrecklichen Bemerkung über den echt weiblichen Scharfsinn.

Ihre Agathe Uechtritz


Georg an Agathe

Freitag, 3. Dezember.

Liebe gnädige Frau,

ich sei so sorglos und saumselig!

Diesen Vorwurf muß ich oft von Ihnen hören. Gestern zum Beispiel – etwas arglistig von Ihnen – in einem Augenblick, da ich mich unmöglich verteidigen konnte. Und doch hatte ich eine Entgegnung. Ich will sie wenigstens nachträglich vorbringen. Sie dürfen sich meiner Weltanschauung nicht verschließen.

Hat es wirklich viel Zweck, meine ich, daß sich der Mensch mit seiner (im Vergleich zu den gigantischen Mächten über uns) so armselig geringen Tatkraft den Ereignissen von außen oder den dunklen geheimnisvollen Trieben in sich immer und immer wieder vermessen entgegenstellt? Haben Sie nicht auch schon tausendmal in Ihrem Leben wahrgenommen, daß sich im menschlichen Dasein die Dinge auf das Erstaunlichste von selber fügen? Oft entwirrt sich das Verworrenste am leichtesten, gerade wenn sich niemand ins Spiel mengt. Mit fatalistischer Sicherheit vollzieht sich das, was man zuerst für ganz unmöglich hielt. Und dann: sind die Saumseligen nicht immer der Götter Lieblinge? Das sind die wahren Weisen. Alles, was wir Menschen können, ist bestenfalls, fein stillzuhalten. Mir wenigstens kommt es immer stilwidrig und unsinnig vor, wenn irgendein Tölpel in das wunderbare Schauspiel einzugreifen wagt, dessen Dichter der Namenlose ist, der erhabene Dirigent des Sternenhimmels, vor dem wir in Einfalt und Ergriffenheit stumm dastehen. Ich habe mich in meinem Leben immer treulich an den Wortlaut der mir zugeteilten Rolle gehalten und mich sorglich bewahrt vor der Achtlosigkeit eitler Schauspieler, selbst erfundene Witze und Mätzchen einzuflechten. Und mich dünkt, damit wohlgetan zu haben. Wir sind Marionetten des Schicksals, das in uns – im Blute, im Charakter, in Herz und Hirn, aus Urzeiten ererbt – waltet und die ganze Tragikomödie aufführt, die wir das Leben nennen.

Es wäre möglich, daß einmal Dinge gebieterisch in mein Leben eindringen, die meine heutige Weltanschauung mehr oder weniger verändern. Ich bin allmählich zu ihr gekommen. Vielleicht bezeichnet sie nur eine Stufe meiner Entwicklung. Ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich die letzte schwache Blüte eines verfallenden Stammes. Meine Vorfahren waren von reckenhafterem Schrot und Korn.

Ich will Ihnen eine ehrliche Beichte ablegen. Ich bin nicht einmal – wie Sie sichtlich vermuten? – in dem einen ein Draufgänger, in der Galanterie. Ich bin es kaum als ganz junger Mann wirklich gewesen. Im Innersten meines Ichs war ich allzeit auch den Frauen gegenüber ein schüchterner Fatalist, und ich habe mein scheues Herz keiner ganz geschenkt bis auf den heutigen Tag. Mein Herz harrt noch immer seines Schicksals. Es möchte aber immer noch nicht verzichten.

Darf ich Ihnen ein Beispiel erzählen, wie kläglich unheldenhaft es um die Sieghaftigkeit Ihres Freundes steht?

Erinnern Sie sich eines gewissen Briefes, in dem Sie schrieben. Sie kämen am folgenden Montag nicht zu Frau Eveline. Ich glaubte es und glaubte es wieder nicht. Der Montag kam. Ich nahm mir eine Droschke und fuhr nach der Emser Allee hinaus. Beim Aussteigen wandelte sich meine Meinung. Mit einem Male war ich mir klar, daß Sie nicht kämen. Ich betrat die Villa Ihrer Freundin nicht, sondern ging zu Fuß weiter, versonnen und in Träumerei verloren. Als ich mich umsah, fand ich mich vor Ihrem Gartentor. Es war halb sechs Uhr geworden. Einen Augenblick später stand ich in Ihrem gelben Salon. Wer von uns beiden war mehr verwundert, Sie oder ich? Wir haben alle beide herzlich gelacht, und anstatt, daß ich Sie inmitten einer langweiligen Gesellschaft flüchtig sah und vor zehn andern oberflächlich mit Ihnen sprach, ward mir ein friedsamer traulicher unvergeßlicher Abend im köstlichsten Ganzallein geschenkt. Und da wollen Sie, ich soll kein Fatalist sein?


Agathe an Georg

Rosenhof, den 4. Dezember.

Recht nett! Sie freuen sich über das Allerunpassendste, was wir – in den Augen der Andern – nur tun konnten! Wissen Sie es nicht? Es gibt eine Menge Leute, die mir das arg verübelten, wenn sie es erführen. Man ist hier engherziger als sonstwo. Und Kultur und Freiheit gehen ja überhaupt von altersher im Schneckengang. Was ist im Grunde Kultur? Der in Fleisch und Blut gedrungene Wille, jedwedem Andern wortlos zu gestatten, auf seine Fasson selig zu werden; ihm das Alltägliche still und stumm zu erleichtern. Wie weit sind wir in Deutschland davon entfernt! Ich wahre meine Freiheit nach Möglichkeit – nach dem Grundsatz, vor allem natürlich zu denken und zu handeln. Freuen Sie sich dessen!

Übrigens kam mir Ihr Besuch neulich so unerwartet, daß ich tatsächlich gar keine Zeit hatte, über Knigge und seine Ausleger nachzudenken. Ich nahm Sie einfach an. Das Gegenteil wäre mir unnatürlich erschienen. Im Augenblick vergaß ich sogar, welche Bedenken mir gewisse Briefstellen und gewisse Blicke meines lieben Freundes öfters verursachen. Auch daß er bei meinen Bekannten für einen Galantuomo gilt. Daß er nicht gefährlich ist, wie Sie mir versichern, das ahnt man wohl nicht?

Sie sehen, wie groß mein Vertrauen in Ihre Freundschaft ist. Sie nennen sich einen Fatalisten. Ich glaube Ihnen das. Gut! Sie wollen also sozusagen einer von den Beschaulichen sein, die sich nur die Tauben zu Gemüte führen, die ihnen gebraten zufliegen. Mithin braucht es mir vor Ihnen wirklich nicht bange zu sein. Ich bin zwar eine Taube, aber eine, die sich brav davor hüten wird, sich am vesuvischen Feuer Ihres Herzens auch nur die Flügelspitzen zu versengen. Sagen Sie übrigens, durch welche Zeichen und Wunder ist Ihre Gleichgültigkeit auf einmal so aufgerüttelt worden?

Scherz beiseite! Weil Sie zunächst keinen Willen zur Macht in sich spüren, leugnen Sie einfach überhaupt die Macht des Willens. Das freut mich in diesem einen Falle, denn im Sonstigen sehe ich Sie gar nicht gern passiv. Also ausnahmsweise habe ich meine Freude an Ihrer Passivität. Wohin könnte es führen, wenn Sie mir Tag für Tag mit dem starken Willen des Eroberers gegenüberträten? Zumal da ich Halbheit verabscheue. Etwas Ganzes oder nichts! Was wäre, wenn ich eines Tages Ihr ganzes Herz begehrte? Erschrecken Sie da nicht schon im voraus? Vermögen Sie wohl jemals ihr Ich ganz zu verschenken? Vielleicht ist das Ihrer einsamen Natur unmöglich? Wer weiß das? Ich grüble viel über Sie nach. Sie sind ein sprühender Enthusiast. Champagner, den man trinken muß, ehe seine Perlen dahin sind!

Vielleicht wäre es am besten für uns, wir sähen uns nicht mehr so häufig wie in der letzten Zeit. Sprechen Sie mir daraufhin aber nicht gleich Herz und Gemüt ab! Das wäre Unrecht. Der Kluge baut vor. Ich habe die alten Sprichwörter gern, lieber Freund.


Georg an Agathe

14. Dezember.

Gestern haben Sie mich im Wandelgange der Oper recht ungnädig behandelt. Warum? Hatte ich Ihnen nicht edelmütig gehorcht, indem ich meine Besuche im Rosenhof eingestellt? Gebieten Sie, daß ich auch auf die Oper verzichte? Denn wenn ich dahin gehe, sehe ich Sie. Und daß ich Ihnen dort Guten Tag sage, das erfordert die einfachste Artigkeit.

Als Sie mich am Sonntag mitten im fröhlichen Treiben des Kinderfestes im Hause Ihrer Frau Mutter entdeckten, haben Sie ein entzückend verlegenes Gesicht gemacht. Wären wir noch die alten guten Freunde, so hätte ich bei diesem Ihnen so unerwarteten Wiedersehen hell und laut aufgelacht, so recht als einer der übermütigen kleinen Jungen, unter die ich mich gesellt. Jetzt, in der Erinnerung, ist mir allerdings gar nicht mehr lächerlich zumute. Übrigens war ich wirklich nicht gekommen, um Ihnen eine Verlegenheit zu bereiten, sondern Ihrer allerliebsten kleinen Sophie wegen. Da Sie nun einmal ein so herziges Töchterchen haben, müssen Sie sich auch beizeiten daran gewöhnen, daß sie bewundert, umschwärmt, umlagert wird. Die großen Jungen fangen an, wie Sie sehen. Weiterhin war ich gekommen, um ein bißchen mit Ihrer Nichte Susanne zu plaudern. Haben Sie nicht gemerkt, daß ich mich ihr fast ausschließlich widmete? Fräulein Susanne von Schönberg ist wirklich ein fesches, hübsches junges Mädchen. Sie verfügt über alle Reize, die Balzac an einem weiblichen Wesen als besonders verführerisch hervorhebt, damit man sie – nicht heiratet. Aber Balzacs Physiologie der Ehe ist das Buch eines klugen Spötters. Auch offenbar nicht für Junggesellen geschrieben, sondern als Trostbuch für Ehemänner, die selber nicht genug Geist haben, um sich über ihre Gattinnen lustig zu machen, nachdem sie in der oder jener Hinsicht vom Throne gestürzt sind.

Susanne ist so recht geschaffen zum Flirt. Zur Liebe als Spiel. Ich habe ihr demgemäß ordentlich den Hof gemacht, was sie nicht ungnädig aufnimmt. Ich glaube auch sonst keinen schlechten Eindruck hervorgerufen zu haben. Ihrer – verzeihen Sie meinen losen Mund! – hochmütigen Frau Schwägerin war so etwas wie geheime Freude anzumerken darüber, daß ich alter Hagestolz Feuer zu fangen schien. Unter uns: Ihre Frau Schwägerin ist in unaufzählbar vielen Dingen so ganz anders geartet als Sie.

Der langen Rede kurzer Sinn: Sie sehen, daß Sie in der Tat keinen Anlaß haben, an meiner Harmlosigkeit zu zweifeln! Warum strafen Sie mich also? Was hab ich Ihnen angetan? Seien Sie lieb und gütig und heben Sie das grausame Verbot wieder auf! Rufen Sie mich aus meiner unverdienten Verbannung zurück! Ein einziges Wort genügt. Sonst müßte ich mich wirklich für gefährlich halten. Ersparen Sie mir, bitte, diesen dummen Dünkel!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 15.

Sie sind wirklich ein großes Kind! Kommen Sie nur wieder! Ich vermag ja sowieso keinen Schritt zu tun, ohne Sie auf allen meinen Wegen urplötzlich auftauchen zu sehen.

Ich erwarte morgen eine kleine Gesellschaft bei mir: Gelehrte, Künstler, Künstlerinnen. Professor Schöning, den wir beide als genialen Vortragskünstler lieben, will uns Gedichte aus der Biedermeierzeit vorlesen. Urdrolliges Zeug, wie er mir verraten hat. Das wird der Glanzpunkt des Abends. Dazu stellen sich von den Malern meiner Nachbarschaft ein paar ein. Berühmtheiten darunter! Sie lieben die Maler. Ich erinnere mich, dass Sie mir einmal im Tone schmerzlichsten Bedauerns gestanden haben, am liebsten wären Sie auch einer geworden. Bedeutet das übrigens nicht, dass Sie in dieser Richtung Fähigkeiten haben? Sollten sich keine Wahrzeichen davon erhalten haben? Wollen Sie sie mir nicht einmal gelegentlich zeigen? Bewunderung vertieft die Freundschaft.

Von den weiteren Genüssen des Abends verrate ich Ihnen nichts. Ich möchte Ihnen nicht alle Neugier nehmen. Sie lieben die Überraschungen, das divin imprévu, wie Sie zu sagen pflegen.

Wir essen halb acht. Sie dürfen sich aber ein Stündchen früher einstellen, um Sophie bei ihrem Abendbrot etwas vorzuplaudern. Sie hält Riesenstücke auf ihren »lieben Onkel Georg, der so gar nicht mehr herauskommt«. Ich fürchte, Sie sind ihre erste Liebe.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 20.

Gestern haben Sie zu mir gesagt: »Ich kenne Sie bis tief in Ihr Herz!« Ich muß Ihnen wenigstens hinterher sagen, dass Sie sich mit einer so scharfen Behauptung überschätzen. Und dann: Können Sie denn wissen, ob ich Sie nicht vielleicht zehnmal besser kenne als Sie mich?

Sie sind der Mehrheit der Männer unsrer hastigen und nur auf das Oberflächliche gerichteten Zeit sichtlich hoch überlegen. Sind einer der raren Menschen, die sich nicht mit einer einseitigen Bildung begnügen. Aber so sehr Sie sich selbst zu einer universellen Kultur erzogen haben im Gegensatz zu Ihren Zeitgenossen, die in der beschränkten Arena irgendeines engherzigen Berufs ihre Jugendideale vergessen, – dafür leiden Sie an der großen Schwäche aller Einzelgänger, und bei Ihrer merkwürdigen Gefühlsverfeinerung umso schwerer: an der Lust, ihre eigenen Empfindungen und Gefühle, und auch die gewisser Anderer, zergliedern und ergründen zu wollen. Sie sind keine einfache Natur, sondern ein recht vielgestaltiges, widerspruchsreiches Wesen, das noch lange nicht zu kristallklarer Einheit gelangt ist. Sie leiden an der Krankheit aller Romantiker. Sie möchten ein Lebenskünstler großen Stils sein, aber Ihre Sucht nach erlesenen Gefühlserlebnissen hindert Sie an der wirklich heiteren und schlichten Freude am Leben. Sie berauschen sich an Ihren feinen Empfindungen und wollen sie am liebsten ins Übermenschliche steigern. Darin sind Sie unersättlich. Hierauf richten sich, Ihnen bewußt und unbewußt, alle Ihre Gaben. Sie wollen zu einer Genußfähigkeit von wunderbarer Feinheit gelangen.

Gestehen Sie: habe ich Sie nicht gut studiert? Ich bin noch nicht fertig. Die meisten Männer, mit denen Sie durch Ihren einstigen Beruf und Ihren gesellschaftlichen Stand in Berührung gebracht worden sind und werden, Männer, die sich das geistige und leibliche Epikureertum Ihres Ideals nicht leisten können, alle diese erscheinen Ihnen mehr oder weniger inferior. Infolgedessen haben Sie sich immer mehr von ihnen gesondert und entfernt. Das hat Sie zu einem seelischen Hochmut sondergleichen geführt. Da Sie aber trotz eines gewissen Hanges zur Einsamkeit nicht zum ungeselligen Eremiten taugen, so haben Sie Ersatz für die Ihnen unliebsamen Männer in der Freundschaft unter den Frauen gesucht. So sind Sie, wie der Franzose das nennt, ein homme à femmes geworden. Sie sind nach und nach in die Gefühlswelt der Frauen eingedrungen, wobei Sie von gewissen, unzweifelhaft femininen Elementen in Ihrem eigenen Ich geführt werden. Es ist, nebenbei gesagt, wie Sie selber wissen, kein Vorwurf für einen Mann, wenn man ihm beweist, daß er Weibliches an sich hat. Goethe, Byron, Musset, Mozart, alle Genies waren so geartet. Selbst Napoleon der Erste, Ihr Heros. Man behauptet ja, alle Künstler seien feminin. Jedenfalls glaube ich, daß wir die großen Kenner der Frauenseele nur diesem Zwittertum verdanken, also einer Schwäche, wie diejenigen zu schelten pflegen, die den Künstlern verständnislos gegenüberstehen.

Mit Ihrer Einzelgängerei hängt auch Ihr Hang zur tatenlosen Träumerei zusammen, Ihre vornehme Indolenz, Ihr auffällig starker Mangel an sozialem Sinn. Sie haben sich in mancher Hinsicht der Wirklichkeit abgewandt. Einmal haben Sie mir gesagt: es sei kein Unterschied, zehn Jahre nach dem allerglückseligsten Erlebnisse jedweder Art, ob man es wirklich erlebt oder es sich dank einer schöpferischen Phantasie nur erträumt habe. Merkwürdig, daß dies gerade einer sagt, der so viel erlebt! Dann brauchte man überhaupt nur zu träumen! Aber Sie lieben ja mehr als den holden Traum ... Weiterhin, dem großen Haufen der Durchschnittsmenschen feindlich, sind Sie nach den göttlichen Inseln der Künste und Wissenschaften geflüchtet; sind einer der erlesensten Dilettanten im Sinne Arthur Schopenhauers geworden, ein amoralischer Ästhet aus der Schule Ihres Stendhals. Sie sind hinter die Mysterien der Assoziationskünste gekommen, wie Sie mir erzählt haben, hinter geheimnisvolle Genüsse, von denen ich reguläres Menschenkind nichts verstehe.

Und das führt mich von Ihnen zu mir!

Was bin ich Ihnen? Seien Sie gegen sich selber klaräugig! Ein einfaches Geschöpf, um das sich Ihre phantastische Sehnsucht zufällig kristallisiert. Sie beten in mir ein himmlisches Ideal an, das Sie sich aus den tausend Schönheiten der Wunderwelt Ihrer Träume und Sinne erschaffen haben. Sie beten es an des seltsamen Genusses wegen, den Sie vor diesem imaginären Bild mehr denn in der Wirklichkeit finden.

Ist nun aber ein Fischer am Meere des Lebens, der seine Netze so ungeheuerlich weit auswirft, der rechte Partner für eine Frau, die bisher eine moralische Befriedigung darin fand, mit sich selber wie mit jedem andern Menschen einfach und natürlich zu sein? Muß einer Natur wie der meinen nicht vielmehr ein seelisch schlichter Mann, der einen liebt, wie man in Wahrheit ist, der einen nicht mit Unmöglichkeiten umkleidet, der einem nichts darbringt als sein gutes, braves, treues Wesen, zuverlässiger erscheinen als ein hochgespanntes Phantastenherz, dessen Schicksal es ist, nach verlodertem Rausche früher oder später, aber unausbleiblich, desillusioniert zu sein. Ich habe die Biographien so vieler Phantasiemenschen gelesen. Ich möchte aus ihnen schließen, daß dem homme supérieur in der Liebe immer nur die Leidenschaft an sich das Wesentliche ist, nicht aber die Persönlichkeit der Frau, und mag sie selber noch so hoch stehen. Das Weib ist ihm immer nur das Spalier, an dem sich die Blütenträger seiner Passion zum Himmel emporranken möchten. Im höchsten Sinne bleibt er immer frei. Weil ich das zu erkennen vermeine, will ich um alles in der Welt nicht die sein, an der Sie eine jener Enttäuschungen erleben, deren Sie zweifellos schon viele erfahren haben. Ich würde unheilbar darunter leiden und unbedingt daran zugrunde gehen. Verwöhnten Träumern solcher Art kann selbst die innigste Zärtlichkeit einer liebenden Frau, ja das volle sich ihnen Geben sehr bald nicht mehr genügen. Die Verfeinerung hat sie zu gräßlichen Egoisten gemacht.

Auch wir Frauen hegen tausend Illusionen, aber doch ganz andrer Art, keine so dämonischen. Die besten unter uns sind auch Idealisten. Aber wenn wir einmal aus dem Himmel gestürzt sind, dann fehlen uns die starken Fittiche, die euch immer wieder wachsen. Ich freue mich unsagbar Ihrer Zuneigung, aber ich bekenne Ihnen ehrlich: ich empfinde Furcht vor einer Leidenschaft, die mir zu phantastisch erscheint. Es gibt nichts Unheilvolleres für uns Frauen, als wenn ihr uns zu himmlischen Wesen träumt, weil ihr Göttinnen ersehnt, nachdem euch die Erde degoutiert hat und ihr euch selbst wieder heilig fühlen möchtet.

Gute Nacht und guten Morgen! Es schlägt ein Uhr. Draußen über dem friedlichen, hellschimmernden Elbtale wölbt sich die leicht verschleierte Mondnacht. Nur ein paar Sterne blinzeln. Frischer Wind weht. Ich habe ein Fenster geöffnet und lange hinüber geschaut, wo ein wundervoll stilles Meer von Lichtpunkten schimmert: die schlafende Stadt. Jedesmal, wenn ich diese märchenhaften Lichterlinien erblicke, fühle ich den ewigen Frieden, der über uns allen waltet und wacht, selbst wenn wir uns ihm fern wähnen.


Georg an Agathe

22. Dezember.

Gnädige Frau,

ich bin tief betroffen. Nicht im geringsten vermeinte ich, Sie zu beleidigen oder zu kränken, indem ich mir einbildete, Ihre mir so liebe Art zu kennen, und Ihnen dies in meiner Einfalt gestand. Einfalt bei so viel Bizarrerie! Lachen Sie! Nunmehr bereitet es mir aufrichtigen Kummer, daß ich Ihnen derlei gesagt habe, und in so ungeschickter Weise. Aber wenn Sie wüßten, wie sehr es mir leid tut, so würden Sie mir großmütig und gleich auf der Stelle verzeihen.

Ihr Gute Nacht! und Guten Morgen! hätte mich, wenn es mich im Augenblick erreicht, gerade beim Nachhausekommen begrüßt. Ich war in Carmen, einer mir lieben Oper. Wissen Sie übrigens, daß es Nietzsches Liebling war? – Hinterher habe ich mit Herrn von Wolfframsdorf im Englischen Garten soupiert. Es war recht leer da. Die lieben Dresdner sind sparsame Leute. Man erfreut sich an der wundervollen Musik und legt sich dann mit spartanischer Enthaltsamkeit so schnell wie möglich auf das Ohr. Außer ein paar leichtlebigen Kavallerieleutnants soupiert Dresden nur an besonderen Tagen. Lukull wäre am Elbestrand niemals unsterblich geworden. Aber was für ein reizendes Leben könnte das deutsche Florenz bieten, wenn man dort in der guten Gesellschaft nicht so knickerig wäre und ungesellig! Vor hundert Jahren hat einmal ein Kenner Europas gesagt, Dresden sei eine verführerische Vorstadt Italiens, mit seiner holden Landschaft, seiner südlichen Musik und seiner edlen Leichtlebigkeit. Gewiß, aber das mit der edlen Leichtlebigkeit unterschreibe ich nicht. Die muß nach der Franzosenzeit abhanden gekommen sein.

Ich habe im Theater Ihrer auf das Lebhafteste gedacht. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich still neben Ihnen gesessen hätte, wie das eine liebe, unvergeßliche Mal in der – mir ungenießbaren – Straußschen Elektra.

Ihre Frau Mutter hat die große Liebenswürdigkeit gehabt, mich in gütiger Weise für übermorgen einzuladen, zum Weihnachtsabend. Ich werde da Gelegenheit haben, durch einen stummen treuen Blick zu versuchen, in Ihren lieben perlengrauen Augen meine Absolution zu lesen. Auch freue ich mich, Ihren Bruder, den Bezirksamtmann von Togo, kennen zu lernen. Sophie schwärmt dermaßen von ihm, daß ich auf den »Onkel aus Afrika« bereits eifersüchtig bin.

Ich küsse Ihnen die kleinen schlanken Hände.


Agathe an Georg

Den 27.

Eigentlich verdienen Sie schon wieder eine kleine Strafpredigt. Sophie hat bei unserer Rückkehr am Weihnachtsabend eine Puppe vorgefunden, so groß wie sie selbst kaum ist. Sie war entzückt. Wie sie aber aus den beigelegten fröhlichen Versen erfuhr, der Weihnachtsmann, der sie gebracht, sei Onkel Georg, da hat sie vor leidenschaftlicher Freude gezittert. Oh, Sie hätten zugegen sein sollen! Es liegt etwas unsagbar Rührendes im Glück eines Kindes.

Ich habe dann lange nachgesonnen. Warum hat sich Sophiens Kindergemüt doppelt gefreut, nachdem sie wußte, daß die Puppe Ihr Geschenk war? Zuerst freute sie sich offenbar unpersönlich.

Ich finde hier eine menschliche Schwäche. Sollte man sein Herz nicht dazu erziehen, nur unpersönliche Freuden zu empfinden? Nur dann ist man gegen alle Anfechtungen gefeit. Aber fände man dann oft Freude?

Die Puppe soll Georgine heißen. Natürlich habe ich Sophie eine festliche Taufe versprechen müssen. Sie und Susanne sollen Paten sein. Susanne hat sofort zugesagt. Sie nimmt trotz ihrer zwanzig Jahre noch ungeniert eine Puppe in die Arme, und vielleicht lockte auch der Gedanke, daß Sie der Herr Gevatter sind. Und Sie, Herr Rittmeister und würdevoller Jünger Epikurs? Ich hoffe, Sie schlagen es meinem Töchterchen nicht ab, mit uns dreien Knackmandeln und Schlagsahne zu essen. Schwerere Pflichten bürden Sie sich ja damit auch für die Zukunft nicht auf.

Nun kommt die Reihe an mich. Ich habe Ihnen für den prächtigen Kopenhagener Jungen zu danken. Ich tue es von Herzen. Er hat ein hübsches Plätzchen gefunden. Er ist köstlich in seiner lieben dreisten, nachlässigen Haltung. Meisterlicher Naturalismus! Die beiden Bände, die Sie mir dazu so verschwenderisch auf den Weihnachtstisch gelegt haben, mit dem wunderlichen Titel »Briefe eines Unbekannten«, die werde ich heute abend andächtig zu lesen beginnen.

Ich bedaure, daß Sie nach Rockau reisen. Ich hätte Sie gern zu Silvester bei mir gesehen.

Nicht wahr, ich irre nicht, wenn ich annehme, daß Rockau in Thüringen liegt? Sie haben es mir bisher nur flüchtig erwähnt. Demnächst berichten Sie mir aber endlich einmal etwas recht Anschauliches von Ihrem Familiengute! Sie verstehen das so wundervoll, wenn Sie Ihre Erzählerlaune haben.


Georg an Agathe

29. Dezember.

Meine geliebte Freundin,

das Neueste: ich verzichte auf den geplanten Aufenthalt in Rockau. Mein Bruder Eberhard war heute hier in Dresden. Ganz unerwartet. Wegen einer für ihn dringlichen Angelegenheit. Wir sind – was leider nicht zu vermeiden war – arg aneinander geraten. Etwas verträgt er nämlich unbedingt nicht: wenn man ihm buchmäßig nachweist, daß er das uns gemeinschaftlich gehörige Gut ohne Sinn und Verstand bewirtschaftet. Wenn das so weiter geht, muß er es zugrunde richten. An seinen einzigen Sohn und Erben Michael – jetzt ein lieber kluger Bengel von sechzehn Jahren – denkt er dabei nicht, nur immer auf eins bedacht: soviel Geld aus dem Besitztume zu schlagen, wie nur menschenmöglich ist, um sein luxuriöses Leben und seine maßlosen Abenteuer damit bezahlen zu können. Zum Glück haben wir einen ausgezeichneten Inspektor, der wenigstens die tollsten wirtschaftlichen Torheiten hintertreibt, indem er mich jedesmal noch rechtzeitig in Kenntnis setzt. Trotzdem habe ich meinem Bruder nunmehr die Generalvollmacht entziehen müssen. Eberhard ist ein Hitzkopf, dabei an schrankenlose Unabhängigkeit gewöhnt. Sie können sich somit denken, daß ich eine heiße Fehde zu bestehen hatte. Er hat mich vor unserem Notar einen »gemeinen Geizkragen« genannt.

Ich wäre der alten Gewohnheit, Neujahr auf dem Gute zu verleben, besonders deshalb gern gefolgt, weil ich meinen Neffen sehr lange nicht gesehen habe. Er ist mir, dem Einsamen, ans Herz gewachsen. Ich liebe ihn väterlich und habe Ihnen auch schon einmal von ihm erzählt. Wir verstehen uns beide prächtig. Michael ist zurzeit Primaner der Schule zu Pforta. Seine viel zu früh dahingegangene Mutter war als junge Frau eine der schönsten Erscheinungen der Dresdner Gesellschaft. In unserem Gute hängt ein wundervolles Porträt von ihr als etwa Dreißigjährigen. Es ist von Ferdinand von Rayski, dem liebenswürdigsten Vorläufer der heutigen Bildniskunst.

Sie begreifen, daß ich unter den angedeuteten Umständen meinen Bruder und damit das Gut doch lieber meiden möchte. Acht Tage mit jemandem zusammenzuleben, der sich nur aus Höflichkeit mit mir verträgt, das ist mir ganz unmöglich. Somit wäre ich mit Freuden bereit, den letzten Abend dieses Jahres, dem ich so viel neuen inneren Besitz zu danken habe, im Rosenhofe zu verbringen. Darf ich mich einstellen?

Ich bin glücklich, daß Ihnen der Kopenhagener Frechdachs gefällt. Als ich das allererstemal zu Ihnen kam, war ich da nicht auch ein tüchtiger Frechdachs, obgleich ich Herzklopfen hatte, wie Sie ja wissen.


Agathe an Georg

Den 29. Dezember, 2 Uhr.

Mein lieber Freund!

Es bereitet mir großen Kummer, Sie in Sorgen und Mißstimmung zu wissen. Warum sind Sie noch nicht nach dem Rosenhof herausgekommen? Das ist nicht recht von Ihnen. Sie nennen mich Ihre Freundin. Soll das nichts als eine Redensart sein? Bei mir ist es das gewiß nicht. Für mich bedeutet die Freundschaft etwas Heiliges. Und ich halte es für mein gutes Recht, den Freund aufheitern und trösten zu dürfen. Ich erwarte Sie heute gegen Abend. Vielleicht gelingt es mir, Sie vergnügter gehen als kommen zu sehen.

Selbstverständlich rechne ich auf Sie nunmehr bestimmt am Silvesterabend. Da ist unser Tisch für alle Familienlosen gedeckt: für die Einsamen und Verlassenen. Es ist dies ein alter Brauch. Zuweilen stellt sich eine stattliche Gästeschar ein. Mitunter sind es nur wenige. Wir, Mutter und ich, rechnen diesmal nur auf eine kleine Tafelrunde. Ich hoffe aber, es soll so fröhlich werden wie bisher noch immer. Nichts macht mir innigere Freude, als meinen Freunden in meinem Hause die Illusion zu schenken, sie seien in ihrem eigensten Heim.


Georg an Agathe

30. Dezember.

Meine liebe Freundin,

Ihre gütigen Worte habe ich gestern abend vorgefunden, als ich aus dem Theater nach Hause kam. Wie mich Ihre edle Anteilnahme rührt! Ich bin Ihnen von Herzen dankbar, daß Sie mir einen Platz in der Tafelrunde der Einsamen gewähren wollen.


Agathe an Georg

Sonnabend, den 16. Januar.

Ich wüßte nicht, welchem meiner Freunde ich soviel Anteil schenkte wie Ihnen. Sie brauchen eine gute Fee, eine sorgliche Schwester. Beides will ich Ihnen mit allen meinen Kräften sein, solange es Ihnen nicht lästig ist.

Soeben kehre ich vom Tee bei Eveline zurück. Ein großer Kreis war versammelt. Es war einmal ein paar Minuten lang die Rede von Ihnen. (Bekommen Sie ein böses Gewissen?) Warum haben Sie mir noch nicht erzählt, daß Evelinens Mutter, Frau von Rattonitz, Sie schon kannte, als Sie noch ein kleiner Junge waren? Sie sollen still, fast schwermütig gewesen sein, mädchenhaft graziös und schüchtern: so gar kein böser Bube. Die Unterhaltung sprang leider allzubald von Ihnen zu irgendeinem kleinen Ereignis der Gesellschaft über. Ich aber habe von da an stumm geträumt, von Ihnen. Ich stellte Sie mir im Geiste so vor, wie Sie als kleiner Junge ausgesehen haben mögen. Und da sagte ich mir, daß sich eine leise Melancholie, ein mir unendlich lieber Feinsinn, eine gewisse mädchenhafte Schüchternheit nicht verloren haben. Und das ist, im sozialen Sinne, Ihr Unglück geworden. Verstehen Sie mich? Wohl nie in Ihrem bisherigen Leben haben Sie jene große männliche Tatkraft bewiesen, die zur Bewunderung zwingt. Soldat sind Sie aus Tradition geworden. Oder aus jugendlicher Romantik. Sie sind trotzdem ein empfindsames, halbweibliches Menschenkind geblieben, ein Liebhaber zarter und schöner Dinge, ein zärtlicher Träumer, ein beschaulicher Betrachter. Ihre weltmännische Maske täuscht mich längst nicht mehr! Verleitet durch Ihre immer lebhafte und so oft spöttische Art zu plaudern, habe ich im Anfang einen ganz andersartigen Mann in Ihnen vermutet. Sie lieben es offenbar, zum Schutze Ihres weichen Herzens und um den heimlichen Phantasiemenschen zu verbergen, mit Ihrer kritischen, scharfen, gründlichen, kühlen und recht hochmütigen Intelligenz zu spielen. Früher habe ich mitunter vor Ihrem überlegenen Verstand Furcht empfunden. Aber wenn ich daran denke, welch reicher Romantiker hinter dem homme d'esprit steckt, wenn ich den in der Tiefe unverdorbenen Gefühlsmenschen in seiner heiteren Natürlichkeit vor mir sehe, dann habe ich kein bißchen Angst mehr vor der Kriegsflagge Ihres Ichs. Mögen sich andere über die Paradoxe Ihrer Weltanschauung den Kopf zerbrechen! Ich kenne Sie in der gemütlichen Häuslichkeit Ihres Herzens und freue mich über meine Kenntnis.

Sie haben mir einmal gesagt: der moderne Mensch neige dazu, den Wert der geistigen Errungenschaften zu überschätzen zum Nachteile seines Gefühlslebens, der Innerlichkeit seines Lebens überhaupt. Ich glaube, nichts ist wahrer. Und mich dünkt, Sie sollten sich selber mit aller Kraft davor hüten. Das Nachgrübeln über sich und alle Welt gehört auch zu der Überwertung der geistigen Betätigung. Es macht uns herzensarm und einsam vor uns selber.

Ich habe heute nacht im Thomas von Kempen gelesen: »Lasset alle Eitelkeiten und ihr habt den inneren Frieden gefunden!« Ist das nicht ein schöner Text, auf den ich Sie bringen möchte? Denken Sie über ihn nach und seien Sie mir ein wenig für meine schlichte Weisheit dankbar!

Wollen Sie sich denn nicht wieder zu irgendeiner bestimmten Tätigkeit entschließen?


Georg an Agathe

17. Januar.

Meine beste Freundin,

wie prächtig sie mich verstehen, selbst in allen meinen Wunderlichkeiten! Ihren so verständigen, dabei so beseligend herzlichen Brief habe ich in innigster Verehrung geküßt. Sie sagen sehr wahr, das Grübeln über sich selbst mache herzensarm und einsam. Ach, es führt weit ab von der begehrten Insel des Glücks! Ich sehe das selber ein. Und doch ist es gerade Ihr gütiger Brief, der mich von neuem zur grausamsten Selbstzergliederung veranlaßt hat. Diesmal verfolgt sie allerdings einen guten Zweck. Sie sollen mir einmal so recht frei in mein viel zu verschlossenes Herz schauen.

Seit meinen Kinderjahren führe ich ein Doppelleben: ein einsames, philosophisches, verstocktes Dasein mit mir selber und ein zweites, geselliges, leichtherziges vor allen Andern außer mir. Sie sind die erste, die das Eis bricht, das mein Herz von der Menschheit trennt. Die schmeichelnd warme Flamme, die Sie auf dem Altar unsrer Freundschaft entzündet haben, dringt leise und tief in mich ein. In meine heimliche Herzensnot ist das Samenkorn Ihrer sonnigen Güte gefallen. Ich fühle es, ich stehe unmittelbar vor einem neuen Schritte meiner langsamen Entwicklung. Ich betrete die letzte Strecke vor der Höhe. Ich komme in die herbstliche Reife. Merkwürdig, viel mehr als den sanften Frühling habe ich von jeher in der Landschaft den Herbst geliebt, den goldenen fruchtbeladenen Herbst, vielleicht in einer Art Vorahnung, daß es mir selber bestimmt ist, erst im Gipfelgange meines Lebens ein würdiger einheitlicher Mensch zu werden, ein heiterer früchtespendender Herbstmensch.

Ach, ich weiß nicht, wer ich bin!
Nie noch sah mein Aug ein Ziel.
Nur mein dämmerdunkler Sinn
Treibt mit Tag und Stunden Spiel:

Ahnt im Bann der alten Erde
Noch ein wunderbar Geschick;
Lallt ein übermütig Werde,
Perlt und glänzt der Augenblick ...

Diese nachdenklichen Verse sind nicht von mir. Sie kamen mir nur gerad in den Sinn. Sie sind von Wilhelm Weigand, den man mehr als unsern besten Essayisten denn als den feinen Lyriker kennt, der er doch auch ist.

Sie ermuntern mich, von neuem einen bestimmten Beruf aufzunehmen! Es will mir scheinen, als seien Sie nicht allzuweit davon entfernt, Berufslosigkeit dem Müßiggange gleichzustellen. Ich weiß, in unserer demokratischen Zeit mißbilligt die Allgemeinheit das Nichtstun. Durch jahrhundertelange Gewohnheit ist der Glaube, der Mensch sei zur Arbeit geboren, so tief eingewurzelt, daß sogar Menschen und ganze Gesellschaftsklassen, die es nicht nötig hätten, sich zu plagen, eine regelmäßige, also unfreie und am Ende unfrohe Tätigkeit pflegen. Arbeit, ebenso der Sport, sobald sie über das eigentliche Vergnügen daran hinausgehen, ist Knechtschaft. Die Grandseigneurs der Antike taten nichts und alles nur zu ihrem ureigenen Vergnügen. Der heutige Europäer verherrlicht die Arbeit, und nicht nur die freudige, sondern die Arbeit überhaupt. Und das ist Heuchelei. Wir haben eine Zivilisation, die viel zu viel unnütze Arbeit bedingt. Wir wandeln seit tausend Jahren auf Irrwegen. Was mich nun anbelangt, so war ich bei meiner von Plutarch und dem feintätigen Geiste der altrömischen Aristokraten stark beeinflußten Lebensauffassung zu keiner Zeit meines Daseins ein wirklicher Müßiggänger. Die Tage, da der Reiteroffizier nichts weiter zu tun hatte als seine Gäule zu dressieren, die gehörten zu meiner Soldatenzeit schon längst der Vergangenheit an. Wir haben uns in unserm Beruf nichts geschenkt, so wenig er unser Ideal erfüllte. Und voll berechtigtem Stolze dürfen wir sagen, wir, die wir unsere besten Jahre uneigennützige Erzieher der Jugend unseres Volkes waren: »Wir haben unsere Schuldigkeit getan!« Wenn Deutschland je untergehen sollte, der Aristokrat trägt keinen Teil daran.

Sehr richtig vermuten Sie, ich sei aus jugendlicher Romantik Soldat geworden. Die Erinnerung an meinen mütterlichen Urgroßvater verführte mich dazu. Als Rittmeister der altsächsischen Kürassiere hat dieser mir wie ein Bayard vorschwebende Edelmann die unsterblichen Attacken bei Friedland und Borodino mitgeritten. Auch war er eine Zeitlang persönlicher Ordonnanzoffizier des großen Kaisers. Noch heute hängen im Saale unseres Gutes unter seinem Bildnisse seine Ehrenlegion und sein Heinrichskreuz. Und wie so vielen Sachsen ist mir das glorreiche napoleonische Angedenken unentwindbar.

Hat mich meine Soldatenzeit befriedigt? Gerade dieser Tage fiel mir ein kleines Buch von Alfred de Vigny in die Hände. (Sie wissen, wie ich in meinen Büchern zu blättern pflege!) Dieser französische Stoiker war Offizier in der nachnapoleonischen Zeit, der langweiligsten des verflossenen Jahrhunderts, wenn man die noch öderen beiden letzten Jahrzehnte nicht rechnet. Er klagt da in merkwürdiger Übereinstimmung mit meinem Schicksal: »Mich hatte eine schwärmerische Neigung zum Waffenhandwerk ergriffen, das in der Gloriole einer großen Zeit noch vor mir stand. Diese Leidenschaft war für mich umso unheilvoller, als eine Epoche angebrochen war, die vom Kriege nichts mehr wissen wollte. Aber zunächst vermochte mich nichts den Waffen zu entfremden, weder meine heimlichen ernsten Studien noch die gewaltige Sehnsucht, mehr von der Welt kennen zu lernen, als bloß meine Heimat. Erst sehr spät ward mir klar, daß der Krieg nur an den großen Wendepunkten in der Geschichte seine heilige Berechtigung hat, daß ich nicht das Glück hatte, einen solchen zu erleben, und daß somit die vielen Jahre, die ich im Friedensdienst verbracht, gänzlich verfehlt waren. Gleichwohl hoffte ich und mancher der besten meiner enttäuschten Kameraden Jahr um Jahr weiter auf den Ausbruch neuer gewaltiger Kämpfe der Völker. Wir wagten nicht, den Waffenrock an den Nagel zu hängen, dauernd in Furcht, der Tag unserer Verabschiedung könnte gerade der letzte vor einem Feldzuge sein. So verloren wir kostbare Jahre auf den Truppenübungsplätzen, erträumten Kriegsutopien und verschwendeten bei spielerischen Paraden und kameradschaftlichen Gelagen nutzlos unsere besten Kräfte. Unbefriedigt und niedergedrückt von der Langenweile, die ich von dem einst so heißbegehrten Soldatenleben nie und nimmer erwartet hätte, ward es mir ein Bedürfnis, mich wenigstens in den einsamen Nächten nach all dem nichtigen Tumult des militärischen Tagewerks frei zu machen. Jenen stillen Stunden verdanke ich die Erweiterung meiner Innenwelt. In ihnen entstanden meine Gedichte, meine ersten Werke.«

Ich wünschte, auch das Letzte träfe bei mir zu. Wohl habe ich mich von jeher allerlei ernsten Studien hingegeben, um die großen Erscheinungen der Kunst nicht durch blinde Laienschwärmerei zu profanieren. Aber ich möchte mehr sein als bloß ein noch so kennerischer Liebhaber. Selber ein Künstler, ein genialer Schaffender! Aber ach, die Pforte der Begnadeten öffnete sich mir nicht!

Bliebe vielleicht die Politik? Reden wir lieber nicht erst von ihr! Germanien ist kein Britannien. Ich glaube, selbst der einzige deutsche Staatsmann seit Bismarck, Bernhard Fürst Bülow, hat nur einen erlebenswerten Tag in seiner Laufbahn erlebt: den, da sich dieser Meister der Urbanität in seine Villa Malta zurückzog, um das dolce far niente eines kosmopolitischen Lebenskünstlers zu beginnen.

Im Punkte Berufswahl ist somit bei mir Hopfen und Malz verloren, wie man im Volke sagt. Und so muß ich mich mit dem einen Guten meiner vielgescholtenen jetzigen Berufslosigkeit begnügen, mit verfeinerter Genußfähigkeit. Wie dankbar für mein bescheidenes Dasein macht sie mich so häufig! Und es ist auch keineswegs wahr, daß sie gräßliche Egoisten erzeugt. Zum mindesten nicht vor Euch Frauen! Jener wundervolle Ausspruch meines Freundes Henry Beyle ist doch der eines unverbesserlichen Einzelgängers: »Alles Schöne auf Erden ist ein Teil der geliebten Frau geworden, und so ist man bereit, alles Schöne auf Erden zu tun. Meine Eigenliebe, meine Interessen, mein Ich, alles das schmilzt vor der Geliebten dahin. Ich bin in sie verwandelt.« Auch ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich mich in angebetete Wesen und erhabene Dinge bis zur Selbstaufgabe zu verlieren vermag, seien es große Menschen, seien es ihre bewunderten Werke, sei es – die geliebte Freundin!

Damit wäre ich wieder bei Ihnen, die meine Seele ganz erfüllt. Erschrecken Sie nur nicht über das Geständnis meiner großen Sehnsucht nach Ihnen, das ich so unvermittelt meiner Betrachtung anknüpfe! Nehmen Sie Ihre unnahbare Miene nicht an, so sehr ich sonderbarerweise gerade diese Miene an Ihnen vergöttere! Kennen Sie schönere und ergreifendere Worte, die grenzenloseste Vereinigung ausdrücken, als jene göttlichen Worte Dantes von den »beiden, die zusammengehen«?

Diese drei Worte lassen alles ahnen, was es in der Geschichte der menschlichen Zuneigung Geheimnisvolles, Hehres und Erhebendes je gegeben hat.

Ich frage Sie, wollen Sie, daß auch wir zwei solche seien, die zusammengehen?

Ich habe eben eine Weile am offnen Fenster gestanden, in der frischen Winterabendluft. Über dem Park, der sich nicht weit von meinem Fenster hinzieht, lagern die Nebel und verschleiern ihn zu einer großen grauen Masse. Aber über der Wipfellinie, in der Ferne, grüßen weiße Höhen, über denen die helle Abendsonne ruht. In dieser Richtung, etwas mehr in der Tiefe, weiß ich Ihr Haus liegen. Am liebsten machte ich mich in dieser Minute auf, um hinauszuwandern.

Es ist mir, als strahle etwas von dem milden Abendlicht dort auf Ihren stillen schneeigen Bergen in mein Herz und vermähle sich mit den Träumen und der Sehnsucht darin zu einer leisen Musik.

Wenn ich genau wüßte, daß sich diese Musik, dieses unnennbare Gefühl nicht noch steigerte, weitete, verklärte, dann möchte ich in meinem Dämmerglücke am liebsten sterben, nachdem ich Ihnen nur noch ein einziges Mal in die Augen geschaut hätte. Man sagt, die Sehnsucht gäbe dem Menschen die höchste Kraft zum Leben. Ich weiß nicht, bin ich auch darin ein Sonderling? Mir gewährt sie nichts als die Fähigkeit zum Träumen. Zum vagen Träumen! Nicht etwa zum klaren Ausdenken eines bestimmten ersehnten Glückes in einer möglichen Zukunft, geschweige denn zum Weiterbewältigen des gewöhnlichen Daseins. Nie ist mir dies gröber, schwerer und unnützer erschienen. Oft bin ich wie gelähmt, mein Außenleben mit der nötigen Kraft zu führen. Meine eigenen wirtschaftlichen Angelegenheiten kommen mir wie die fremder Leute vor. Dann ist mir zumute, als hätte ich weder Verwandte noch Freunde noch Bekannte. Wenn ich mir eine bestimmte Person meines Lebenskreises vor das innere Auge rücke, so erscheint sie mir unverständlicher, gleichgültiger, unmöglicher denn ein Geschöpf vom Mars. Wollte ich in diesem Zustande mit einem Bekannten sprechen, so würde er mich für verrückt halten. Die um mich lebenden Menschen haben mir nichts zu sagen. Aber die toten Dinge reden zu mir, die schönen Dinge, die großen Menschen der Vergangenheit – und vor allem die Natur.

Alles das klingt, als sei ich lebensmüde. Wunderlicher Widerspruch! Ich fühle mich kerngesund und möchte hundert Jahre alt werden.

Ich denke immer an Sie. Sie sind meine Sonne.


Agathe an Georg

Den 18.

Mein lieber Freund!

Ich will herzlich gern eines von den beiden sein, die zusammengehen. Nur müssen Sie mir sagen, wohin der Weg führen soll. Sie werden mir zurufen, ich möge die Führerin sein! Beurteilen Sie mich denn aber richtig? Schon einmal habe ich Sie warnen müssen, mich mit Ihrem Ideal zu identifizieren. Ich bitte Sie noch einmal, verfallen Sie nicht in diesen romantischen Fehler! Die Enttäuschung, die eines Tages kommen müßte, wäre zu bitter für Sie und noch mehr für mich. Wenn Sie mich dann sähen, wie ich wirklich bin: alles in allem doch nichts als ein schwaches Weib, – wer weiß, ob Sie dann die stolze Männlichkeit in sich hätten, mich Ihren Sturz aus dem Himmel nicht entgelten zu lassen?

Als ich noch ein kleines Mädchen war, hatten wir im Hause eine alte Dienerin, die schon jahrzehntelang bei uns war. Ich hing sehr an ihr. Ich war ihr Augapfel. Eines Tages, erinnere ich mich, fiel ich ihr allzu wild und ungestüm um den Hals. Wenn du jemanden lieb hast, wehrte sie mich ab, dann mache es so wie mit deinem Coquerro! (Das war der alte Papagei, den ich heute noch besitze.) Gib ihm nicht alles Futter auf einmal! Vergiß aber dafür nie, ihn immer wieder zu füttern!

Nehmen auch Sie sich diese triviale Lehre zu Herzen! Nicht alles auf einmal! Lebenslange Freundschaften sind heutzutage selten. Auch entwickeln sie sich schwer und langsam.

Bedenken Sie, daß Sie mich vor kaum neun Wochen erst entdeckt haben! Wir kannten uns zwar schon seit Jahren, wie man sich in der großen Gesellschaft so kennt. Wir waren gleichgültig aneinander vorübergegangen. Mein Gott, wie oft im Leben mögen sich gerade die teilnahmslos streifen, die gleichsam füreinander geschaffen sind?

Ihre einstige weltmännische Neutralität mir gegenüber ist jetzt in übertriebene Verehrung umgeschlagen. Und welches Mirakel hat diese wunderbare Wandlung vollbracht? Ich muß lächeln. Weil Sie sich an jenem Abend fürchterlich langweilten, geruhten Sie, es huldvoll einmal mit mir zu versuchen! Mir ist unsere Bekanntschaft ein über alles wertvolles Ereignis. Aber vergessen wir die Wirklichkeit nicht! Bleiben wir auf der Erde, mein lieber Freund!

Ich bin keine Göttin. Ich gestehe Ihnen frank und frei: ohne Ihre Anregung bin ich gar nicht geistreich. Es strömt ein unbeschreiblicher geistiger Reiz von Ihnen aus, auf den mein kleiner Verstand gern ein schwaches Echo hören läßt. Im Grunde ist das alles nur das Widerspiel Ihrer starken Intelligenz. Aber seien Sie nicht eitel! Ihr geliebter Stendhal sagt: Die Frauen schätzen die Gefühlswelt weit über die des Verstandes. Er hat auch hierin recht.

Nachschrift. Ich habe gestern abend lange in den unvergleichlichen Briefen eines Unbekannten gelesen. Wissen Sie: dieser Alexander von Villers ähnelt Ihnen sehr. Er ist schließlich Einsiedler geworden. Wie entzückend er seine Einsiedelei schildert! Ich sehe auch Sie bereits in so einem »Wiesenhaus« fern der lauten Welt.


Georg an Agathe

20. Januar.

Da wir also nun einmal dabei sind, das zu analysieren, was uns so wunderbar zusammengeführt hat, so müssen wir schon etwas gründlicher sein. Aus dem Spiel unserer Gedanken hat bereits an jenem ersten Abend bei jedem von uns beiden die tiefste Gefühlswelt herausgeschaut. Das mußte uns einen. Auf die äußeren Umstände kam es gar nicht mehr an. Gewiß war es nur ein Zufall, der es fügte, daß wir uns fanden. Aber schon nach den ersten Worten fühlte ich unsre Verwandtschaft.

Sie werden einwenden, daß ich diese Entdeckung bereits vor Jahr und Tag hätte machen können. Gewiß. Wir sind uns lange vor dem 11. November in der Gesellschaft begegnet. Ich habe Sie immer mit einer seltsamen Empfindung gesehen. Aber die stolze Unnahbarkeit, die Sie umgibt, mußte einen empfindsamen scheuen Mann wie mich fernhalten. Meine stille Bewunderung hat Ihnen schon lange gegolten, ohne daß ich die geringste Annäherung wagte. Sie wissen, ich lasse so gern den schönen Zufall walten.

Ich will Ihnen bekennen, daß ich mich noch des Tages, ja der Stunde entsinne, da ich Sie zum allerersten Male gesehen habe. Es war das etwa zwei Jahre vor unserer Begegnung im Hause Schöning, gelegentlich einer wohltätigen Veranstaltung, die im Kleide eines Japanischen Festes im Garten des Japanischen Palais stattfand, an einem warmen Herbstnachmittage. Ich sehe Sie im Geiste noch ganz deutlich vor mir, in einem lila Gewand, eine rote Chrysantheme in Ihrem dunkelbraunen Haar, das Sie an jenem Tage anders trugen denn sonst. Groß, schlank, vornehm, graziös, kamen Sie mir auf einem der Wege des Parkes entgegen, feierlich und blaß und schön. Ich wollte Blumen von Ihnen kaufen, grüßte Sie ... zögerte im Moment... und Sie gingen beinahe hochmütig an mir vorüber ...

Erinnern Sie sich des kleinen Vorfalls?

Kaum! Sie würdigten mich keiner Beachtung. Um so mehr segne ich jetzt den Abend, der uns für ewig geeint hat.

Ich möchte mit einer Stelle aus Michel Montaigne schließen, in dessen Essays ich zuweilen gern lese:

Wenn man in mich dränge, ich solle sagen, warum ich meinen Freund liebte, so fühle ich, daß sich das nicht anders ausdrücken läßt, als wenn ich antworte: Parce que c'était luy, parce que c´était moi. Es ist etwas dabei, was über meinen Verstand hinausgeht, eine unbegreifliche, unwiderstehliche Macht.


Agathe an Georg

Rosenhof, am 20. Januar.

Unnahbar, hochmütig, stolz?

Susanne nennt Sie den Spötter unter ihren Verehrern. Ich glaube, sie hat nicht so ganz unrecht. Übrigens ist sie eifersüchtig ob Ihrer häufigen Besuche im Rosenhof. Eben war sie flüchtig bei mir. Gleich mit dem Eintrittsgruß die mokante Bemerkung: Ich dachte, Herr von Rockau sei da!

Entzückend! Das Kätzchen schärft sich die feinen kleinen Krallen! Genug! Susannes neueste Schwärmerei gilt dem Skilaufen. Sie sollen das auch treiben, meint sie. Und was meinen Sie dazu? Sie hat nicht unrecht. Die Skileute machen märchenhafte Fahrten über die einsamen weißen Berge. Sie genießen wie kaum jemand die wundersame Schönheit unentweihter Gebirgslandschaften. Mir ist das Schneeschuhlaufen der liebste Sport, natürlich nach dem Reiten. Dies bleibt immer ein Glück der Erde, wie Mirza Schaffy singt. Und ich bedaure es, so selten in den Sattel zu kommen. In Steinbach entschädige ich mich. Ich hoffe. Sie werden uns bald auf unserm Familiengute besuchen. Dann reiten wir miteinander durch die Heide, ganz frühmorgens. Das wird herrlich werden!

Zurück in die Gegenwart! Ich bin beauftragt, Sie für Sonntag zu meiner Mutter zu Tisch zu bitten. Sie kommen! Und heute abend finden Sie sich ja wohl bei meiner Schwägerin ein? Susanne rechnet auf Sie. Und ich auf meine Art.


Georg an Agathe

21. Januar.

Gestern abend habe ich Ihnen bereits mündlich gesagt, daß ich die gütige Einladung Ihrer verehrten Frau Mutter mit großer Freude annehme. Ich will es Ihnen aber heute noch schriftlich wiederholen, um Gelegenheit zu haben, Ihnen zu erzählen, welche große Freude ich heute vormittag empfunden, als ich Ihnen so unerwartet in der Stadt begegnete. Erst erkannten Sie mich nicht, und ich konnte mich so recht an Ihnen satt sehen. Sie ahnen nicht, wie verführerisch Sie aussehen, in jeder Linie Ihrer lieben Gestalt.

Als Sie mich wahrnahmen, haben Sie mich erst recht entzückt. Wie fröhlich und munter Sie auf mich zuschritten. Schüchtern und selbstbewußt! Sie wissen, wie ich das an Ihnen liebe!

Schelten Sie mich nicht aus, weil ich Sie so offen in mein Herz blicken lasse, das seit unsrer Begegnung zittert.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 22.

Mein lieber Freund!

Sie sind überschwenglich, und das sollen Sie doch nicht sein, wenn Sie mir nicht mißfallen wollen. Aber ich will Sie nicht weiter schelten.

Meine Schwägerin hat mir ihre beiden Plätze in der Oper gegeben. Zu Donnerstag. Zum Don Juan, Ihrer Lieblingsoper! Wollen Sie mein Ritter sein? Eveline und ihr Mann werden in der Nachbarloge sitzen. Und hinterher wollen wir soupieren, und zwar, wo Sie wollen! Kommen Sie also!


Georg an Agathe

Rockau in Thüringen, 24. Januar 1910.

Sie ersehen aus dem Briefstempel, daß ich fern von Dresden bin. Wenn ich auch nur noch drei Tage hier zu tun hätte, so könnte ich zu meinem Leide doch am Donnerstagabend nicht Ihnen Seite an Seite sitzen. Ich bin unsagbar betrübt darüber. Aber ich darf nicht so rasch wieder weg von hier.

Mein Bruder ist seit acht Tagen in Paris, und der Verwalter hat mich durch eine Depesche hergerufen. Allerlei Wirrwarr und eine Menge Sorgen! Ich werde Ihnen davon mündlich erzählen.

Die Winterlandschaft ringsum wunderschön, Und das Herrenhaus so gemütlich. Nur an den Abenden todeinsam.

Don Juan? Wie gern wollte ich mit Ihnen sein!

Aus der Ferne singe ich Ihnen mit Octavio zu, schwermütig wie er:

Was Dich entzücket,
Ist meine Wonne.
Was Dich beglücket,
Bringt mir die Sonne.
Streift Dich ein Schatten,
Leide ich Pein.

Wenn Du erblassest,
Mein' ich zu sterben.
Wen Du auch hassest,
Der soll verderben!
Ich mag nicht leben,
Bin ich allein.

Diesen deutschen Text zur Arie Dalla sua pace kennen Sie sicherlich noch nicht.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 9. Februar.

Gestern abend habe ich oft an Sie gedacht. Ich hätte Sie gern um mich gehabt. Unverhofft hatten sich nach und nach ein halbes Dutzend Gäste eingestellt, lauter lustige, übermütige Menschen. Wenn Sie auch so zufällig erschienen wären! Unsere heitere Stimmung hätte Sie gewiß mit fortgerissen. Mit einem Worte, Sie hätten da sein müssen! Ich finde überhaupt, Sie sind in der letzten Zeit nicht oft genug gekommen. Wann darf ich Sie wieder erwarten?


Georg an Agathe

10. Februar.

Liebe Freundin.

So geht es mir immer! Ein geringer Trost, daß ich hätte da sein müssen! Ich war auf dem Hofball, dem letzten des Winters. Alljährlich gehe ich einmal hin, seit ich den einst so geliebten kornblumenblauen Waffenrock (der mir übrigens heute gräßlich unbequem ist! Die wahre Zwangsjacke!) an den Nagel gehängt habe. Die Festlichkeiten am Hofe weiland Augusts des Starken, einst so weltberühmt, tragen in unsern Tagen das Gepräge allzu ruhiger Vornehmheit. Man trifft sich. Das ist alles! Der Ruhm ungemessenen Prunkes, der die Residenz des Hauses Wettin einstmals zu einem höfischen Gala-Orte Europas machte, ist längst nur noch historisch. Aber ehedem hat man in diesem Schlosse und seiner Umgebung zu leben verstanden. Die traumverlorenen Nachklänge jener heitern Lebenskunst wehen für den Wissenden noch heute mit entzückender Frische um die malerischen Bauwerke und die zerfallenden Skulpturen aus den Tagen des göttlichen Augustus. Es gibt nördlich der Alpen keine zweite Stadt, wo eine so eigentümliche Architektur im Kranze einer unbeschreiblich lieblichen Landschaft so verführerisch zum künstlerischen Genusse des Daseins riefe wie hier. Ich vermag mit meinen Augen den hochfliegenden Konturen der Kirche des Gaëtano Chiaveri nicht zu folgen, ohne die Empfindung zu haben, auf Engelsfittichen über den Alltag emporgetragen zu werden, in leichtere lichte Höhen. Der glückselige Schwung dieser jubelnden Barockkunst hebt mich körperlich fühlbar aus dem Gewöhnlichen heraus.

In welche Phantasterei bin ich geraten? Hofball und Künste: zwei Ertreme.

Ich habe gestern abend eine Menge drolliger Beobachtungen gemacht. Natürlich,–werden Sie lächelnd meinen–das ist doch immer Ihr Vergnügen! Und der Richtpunkt dabei: die menschliche Eitelkeit. Das psychologische Ergebnis werde ich Ihnen morgen am gemütlichen Kamin des Rosenhofes vorplaudern.

Der Dünkel ob der Geburt gehört unbedingt zu den lächerlichsten Schwächen der Menschen. Ich bin selber Edelmann und ich liebe das Aristokratische über alles. Aber ich bin mir bewußt, daß sich der Begriff aristokratisch nicht mehr mit dem des Adligen an sich deckt. Es gibt heutzutage Männer, die ohne das bewußte Prädikat Aristokraten sind und für solche gelten. Und andrerseits gibt es Adlige, die sich trotz ihres ererbten schönen Namens durch ihre Gesinnung, ihre Manieren und ihre Bildung als gewöhnlichste Plebejer kennzeichnen. Der aristokratische Sinn, sagt ein italienischer Philosoph, verhält sich zur Verstandes- und Gefühlswelt des Adligen schlechthin wie ein lebendiger Leib zu einer Mumie, wie die persönliche geniale Schöpfung zu einer Schultradition in Kunst, Literatur oder Wissenschaft. – Es steckt viel Wahres in dieser Behauptung. Doch genug davon! Ich langweile Sie mit diesem Exkurs.

Aristokrat sein, heißt das nicht, Herr über sich selbst und seine Beziehungen zu dem großen Haufen sein, in geistiger oder gesellschaftlicher Beziehung? Ist das nicht der Kernpunkt? Das höchste Glück des Mannes ist seine Unabhängigkeit von dem, was er nicht anerkennt. Herr sein, und sei es auf der allerbescheidensten Domäne, das dünkt mich eine verständliche Quelle des Selbstbewußtseins.


Agathe an Georg

Rosenhof, den 11.

Das klingt ja beinahe wie Tatenlust! Wo ist Ihre berüchtigte Passivität hin? Das Leitmotiv Ihrer gepriesenen vita contemplativa? Ja, wissen Sie: trotz Ihres alten Namens, trotz Ihrer aristokratischen Neigungen, trotz Ihrer erlesenen Erziehung sind Sie doch häufig ein Demokrat! Gewiß soll man nicht einseitig sein! Ich bin aber der Meinung: entweder begibt man sich auf das höfische Parkett und stimmt sich fein altmodisch-junkerlich, oder aber man bleibt in seiner Einsiedelei und zählt sich auch in der Praxis zu den modernen Rebellen. Zwischennüancen sind Halbheiten, und Halbheiten verderben zum mindesten den reinen Genuß am Augenblick.

Oder doch nicht? Erhebt heimliche Überlegenheit über jedweden Zwiespalt? Dann sind Sie wirklich ein Lebenskünstler!

Ich werde ja Ihren mündlichen Bericht bald hören. Bin ich in Ihrer hochverehrten Philosophie nicht doch schon ein wenig zu Hause? Offenbar haben Sie sich unter Ihren Kameraden und Standesgenossen ganz gehörig gelangweilt!

Scherz beiseite! Ein bißchen Sozialistin bin ich übrigens auch bei aller meiner ernsthaften Altmodischkeit. Es gibt viele Dinge im Leben, in unsern heutigen Sitten und Anschauungen, die mir wie Vergewaltigungen vorkommen und mich bis zum Schmerz empören: alles das, was mit der zweizüngigen heuchlerischen Moral der Welt zusammenhängt. Hier bin ich ganz und gar nicht konservativ gesinnt. So habe ich einen unsagbaren Abscheu vor den Dirnen der Gesellschaft und ein teilnehmendes, immer hilfsbereites Herz für die von ihr Verfemten, die sich verschenkt haben, weil sie sich für frei halten durften. In der großen Welt wimmelt es heute mehr denn je von Frauen, die den Erstenbesten geheiratet haben, nur um dann nach Sinnenlust sündigen zu können. Und wie nachsichtig ist die sonst so unduldsame Gesellschaft; wie wenig stößt sie sich an den sogenannten öffentlichen Geheimnissen, an den stadtbekannten Liebschaften! Wo die Leute Nacht, Reichtum oder Luxus bewundern, besonders solchen, der zum Amüsement der Anderen da ist, da verzeihen sie alles.


Georg an Agathe

13. April.

Wie ich Ihre Briefe liebe! Ihre Art, Ihre Lebensanschauung, Ihre Seele, Ihr ganzes Ich! Das meine gerät immer mehr in Ihren Bann.

Ich habe Sie schon drei Tage lang nicht gesehen. Widerfährt mir dies Glück heute abend beim Professor Schöning? Ich freue mich darauf wie ein kleines Kind. Um Ihnen dies zu sagen, sende ich Ihnen meinen Niklas mit diesem Kärtchen.

Beim Wandern durchs Städtchen habe ich Rosen entdeckt, die eben aus dem Süden gekommen waren. Meine Lieblingsrosen, gelbe. Ich habe den Strauß genau in zwei Teile geteilt. Die eine Hälfte bringt Ihnen Niklas. Im Rosenhof blühen noch keine. Somit darf man ausnahmsweise Eulen nach Athen tragen.

Die andere Hälfte prangt in einer blauen Vase – Sie kennen sie! – unter der Marmorkopie der Büste der knidischen Aphrodite, die ich so liebe; in der Fensterecke meines Arbeitszimmers.

Ich hoffe, daß mich Ihre liebenswürdige Freundin heute abend zu Tisch an Ihre Seite setzt. Wenn nicht, werde ich der wortkargste und ledernste Nachbar sein, den die betreffende Andere je erlebt hat. Dann bekomme ich Bulldoggenlaune. Habe ich aber Glück, dann hätte ich nur noch einen Wunsch. Ich Nimmersatt! Seien Sie nicht so hochmütig und hart wie neulich, wenn ich Ihnen zuflüstere, daß ich Sie liebe. Es gilt Ihrer Seele, der hehrsten und gütigsten, die ich auf der ganzen Welt kenne!


Agathe an Georg

Mittwoch, drei Uhr.

Mein lieber unverbesserlicher Freund!

Damit Sie sehen, daß ich in der Tat »eine gütige Seele« bin, sende ich Ihnen durch Ihren Leporello noch vor Tisch dieses Briefchen für den Fall, daß ich beim Diner fern von Ihnen sitzen sollte. Räumlich fern. In Gedanken Ihnen doch Seite an Seite. Sie sind übrigens widerspruchsvoll wie so oft. Sie lieben nur meine Seele. Ja, dann müßten Sie sich eigentlich über das räumliche Mißgeschick hinwegsetzen.

So, nun machen Sie bei Tisch auf keinen Fall ein betrübtes Gesicht! Und wenn ich Ihnen zu fröhlich erscheine, dann denken Sie daran, daß wir armen Frauen der Gesellschaft vor der Welt nun einmal zum mindesten Diplomatinnen sein müssen. Ich könnte im Herzen noch so traurig sein: anmerken lasse ich mir's nicht! Erziehung ist mitunter – leider! – Verstellung. Nur Ihnen gegenüber will ich ganz so sein, wie ich wirklich bin.

Sind Sie nun ein wenig zufrieden?

Die Marschall-Niel sind prächtig. Eine davon sollen Sie heute abend an mir als Zeichen des Dankes wieder zu sehen bekommen.


Georg an Agathe

16. April.

Hat Ihnen Mademoiselle Sophie (die ganz entzückend aussah in ihrem blauen Samtkleidchen mit dem hübschen Chinchillapelzkragen) erzählt, daß wir uns heute in der Schloßstraße getroffen haben? Und daß wir dann unter der Obhut der ebenso hochverehrten wie überschlanken Miß May im Großen Garten bei Schokolade und Kuchen unsern kleinen Flirt weitergesponnen haben? Die schönste Frühlingssonne goß ihren herzlichen Segen über uns aus.

Sophie hat mir die köstlichsten kleinen Szenen und Erlebnisse aus dem Rosenhof ausgeplaudert: von Ihnen, von sich, von Herrn Jakob, dem bravsten aller Dackel, von Signore Coquerro, dem Ältesten des Hauses, und von wer weiß was noch. Ich war ein sehr andächtiger Zuhörer, und wie im Halbtraum hat das Landhaus am Berge dabei immer vor meiner Einbildung gestanden und die ganze geliebte Umwelt, die so verführerisch in Ihrem Heim waltet.

Zuguterletzt muß ich Ihnen gehorsamst vermelden, daß mich Fräulein Sophie von Uechtritz für Montag, den 18. April zu Tisch gebeten hat. Wenn Sie mich nicht schnell noch wieder ausladen (die Götter mögens verhüten!), so werde ich mit soldatischer Pünktlichkeit erscheinen. Ich habe Ihrem Töchterchen versprochen, nach Tische den Puppen eine Galavorstellung: »Harlekins Leiden und Freuden« geben zu wollen. Sein Wort muß der Mensch halten. Also hindern Sie mich, bitte, nicht daran!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 17. April.

Kommen Sie! Sie sind immer willkommen!

Ihr Theater steht bereit. Die Puppen hängen sehnsüchtig über den Armen eines Lehnstuhls in der Diele und harren auf Sie, ihren Erwecker. Ganz so hängen Frauenherzen, ehe sie unter den liebkosenden Händen des geliebten Mannes erwachen.

Sophie hat mir erzählt, daß Sie mit ihr spazierengegangen sind. Sie haben sie längst erobert. Das ist nicht so leicht. Sie ist wie eine seltsame zarte Blume, die sich nicht jedem erschließt. Ein sanftes, stilles Kind, blaß und empfindlich. Mir ist sie mein Alles. Ich zittere, wenn ich daran denke, daß ich diesen mir köstlichen Schatz eines Tages an einen Mann ausliefern muß, der sie möglicherweise nur aus äußerlichen Gründen begehrt und ihr seelisch vielleicht niemals verwandt werden wird. An einen von den vielen, die im Grunde ihres Herzens bei aller Galanterie nicht einen Funken Hochachtung vor dem Weibe mehr haben. Weil ihre seelische Liebesfähigkeit abgestorben ist. Meist ist auch ihre Sinnlichkeit auf Abwege geraten. Sie treten an uns heran, ohne uns das Geringste geben zu können.

Ich bete alle Tage zu Gott, daß meine Sophie, die wohl niemals so entschlossen zu handeln imstande sein wird, wie ich es, allerdings nach schweren innerlichen Kämpfen getan habe, – daß mein geliebtes Töchterchen einem ähnlichen unglücklichen Geschick entrinne. Überzart und empfindsam, wie sie ist, müßte sie daran zugrunde gehen. Wenn ich an dergleichen denke, hasse ich im voraus bereits alle Männer, die sich ihr dermaleinst nahen.

Ich habe das Bedürfnis, Ihnen einmal bei mir, wenn es die Stunde fügt, die schmerzensreiche Leidensgeschichte meines bisherigen Lebens zu erzählen. Sie sollen in meine Ehe blicken und den Charakter meines Mannes kennen lernen. Und die lange Kette von Enttäuschungen und Demütigungen, die ich erfahren und überwinden mußte. Ich habe mit neunzehn Jahren geheiratet. Erst zweiundzwanzig Jahre alt, ward es mir klar, daß mein Leben zugrunde gerichtet war. Ich setzte die äußerliche Trennung von meinem Manne durch. Mehr hätte ich mit der Preisgabe meines Töchterchens bezahlen müssen, das damals zweijährig war. Sieben Jahre lang lebe ich seitdem hier in meinem geliebten stillen Hause. Uechtritz ist jetzt bei der deutschen Botschaft in Petersburg. Ein vollendeter Weltmann nach außen, aber innen brutal bis zur Grausamkeit. Er wird mich kaum je freigeben. Seine einzige Schwester, meine Schwägerin, belächelt meine Empfindsamkeit und begreift unsere Trennung nicht. Das große Leben in Petersburg? Ach, was gehen mich die Freuden der Eitelkeit noch an!


Georg an Agathe

19. April 1910.

Frau Agathe,

noch tief bewegt von unserm gestrigen Gespräch, versichert Ihnen, meiner lieben, lieben Freundin, seine reinste Verehrung und treueste Zuneigung für alle Zeiten

Ihr Georg.


Agathe an Georg

Mittwoch abends.

Bester Herr von Rockau!

Sie sind der gütigste, verständigste, zärtlichste Freund, den es auf Erden gibt!

Als Sie gestern abend gegangen waren, überfiel mich die bitterste Scham, weil ich Ihnen so viel, ja alles gebeichtet hatte. Am liebsten hätte ich für ewig verstummen mögen. Ich litt in grenzenloser Vereinsamung. Die wiedererwachten Erinnerungen drückten mich nieder, und die Zukunft lag ganz grau und lichtlos vor mir. Da erreichten mich Ihre lieben Worte. Die mußten mich trösten. Sie ahnten, welcher Wirrwarr in mir herrschte. Sie fühlten, daß mich meine Geständnisse in eine Stimmung der Selbstverachtung gestürzt hatten.

Erinnern Sie sich jener Stelle in Peter Jacobsens Niels Lyhne, wo Fennimore in wildbrennender Scham und in qualvollem Ekel vor sich selber, unglücklich und hoffnungslos, nach dem unendlich fernen, blassen, stillen Lande ihrer Mädchentage zurückblickt! Ähnlich steht es um mich in dieser Stunde, wenngleich die sanfte Hand der Zeit schon viel gemildert hat. Ich habe schwer zu tragen, und Sie sind gerecht, wenn Sie gegen Ihre verwundete Freundin immerdar Ihre so wohltuende Nachsicht üben.

Alle Lebenskraft verläßt mich, wenn ich an mein verlorenes, verfehltes Dasein zurückdenke. Dabei bin ich des Glaubens, daß ich der zärtlichsten, selbstlosesten Liebe fähig gewesen wäre. Aber ich gehöre wohl zu den Menschen, die nie werden dürfen, was sie sein könnten. Nun ist es zu spät. Der Sturm, der durch die Frühlingsnacht gebraust, hat die Blüte vom Baum gerissen, und die wärmste Sommersonne wird die beraubten Zweige umsonst küssen.

Das übliche Gerede hat mir verschiedene Liebeleien zugeschrieben. Meine Verehrer waren alles andere denn meinem Herzen nah. Ich habe die Leute schwatzen lassen. Was versteht die oberflächliche Gesellschaft von einer lebensfrohen Frau, die sich in Sehnsucht ein wundersames Glück erträumt und in der Wirklichkeit, durch ein unseliges Geschick, im tiefsten unbefriedigt und enttäuscht bleiben muß!

Halten Sie mich nicht für sentimental! Der gestrige Abend hat mich nur ein wenig aus meinem Gleichgewicht gebracht. Morgen schon bin ich wieder die alte. Meine Jugend und meine vom Vater ererbte Lebenslust lassen mich nicht verzagen. Ich liebe die Geselligkeit. Eine Geselligkeit allerdings nach meiner Art. Beinahe zärtlich pflege ich den Umgang mit feinsinnigen Künstlern. Vor allem aber ist mir unsere wunderliche Freundschaft unsagbar lieb und wert. Meine unbekümmerte Art zu leben hat mir manche Nachrede eingetragen. Was kümmerts mich? Wenn mich nur meine Freunde kennen! Sagen Sie selbst: wo in der Welt könnte ich trautere Abende verleben als in meinem gemütlichen Heim, plaudernd mit Ihnen, im so süßen Bewußtsein, eine verwandte Seele um mich zu haben?


Georg an Agathe

11. Juni.

Meine geliebte Freundin.

Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für das große Vertrauen, das Sie mir bezeigt, indem Sie mich gestern zum Tee besucht haben. Ich bin so namenlos glücklich darüber, daß ich allen andern Freuden der Welt entsagen möchte. Ich hege nach keiner mehr Verlangen. Ich würde die weltfernste Einsamkeit mit dem höchsten Glücksgefühl ertragen, wenn Sie bisweilen, so oft Sie ein wenig Sehnsucht nach dem Eremiten hätten, kämen wie gestern.

Ich weiß, Sie lieben es, wenn ich Ihnen schöne Verse sende, die mir gerade begegnet sind. Hier ist ein Gedicht, die Paraphrase einer französischen Elegie. Ein lieber Zufall läßt es mich gerade heute finden:


Gastgeschenk

Es träumt mein Haus. Die Tür noch unverriegelt.
Purpur von Früchten auf der Silberschale
Im Ebenholz des Tisches tief sich spiegelt.
Das Fenster glüht im letzten Sonnenstrahle;
Da draußen lockt der Weg hinauf zum Hag,
Und in der Ferne singt der Glockenschlag.

Den Weisen, der mich heitern Sinn gelehrt.
Sein Beispiel, das nichts weiter mehr begehrt
Als Abendfrieden bis ans Lebensende,
Das Farbenspiel in meinem Rosengang,
Den Gruß der Vigne dort am Rebenhang.
Mein stilles Glück, des Schicksals Gnadenspende,
Den immergleichen Klang tagein, tagaus ...

All das verstand ich erst, da Du mein Haus
Betratest, Liebste; und was ich entbehrt.
Das Einzige, auch das ward mir beschert,
Da Du bei mir die roten Früchte aßest,
Vom Vino santo trankst und niedersaßest
Und Deine Schwingen faltetest am Herd.


Agathe an Georg

Nachts.

Liebster bester Freund!

Es war mir, als seien Sie kaum fort, da schlägt die Uhr zwölf! Also ist es doch bereits weit über eine Stunde her, daß ich Ihre Tritte, diese gemächlichen Tritte, die Ihr bedächtiges Epikureertum verraten, über dem Kiese des Gartenweges verhallen hörte. Ich habe ehedem niemals beachtet, mit welch eigentümlichem Geräusch unten im Garten die Pforte zuschlägt. Jetzt will es mir nicht aus den Ohren, aus den Nerven, aus der Welt meiner Sinne.

Sie sind vielleicht für einen großen Kreis von oberflächlichen Zuhörern ein schlechter Vorleser. Aber für mich der allerbeste, den es nur geben kann. Ich hasse das Pathetische und liebe das Natürliche. Und Sie lesen so nachlässig, fast tonlos, daß man schon gut aufpassen muß, um die Noten der Leidenschaft, der Begeisterung, des Entzücktseins zu vernehmen, die ganz leise nur ihren Ausdruck finden. Sie unterstreichen nichts. Als ich Sie loben wollte, sind Sie verlegen geworden wie ein kleiner Junge, und schnell verschanzten Sie sich, wie so oft, hinter die Ironie, die Waffe der verschämten Seelen.

Erst durch Ihre gütige, anspruchslose Art, auf die feineren und feinsten Reize eines Kunstwerks hinzudeuten, habe ich sehen und fühlen gelernt und wage nun, mich ein wenig eine Kunstfreundin zu nennen. Ich beneide Sie um Ihr Nachempfindungsvermögen. Man muß selber Künstler sein, zum mindesten passiv, um Künstlerwerk ganz zu verstehen. Unter tausend Menschen kann das kaum einer. Das hat mich unsagbar mißtrauisch gemacht. Gegen andere und auch gegen mich selbst. Ich prüfe mich seitdem oft, und wenn ich in einem Salon über Kunst schwatzen höre, sage ich nichts mehr. Sie spotten, man dresche da im allgemeinen immer nur leeres Stroh. Und Sie haben recht. Man hört zu viel Blinde von der Farbe reden. Und mit welcher Heuchelei! Sie ahnen nicht, wie aufmerksam und dankbar ich bin, wenn Sie Ihr Vorlesen bisweilen unterbrechen und ein paar Worte über das sprechen, was Sie am Gelesenen besonders entzückt. Wie dumm war ich noch vor kurzem, wie unwürdig der wahren Reize künstlerischer Literatur. Da war ich noch stoffhungrig, wie Sie das einmal gescholten haben. Wie langsam ich seitdem lese! Ich schlürfe den Wein der Dichtung bedächtig, wie Sie mich das gelehrt haben, und ich bleibe oft vor einer psychologischen Feinheit oder am Kristall einer Formenschönheit stehen wie vor einer schönen Rose meines Gartens...

Die Rosen!

Die wundervollen Marschall-Niel,die Sie mir heute wieder mitgebracht haben und die nun auf dem Schreibtische träumen, beginnen mit einem Male von Ihnen zu reden. Von Ihnen! Sie sind der heimliche Herrscher in meinem Hause geworden.

Wo war ich?

Denken Sie aber nicht, daß ich Ihnen Schmeicheleien sagen will. Dazu müssen Sie mich bereits viel zu gut kennen. In Ihrer Gegenwart darf ich ja alles das niemals aussprechen. So schreibe ich es Ihnen wenigstens. Sie sind so rührend langmütig und geduldig mit mir. Sie überbauen alles, was uns geistig trennen könnte. In vielen, vielen Dingen stehen Sie auf einer höheren Warte als ich, durch Ihre enthusiastischen Studien, wie sie nur einem Berufslosen vergönnt sind. Häufig fühle ich mich von tiefer Dankbarkeit durchglüht. Ich will Ihnen bis ans Ende meiner Tage die treueste Freundin sein, die es je auf Erden gegeben hat. In der klugen Einleitung zu den Briefen der Julie von Lespinasse, die Sie mir geschenkt haben, diesen leidenschaftlichen, in der Welt einzig dastehenden Briefen, heißt es, die Frauen seien unvergleichliche Freundinnen. Sie sollen das gleiche sagen und verkünden dürfen! Ich will Ihnen eine unvergleichliche Freundin sein und bleiben.


Georg an Agathe

19. Juni mitternachts.

Meine geliebte Freundin.

Es fehlen mir die Worte, Ihnen die verehrungsvolle Zuneigung auszumalen, die mich Ihnen von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde inniger eint. Ich stehe ganz im Nachklänge dieser feierlichen Abende unter den wundervollen rot- und weißblühenden Kastanien Ihres Gartens. Ihre halblaute feine sanfte Stimme, all die lieben klaren ruhigen Worte umklingen mich noch immer mit ihrem geheimnisvollen tiefen Leben. Still wie ich Ihnen zugehört habe, sitze ich an meinem Schreibtische und gedenke Ihrer. Die wirklichen Worte sind nichts; ihr geheimer Sinn wertet sie. In unsern lieben scheuen Gesprächen über Dinge der Schönheit in Kunst und Leben webt und lebt tausendmal mehr Zärtlichkeit und Einandergehören als zwischen zwei alltäglichen Leuten, die sich alles sagen und alles geben, was sie geben können. Alltagsleute sind wir wahrlich nicht.

Ich schließe die Augen und schaue wieder die goldene Abendlandschaft von der Warte Ihres Gartens aus: den silbergrauen Strom, die grünen Umrisse der Hänge und Berge und Baummassen, vom Dämmerlicht umflossen, und drüben die endlose Stadt im Purpur der scheidenden Sonne. Selbst Einzelheiten schaue ich noch, zum Beispiel die kreisenden Schwalben auf dem lichten Himmel. Ich fühle die Seele dieser geliebten Landschaft: Agathe! Meine Heilige!

Ich bin einsam und nicht mehr einsam. Demütig danke ich Ihnen für all Ihre leise schwesterliche Liebe. Ergriffen stehe ich vor etwas noch nie Erlebtem, vor der zartesten Schönheit in der Welt der Gefühle. Wenn ich dieses seltsame Seelenglück in Worten festhalten könnte, wäre ich ein erlesener Künstler. Aber selbst wenn ich der wäre, vielleicht hätte ich nicht den Mut, mein Glück mit Worten zu fangen. Die Dankbarkeit des Bewußtseins, höchstes Glück zu erleben, widerstreitet dem Glücke des Schaffens.

Ich komme mir älter und reifer geworden vor. Mein Begriff vom Genusse des Lebens hat sich gewandelt. Ich sehe die ganze Welt mit neuen Augen an. Sie liegt nicht mehr weit ausgebreitet vor mir im flammenden Morgenrot der Begehrlichkeit. Etwas wie im Blau himmlischer Sehnsucht verrinnendes Abendgold verklärt meine Welt. Zum erstenmal empfinde ich die Resignation als etwas Beglückendes.

Meine Sehnsucht nach Ihnen ist so mächtig, daß ich unter der Empfindung beinahe leide. Sie müßten jeden Augenblick in mein Zimmer treten.

Sieh, ich verstand mich erst, da Du mein Haus
Betratest, Liebste. Und was ich entbehrt.
Das höchste Glück, auch das ward mir beschert.
Da Du bei mir die roten Früchte aßest.
Vom Vino santo trankst und niedersaßest
Und Deine Schwingen faltetest am Herd!


Agathe an Georg

Den 1. Juli, abends.

Was soll das bedeuten? Erst schreiben Sie mir so etwas wie einen Liebesbrief, für den Sie noch nicht einmal gescholten worden sind, und dann lassen Sie vierzehn Tage lang nichts von sich hören. Sie kommen nicht, Sie schreiben nicht! Sie sind wie verschollen für mich.

Für den Brief sollen Sie keinen Vorwurf mehr bekommen. Er sei vergessen! Damit aber mein wunderlicher geliebter Freund da drüben in der dämmerdunklen Stadt mit den hundert Kuppeln und Türmen, hinter deren entzückender Silhouette soeben die Sonne schlafen geht, bei seinem endlichen Besuche auf der Loschwitzer Höhe nicht gar vielleicht vergeblich an die Gartenpforte klopft und erst dadurch erfährt, daß Frau Agathe weit über die Berge ist, – so vermelde ich ihm ergebenst, daß ich am kommenden Mittwoch nach unserm Gute reise.

Ich wäre eigentlich schon heute abgereist, aber Tante Beate hat mich noch einmal zu sich gebeten und – Sie kennen ihre Art. Ich konnte es ihr nicht abschlagen. Somit sind Sie ihr zu Dank verpflichtet, falls es Ihnen am Herzen liegt, mich nicht ohne Lebewohl ziehen zu lassen.

Ein Vorschlag! Kommen Sie mit nach Steinbach! Mein Bruder verbringt die letzten Tage seines Europa-Urlaubs bei uns. Er muß in zehn Tagen wieder nach seinem geliebten, uns so schrecklichen Togo. Es ist sonderbar, wie sehr die Tropenmenschen an ihrer neuen Heimat hängen! Wie sehr unser Hermann Mutter und Schwester auch liebt, man hört doch oft aus seinen Reden heraus, daß er sich körperlich in der Ferne viel wohler fühlt. Die alte Heimat ist ihm zur Fremde geworden.

Kommen Sie! Meine Mutter wird durch Ihre Anwesenheit von ihrem Trennungskummer abgelenkt. Sie tun also sogar ein gutes Werk, wenn Sie sich uns ein paar Wochen schenken.

Es wäre ganz reizend, wenn ich die vier Stunden Eisenbahnfahrt mit dem Freunde verplaudern könnte. Läßt sich das nicht einrichten? Die Zeit der Abfahrt besprechen wir noch.

Was machen Sie eigentlich?


Georg an Agathe

2. Juli.

Meine verehrte Freundin.

Wie gern möchte ich ein paar glückliche Tage mit Ihnen verleben! Vielleicht würde mich das von meiner Melancholie heilen. Sie haben mir schon soviel von dem Gute, Ihrer so geliebten Heimat, erzählt, daß ich mich richtig darnach sehne, es einmal mit eignen Augen zu schauen. Von allem, was man mir mit Liebe schildert, macht sich meine lebhafte, immer arbeitende Phantasie sofort ein imaginäres Bild. Und es ist ein eigentümlicher Genuß für mich, solche Traumgesichte dann mit der Wirklichkeit zu vergleichen.

Sie haben mir einmal erzählt, das Herrenhaus des Gutes sei zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts von Longuelune erbaut worden, dem ersten Meister des Dresdener Barocks, dieses wundervoll heiter-aristokratischen Stils, in den wir alle beide verliebt sind.

Sie ahnen nicht, wie schwer es mir fällt, Ihre gütige Einladung nicht annehmen zu können. Ich beneide Sie um das Glück, aufs Land zu gehen. Wohl liebe ich diese Stadt; aber in der Juliglut ist sie mir oft unerträglich. Mit tausend Freuden wäre ich unter den kühlen Bäumen des Parks von Steinbach.

Ich habe mit Mißhelligkeiten aller Art zu kämpfen, äußerlichen wie innerlichen, großen wie kleinen, wichtigen wie nebensächlichen. Ich bin es meinem Neffen Michael schuldig, die Verhältnisse in Rockau mit aller Kraft in Ordnung zu bringen. Wir müssen das Gut schließlich in Pacht geben; sonst wirtschaften wir es zu Tode. Mein Bruder lebt als Grandseigneur und ist bereits bis über die Ohren verschuldet. Dabei ist er weit davon entfernt, Vernunft anzunehmen, und es ist für mich höchst schwierig, mit ihm zu verhandeln, ohne eine geradezu tödliche Feindseligkeit heraufzubeschwören. Sie haben mir einmal im Scherz vorgeworfen, ich sei ein kleiner Machiavell. Wissen Sie, es war an dem Abend, da ich Ihnen die köstliche Szene zwischen Serenissimus und der Duchezza Sanseverina aus der »Kartause von Parma« vorlas. Sie verglichen sich mit der Duchezza, dieser göttlichen Frau, und mich mit dem Grafen Mosca. Du mein Gott, ein bißchen der Mosca bin ich wohl manchmal. Aber meinem Bruder gegenüber möchte ich es tausendmal mehr sein.

Bei den Widerwärtigkeiten, mit denen ich dort zu kämpfen habe, fehlt mir eine gute, kluge und tapfere Kameradin, meine Sanseverina. Ich bin in den letzten Tagen mehrere Male nahe daran gewesen, mich zu Ihnen zu flüchten. Aber alle diese Dinge trage ich doch lieber allein.

Schreiben Sie mir wenigstens recht häufig! Ich wage gar nicht zu Ihnen zu kommen, so sehr ich es begehre. Ich wäre so doch nicht der heitere und sorglose Freund, den um sich zu haben, Ihnen zuweilen Freude bereitet. Wer weiß, wie lästig ich Ihnen in meinem jetzigen Zustande wäre. Sorgen machen beinahe jeden Menschen unliebenswürdig; ich fürchte: auch mich zuweilen.

Schreiben Sie mir also! Wenn Sie wüßten, welche Freude Sie mir damit bereiten, schrieben Sie mir alle Tage.

Ich bitte Sie, empfehlen Sie mich Ihrer hochverehrten Frau Mutter und übermitteln Sie Ihrem Bruder meine herzlichsten Grüße. Ich bedaure sehr, daß ich ihm nicht persönlich Lebewohl sagen kann. Ich beneide ihn um die herrliche Tatenlust, mit der er von neuem in das gefahrvolle ferne Land seiner Sehnsucht geht. Ich beneide ihn um das Glück, einen Wirkungskreis zu haben, wo er alles in allem ein wirklicher Herrscher ist. Hier in unserm überzahmen Europa kommt die gesunde Freude an der Macht ja kaum noch auf den Thronen zu nützlicher Entwicklung.

Vielleicht wird es mir nach dem 15. möglich, ein paar Tage nach Steinbach zu kommen. Es sieht zwar vorläufig nicht so aus, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Seien Sie überzeugt: wenn ich mich irgendwie freimachen kann, so eile ich. Ihnen die Hände zu küssen.

Also, ich hoffe, auf baldiges Wiedersehn! Verzeihen Sie die Zerfahrenheit und Unrast dieses Briefes. Nehmen Sie mir auch meine Vertraulichkeit nicht übel. Ich spreche zu Ihnen wie zu einer Schwester. Ich habe sonst niemanden, dem ich mein ganzes Herz erschließen darf. Erblicken Sie in meinem grenzenlosen Vertrauen zu Ihnen meine besondre Art, Ihnen von ganzem Herzen ergeben zu sein.


Agathe an Georg

Am 3. Juli.

Sie leiden! Ihr Brief hat mich ergriffen. Ihr Kummer macht mich tieftraurig. Ich empfinde mit Ihnen alle Ihre Qualen und alle Ihre Sorgen. Dank für Ihr gutes Vertrauen! Seien und bleiben Sie stets offenherzig zu mir. Ich stehe Ihnen über alles gern schwesterlich zur Seite. Lassen Sie mich immer ein wenig Ihre warme Sonne sein, wenn das Leben kalte Schatten auf Ihren Weg wirft.

Ich habe in meinem kurzen Dasein viel gelitten. Darum vermag ich das Leid andrer bis in den letzten Sinn zu verstehen. Ich finde einen schönen Trost darin, meiner Freunde Kummer und Sorgen mittragen zu dürfen.

Sie mühen sich, Ihr Familiengut zu erhalten. Damit rufen Sie in mir meine leid- und glückvollsten Tage zurück.

Ich war achtzehn. Mein Vater stöhnte unter der Last seiner Verpflichtungen. Da legte er eines Tages die Möglichkeit, Steinbach zu retten, in meine Hände. Ich sagte unbedenklich Ja. Was verstand ich damals von der Welt? Ich ahnte auch nicht im geringsten, was es für mich bedeutete, einem ungeliebten Manne Folgschaft durchs ganze Leben leisten zu sollen. Ich wußte nur eines: daß ich an unserm Gut hing, daß ich es mehr liebte als mich selbst. Zufällig hörte ich die Worte »Opfer« und »großmütig« fallen. Da war ich stolz. Noch sehe ich meinen Vater vor mir, wie er mir an meinem Hochzeitstage in stummer Dankbarkeit die Hände drückte. Um den Blick, den er mir dabei schenkte, habe ich all das Leid, das meiner Tat folgte, tapfer getragen. Ein Jahr darauf ist er dahingegangen.

Sie wundern sich, daß ich mich nicht wieder frei mache oder für frei halte? Die Sache ist nicht so einfach. Scheidungsgründe gegen meinen Mann aufzutreiben, gelänge mir mit einiger Hinterlist wahrscheinlich sehr leicht und sehr rasch. Aber es kommt mir nicht in den Sinn. Ich verabscheue unvornehme Mittel. Und aus freien Stücken läßt er mich nicht los. Überlegen Sie einmal, was ich Ihnen sage! Es ist nichts Überspanntes dabei. Wenn eine Frau einem ungeliebten Mann folgt, gleichgültig warum, so verzichtet sie damit auf die Liebe um der Liebe willen. Sie hat sich verkauft. Das klingt hart, häßlich, gemein. Aber Sie kennen das Motiv in meinem Falle. Gerade weil dieses Sich-verkauft-haben, sagen wir: sanktioniert ist, muß es eine ehrliche Sache bleiben. Gerade auf meiner Seite. Es wäre niedrig, brächte ich es fertig, den Käufer hinterher zu betrügen. Ich werde es niemals tun. Und dies steht gewiß immer in meiner Macht.

Bin ich Ihnen durch mein Bekenntnis wiederum ein wenig näher gekommen? Sicher vermuteten Sie, daß mich irgendein ähnlicher Beweggrund in meine unglückliche Ehe geführt hat. Wie hätten Sie sich sonst mit der Tatsache abfinden können, daß ich eine Ehe ohne Liebe eingegangen bin?

An mein Töchterchen wird das nämliche Unglück nicht herantreten. Nach meines Vaters Tod ist uns eine unerwartete beträchtliche Erbschaft zugefallen. Schließlich ist Sophie durch ihres Vaters Reichtum gesichert. Das gibt mir Ruhe. Sie scheint, soweit ich das an einem Kinde beurteilen kann, übrigens einen Fehler meines Vaters geerbt zu haben: den Hang, zu verschwenden aus Herzensgüte.

Sie sagen mir. Sie lieben mich zärtlich. Ich bin über Ihre Freimütigkeit glücklich. Damit sind Sie aber heilig verpflichtet, mir auch alles andre anzuvertrauen, was Sie bedrückt oder beglückt. Denken Sie an die zwei, die zusammengehen wollen! Als erstes wollen wir mutig die Feindseligkeiten, die Sie bedrohen, gemeinsam in der Front angreifen!

Ihre Agathe

Ich muß zum Zahnarzt. Darum bleibe ich weitere zwei Tage in Dresden. Machen Sie sich bereit, mit nach Steinbach zu kommen, und entscheiden Sie sich, bitte, auf der Stelle!


Georg an Agathe

4. Juli

Ihr gütiger lieber Brief hat mir über alles wohl getan. Von jeher sind Sie mir wie ein himmlisches Wesen erschienen.

Ich wüßte kein größeres Glück, als mit Ihnen auf das Land zu gehen, aber in diesem Augenblick wage ich es nicht. Ich erkläre Ihnen mein Verhalten gelegentlich. Tragen Sie mir mein Fernbleiben nicht nach! Es wäre Unrecht von Ihnen.


Agathe an Georg

Den 5. Juli.

Mein liebster Freund!

Sie sind wirklich der schrecklichste Zauderer, den ich kenne. Kommen Sie wenigstens in ein paar Tagen nach! Der Landaufenthalt wird Sie in jedem Fall aufheitern. Die Sonne wird Sie wieder gesund und lebensfroh machen. Malen Sie sich einmal aus, was für tausend kleine Freuden das Leben in der freien Natur für uns beide bedeutet. Denken Sie an die Morgenritte, an das frische Grün des Waldes, an den Duft der Lupinenfelder, an die Fernsicht bis ins unendliche Blau des Horizonts, an die hier wunderbar kühlen langen Abende! Alles das und das ganze Haus wartet auf Sie. Kommen Sie!

Wir reisen morgen, Mutter, Sophie und ich. Meine Landsehnsucht ist ungeheuer. Vollenden Sie mein Glück, indem Sie recht bald nachkommen! Ich verbürge mich. Sie werden sich grenzenlos wohl fühlen, wenn Sie einmal eine gründliche Abwechslung in Ihr Leben bringen.


Georg an Agathe

20. Juli.

Ich stehe noch gänzlich im Banne der Schönheit Ihres Landsitzes. Das ist das prächtigste kleine Schloß, das ich kenne. Und jetzt verstehe ich alles an Ihnen: die feierliche Grandezza, die Sie an sich haben, Ihre Treue und Liebe zum Alten und Hergebrachten. Und vor allem verstehe ich das Opfer, das Sie Ihrer Familie gebracht haben. Verzeihen Sie, daß ich daran auch nur leise zu rühren wage. Es geschieht in Verehrung Ihres Wesens und Ihrer Willenskraft. Ehedem war ich trotz meines Offiziersrockes in vielen Dingen ein Verächter des Herkömmlichen. Ich habe den Ideen großartiger Neuerer gern Gehör gegeben. Voll Begeisterung hätte ich selber ein Rebell sein mögen. Allmählich aber erkannte ich die Schwerfälligkeit der Massen, die Vorherrschaft des Mittelmäßigen und die Urnotwendigkeit einer kraftvollen Oligarchie. Es genügt für ein Volk, wenn seine Führer höhere Menschen sind. Dann ist das Ganze tüchtig und achtenswert in aller Welt! Volle persönliche Freiheit tut nur dem höchsten Kulturmenschen gut. Und in dem Einen gebe ich Ihnen gänzlich recht: die Frau muß das konservative Element in jedem Volke, in jeder Familie sein. Gerade das ist das untrügliche Zeichen der Gesundheit einer Nation. Die Männer mögen Throne stürzen, wenn sie sich davon glücklichere oder freiere Zeiten versprechen! Aber die Frauen, selbst die des vierten Standes, müssen am Alten festhalten, und zumal, wenn alles wankt. Wehe dem Volke, das so wenig wahre Männer hat, daß es einer Charlotte Corday oder einer Jeanne d'Arc bedarf! Ich bin gewiß einer der größten Frauenverherrlicher, aber die sozialistischen Führerinnen erinnern mich immer an die Fischweiber von 1793.

Meine anbetungswürdige altmodische Freundin, ich danke Ihnen für die glückseligen, unvergeßlichen Tage, die ich im Verein mit Ihnen, Ihrer lieben Frau Mutter und Sophie verlebt habe! Wie tröstlich ist es für mich, daß ich Ihnen nun in Gedanken in alle Winkel Ihres herrlichen Gutes folgen kann. Für romantische Naturen meiner Art ist es ein Bedürfnis, den Umkreis genau zu kennen, in dem ein geliebtes Wesen lebt und wandelt. Jetzt sehe ich Sie in einem richtigen Bilde vor mir: Sie schreiten nachdenklich und langsam die Freitreppe des Hauses nach dem Garten hinab. Sie gehen den senkrecht wegführenden Hauptweg hin, zwischen den alten verschnittenen Hecken, und dann bleiben Sie am Ende dieses langen, wohlgepflegten Weges stehen, wo er sich zu dem halbkreisrunden Platz mit den schönen Steinbänken erweitert. Tief zu Füßen der Gartenmauer zieht langsam der dunkle Fluß dahin, und Ihr sinnender Blick verliert sich jenseits in den weiten grünen Fluren, die in blaßgrauer Ferne vor dunklen Laubwaldstücken enden.

Wie oft haben wir da zusammen gesessen, während Sophie munter den Schmetterlingen nachjagte!

Und unsere Morgenritte! Sie auf Surprise, dem schönsten aller Schimmel, und ich auf dem festen alten Braunen des Inspektors. Darf ich es sagen? Im Reitkleid sind Sie die schickste aller Frauen! Und der runde Hut gibt Ihnen einen leisen Ton reizendster Schelmerei.

Schelten Sie mich nicht aus!


Georg an Agathe

4. August.

Meine liebe Freundin!

Sie lassen mich ohne jede Nachricht. Seit meiner Abreise von Steinbach keinen einzigen Brief! Warum? Es gibt für mich nichts Betrübsameres, nichts Qualvolleres als Ihr Schweigen. Sind Sie für mich gestorben? Zürnen Sie mir?

Seit ich Ihrem Lebenskreise wieder fern bin, fühle ich mich unglücklich und elend. Um mich zu zerstreuen, versuche ich allerlei Arbeit im Reiche der Gedanken. Aber immer wieder entfliehen mir meine seelischen Kräfte. Ich weile im Geiste in allen Augenblicken meines Lebens bei Ihnen.

Und denke ich an Sturm und Streit und Streben,
An meiner Jugend Wandern dort und hier.
So ist mir oft: Es war mein ganzes Leben
Ein stiller unbeirrter Weg zu Dir!


Agathe an Georg

Steinbach, den 6. August.

Lieber Freund!

Dank für die Verse Ihres lieben Börries von Münchhausen!

Warum ich schweige?

Weil Sie mir das Herz schwer gemacht haben! Erinnern Sie sich, bitte, an zwei Augenblicke! Wir saßen auf einer der alten Steinbänke, die Sie in Ihrem vorletzten Briefe erwähnen. Sie, Sophie, ich. Wo die weite Ebene im Horizont verfließt, ging die Sonne unter. Der Himmel war märchenhaft bunt. Purpurn berührte sein Saum das Blau der Erde. Violett darüber, dann blau, graublau, grau, in der Höhe immer matter. Ein Vogel schwebte in das luftige Farbenmeer hinein. Fast schien er sich im Himmel zu verlieren. Meine liebe kleine Sophie folgte mit verwunderten Augen dem leichten Fluge, und plötzlich rief sie jubelnd aus: Onkel Georg, ich glaube, der Vogel will den Himmel küssen!

Entsinnen Sie sich, wie Sie die Kleine faßten und so leidenschaftlich küßten, daß sie sich Ihnen entwand und erschreckt zu mir flüchtete? Und Sie! Sie lieber törichter Freund, Sie flüsterten fassungslos: Ich habe Dich so lieb!

Ein paar Abende darauf sang ich Ihnen Lieder von Franz Schubert vor, und nach jedem baten Sie leise: Mehr! Als ich aufhörte, da weinten Sie. Niemals sind Sie mir so schwermütig und einsam erschienen wie an jenem Abend. Ich war aufgestanden, lehnte am Flügel und wollte Ihnen ein Trostwort sagen. Ich fand keins. Und zu Ihnen hinzugehen, das wagte ich nicht. So tat ich nichts. Währenddem schritten Sie langsam durch die mittelste Glastür auf die Terrasse hinaus und in den Garten, den das blaue Sternenlicht durchflutete. Ach, es war nicht recht von mir, Ihnen nicht wenigstens stumm die Hand zu drücken, als Freundin und Schwester, die ich Ihnen bin und immer bleiben möchte. Seitdem lastet eine Schuld auf mir. Ich habe Ihnen so unsagbar viel zu danken. Ich fühle mich dem Leben wiedergegeben, seitdem Sie meine Seele hegen und pflegen. Und ich war undankbar und fremd zu einer Stunde, da Sie voll Leid waren! Indem ich mich dieses Augenblicks erinnere, kommt mir eine schöne Stelle aus dem 39. Sonett der Elisabeth Browning in den Sinn:

Lehre mich die Kraft
zur Dankbarkeit, die Deiner Güte gleicht!

Den 7. morgens.

Gestern abend habe ich Ihnen nicht alles gesagt, was ich Ihnen sagen wollte, um mein langes Schweigen zu erklären. Warum bin ich Ihnen an jenem Abend fern geblieben? Warum? Ich fühle mich nicht frei. Sie haben mir meine Sicherheit, mein Gleichgewicht genommen. Ich sehe meine eigene Innenwelt nicht mehr klar. Ich bin mir selbst fremd geworden, aber ich bitte Sie von Herzen, mein verstehender lieber Freund: harren Sie geduldig, bis ich mich wieder gefunden habe!


Georg an Agathe

8. August.

Geliebteste,

so ist die Stunde gekommen, die ich mit meiner ganzen Willenskraft bis heute immer wieder in die dunkle Zukunft gedrängt habe. Ich lebte in einem törichten Wunsche und litt an diesem Wunsche wie an einer Krankheit. Ich wartete, ich weiß nicht, auf welche glückliche Gelegenheit, Ihnen zu beteuern, daß ich Ihnen bis zur Selbstvergessenheit zugetan bin, daß Ihnen mein Ich, mein Denken und Fühlen, mein ganzes Leben unwiderruflich gehört. Ich ersehnte mir die Stunde, und doch war ich in Angst und in Bangen, das Nahen dieses Augenblicks durch eine Unzartheit zu beschleunigen, durch eine leise, die leiseste Unzartheit. In diesem seltsamen Zustand die wundervollste Einsamkeit mit Ihnen zu teilen, in den glückseligen Tagen auf Ihrem Gute, das ging beinahe über meine Kraft. Nur die Angst, daß ich Sie verlieren könnte, wenn ich spräche, diese qualvolle Angst schloß mir den Mund. Ach, unsre köstlichen purpurnen Morgen und die blauen Dämmerstunden! Von stillen Wonnen umschmeichelt, glühte in mir das wildeste Fieber der Ungewißheit. Ich harrte irgendeines stummen Zeichens irgendeines Wortes in einer mir selbst unbekannten Sprache. Und jetzt ist es mir, als hätte Ihr geliebter Mund das Wort gesagt, als hätte Ihre liebe Hand das Zeichen gegeben. War das bloß ein Traum, der sich nie erfüllen soll?

Ich liebe Sie, Agathe, Ihre klaren Augen, Ihr harmonisches Wesen, Ihre Stimme, Ihre Mienen, alles an Ihnen. Wenn Sie zu mir sprechen, bin ich verzaubert. Wenn ich Sie gehen sehe, ergreift mich der Rhythmus Ihres Ganges bis in die feinsten Nerven. Wenn Sie mich anblicken, geht mein Ich in das Ihre über. Wenn Sie mir Ihre Hand reichen, muß ich mich mit aller Gewalt zurückhalten, Ihnen nicht an die Brust zu sinken. Ihre Erscheinung, Ihr Gedankenkreis, Ihre Gefühlswelt wirkt wie der stärkste Magnet auf mich. Alle meine Wege führen mich immer nur zu Ihnen. Ihre Fürsorge um mich, so voll keuscher Zärtlichkeit, ist meine reinste, höchste Freude.

Was soll ich noch sagen, ohne in den Überschwang eines Dichters zu verfallen? Ich liebe Sie, Agathe. Ich sehne mich nach Ihren süßen Lippen.

Stoßen Sie mich nicht zurück in das Nichts, aus dem Sie mich gerettet haben! Seien Sie barmherzig! Ich werde immerdar so sein, wie Sie mich haben mögen, aber lassen Sie mich nicht in der Qual des Schweigen-Müssens. Hören Sie mich gütig an! Schenken Sie mir Ihre Nähe! Ich kann ohne Sie nicht leben.


Georg an Agathe

8. August abends.

Geliebte Agathe,

der Brief ist fort, der andre Brief, der mir entweder mein Lebensglück schafft oder es auf immerdar zerstört. Fast bereue ich es, ihn abgesandt zu haben. Was habe ich vollbracht, was ist an mir besonders Gutes, Schönes oder Großartiges, das mich Ihrer Liebe würdig macht? Sehr wenig.

Ich muß mir alle Gewalt antun, um einigermaßen die Ruhe zu bewahren vor mir, vor meinem Diener, vor allen, mit denen ich unvermeidlich in Berührung komme.

Sie sind mir die Herrlichste und Edelste aller Frauen. Keine ist so schön wie Sie, keine so anmutig, so herzlich, so anteilsvoll, so anbetungswürdig! Es ist eine seltsame Liebe, die ich zu Ihnen hege, eine sonderbare Mischung von Verehrung und Leidenschaftlichkeit. In meinem Herzen stürmt es vor Begehren, und wenn ich vor Sie hintreten sollte, wäre ich zaghaft und schüchtern wie ein kleiner Junge. Das Gehirn glüht mir. Meine Gedanken sind wirr und toll.

Seit ich Ihre Freundschaft besitze, fühle ich mich um zehn und noch mehr Jahre jünger. Ich war voller Resignation und Gleichmut. Ich war das. Jetzt aber schaue ich auf mein vergangenes Leben ganz anders zurück. Eine Menge Erlebnisse und Erfahrungen darin sind mit einem Male getilgt, verschwunden, vergessen. Ein neues warmes sonniges Licht fällt auf die Dinge. Frischer Lebensmut durchströmt mich, und wenn ich in dieser Abendstunde in Zweifel und Schwermut vor mich hingrüble, so ist es doch nur ob der Ungewißheit. Wenn ich an Ihre Güte und Ihr Vertrauen zu mir denke, an Ihre Augen voll Zuneigung und Teilnahme, dann ist es mir, als hätte ich Ihr Ja, als schritte ich im Schutz eines gütigen Sternes dem Glücke unverirrbar entgegen.


Agathe an Georg

Steinbach, den 9. August.

Was für Briefe! Sie erschüttern mir das Herz. Vor allem danke ich Ihnen für Ihren Freimut. Unsre Freundschaft gibt Ihnen das Recht dazu. Wir dürfen unverhüllt zueinander reden. Wir müssen es sogar.

Mein lieber Freund, Sie sollen durch mich nicht länger leiden. Meine Gegenwart würde Ihnen täglich neue Qualen bereiten. So bleibe ich denn hier auf dem Gute. Den Rosenhof will ich erst wieder sehen, wenn Sie mir geschrieben haben, daß Sie genesen sind. Lassen Sie mich nicht zu lange in der Verbannung !

Bester Freund, Sie begehren meine Liebe. Wäre sie in mir, ich schenkte sie Ihnen in innigster Freude. Aber es lebt nicht Liebe in mir. Nicht eine solche, wie Ihr Herz sie ersehnt. Mit diesem ehrlichen Geständnis bereite ich Ihnen eine Enttäuschung. Ich weiß es, und es tut mir weh. Und mehr noch. Wir müssen uns trennen. Setzten wir unser freundschaftliches, mir so lieb gewordenes Zusammengehen fort, so würde ich wohl alles versuchen, Ihnen darüber hinwegzuhelfen, aber Sie würden vielleicht wähnen, ich liebte Sie doch. Wer weiß auch, wohin mich Ihre Beteuerungen am Ende führen? Wie dem auch wäre, mein lieber Freund, es wäre nicht Liebe. Es wäre Mitleid oder Schwäche. Damit aber dürfen Sie sich nicht begnügen. Es wäre Ihrer unwürdig.

Glauben Sie mir, ich bin stolz darauf, daß Sie mich lieben. Ihre Liebe adelt mich. Seien Sie gerade deshalb großherzig und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen jetzt Leid zufüge. Nichts in der Welt fällt auch mir schwerer als unsere Trennung. Eine Trennung vielleicht nicht für immer. Auf wie lange? Ich weiß es nicht. Bei Ihnen liegt die Entscheidung, ob wir bald oder nie wieder die alten treuen Freunde werden.


Georg an Agathe

10. August.

Agathe, seien Sie nicht so grausam und herzlos! Verlassen Sie Steinbach und kommen Sie! Oder rufen Sie mich! Wir müssen uns sehen, uns aussprechen. Es ist mir unbegreiflich, daß Sie mich so mit kalter Entschlossenheit aus so nüchternen Verstandsgründen von sich stoßen. Ich verstehe das nicht und kann nicht glauben, daß Ihnen dies Ihr Herz befiehlt. Wenn Sie so rasch auf unsern Bund verzichten, so muß mir der Gedanke nahe kommen, ich sei Ihnen nichts gewesen als der Zeitvertreib leerer Stunden. Es ist mir unmöglich, das zu glauben.

Ich klammre mich in meinem Lebensüberdruß an unsre gemeinsamen Erinnerungen, und Sie lassen all das gleichmütig hinsterben. Ich komme über meinen bittern Schmerz darüber nicht hinweg. Ich möchte Ihnen alles sagen, was mich bewegt, aber davon zu schreiben, habe ich keine Kraft. Ich bin in die tiefste Schwermut versunken.

Nachschrift: Um etwas Ruhe zu finden, lese ich – alter Gewohnheit gemäß – im Plutarch. Noch nie hat mich wie in dieser einsamen Stunde jene Stelle im »Kleomenes« gerührt, wo der Held, aus der verlorenen Schlacht heimgekehrt, auf ein paar Augenblicke in sein Haus kommt, um es dann auf immerdar zu verlassen. Jeden Zuspruch, jede Teilnahme stumm abwehrend, steht er da, in voller Rüstung, die Hand an einer Säule, das Gesicht an den Arm gedrückt, in Erinnerungen verloren – und alsbald schreitet er schweigsam in die Fremde, ohne Hoffnung und ohne Heimat ...

Soll es mir ebenso ergehen?


Agathe an Georg

Steinbach, den 11. August.

Lieber Freund!

Ich mache mir ernste Vorwürfe. Ich hätte es fühlen und sehen müssen, daß meine zärtliche Fürsorge eine Gefahr für Sie war. Aber ich war blind. Ich bemerkte an Ihrer wachsenden Zuneigung nichts als immer nur Kameradschaft und geschwisterliche Liebe. Ich blickte zu Ihnen auf wie zu einem älteren Bruder. Ich fühlte mich sicher und geborgen. Sie waren der Meister, ich der Jünger.

Jetzt sprechen Sie von Liebe und Leidenschaft. Ach, Sie ahnen nicht, wie schwer mir mein Herz nun geworden ist!

Sie wissen: ich bin nicht frei. Was Sie verlangen, wäre Ehebruch.

Und selbst wenn ich frei wäre, – ich habe es Ihnen schon einmal schmerzensvoll gesagt: ich habe kein Recht auf Liebe um Liebe!

Dringen Sie nicht weiter in mich! Ich bitte Sie darum. Auch zu unserer lieben alten Freundschaft habe ich nicht mehr den Mut in mir. Jedes Weiterspinnen unserer Beziehungen wäre wie ein stillschweigendes Eingehen auf Ihre Werbung. Das widerstrebt meinem Ehrgefühl.

Mußten Sie uns unseren Frieden nehmen? Hätten Sie doch lieber geschwiegen!


Georg an Agathe

12. August.

Ich soll Sie verlieren? Ein langer Zug verwehter goldner Stunden zieht trauernd an mir vorüber. Sie haben so viel vergessen!

Sie hielten mein ganzes Ich gefangen und haben es selbst nicht gewußt? Absichtslos haben Sie alle Reize Ihres Wesens, Ihrer Erscheinung, Ihrer Seele, Ihres Herzens entfaltet. Ahnten Sie nie, wie mich Ihr gütiges Lächeln bestricken mußte, Ihre zärtlichen Worte, gewisse Ihrer Eigentümlichkeiten, zum Beispiel Ihre Art, einen Satz mitten im Flusse der Rede zu unterbrechen und ohne Ende zu lassen, und hundert andre kleine, dabei so bedeutsame Dinge? Oft habe ich die Unnterströmungen Ihrer Gefühlswelt zu spüren vermeint, die dunkel und geheimnisvoll, Ihnen wohl selber unergründlich sind. In solchen Augenblicken hatte ich die Empfindung, Sie seien mir ganz nahe. Ach, in welch rätselhaften Fernen verbergen Sie sich jetzt!

Soll das alles vorüber sein? Agathe, es wäre nicht auszudenken! Ich sehne mich leidenschaftlich nach Ihnen. Ich ertrage Ihren Verlust nicht. Ich liebe Sie über alles in der Welt.

Kommen Sie zurück!


Agathe an Georg

Steinbach, den 13.

Ihre Beharrlichkeit verwundet mein Herz. Ich fühle mich seelisch wie körperlich krank. In den schlummerlosen Nächten grüble ich darüber nach, wie ich mich Ihnen gegenüber verhalten soll, ohne Ihnen und mir weh zu tun.

Wenn ich sage: Ich liebe Sie nicht! – so lassen Sie das einfach nicht gelten. Ich bin nahe daran, zu glauben: Sie lieben mich nicht!

Gewiß werden Sie nun mit dem ganzen Rüstzeug Ihres Geistes, Ihrer Logik, mit tausend Gründen der Selbstkenntnis und Selbstunkenntnis dagegen protestieren; immer mit der Folgerung: Folglich liebe ich Sie!

Und doch lieben Sie mich nicht! Nicht meine guten Eigenschaften, nicht meine Fehler, nicht mein Wesen, nicht mich, wie ich in der Wirklichkeit bin, – nein, Sie lieben mich, wie mich Ihre Vergötterung sieht, von Reizen und Vorzügen erhöht, die mir nicht eigen sind. Als wir uns zum ersten Male begegneten, war Ihr Herz gerade liebeleer. Sie brauchten eine Göttin. Vielleicht hatten Sie eben eine große Enttäuschung erlebt. Ihre Sehnsucht fand mich, und die Kristallisation Ihrer Liebe begann. Sie hatten süßen Genuß an unserem Beieinander. Sie erlebten die Freude, einen Menschen entdeckt zu haben, der Sie verstand, zum mindesten Sie zu verstehen suchte. Sie sehnten sich in dieser Welt von Heute, die Ihnen zu hastig, zu friedlos, zu materiell gesinnt ist, nach einer Insel der Romantik. Die fanden Sie in mir und meiner stillen Umgebung. Aus Schwärmerei ward Leidenschaft. Die Mischung von Werthertum und Donjuanerie in Ihnen forderte in beiden Extremen ihre Rechte.

Wie ging es mir aber mit Ihnen? Ich erkannte Ihre unausgenützten guten Fähigkeiten, Ihre brachliegenden Lebenskräfte, die Schönheit Ihrer einsamen Seele. Und ich, die ich auch einsam war, sah eine wunderbare Aufgabe darin, Sie Ihrer Tatenlosigkeit und Verträumtheit zu entziehen. Sie sollten ein ganzer Mann werden, eine vollendete Persönlichkeit. Ich wollte Ihnen ein festes Lebensziel suchen helfen, Sie zu Arbeit und Erfolg führen. Und was habe ich erreicht?

Viele Männer sind aus Liebe zum Höchsten fähig. Zu diesen Naturen gehören Sie wohl nicht. Sie werden nicht aus Liebe zu einer Frau schaffensfroh, tatenlustig, titanisch. Gewiß werden Ihre Kräfte wärmer, inniger in der Liebe, aber sie steigern sich nicht. Sie sind überhaupt eine die Anderen stark anregende, aber keine selbstschöpferische Natur. Sie sind ein Meister der Anpassungsfähigkeit. Ich kenne niemanden, der sich so schnell und so restlos in die Seelen, in das Leben, in die Werke Anderer hineinfühlt wie Sie. Mit dieser Gabe sind Sie wahrhaft vorbestimmt zur Freundschaft im allerhöchsten Sinne. Das war es, warum ich Ihnen vom ersten Augnblicke an Gefolgschaft leistete. Ich war fast eitel auf Ihre Zuneigung. Aber was Sie begehren, bin ich nicht. Ich liebe Sie nur auf meine Art.

Die Zeit wird Sie bald wieder gesund machen. Sie sind ein Weltkind. Die Liebe hat wohl bisher keine hervorragende Rolle in Ihrem Leben gespielt. So wird auch Ihre jetzige Leidenschaft wieder zusammensinken. Das Heitere und Sonnige in Ihrem Wesen wird die Melancholie besiegen. Im Grunde sind Sie eine beschauliche Natur, nicht für die großen Leidenschaften geschaffen. Das hat Sie nur vorübergehend gepackt. Eines Tages werden Sie abermals zu mir kommen: gesund, lebensfroh, gütig, in beneidenswertem Gleichgewicht, verführerisch spielend mit allen sehnsüchtigen Herzen, ein Weltmann der prächtigsten Art. Und wir werden der Gesellschaft das seltene Beispiel einer leidenschaftslosen Freundschaft zwischen Mann und Frau geben. Der göttliche Zauber einer solchen Freundschaft wird uns dann alle beide bis ans Ende unsrer Tage unwandelbar beglücken.

Wollen wir dieses Ideal nicht zusammen erringen?


Georg an Agathe

14. August.

Wie können Sie an meiner Liebe zweifeln? An meiner Liebesfähigkeit? Zweifeln Sie an allem, was in mir webt und lebt, aber zweifeln Sie nicht daran!

Ich liebe Sie von ganzem Herzen. Ich lege Ihnen meine zärtlichste Verehrung zu Füßen, mein ganzes Ich. Sie lieben dürfen, ist für mich voll leben können. Wenn Sie mich auch nur in Freundschaft gern mögen: denken Sie doch daran, daß es für eine Frau nichts Köstlicheres gibt, als geliebt, über alles geliebt zu werden! Sind Sie darob nicht glücklich?

So jung Sie noch sind, die Enttäuschungen, die Ihnen beschieden, waren schwer. Sie erwarteten vom Leben nicht mehr allzuviel. Sie waren voll milder Entsagung. Und nun kommt Ihnen auf Ihren Lebenspfad die treueste und innigste Liebe eines Mannes, der – ich bin unbescheiden – beträchtlich über oder wenigstens fern den Alltagsmenschen hinpilgert. Wir verstehen uns in seltsamem Einklang. Ich bringe Ihnen meine Liebe, meine erste große Leidenschaft. Und da wenden Sie sich von mir? Soll es gerade die Liebe sein, die uns auseinanderzugehen befiehlt? Wollen wir das Glück so vieler Tage und Stunden eigenwillig und grausam zerstören? Wollen wir uns hochmütig dem Schicksal entgegenstellen, das uns einen will?

Agathe, wir gehören zusammen. Entziehen Sie sich mir nicht länger! Kommen Sie rasch zurück!


Georg an Agathe

15. August.

Einzige,

niemals, solange ich lebe, werde ich die glückseligste Minute meines Daseins, gestern abend, im Garten des geliebten Hauses am Berge, je vergessen. Es war nicht die Manneskühnheit, die mich Dich an mich ziehen ließ. Mit bewußtem Willen hätte ich niemals den Mut dazu gehabt. Mit Deinem zitternden Küssen hast Du mir verziehen. Ich bin namenlos glücklich.

Ich durchlebe diese Minute immer wieder. Über uns die rauschenden Kastanien. Vor uns die mondbeglänzte Balustrade. Drüben der Strom mit den tausend Lichtern. Wie Schildwachen unsres Glücks! Als ich von Dir gegangen war, im Halbtraume, habe ich noch lange auf der Bank der Aussichtswarte an der Straße gesessen und innigst Deiner gedacht. Du kennst ihre einsame Lage, auf der halben Höhe. Mir zur Linken, nicht allzu fern, schimmerte ein Licht über den dunklen Wipfeln der dazwischenliegenden stillen Gärten: das Licht Deines Zimmers. Als es zehn schlug, bin ich langsam hinabgeschritten. Und dann zu Hause, in meiner stillen Klause, habe ich bis spät in die Nacht hinein geträumt, immer von Dir und Deinem geliebten Wesen. Tränenden Auges sage ich mir wieder und wieder, daß ich glücklich bin, weil ich wieder weiß, warum und für wen ich lebe. Auf der ganzen weiten Welt habe ich niemanden, der mein Herz wirklich kennt, es wärmt, füllt, durchsonnt, – nur Dich, meine Geliebte. Ich weiß, ich fühl es, daß ich Dir dankbar, treu, ergeben bleibe bis an das Ende meiner einsamen und nun nicht mehr einsamen Tage.

Ich danke Dir für Deine Liebe! Du sollst nichts an mir haben denn Freude Dein Leben lang!


Agathe an Georg

Den 16. August.

Liebster Freund!

Ich bin geflohen, ich weile fern von Ihnen und habe meine Zuflucht zur Einsamkeit genommen. Ich habe mich vor mir selber gerettet.

Lassen Sie mich, mein liebster Freund! Das Herz will mir brechen. Ich weiß nicht, ob ich es ertrage, Sie zu verlieren.


Georg an Agathe

Zürich, 20. August 1910, 12 Uhr nachts.

Gnädige Frau,

es wäre sehr ungeschickt von mir, wenn ich der Anlaß bliebe, daß Sie die von Ihnen so geliebte Stadt meiden. Beenden Sie Ihr Exil! Die Gesellschaft, die Sie doch ein wenig beachten müssen, würde sich über Ihre plötzliche Abreise nach Ihrem Gute und über einen längeren Aufenthalt daselbst wundern.

Ich habe Dresden verlassen und gedenke ein paar Wochen in der Schweiz zu bleiben und dann bis tief in den Winter hinein an den Lago di Garda zu gehen, den ich so sehr liebe, wie sie wissen. Was sollte ich länger an der Elbe?

Als ich heut in der Morgenfrühe von Lindau nach Romanshorn hinüberfuhr, über die wunderbar frisch und stahlblau blinkende Wassermasse des Bodensees, und mein Blick den ersten Gruß der fernen Schneegipfel erhaschte, da habe ich Ihrer sehnsüchtig gedacht. Stendhal sagt, den Liebenden erinnere jede Linie einer schönen Landschaft an die Eine. Bei all meinem Schmerze ist mir die Welt niemals schöner, heiliger, symbolischer erschienen als diesen Morgen. Nur in der Anbetung der Natur kann ein armseliger Mensch sein Leid ertragen. Freilich, ein paar Augenblicke nach diesem erhabenen Momente eines überirdischen Trostes war ich wieder tieftraurig und grenzenlos unglücklich.

Um mich auf andere Gedanken zu bringen, hab ich den Nachmittag im Lesesaal der Stadtbibliothek verbracht. Ich habe mir Urhandschriften von Schweizer Dichtern vorlegen lassen: von Gottfried Keller und von Heinrich Leuthold. Von Keller den Grünen Heinrich. Aus seinen Schriftzügen guckt der ganze Mensch, kratzbürstig und unzugänglich!

Dann auf dem Gange durch die Stadt hab ich mir Leutholds Gedichte gekauft. Am See, unter den schattigen Bäumen, ein Stündchen über dem Wohlklange seiner Lieder geträumt.

Die Grundstimmung vieler seiner Gedichte ist der ähnlich, in die ich mich verloren habe. Ähnlich, nicht gleich. Die Ungleichheit beruht auf meiner ganz anders gearteten Natur. Leuthold war ein zerfahrener und zerrissener Mann, ohne Selbstkenntnis und Selbstzucht. Sein Lebensgang ging dauernd abwärts. Die schlimmsten und häßlichsten Dinge davon kennen wir zum Glück nicht. Einen ehrlichen Biographen hat er ja nicht gefunden. Der Unselige war weit entfernt, gerade im Unglück durch die Abstreifung aller weltlichen Eitelkeit und Hoffnung mit sich einig zu werden und damit menschlich auf einen Gipfel zu kommen ...

Agathe! Zum letzten Male:

Ich küsse Ihnen die geliebten Hände.
Ich liebe Dich!


Georg an Agathe

Im Garten der Villa Brenzone, San Vigilio, am 15. November.

Sie haben mir auf meinen letzten Brief aus der Schweiz keine Antwort gegönnt. Es hat mich übrigens nicht lange dort gehalten. Ein wunderschönes Land; nur die Leute, die es bewohnen, mißfallen mir mitunter. Ein rauhes Volk. Diesmal empfand ich das stärker denn je. Und so bin ich nach meinem über alles geliebten Tirol geflohen. Dort haben die alten Römer ihre Courtoisie zurückgelassen. Sechs Wochen in Bozen. Goldne Herbstsonnentage. Süße Elegien für ein einsames Herz. Jetzt verträume ich meine Tage am Gardasee. Etwas wie sanfter Friede hat in meiner Seele Einzug gehalten, der Friede der Resignation.

Im Limonenhain, da ich Ihrer in dieser stillen Dämmerstunde gedenke, hat im Cinquecento ein vornehmer Einsiedler gehaust, der Dottore Agostino Brenzone, ein Freund geistvoller Männer, eine der kontemplativen Naturen der sonst so tatenlustigen Renaissance. Seine heute verschollene Schrift »Von der Einsamkeit« ist hier entstanden. Und in einem Winkel des Haines steht in einer halbverfallenen Nische eine nach antikem Vorbilde geschaffene Aphrodite. Hier hat der Dottore verlorenem Glück geopfert. Die Inschrift am Sockel seiner Liebesgöttin verrät es uns:

Mortuus obliviscar Flaviae

Zu deutsch: Nur im Tode werde ich die Herzliebste vergessen!

Es gibt keinen Ort Europas, der sich durch seine klassische Schönheit, seine erhabene Einsamkeit und seine romantischen Erinnerungen mehr dazu eignet, um verlorene Liebe zu trauern,als der Träumerwinkel von San Vigilio. Saß nicht schon vor zwei Jahrtausenden drüben am felsigen Gestade von Sirmio, dem »Augenstern aller Inseln«, Catull und sang seine besten Lieder im Schmerz um eine ferne schöne Römerin? Die weitläufigen Ruinen einer Therme tragen im Volksmunde noch heute den Namen: Villa Catulls. Wenn man die kleine grüne Halbinsel betritt, bestürmen einen die lauten Dorfjungen, die Grotta di Catullo zeigen zu dürfen.

Umschmeichelt von den Wundern dieses göttlichen Sees, bin ich ihm doch oft in meiner Seele fern, zumal in allen Abendstunden, wenn von drüben das Ave Maria über seine purpurne Flut ruft.


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