Arthur Schurig
Seltsame Liebesleute
Arthur Schurig

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Drittes Buch


Georg an Agathe

15. August 1912.

Liebste Agathe,

nochmals muß ich Ihnen von ganzem Herzen Dank sagen für die beiden glückseligen Wochen, die ich in Steinbach verlebt habe. Ich bin dort glücklich gewesen, glücklicher als ich es mir erträumt hatte. Jeder einzelne Tag, jede Stunde, jedes einzelne kleine Geschehnis, alles steht frisch und lebendig vor meinen Augen.

Und merkwürdig, ich verdanke an sich unbedeutenden kleinen gemeinsamen Erlebnissen unvergängliche Eindrücke und unvergeßliche Erinnerungen. In gewissen Augenblicken war ich eins mit Ihrem Ich, vielleicht oft gerade, wenn Sie nicht das nämliche empfanden.

Erinnern Sie sich eines Morgens, als ich in Ihr Zimmer kam, ich glaube, um mir Briefpapier von Ihnen zu erbitten? Ihr Töchterchen war bei Ihnen. Sie hatten ein japanisches Morgenkleid an von gelber Seide, ein phantastisches Gewand, das Sie bleicher denn sonst machte und Ihr braunes Haar beinahe schwarz erscheinen ließ. Sie kamen mir vor wie eine Fee. Leicht und leise und langsam traten Sie mir entgegen und begrüßten mich. Ich solle ein wenig warten. Sie beschäftigten sich weiter mit Sophie, der Sie eine blaue Schleife ins blonde Haar banden, still, ohne etwas zu sagen, als ob Sie vergessen hätten, daß ich noch da war. Ich stand an das Brett des breiten offenen Fensters gelehnt und schaute Ihnen zu, ebenfalls stumm, versonnen, verloren in die Unbewußtheit des Augenblicks. Ich freute mich Ihrer Bewegungen, der Linien Ihrer Gestalt, des Lichtes, das Ihre Silhouette umfloß, des leisen Knisterns der bunten Seide – so recht nach Herzenslust. Und Sie, Sie hatten mich wirklich vergessen!

Sie können nicht ahnen, wie unsagbar glücklich ich in dieser Stunde gewesen bin. An ähnlichen Freuden waren jene vier Wochen so reich, und diese stillen Wonnen waren tausendmal mächtiger als alles, was mir Ihr gütiger Sinn bewußt gewährt hat. Es gibt nichts im gemeinsamen Leben zweier Menschen, was solch namenlosen Genuß übertreffen könnte. Er scheint mir Musik von Seele zu Seele. Dagegen ist jede andre Liebkosung grob und gewöhnlich. Ich verstehe nur noch die traumhafte Liebe der Seele.


Agathe an Georg

Steinbach, den 17. August.

Lieber Freund!

Daß Sie für die Ihnen bewußt geschenkten Freuden dankbar wären, könnte man nach Ihrem Brief nicht gerade behaupten. Ich will aber großmütig sein und nichts dagegen haben, wenn Sie zugunsten der Freuden geringschätzen, die Sie sich, offenbar als hoher Meister in derlei Künsten, selbst zu schaffen pflegen.

Nicht ohne leise Ironie, die natürlich den gutmütigsten Kern hat (ich bin keine berufsmäßige Spötterin!), erkühne ich mich nur, an ein vergessenes Gespräch zu erinnern, das Herr Georg vor drei Jahren einmal in einer ebenso längst verwehten Stimmung mit Frau Agathe geführt hat.

Es behauptete damals der Vielerfahrene in Dingen der Liebe, nur dann könne man sagen, man habe wahrhaftig geliebt, wenn dabei drei Kräfte in vollem Einklang und frei zur Wirkung gelangt seien: Körper, Geist und Herz.

Ich habe die Empfindung, als stünden Sie heute an einem dem völlig entgegengesetzten Punkte. Die Jagd nach überfeinen Gefühlserlebnissen hat Sie von Ihrem einstigen Ideal sehr weit weggeführt. Vielleicht aber befanden Sie sich damals gar nicht mitten im Strahlenkreise Ihres Ideals, sondern weit darüber hinaus, am jenseitigen Pol Ihrer gesamten Gedankenwelt. Gestehen Sie! Auf welche Art haben Sie mich damals geliebt? Ich erinnere mich Ihres Wesens. Sie waren ehrerbietig und doch ungestüm und von einem Willen beseelt, von dem ich in Ihnen längst keine Spur mehr finde. Wenn Sie damals bei mir waren, empfand ich zuweilen Angst vor Ihrem nur leicht verschleierten Willen. Ich überließ Ihnen kaum die Fingerspitzen, aus Furcht, dieser Wille könne wild hervorbrechen und mich erfassen. Und wenn Ihre Augen leuchteten und wenn Sie flüsterten: Ich liebe Sie! – bin ich vor Ihnen geflohen, um brav zu bleiben, – und jetzt? Jetzt sagen und schreiben Sie diese einst so leidenschaft-durchlodernden Worte in jeder Stunde und in jedem Ihrer Briefe, aber so ganz anders, wie in abendlicher Kühle. Ich empfinde Freude am Klange dieser mich umschmeichelnden Worte. Aber ich höre Sie ruhig an; ich fliehe nicht mehr und habe kein bißchen Angst vor Ihnen. Wie könnte ich das auch, seitdem Sie mich auf einen Thron gesetzt haben, der so hoch über dem Erdboden steht, daß Sie gar nicht mehr mit Ihren Händen nach mir greifen können!

Sie lieben mich?

Wohin ist der Einklang der drei Kräfte?


Georg an Agathe

19. August.

Teuerste,

jetzt kennen Sie mich wirklich bis in den Grund meiner Seele. Sie wissen, was ich mir kaum selber zu gestehen wage. Ja, Agathe, einst habe ich Sie Ihrer unwürdig geliebt. Demütig bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe alles Recht auf Verzeihung, denn jene allzu irdische Liebe von einst ist längst der allerreinsten Verehrung gewichen. Ich bin voll Reue, daß ich Sie einst begehrt habe, wie man jede andere begehrt. Und doch, meine heutige schwärmerische Neigung war in der Wurzel schon damals da. Sonst wären wir niemals die Freunde geworden, die wir zu unserm Glücke sind.


Georg an Agathe

30. August.

Meine geliebte Freundin.

Warum dies lange Schweigen? Ich entsinne mich deutlich, in meinem letzten Briefchen Abbitte geleistet zu haben. Aber statt der erhofften Vergebung in trostreichen Worten strafen Sie mich mit Vergessenheit. Warum? Offenbar zürnen Sie mir. Sie sind unwillig über mich. Da ich nun weiß, daß Sie mir in Ihrer gewohnten Großmut doch schließlich verzeihen, sei es, was es auch sei, worüber Sie mir grollen, so bitte ich Sie, verzeihen Sie mir sofort! Sonst mache ich mich augenblicklich auf den Weg und eile nach Steinbach. Verzeihen Sie mir dann?

Im Ernst: ich könnte drei bis vier Tage bleiben, wenn Sie mich haben wollen. Schreiben Sie mir schnell ein paar Worte! Ich bin darüber beunruhigt, daß ich Sie irgendwie verletzt habe. Warum nehmen Sie dies so schwer, wo Sie wissen, daß ich Sie zärtlichst liebe?


Agathe an Georg

Steinbach, den 31.

Mein lieber Freund!

Zuvörderst, Sie sind herzlich willkommen! Eben habe ich eine Besichtigung des Turmzimmers abgehalten, das ein für allemal Ihr Heim sein soll. Es ist in bester Ordnung. Sogar das Allerneueste zu lesen harrt Ihrer, aus der Büchersendung, die gerade gestern angekommen ist.

Warum ich schweigsam war? Darauf hinreichend zu antworten, wäre ziemlich umständlich. Ich verstehe nicht mehr alles an Ihnen, nicht mehr alles in mir. Ich grüble einem bestimmten Seelenrätsel nach und kann keine mir einleuchtende Lösung finden. Darüber bin ich unruhig, nervös, befangen, gequält, kurzum in einem Zwiespalt, der auf die Dauer meiner seelischen wie körperlichen Gesundheit schädlich sein muß.

Sie sind mir gegenüber immer korrekt, taktvoll und feinfühlig. Gewiß, man möchte meinen. Sie fänden nur Genuß an Dingen, die hoch über der Erde gedeihen. Da, auf einmal kommt es durch ein Geständnis Susannens zutage, daß Sie sich auch an recht irdischen Dingen zu vergnügen verstehen. Ich bin betroffen über diese Unstimmigkeit zwischen Sein und Schein. Ach, es ist zu seltsam, wenn man von einem Schwärmer und Träumer, der mit höchster Kennerschaft dem Überzarten und Ganz-Erlesenen nachspürt, gelegentlich erfährt, daß er auch im Reiche der banalen Wirklichkeit recht munter auf den Beinen ist.

Ich muß mich daran gewöhnen. Wie könnte ich so töricht und naiv sein, zu glauben, ich hätte Sie in ein götterhaftes Wesen ohne menschliche Schwächen gewandelt?

Ich bin heute ein bißchen boshaft?


Georg an Agathe

3. September.

Liebste Freundin.

Ich komme am Sonnabend gegen Abend.

Nachdem Sie die Erdenliebe weit von sich gestoßen, habe ich den stoischen Vorsatz gefaßt, den zuweilen aufzwirbelnden Weihrauch der Sinnlichkeit vom Tempel unsrer Freundschaft fernzuhalten. Ich habe weder eine Freundin noch einen Freund außer Ihnen. Sie besitzen mein Innenleben ganz. Fordert solche große Freundschaft auch noch Mönchstum? Aber, wenn Sie diesen neuen Beweis meiner Vasallentreue erheischen, so will ich auch ihn bringen. Tun Sie es aber lieber nicht!

Neugierig bin ich, zu erfahren, was Ihnen Susanne gebeichtet hat. Ich meinerseits war verschwiegen und wäre es auch geblieben. Selbstverständlich! Da sie es aber von selbst erzählt hat, so will ich alles zugeben. Kurz nach meiner Rückkehr von der großen Reise war sie einmal zum Teestündchen bei mir. Zuletzt ein Abschiedskuß in Ehren. Mein Gott, das war alles! Hat sie es Ihnen weniger harmlos dargestellt? Dann intrigiert die liebe Nichte gegen die verehrte Tante. Wissen Sie, in dem Kusse, den ich ehrfürchtig und leise auf Ihre Hand drücke, schlummert tausendmal mehr Zärtlichkeit und Hingebung, als in jener Galanterie lag und liegen konnte. Übrigens wissen Sie doch zur Genüge, daß Susanne den Ernst des Lebens aus dieser kleinen Episode nicht geschöpft hat.

Auf frohes Wiedersehn am Sonnabend! Ich bitte, schicken Sie Ihr herrliches Schimmelgespann zum Zuge, der dreiviertel sechs eintrifft.


Agathe an Georg

Steinbach, den 5.

Sie Tollkopf, wollen Sie wohl still sein! Ich gebe mir die peinlichste Mühe, spitzfindig-diskret zu sein, und Sie, Sie stellen die Tatsachen unverblümt hin. Sprechen wir hierüber nicht mehr!

Ich erwarte Sie mit inniger Freude.


Georg an Agathe

Mittwoch, den 11. September.

Liebste Agathe.

Nach dem köstlichen Sonntag bei Ihnen – der Montag mit einer trübseligen Rückfahrt bei Regen und einer gräßlich-einsamen Heimkehr. Ich erhoffte heute, ja schon gestern, einen langen Brief aus Steinbach voller zärtlicher Worte. Aber ach, es ist keiner gekommen.

Es gedenkt Ihrer immer Ihr

Georg


Agathe an Georg

Steinbach, den 12. September.

Liebster Freund!

Sie Ungeduldiger, hier haben Sie den ersehnten Brief! Wir haben uns am Sonnabend und Sonntag soviel gesagt, und ich soll Ihnen immer noch mehr sagen? Ich lebe in diesen Erinnerungen.

Das saubere Fischerhäuschen von Markkleeberg, unter der hohen Linde die beiden alten Gebäude, der moosgrüne Hof, die Fischtröge und Forellenkästen, die schwarzen Kähne, die träumerischen Weiden und das glitzernde Wasser, darin sich alles noch einmal im zitternden Spiegelbild zeigt: steht diese Welt nicht noch lebendig vor Ihnen? In der klingenden Abendluft und im wärmenden Widerschein des roten Himmels atmen alle ihre Dinge so seltsam und sonderlich.

Erinnern sie sich des Abendganges? Der Bootfahrt mit dem schwatzenden Gondoliere auf der dunklen Flut zwischen den buschigen Weiden, über denen das Abendsonnengold hervorlugte?

Erinnern Sie sich der Stunden nach dem Abendessen auf der Gartenterrasse des Hauses, unserer glückseligen, zufriedenen, goldenen Stimmung? Alle anderen waren fort, zum Parkfest nach dem Nachbargute. Ihnen zuliebe war ich nicht mitgefahren. Sie sollten sich des Abends vor Ihrer Wiederabreise so recht in Frieden und Behaglichkeit erfreuen.

Das Abendessen zu zweit, schon ziemlich spät: ich sehe Sie noch vor mir sitzen, vom Lichte der Tischlampe umflossen, hinter Ihnen das dunkle Zimmer, und draußen vor den Fenstern das Dunkelblau der Sternennacht.

Welch unvergeßlicher Abend!

Ich denke viel über Sie nach. Sie waren so heiter und froh. Nur einmal kam flüchtige Melancholie über Sie: als Sie von Ihrer Sehnsucht nach einer Ihnen passenden ernsten Beschäftigung sprachen. Sagen Sie, was tun Sie jetzt in den Stunden, wo Sie nichts Bestimmtes vorhaben? Arbeiten Sie?

Aus innigster Freundschaft bitte ich Sie immer wieder: sammeln Sie Ihre Willenskräfte um einen festen Pol! Ich wünschte, ich könnte Ihnen meine Energie übertragen. Ich habe sie selber zwar nur im kleinen erprobt, aber ich bin felsenfest überzeugt, sie würde auch vor einer großen Aufgabe des Lebens nicht einen Augenblick versagen.


Georg an Agathe

14. September.

Geliebteste Freundin,

ich fürchte, die Willensübertragung, die Sie auf mich ausüben möchten, wäre, selbst wenn derlei sonst möglich, bei mir ganz gewiß unmöglich. Eine mein ganzes Leben beschäftigende große Arbeit, die hätte ich gern. Aber um Gotteswillen keinen sogenannten Beruf! Nein, nein. Es steckt nun einmal kein Drang in mir, eine Rolle in der Welt zu spielen. Wozu auf andre Menschen Einfluß ausüben wollen? Ich räume ja auch niemandem das Recht dazu mir gegenüber ein. Niemandem mit der einen Ausnahme: Ihnen! Ich entziehe mich jedem Zwange. Mein sozialer Sinn wird von Jahr zu Jahr geringer. Ich lebe in der Anbetung schöner Dinge. Und etwas übt den allergrößten Einfluß auf mich aus, einen größeren noch als die Künste: das ist die Landschaft. Ich sehne mich mehr und mehr nach dem Leben inmitten der freien Natur. Es erscheint mir allein eines freien Mannes würdig, und ich glaube, am längsten in der Stadt gelebt zu haben. Ich werde es Ihnen nachmachen und mir irgendwo auf den Bergen ein kleines Haus suchen.

Sie wissen, die Träumerei füllt die Stunden, in denen ich mir selbst angehöre. Seit Sie in mein Dasein eingetreten sind, haben sich aber Ansätze zu einer regelmäßigen Beschäftigung gebildet. Ein Ergebnis kennen Sie: die langweilige Regimentsgeschichte. Ein andres habe ich Ihnen bisher verheimlicht. Da ich aber in Ihren Augen nicht als unverbesserlicher Nichtstuer dastehen möchte, so lege ich auch das in Ihre geliebten Hände. Es ist mein Reisetagebuch von 1909 und 1911. Ein ganz stattlicher Band. Damit er zum mindesten äußerlich Ihr Wohlgefallen erregt, habe ich ihn in einer Kunstwerkstätte einbinden lassen.

Lesen Sie! Es stehen Schilderungen, Bekenntnisse, Meinungen, Träumereien, Visionen, viele innere und einige wenige äußere Erlebnisse darin.


Agathe an Georg

Steinbach, den 18. September.

Mein lieber Georg!

Sie sind schon ein volles Jahr wieder zurück von Ihrer Weltumsegelung, und erst heute bekomme ich zu meiner freudigsten Überraschung die köstliche Frucht der täglichen Eindrücke auf Ihre empfängliche Seele während jener Zeit, da uns die Vorsehung getrennt hatte. Ich habe die halbe Nacht in Ihrem herrlichen Manuskript gelesen, und mein aller Heuchelei bares Urteil über diese schriftstellerische Arbeit, die Sie in Ihrer keuschen Selbstlosigkeit allein meiner Kenntnis unterbreiten, deckt sich mit dem Geständnis fiebernder Freude. Sie sind kein Dichter im schöpferischen Sinne und doch eine Poetennatur von eigentümlicher und eigenwilligster Art, halb Träumer und Romantiker, halb gelehrter Weltmann und in manchen Dingen ein klarsehender Vorläufer jener kommenden freieren Zeit, die sich aus der Asche unsrer sterbenden Gesellschaft erheben wird. Ihr Reisetagebuch mit dem eigenartigen Titel »Meine Erziehung zum Europäer« ist ein wundervoller Spiegel Ihres Geistes, in dessen Banne ich nun schon lange lebe. Wir haben beide geglaubt, sein übermütiges Spiel vergehe und verwehe mit dem flüchtigen Augenblick. Sie haben mir so oft resigniert bekannt, es gelänge Ihnen nicht, Ihre erlesenen Stimmungen, die bunten Gebilde Ihrer Träume, Ihre feinlinigen Visionen festzuhalten. Sie haben sich wehmütig beklagt, nur ein Liebhaber der Künste und kein Künstler zu sein. Und Sie sind dies doch und waren es stets. Und niemand auf der ganzen Welt freut sich darüber herzlicher und glückseliger als

Ihre Agathe


Georg an Agathe

21. September.

Meine beste Freundin.

Ich bin stolz auf Ihr Lob. Es ist keine erheuchelte Bescheidenheit, wenn ich Ihnen gestehe: ich will nichts als Ihr Lob. Freudigen Herzens verzichte ich auf die Anerkennung meiner sämtlichen andern Zeitgenossen. Die große Masse soll nichts mit mir gemein haben. Ich bin glücklich, daß mein Buch einer Einzigen gefällt. Ihnen! Lassen wir es bei diesem schönen Erfolge! Ich will das Manuskript aber gern nach Ihren zielbewußten Wünschen ausarbeiten und vollenden, wenn ich dazu imstande bin. Ahnen Sie nicht, wie dieses mein erstes und letztes Buch entstanden ist?

Zu Ihnen habe ich alle Abende gesprochen, während ich fern von Ihnen war, in einsamen langen Nächten, an den wunderbarsten Orten der Erde. Ich bin kein Darsteller, nur ein Träumer, den die Sehnsucht zu besonderer Stunde einmal halbwach geküßt hat. Seit ich Ihre süße Freundschaft wiedergewonnen habe, bemühe ich mich nicht mehr, die Bilder festzuhalten, die vor meinen wirklichen oder seelischen Augen entstehen. Ich hole meine Seeligkeit aus der Schönheit dieser Visionen und schenke sie Ihnen in unsern Gesprächen. Ich weiß. Sie lieben den Plauderer seiner Träume in mir. Und so wird mein Glück zu dem Ihrigen, und dies Ihr Glück ist wiederum mein Glück. Wir machen uns gegenseitig glücklich. Was wollen wir mehr vom Leben? Wir wären der Bevorzugung des Himmels nicht wert, wollten wir unser Glück vor die Menge der Gleichgültigen werfen. Mit einem Worte: es ist mir unmöglich, mein dilettantisches Buch der Öffentlichkeit zu überlassen. Es ist und bleibt nur für Sie in Zärtlichkeit und Freundschaft geschrieben.

Ihr Georg


Agathe an Georg

Steinbach, den 24. September.

Mein verehrter lieber Freund!

Wenn Sie menschenscheu und egoistisch sind, wo es gilt, Ihr erstes Buch auf den Markt zu tragen, wenn Sie schüchternem Bedenken Gehör geben, während sich Ihnen als Erfüllung Ihres Wunsches nach einem höheren Lebensziele eine passende und obendrein prächtige, dankbare, beneidenswerte und (vergessen Sie nicht!) freie Beschäftigung eröffnet, ja, dann werden Sie niemals zu dem Berufe kommen, den ich gerade Ihnen von Herzen wünsche.

Sie wollen Ihre Seele, Ihr Herz, Ihr innerstes Leben nicht jedem Beliebigen enthüllen! Ich verstehe Ihre Zaghaftigkeit,Ihre Zweifel. Aber Dichter und Denker müssen sich zu manchem Opfer verstehen. Derlei gehört zu dem Opfer, das ihr Schicksal erheischt. Es ist wahrscheinlich nicht einmal das schmerzlichste.

Im Grunde teile ich auch hierin Ihre Gefühle. Es wäre auch mir unmöglich, mit Bekenntnissen in literarischer Form vor die Welt zu treten, angenommen sogar, ich hätte die nötigen Fähigkeiten dazu, die Sie zweifellos besitzen. Man würde mir genau so zureden müssen wie Ihnen. Aber ich habe zu meinem seelischen Wohlsein keinen weiteren Beruf nötig. Ich bin nicht zur Künstlerin oder Künderin geboren. Wenn ich das wäre mit freier Wahl der Art, dann möchte ich Werke der Musik schaffen. Ich weiß zwar, daß Frauen auf diesem Felde noch niemals unsterbliche Werke hervorgebracht haben. Somit wäre das sowieso ein fruchtloser Wunsch. Wie dem auch sei, ich bin bescheiden. Ich halte mich für musikalisch, ich reproduziere geliebte Meisterwerke, und wenn ich im Lobesmunde meiner Freunde und Freundinnen nicht nur wertlose Schmeicheleien höre, so bin ich eine erträgliche Nachempfinderin. Damit muß ich mich zufrieden geben. Mehr kann man in der Musik als Weib nicht erreichen.

Sie haben einmal gesagt, nach einer Abendgesellschaft mit endloser musikalischer Dilettanterei, Sie mißtrauten neunundneunzig von hundert Musikschwärmerinnen. Sie haben recht. Es ist eine gräßliche Mode unter unbegabten Frauen, von Musik zu reden, vor ihren Gästen zu singen und schlecht Klavier zu spielen. Solche Liebe und Pflege der Musik, solch fragwürdiges Wollen und Nicht- Können ist aber echt weiblich. Wir lieben an der Musik ihre Wirkung auf unsere Gefühlswelt, nicht das rein Künstlerische in ihr. Gerade die lautesten Musikschwärmerinnen sind gewöhnlich musikalische Nullen, sentimentale Genießerinnen des Rausches der Töne. Seltene Ausnahmen kenne ich allerdings ebenso wie Sie. Wir reden hier ja nur vom typischen Dilettantismus. Es gibt auch unter den Frauen wunderbar musikalische Seelen.

Vor Werken der Malerei, der Plastik, der Dichtung sind die Frauen vielmehr zurückhaltend. Die meisten lieben in diesen Künsten das Hübsche und das Rührende, und ohne sich zu verstellen, gestehen sie dies naiv ein. Nicht wie, sondern was dargestellt wird, interessiert sie. Es gibt auch hier Dilettantinnen, aber keine ist so geschmacklos, in ihrem Salon eigene Verse oder eine selbstgeschriebene Novelle vorzulesen. Warum tut man dies zur Qual der Anderen im Gebiete der Musik?

Wohin bin ich geraten? Kehren wir zu uns beiden zurück. Ich habe mein Haus, meinen kleinen Wirkungskreis, ich bin damit zufrieden. Ihnen aber fehlt ein Feld der Tätigkeit. Sie sind nicht zufrieden, nicht im männlichen Sinne. Sie bedürfen eines Berufes, der Sie fesselt und Sie von unseligen Stimmungen abhält. Deshalb darf es für Sie keine Bedenken geben, wenn es gilt, Ihre Begabung endlich auszunutzen.

Schauen Sie sich einmal um! Sehen Sie geschichtlich zurück! Seit Rousseau gibt es vor allem eine Literatur der Beichte. Goethe sagt von seinem Gesamtwerk, es sei eine große Konfession. Denken Sie weiterhin an Musset, an Novalis, an die Droste, an Dostojewski, Gottfried Keller, an Peter Jacobsen, Strindberg, Ibsen, d'Annunzio, an Gerhart Hauptmann, an Ihren Geistesbruder Stendhal! Die Bücher dieser Menschen- und Seelenkenner sind überreich an Selbstbeobachtungen, Selbsterlebnissen, Selbsterfahrungen. Keiner von ihnen hat sich gescheut, die allerfeinsten Empfindungen und die heimlichsten Gefühle, ja, mikroskopische Schwächen in seinen Dichtungen weiterleben zu lassen. Sie haben sie hineingezaubert, um sie los zu werden. Wir besitzen von den Genannten mit wenigen Ausnahmen noch keine Biographien, von meisterlichen Psychologen auf Grund von maßgebendem Material geschrieben. Wir wären wohl erstaunt, wenn wir sehen könnten, bis zu welch kühner Ehrlichkeit die Geschöpfe dieser Dichter ihrem wahren Ich ähneln. Alles das soll Sie überzeugen, bereden, ermuntern, verlocken! Wehren Sie mich nicht ab und sagen Sie nicht, ich überschätze Sie! Ich weiß wohl, Sie sind noch lange kein Meister der Feder. Aber Sie verstehen Ihre Erlebnisse schlicht, natürlich, lebhaft und anschaulich wiederzugeben. Arbeiten Sie planmäßig an Ihrer Ausdrucksweise – und wer weiß, ob Sie nicht eines schönen Tages ein nicht geringer Darsteller, Erzähler, Dichter werden! Sie haben soviel Merkwürdiges, Schönes, Erhabenes in sich aufgenommen, haben einen so prächtigen, beneidenswerten Entwicklungsgang erfahren, sind mit so zahlreichen nicht alltäglichen Menschen zusammengekommen. In allem dem waren Sie ein Begnadeter vor Tausenden. Übrigens, was Sie an Anderen so reizvoll finden, das unverkennbar Eigene, die persönliche Note, wie man so zu sagen pflegt: das, was Sie mich gelehrt, an Kunstwerken zu erkennen! – das entdeckte ich auch in Ihren Blättern. Kein Andrer als nur Sie könnte dies geschrieben haben! Nur ist die Form noch nicht gestählt, geschliffen, geläutert, rhythmisch-rein, wirkend gegliedert, voll der rechten Lichter und Schatten. Aber schon leuchtet an allen Ecken und Enden Ihr literarisches Ideal hervor: knapp, klar, wahr zu sein, rein wie Kristall und bestrickend wie Musik!

Und ahnen Sie nicht, wie unsagbar glücklich ein Mensch sein muß, wenn er als Künstler die geheimnisvolle Kraft besitzt, sich zur Ergänzung dieser so unvollkommenen, sehnsuchtsreichen, leidvollen Welt eine zweite mit eignen Händen zu schaffen, voll von göttlichen Gestalten inmitten alles dessen, was wir hienieden nie erringen?

Warum bin ich heute so redselig? Ach, mein liebster Freund, aus innigster, tiefster Anteilnahme an Ihnen und Ihrem Glücke.


Georg an Agathe

26. September.

Ich erwartete eine Strafpredigt, ich nutzloser Erdenpilger, und ich bekomme den liebenswürdigsten Ermunterungsbrief, der je einem literarischen Neuling zuteil geworden! Mein Lampenfieber hat sich inzwischen einigermaßen gelegt. Und für etwas danke ich Ihnen ganz besonders. Ich verspüre die herrlichste Arbeitslust, zuweilen geradezu Arbeitsbegeisterung. Etwas Wunderschönes! Wie sehr not tut mir, wenn ich nicht bei Ihnen weile, ein greifbarer Inhalt der Stunde! Tatenlose Träumerei ist so süß, aber ebenso gefährlich!

Bei alledem fällt mir das Niederschreiben schwer. Nichts ist so ermüdend und entmutigend, wie Gefühle und Empfindungen zweimal zu erleben: zuerst in der Fülle und Wärme des flüchtigen Augenblicks, und dann das zweitemal mit dem noch so unbeholfenen langsamen Bemühen des Nachbildners. Eines überkommt einem dabei aus einem ganz neuen Grunde: hohe Bewunderung der Meister!

Aber ach, diese ehrliche Erkenntnis führt mich zuweilen zurück in mein beschauliches Träumerdasein, dem Sie mich mit so viel Eifer und Beredsamkeit entrissen haben. Es ist mir immer wieder genußreicher, und darin bin ich unverbesserlich: am Genie Größerer meine neidlose heilige Freude zu haben, als mich mühselig und vielleicht erfolglos selber in das Hochgebirge der Kunst zu versteigen. Erfolglos? Ich bin undankbar. Meine bescheidenen Versuche finden vor den gütigsten, klügsten und klarsten aller Frauenaugen Gnade. Was will ich mehr?

Ich sehne mich nach Ihnen, liebste Freundin, nach Ihrer Sophie, nach Ihrem Haus und nach dem schönen Parke mit seinem friedsamen Ausblick in die stummen nebelblauen Fernen.

Empfehlen Sie mich allen, insbesondere der ehrwürdigen Schloßherrin im weißen Haar und voll fremdländischer Anmut, die ich übrigens in Sophie wiederfinde.

Schreiben Sie mir, damit ich mich in allen Augenblicken in Ihr Leben hineindenken kann!


Agathe an Georg

Steinbach, den 30.

Warum kommen Sie denn nicht schnurstracks her, wenn Sie so große Sehnsucht nach uns allen haben? Muß ich Ihnen das immer wiederholen: Ihr Zimmer bleibt allezeit für Sie bereit und wird nie von einem andern Gaste betreten.

Hier ereignet sich nur wenig. Ein einziges wichtiges Begebnis, das am Sonnabend stattgefunden hat, wäre in der Familienchronik zu vermerken: Sophiens erste Reitstunde auf dem alten braven Pony Darling. Hermann macht den Reitlehrer. Seine Schülerin hat die besten Anlagen: viel Passion und keine Furcht. Mehr braucht man für den Anfang nicht. Sie kann bereits englisch traben. Da wir keine Reitbahn haben, finden die Unterrichtsstunden in der großen Kastanienallee statt. Hermann reitet meinen Schimmel.

Mein Bruder ist sehr vorsichtig, aber ich bin doch ein bißchen ängstlich, was ich, selber im Sattel, so gar nicht bin. Aber mein Töchterchen soll keinen Unfall erleiden. Ich sehe das Sattelzeug jedesmal auf das sorgfältigste selbst nach. Josef, der die Gewissenhaftigkeit in Person ist, steht stumm lächelnd dabei. Der alte Mann fühlt sich nicht gekränkt. Er versteht mein Mutterherz.

Nun ein anderes Lied.

Graf Szanto war gestern, Sonntag, den ganzen Tag über da. Er ist nach wie vor bis über die Ohren in Susanne verliebt, aber sie weiß die Entscheidung mit raffiniertem Geschick immer wieder hinauszuschieben. Ich glaube wirklich, Sie und kein andrer sind heimlich ihr Ideal. Sie spricht von Ihnen immer in einer ganz eigentümlichen Verträumtheit, die man sonst gar nicht an ihr bemerkt. Kein Wunder! Im Umgang mit Frauen sind Sie ein Meister. Sie tun immer, als nehmen Sie jede ernst. Und je verschiedener die Verschiedenen sind, um so mehr reizt es Sie, sich ihnen anzupassen. Damit siegen Sie. Jawohl! Ich kenne meinen Georg!

Die Damen, meine Mutter, Susanne, meine Schwägerin werden in diesen Tagen nach Dresden übersiedeln. Meine Nichte beginnt sich hier zu langweilen. Ausdauer hat sie nirgends, bei keiner Sache. Sie haben also bald Gelegenheit, alle wiederzusehen. Ich bleibe mit Hermann und Sophie noch den ganzen Oktober hier. Ich kann mich von Steinbach ja nie trennen.

Genug für heute. Leben Sie wohl!


Agathe an Georg

Sonntag, den 6. Oktober.

Mein nachlässiger lieber Freund!

Ich bin sehr betrübt, daß ich so lange – seit dem 27. September – ohne jede Nachricht von Ihnen bin. Das nimmt mir beinahe den Mut, meinerseits zu schreiben. Kennen Sie nicht das eigentümliche Gefühl, das einen in solchem Falle beherrscht? Man denkt unwillkürlich, man sei vergessen, und die Furcht, aufdringlich zu sein, bindet einem die Flügel der Sehnsucht, mit denen man doch so gern zum Freunde hinfliegen möchte. Und so schreibt man auch nicht, sitzt trübsinnig und traurig am Fenster und grübelt über das Warum nach, ohne daß man dabei klüger oder ruhiger würde.

Meine Mutter ist wieder in Dresden; Susanne und ihre Mutter auch. Meine Schwägerin schreibt, daß vom 11. ab an den Freitagen ihre wöchentlichen Diners wieder beginnen. Unter den Gästen hofft man Sie zu sehen. Ich bin neugierig, ob Susanne Sie noch immer als Ihren Beichtvater betrachtet. Diese Freundschaft zwischen Ihr und Ihnen dünkt mich ein Kuriosum. Ich glaube indessen, alles erfahren Sie von ihr doch nicht!

Wir Frauen, wir haben jede jederzeit unsre kleinen und großen Heimlichkeiten. Vielleicht weil wir uns selber nicht einmal recht kennen, weil wir ganz besonders in Zeiten der Aufregung, der Sorgen, der Krisen uns in uns selber oft nicht mehr zurechtfinden, wahren wir häufig unsere geheimsten Regungen vor den Männern. Wenige von euch durchschauen uns. Die meisten bescheiden sich einfach damit, daß sie uns inkonsequent, launisch, widerspruchsvoll, unlogisch finden. Höfliche Männer nennen uns rätselhafte Wesen.

Oft möchte auch ich Ihnen beichten: Dinge und Vorgänge, von denen Sie nichts ahnen. Dann sage ich mir aber immer wieder: was haben Traumleben und Wirklichkeit miteinander zu tun? So wenig wie die weißen Wolken, die über das Himmelsfeld fliehen, mit dem Wasser des Weihers, auf dem sie sich spiegeln.

Eines nur sei Ihnen gebeichtet. Ich gewinne Sie jedesmal lieber, wenn Sie ein paar flüchtige Tage mit mir zusammen verlebt haben. Sie wären der beste Freund in der Welt, wenn Sie nicht so schrecklich verschlossen und dazu noch grenzenlos schreibfaul wären. Aber selbst das muß ich Ihnen, ob ich es will oder nicht, gutmütig und nachsichtig verzeihen.


Georg an Agathe

7. Oktober.

Geliebteste Freundin in der Ferne!

Eben bin ich im Begriff, nach Rockau zu fahren, um dort verschiedene Anordnungen zu treffen. Mein Bruder überläßt mir mehr und mehr die Herrschaft. Im Augenblick weiß ich nicht einmal, in welchem Winkel der Erde er sich amüsiert.

Warum ich so schreibfaul war? Soll ich ehrlich sein? Ihr vorletzter Brief enthielt so gar nichts von Ihrem inneren Leben. Ach, sagte ich mir, es ist ihr lästig, mir immer und immer zu schreiben. Wozu habe ich meine Phantasie? Ich träume mir für mich aus, was Sie wohl denken und tun.

Seien Sie herzlichst gegrüßt!

Und schreiben Sie mir wieder alles!


Agathe an Georg

Steinbach, den 9. Oktober.

Mein lieber Freund!

Ich soll Ihnen alles schreiben und Sie vernachlässigen mich so schrecklich!

Was soll ich aus meiner großen Einsamkeit berichten?

Hermann ist vorgestern nach Paris abgereist. Er gedenkt seinen Posten am 1. November wieder zu übernehmen. Er geht über Dresden und wollte Ihnen persönlich Lebewohl sagen. Da Sie aber wohl schon auf Ihrem Gute sind, wird er Sie verfehlt haben. Er fühlt sich ganz wiederhergestellt; indessen hege ich große Befürchtungen um ihn. Er betreibt mir die Rückkehr nach Togo allzu eifrig. Er will von weiterer Schonung durchaus nichts wissen. Ich vermag hierin gar nichts über ihn. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich.

Ich mache alle Tage eine schöne Herbstwanderung, oft mit Sophie, sehr oft aber ganz allein. Ich möchte Ihnen von den Reizen dieser stillen Gänge erzählen, aber meine Worte wären doch nicht imstande, meine und der Landschaft Stimmung wiederzugeben. Wie der Tau frühmorgens in der Sonne in tausend Farben glänzt und glitzert, und wenn man ihn in die Hand nimmt, hat man nichts als fließende Tränen, so ist es auch mit meinen Gedanken. Die Schwermut der Einsamkeit macht kleine Wunder daraus. Aber nehmen Sie sie nicht in Ihre Hände. Es wäre wie bei den Tauperlen.

Ich bin nicht mehr, die ich war, da Sie mich fanden. Damals war ich in einem gewissen, wenn auch mühsam genug errungenen Gleichgewichte. Sehr oft sogar heiter und fast glücklich. Ich hatte zwischen mir und meiner eingesargten Sehnsucht die feste Mauer des Verzichts errichtet. Und nun verzehre ich mich von neuem in elegischen Träumereien, ohne daß ich recht weiß, wohin mich meine Sehnsucht treibt.

Der Wald bebt im Oktoberwinde, die Wipfel der alten Eichen rauschen eintönig, das Heidekraut und die dürren Ginsterbüsche knistern, das rote Laub raschelt und rollt über die Wege, der Gräberduft der Herbsterde umweht mich. Das ist alles wie alle Jahre. Aber noch nie hat mich die Wehmut der sterbenden Natur so ergriffen, so müde und matt gemacht, so trübsinnig und nachdenklich.

Wo ist in diesem Grau und fahlem Erdbraun ringsum das glühende Gold und die trunkene Glückseligkeit, die Sie am Herbst so preisen?

Leben Sie wohl!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

Rockau, 13. Oktober.

Liebste Freundin.

Ich vernachlässige Sie? Das ist etwas hart ausgedrückt. In meinem Arbeits- und Einsiedlerleben hier ist das, was des Berichtens wert wäre, sehr bald erschöpft.

Alle Morgen großer Spazierritt. Das ist mein Vergnügen, meine Zerstreuung. Ich komme, außer mit meinen Leuten, sehr selten mit Menschen zusammen. Nicht einen einzigen Besuch in der Nachbarschaft habe ich gemacht. Man wird es mir übel nehmen. Heute auf dem Morgenritte traf ich zufällig einmal die Damen von Seehausen: die Mutter sehr respektabel, noch eine schöne Frau, die Tochter zwanzigjährig, schlank, semmelblond. Ich konnte unmöglich anders, als meinen »Geheimrat« (englisches Halbblut, dunkelbraun, rassige Linien, sehr ausdauernd, kurzum Prachtgaul!) zum Halten zu parieren. Gegenseitige Begrüßungsworte. Kühl, formell, beobachtend, – zu deutsch: »Lebst du Flegel denn eigentlich noch?«– »Wartet nur«, dachte ich bei mir, »ich will euch schon wieder genießbar machen !« Wenn ich just so gute Reiterslaune habe wie heute früh, an so einem frischen frohen Herbstmorgen, da soll der Fuchs die ungnädigen Gesichter holen! Es machte mir Spaß, die beiden »Kühlen« zu erobern.

»Die Damen kommen von Zuhause? Wie wär's mit einem kleinen Jagdgalopp? Die frische leichte Luft ist so verlockend dazu.«

Ich kenne meine verehrte Frau Nachbarin. Eine passionierte Reiterin. Sie hatten keinen Reitknecht mit. Ein Ritt ohne Begleiter, das ist nichts Ordentliches für Damen. Also war ich nicht ganz überflüssig.

Man wurde gnädiger. Na, und dann juchtelten wir los. Sieben Kilometer und hinterher ein Frühstück im Krug, das einem halben Bauernschinken die Existenz kostete! Die Semmelblonde hatte Backen bekommen, wie zwei Pfingstrosen, so schön rot. Sie sah beinahe hübsch aus. Und wie waren wir alle drei lustig und ungezwungen. Nichts mehr von Ungnade.

Abgesehen von derlei kleinen Erlebnissen, die wie gesagt selten sind, ereignet sich um mich herum nichts. Und von der Außenwelt dringt wenig zu mir. Tageszeitungen kommen mir nicht in die Hände. Ich lese sie sowieso ungern. Hier aber sind Baumeister, Dachdecker, Zimmerleute im Hause. Es gilt, alles Mögliche zu erneuern. Mein Bruder hätte schließlich Haus und Hof verfallen lassen.

Ich gedenke noch vierzehn Tage hierzubleiben.

Die herzlichsten Grüße von Ihrem

getreuesten Georg

Geben Sie Sophie für mich einen Kuß!

Seien Sie mir nicht bös, wenn meine Briefe nicht immer prompt als Echo auf die Ihren eintreffen. Um alles nur keine pedantische Regelmäßigkeit! Das wollen Sie doch auch gar nicht! Warum schweigen Sie aber?


Agathe an Georg

Steinbach, den 14. Oktober.

Lieber Freund!

Aus so ärmlichem Grunde hätte ich mir nicht Schweigsamkeit auferlegt. Nein, dergleichen ist es wahrlich nicht. Ach, fühlen Sie es nicht? Ich mache eine bedeutsame seelische Krankheit durch. Ich bin in diesem Zustande ungenießbar, selbst dem besten Freunde. Deshalb bin ich stumm.

Ich hätte Ihnen wirklich nichts Ordentliches zu erzählen gehabt. Sophie und ich, was sollen wir Einsamsten aller Einsamen erleben? Ich sehne mich auch gar nicht nach Zerstreuung, Abwechslung oder geselligem Vergnügen. Im Gegenteil, nichts wäre mir widerwärtiger. Ich mag gar niemanden sehen.

Daß Sie Arbeit, stille Freuden und kleine Erlebnisse haben, das wird Ihnen sehr wohl tun. Im Grunde sind Sie doch eine gesellige Frohnatur. Und das ist gut so. Ich gönne Ihnen von ganzem Herzen, daß Sie zufrieden geworden sind. Bleiben Sie das!

Ich denke viel über das Leben nach. Aber in allen meinen Grübeleien lebt Schwermut, die alle Tage düsterer wird. Mitunter empfinde ich sie wie ein berauschendes Gift. Seltsam, dann will ich sie nicht einmal vertreiben. Das kann nicht gut für mich sein. Geben Sie mir ein Mittel dagegen! Helfen Sie mir, ehe es zu spät werden könnte!

Ich habe Ihr lila Zimmer im Turme zu meinem Aufenthalt genommen. Es liegt viel höher als mein Arbeits- und mein Musikzimmer, und ich bilde mir ein, es sei auch gesünder. Es ist ein Sonnenort, und ich kann hier vom Fenster aus über den Park hinwegblicken, weit in die blaue Ferne. Dieses Schauen ins Weite paßt zu meiner Sehnsucht nach unbekannten Landen.

Was sagen Sie zu alledem? Eine Dreißigjährige, die bis dahin das Leben ohne Sentimentalität hingenommen hat, verfällt mit einem Male dem sonderbarsten Gemütsleid.

Warum soll ich Ihnen meinen Zustand verheimlichen? Ich wollte, ich könnte eins von Ihnen lernen: Ihren Fatalismus. Ihre Kunst, an allem Ungemach doch schließlich neue Quellen des Genusses zu entdecken. Ihre wunderbare Fähigkeit, ohne eigentlichen Kraftaufwand und unter endlosen Widersprüchen und Sonderlichkeiten, doch im Grunde ganz vortrefflich zu wissen, was Sie vom Leben wollen. Und vor allem Ihre Virtuosität, trotz aller Zickzacks doch geistig und seelisch langsam immer höher zu gelangen.

Ich dagegen, mein lieber Freund, ich treibe auf dem Strome des Lebens steuerlos dahin. Kommen Katarakte, dann muß mein Schifflein zerschellen. Helfen Sie mir hindurch! Sie können es, wenn Sie nur wollen!


Georg an Agathe

Rockau, 17. Oktober.

Meine liebe Freundin.

Ich bin immer wieder stark besorgt um Sie. Was geht in Ihnen vor? Worüber sind Sie so übermäßig schwermütig und mutlos? Sie bitten mich um Hilfe? Seit wann haben Sie Ihre schöne Sicherheit und ehedem fast männliche Selbständigkeit verloren? War ich es nicht erst, der Ihrer Hilfe bedurfte? Und jetzt Sie der meinigen?

Sie vergessen offenbar eins. Sie dürfen kein einseitiges Leben führen. Nicht bloß ein Innenleben. Der Körper hat auch seine Rechte. Schaffen Sie sich ermüdende körperliche Bewegungen! Suchen Sie anderen Zeitvertreib denn trübe Träumereien. Reiten Sie! Kümmern Sie sich ein wenig mehr um die lieben Nachbarn! Oder geben Sie die gefährliche Einsamkeit ganz auf! Gehen Sie nach Dresden zurück! Verlieren Sie sich nicht in Ihre uferlose Sehnsucht!

Sie steuern auf die Insel Utopia zu. Machen Sie rasch halt! Heute verzehren Sie sich in ziellosem Liebesbedürfnis. Sie beklagen Ihr Dasein, weil es ohne eine große Leidenschaft dahingeht. Sie bilden sich ein, allein da Ihr Lebensglück zu finden. Und morgen wären Sie gerade durch die Erfüllung Ihrer Wünsche sterbensunglücklich. Wäre das nicht tausendmal schlimmer für Sie?

Seien Sie verständig und ergeben in Ihr Schicksal! Ich ermahne Sie innigst. Sie sind vor Jahren eine Vernunftsheirat eingegangen aus dem ehrbarsten Grunde. Sie müssen alle Folgen tragen. Die Ehe ist ein Vertrag, in Ihrem Falle zwar von der andern Seite längst gebrochen, aber in der Grundlage nicht aufgehoben, somit nach dem Herkommen zu respektieren. Für Sie ist dies schlimm und schwer. Die alte Geschichte. Zwei Menschen ohne innere Zusammengehörigkeit gehen eine Verbindung für das Leben ein. Beide meinen, es müsse leidlich auslaufen. Die Frau läßt die Sinnenliebe des ungeliebten Mannes über sich ergehen. Früher oder später lebt dann jedes für sich, je nach Eigenart und Neigung, und vielleicht dies mehr denn in einer sogenannten Liebesehe. Die Frau hegt und pflegt ihr geruhsames Dasein ohne überspannte Erwartungen und unmögliche Forderungen. Die volle Kraft ihrer unverbrauchten Liebe wird alsbald ihren Kindern zuteil. Aber diese wachsen heran, gedeihend oder nicht gedeihend, und die Sorglichste weiß von Anbeginn, daß man sie eines Tages doch allein ihren Weg durch die weite Welt wandern lassen muß. Und schon erwacht in der Mutter wieder das Weib. Mit einem Male denkt sie an die vergessenen Verheißungen ihrer Jugend zurück; wie einst träumt sie von Liebe und Leidenschaft, von all den umsonnten Dingen, die ihr das Leben so kärglich gespendet hat. Der nie gefundene und nie findbare Heiland ihrer armen Seele schreitet durch ihr stilles Gemach. Sie schenkt ihm die ganze Fülle der Zärtlichkeit, die sie während so langer Einsamkeit unbewußt gesammelt und ahnungslos in der Seele getragen hat. Und immer wieder fragt sie sich: Ist mir das Glück denn auf ewig versagt?

Liebste Freundin, sicherlich hätten Sie die eine unüberwindbare Enttäuschung erlebt, wenn sich Ihre Sehnsucht zunächst einmal scheinbar erfüllt hätte. Eine Fata morgana hätte Sie verführt. Die Seelen derer, die sich finden, musizieren immer nur in der Ouvertüre. Im Drama selbst agiert das Körperliche. Selbst in der überschwenglichsten Leidenschaft triumphieren auf dem Höhepunkte die Sinne. Der seelische Rausch verweht unwiederbringlich. Und im Finale steht der Erwachende am Scheidewege zwischen dem Abschied auf ewig oder der Begnügsamkeit mit dem, was einem zuvor nicht gewaltig genug war: der ehrlichen Kameradschaft. Verstehen Sie mich? Wozu erst den Umweg?

Haben Sie denn gar keine Freude mehr an den so mannigfaltigen Schönheiten unsres Daseins? Nicht nur das Eine macht den Menschen glücklich.


Agathe an Georg

Steinbach, den 19.

Lieber Freund!

Ich gestehe Ihnen, daß ich leide, und Sie ziehen daraus den kühnen Schluß, ich sei verliebt. Ja, das ist wohl möglich, aber es war nicht gesagt, um dafür die Leitsätze eines skeptischen Weltmannes zu ernten. Ich habe Ihnen in einer schwachen Stunde vielleicht allzu mitteilsam mein ganzes Herz ausgeschüttet. Vergessen Sie das wieder! Es wird für uns alle beide gut sein. Ich will es auch versuchen. Seien Sie herzlichst gegrüßt!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

Rockau, 21. Oktober.

Beinahe hätte ich Lust, Ihnen auch eine kleine Strafpredigt zu halten. Habe ich nicht einst schwer gelitten, ehe ich Ihr wahrhaftigster Freund geworden bin?

Es scheint mir. Sie lieben (ich muß es wiederholen), aber nicht mich, nicht eine bestimmte Person, sondern ein unerreichbares Geschöpf Ihrer Traumwelt. Darum leiden Sie, sind schwermütig, unfroh und nicht mehr im Gleichgewichte. Lassen Sie ab von diesem Trugbilde! Es macht Sie unglücklich und krank. Verjagen Sie die Traurigkeit!

Es ist für Sie zu viel der Einsamkeit. Kommen Sie zurück! Zerstreuen Sie sich im Treiben der Gesellschaft, der Stadt, der Menschen!

Ich küsse Ihre lieben guten Hände in einer Zärtlichkeit, die täglich wächst.


Agathe an Georg

Steinbach, den 30. Oktober.

Lieber Freund!

Die Art und Weise, mit der Sie mein Herzeleid niedertreten möchten, belustigt mich beinahe. Was kommt dabei heraus, wenn Sie sich Sorgen um den Frieden meiner schwachen Seele machen? Sie kennen viele Frauen. Gewiß. Und doch verstehen Sie in diesem Falle nichts von der Frau. Von der Frau meiner Art ganz bestimmt nichts!

Seien Sie mir nicht bös, wenn ich Ihnen so bittere Worte sage! Ach, ich übertreibe. Weiß ich doch, daß Sie unter hunderttausend Männern der Gütigste, Feinfühlendste und Klügste sind. Zuweilen waren Sie ein Meister im Verstehen.

Sie werden denken, ich rede irr, daß ich zwei sich so widersprechende Behauptungen nebeneinander aufstelle. Beide sind richtig. Sie mögen einwenden, was Sie wollen!

Gestern abend hat mich auch Mutter zu trösten versucht. Viel wirksamer als ein gewisser Andrer! Ich kam aus Sophiens Zimmer. Ich hatte ihr den Gute-Nacht-Kuß gegeben. Müd ließ ich mich im Musikzimmer in einem der altvaterischen Lehnstühle am Kamin nieder. Sie kennen den gemütlichen Platz! Mutter saß am runden Tische in der Ecke und strickte Strümpfe für Dorfkinder. Der ganze Raum war nur in diesem einen Teil erleuchtet; eigentlich allein die arbeitsamen Händer unter der grellen Lichtzone der umschirmten Stehlampe. An den Wänden spielte der rote Widerschein der glimmenden Klötze im Kamin.

Schwermütiges Grübeln undTräumen hatte mich im Bann,bis mich Mutters Worte in die Wirklichkeit zurückriefen, die mit stillem Leid gesprochenen Worte:

»Meine liebe Agathe, deinem Dasein fehlt die innere Freude. Es kommt dir leer vor. Es befriedigt dich nicht mehr. Ich weiß es wohl. Aber du wertest das dir Fehlende zu hoch. Es hat dir deine heitere Harmonie geraubt. Ruhlose Gedanken, unmögliche Wünsche, unbestimmte Erwartungen quälen dich. Du mußt sie verscheuchen. Denn um sie dir zu erfüllen, müßtest du frei sein. Und du weißt, daß diese unumgängliche Vorbedingung vielleicht noch Jahre lang auf sich warten lassen wird. Laß ab von diesen eitlen Hoffnungen! Mache dich Ablenkungen und Zerstreuungen zugänglich! Verschließe dich nicht länger der Welt! Wenn du willst, unternehmen wir zusammen eine große Reise. Du hast dir einmal gewünscht, Ägypten kennen zu lernen. Es bedarf nur deiner Anregung und wir reisen. Der Anblick fremder schöner Gegenden wird dir wohltun. Überlege dir einmal meinen Vorschlag!«

Wie gütig sie mir dies gesagt hat! Viel herzlicher als Sie mir ähnliche Mittel geraten haben. Ich habe Mütterchen geküßt und ihr willig und gern versprochen, mich langsam zu bessern.

Ich soll und muß mich also zerstreuen! Das ist aller Tröstungen Kern. Gut, ich ergebe mich. Sobald ich wieder in Dresden bin, werde ich Ihnen das nähere Programm entwickeln. Bis dahin bitte ich meinen lieben Freund Georg, den Führer in der mir auferlegten Weltlichkeit zu machen. Nehmen Sie diese Berufung an? Dies soll Sie zu keinem Opfer verpflichten. Sagen Sie: Ja! Alles andere wird sich schon machen.


Georg an Agathe

Dresden, 15. November.

Meine liebe Freundin.

Befürchten Sie wirklich nicht, daß Sie mich durch diese neue Auffassung unsrer Freundschaft tief verletzen? Die Freundschaft ist eine ebenso zarte Blume wie die Liebe. Und solche Blumen wollen gehegt und gepflegt sein.

Seien Sie offen und ehrlich zu mir! Sie mögen mich nicht mehr, sind aber zu zartfühlend, es mir einfach zu sagen. Und so wollen Sie es mir durch eine echtweibliche List allmählich beibringen. Ich bin Ihnen von ganzem Herzen zugetan, und so kann ich mir meine grenzenlose Zuneigung nur unter großem Schmerz zerstören lassen. Ich verlöre den Inhalt meines ganzen jetzigen Lebens, und die größte Enttäuschung meines Lebens, die ich damit erlebte, könnte ich niemals überwinden.

Sehen Sie, zu solchen friedlosen Betrachtungen zwingt mich Ihr letzter Brief! Zu meinem Herzeleid und zu Ihrer Seele Nachteil wollen Sie dieses Jahr, solange es der milde Winter nur zuläßt, auf Ihrem Gute bleiben. Wenn Sie unsre gegenseitige Zugehörigkeit weiterhin anerkennen, müssen Sie mir wenigstens wieder häufiger schreiben. Sonst hält uns nur noch die Erinnerung zusammen, denn ich gehöre zu den Menschen, die sich aufdringlich fühlen, wenn sie nicht immer wieder sichtliche Zeichen erhalten, daß sie geliebt werden. Es bereitet mir Sorge und Kummer, wenn ich nichts von Ihnen höre. Schreibfaulheit ist unter uns keine Entschuldigung. Es drohen hier im Hintergrunde ernstere Dinge.

Wenn Sie in einer inneren Krise stehen, dann gäbe es doch keinen verständnisvolleren Beichtvater als mich. Offenbar wollen Sie sich mir aber nicht mehr anvertrauen. Das ist es, was mich erschreckt.

Seit drei Tagen bin ich wieder in Dresden. Ich war auf dem Gute meines ehemaligen Kameraden Troski ein paar Tage zur Jagd. Körperliche Anstrengung bekommt mir immer prächtig. Umso weniger wohl fühle ich mich jetzt. Ich möchte mich körperlich müde machen und kann es nur geistig. Ich empfinde meine Einsamkeit als Last. Das geht mir selten so, aber um so schlimmer ist es dann immer.

Es gibt wohl zwei Hauptarten von einsamen Menschen. Die einen sind zum Einzelgängertum verdammt, die andern dafür geboren, damit begnadet. Jene fühlen sich abseits der Menge, gemieden, verstoßen; diese sehen sich über ihr, mehr oder weniger hoch über ihr, und genießen sich selbst bis zum stolzesten Hochmut, befreit, erlöst. Am glücklichsten erscheinen mir die, die nicht grübeln, zu welcher Sorte sie gehören, denen ihr Anderssein als der profane Haufe gar nicht oder nur selten zum Bewußtsein kommt. Für sie gibt es weder die schmerzliche Empfindung des Verzichtens oder Verzichtenmüssens auf gesellige Freuden noch auch jenen unsozialen Hochmut, jene egoistische Selbstsonderung.

Ich bin viel zu sehr glücklicher Träumer, als daß ich die Einsamkeit – wie soll ich sagen? – als Stunden ohne Inhalt, als etwas Leeres empfände. Ich lebe in tausend Erinnerungen, künstlerischen Reminiszenzen, Assoziationen. Meine Phantasie schläft nie. Sie arbeitet unermüdlich am kaum Geschehenen, eben Erlebten, selbst noch an den alten Erinnerungen meines Lebens, bis ich schließlich vor einer langen Reihe köstlich gewordener Bilder träume, aus denen jeder Mißklang der Wirklichkeit gewichen ist. Meinem eignen Dasein gegenüber bin ich ein wundervoller Bildner. Unbewußt vergesse ich alles, was gegen das sonnige Leitmotiv meines Lebens ist, und was bleibt, das verklärt, stilisiert und symbolisiert sich. Und wenn ich etwas Häßliches, Betrübliches, Lastendes nicht vergessen kann, weil es von zu großer Bedeutung gewesen, dann schlägt es zu meinem Glück ins leise Humorvolle um, und so fallen eigentümliche bunte Lichter in die Schatten meiner Erinnerungen.

Seit ich Ihnen verfallen bin, kristallisiert sich mein Denken und Fühlen um Sie. Weil ich aber nun daran zweifle, daß Sie die meine bleiben wollen, ist Unruhe und Sturm in die Kristallisation gekommen. Meines Friedens beraubt, empfinde ich mitunter meine einst so geliebte Einsamkeit als Qual.

Außer Ihnen habe ich keine Freunde. In jüngeren Jahren hatte ich deren oder glaubte welche zu besitzen. Allmählich bin ich darin Zweifler geworden. Ich habe eigentlich nur noch ein paar alte Kameraden zu – Freunden. Freund hier nicht in der Auffassung der Gesellschaft, die mit dem Ideal dieses Begriffs nicht viel zu tun hat. Der Einzige aber, den ich, ohne es ihm zu sagen, am meisten liebe, weil er ein wirklich höherer Mensch ist, ein Jugendfreund, der ist mir gegenüber, so wie ich zu ihm, längst verschlossen, seit ihn sein erlesenes Leben zum Weltmanne im höchsten und vornehmsten Sinne gemacht hat. Wenn wir uns gelegentlich treffen, was selten geschieht, dann liegt eine wunderschöne heimliche Freundschaft in dem stummen Drucke unserer Hände. Wir erzählen uns unsre Erlebnisse, aber nur die äußeren, und es gehören ganz feine Ohren dazu, um aus dieser Plauderei die warmen Untertöne herauszufühlen, die jedem von uns beiden leise sagen: »Wir kennen uns seit unfern so glücklichen Jugendtagen. Ich weiß, was tief drinnen auch in deinem verleugneten Romantikerherzen steckt. Wir sind beide kühle Weltkinder geworden und sind doch im Kerne die alten Gefühlsmenschen geblieben, ohne daß wir dies rührselig einander versichern.«

Wozu erzähle ich Ihnen das alles? Es klingt Ihnen – wie wohl oft in meinen Briefen – doch nur wie das halbironische Bekenntnis eines fast schon zum Sonderling gewordenen Einzelgängers. Ich weiß das. Aber ich weiß auch, daß Sie genau so an mir Anteil nehmen wie ich an Ihnen. Und ich möchte, daß Sie auch die Widersprüche an mir verstehen, die Gegensätze und Schwächen. Wahre Freunde müssen nun einmal auch das gegenseitig lieben.


Agathe an Georg

Steinbach, den 16.

Liebster Freund!

Wie herzlich ich mich über Ihren Brief gefreut habe! Sie haben also noch Anteil an mir! Ich bin wirklich etwas in Ihrem Leben!

Fürchten Sie doch nicht, ich könnte mich von Ihnen wenden! Das wird niemals geschehen. Unbeständigkeit liegt nicht in meiner Natur. Zudem brauche ich Sie. Sie sind eine Lebensbedingung für mich! Vielleicht die wichtigste. Ich kann nicht mehr von Ihnen lassen. Keinen Augenblick, im Wachen wie im Traume, lebe ich ohne Sie. Ich habe mich in Sie verloren. Ich suche nach mir und kann mein früheres Leben nicht wiederfinden, nirgends. Das ist mein Leiden.

Ich verbrauche meine körperlichen und seelischen Kräfte im viel zu häufigen Ringen mit mir selbst oder mit dem Ideal, das ich vor mir selber sein möchte, und ich verzehre mich dabei in Qualen, die kein Mensch ahnt. Auch Sie bisher nicht!

Es kommen Tage unendlicher Mattigkeit, an denen ich mich gebrochen und traurig und unselig fühle, an denen ich den Tod herbeisehne, damit er meinem armen Herzen den Frieden bringe. Die Worte des alten Augustinus klingen mir oft durch die Seele: Unser Herz ist ein ruhlos Ding, bis daß es ruhet, Gott, in Dir!

Aber ich darf ja den Mut nicht verlieren. Ich muß leben – für mein Kind. Ich will genesen. Ich will! Also werde ich gesunden. Sie haben einmal gesagt: Um gesund zu werden, muß der Mensch es vor allem sein wollen!

Sprechen wir nicht mehr darüber! Reden wir lieber von Ihnen: Ich weiß auch Sie im Kampfe, anders als ich es bin: mit allerlei Sorgen und Lasten, mein lieber Freund. Das bekümmert mich schwer. Ich bete für das Gelingen Ihrer Arbeit. Sie werden das Gut halten. Das ist mein fester Glaube. Ihre kühnsten Hoffnungen werden sich erfüllen. Ich wünsche es sehnlichst um Ihretwillen, denn für mich bedeutet die Erfüllung dieser Wünsche doch schließlich Entsagung. Sie werden sich fortan häufig auf dem Gute aufhalten müssen und mir dadurch fern sein. Räumlich nur, ja, aber immerhin fern. Doch will ich es gern erdulden, wenn ich Sie dafür beschäftigt und glücklich weiß.

Seit einigen Tagen habe ich mich wieder so weit, ein wenig Freude am Lesen zu finden. Hin und wieder wenigstens, an den gar zu langen Abenden. Und was lese ich? Sie haben einmal gesagt: Das Vernünftigste, was ein gescheiter Mensch lesen könne, sei das Unvernünftigste: Märchen! Die lese ich jetzt mit einem Male am liebsten. Ganz merkwürdig! Gestern hatte ich den Peter Schlehmil in den Händen. Kennen Sie das Buch noch? Als kleiner Junge haben Sie sich sicher den Kopf zerbrochen, wie es möglich sei, daß einer seinen Schatten verschachern könne. Ich besitze eine alte Ausgabe mit den allerliebsten Stichen von Cruikshank...

Wissen Sie, liebster Freund, ich glaube, auch ich habe meinen Schatten verloren. Und Sie haben nun deren zweie!


Georg an Agathe

Dresden, 19. November.

Meine verehrte Freundin!

Es ist an vielen Tagen meine einzige Freude, von Ihnen ein paar Blätter zu bekommen und Ihnen etliche Seiten zu schreiben. Meine Briefe an Sie bedürfen zu ihrer Entstehung immer einer ganz besonderen Stimmung. Ich muß jedesmal eine Weile mit mir allein gewesen sein, bis ich Ihre imaginäre Gegenwart völlig befreit von andern Gedanken empfinde. Erst dann plaudre ich gleichsam allein mit Ihnen. Erst dann gehören wir ganz einander. Ähnlich ergeht es mir, wenn ich in der Wirklichkeit bei Ihnen weile. Nichts ist mir unerträglicher, als wenn sich ungleichgültige Dritte in unsre Unterhaltung drängen. Das Innerste in mir erstarrt zu Eis. Oft rede ich dann wie ein mir selber Fremder.

Ich sitze seit einer Stunde in meinem behaglichen Bibliothekszimmer. Nur die Schreibtischlampe glüht unter ihrem breiten grünen Dach. Ein matter Schimmer von Licht hängt an den langen Reihen meiner geliebten Bücher. Ich verweile schon seit Geraumem in Gedanken bei Ihnen, und nun erst beginne ich an Sie zu schreiben.

Auf dem Tischchen neben dem großen Schreibtisch steht offen die Zedernholzkassette mit den blinkenden Silberbeschlägen, die Ihre Briefe an mich birgt. Ihr köstliches Geschenk! Seit wir uns kennen, sind wir sehr oft räumlich voneinander getrennt gewesen. Die stattlichen Bünde Briefe zeugen davon. Eben habe ich etwa ein Dutzend davon wieder durchgelesen. Das hat mich in eine nachdenkliche, sonderbar gerührte Stimmung versetzt.

Wer nicht an sich selbst erlebt hat, was Freundschaft zwischen Mann und Weib bedeutet, wirklich innige echte Freundschaft, der müßte eine Vorstellung davon bekommen, wenn er unsre Briefe lesen dürfte. Diese Dokumente sind ein klares Spiegelbild unsres zärtlichen Bundes. Man kann in ihnen alle seine Wandlungen verfolgen und daran ersehen, wie schwer es zwischen Mann und Weib ist, einander Freunde zu sein, ohne weder in den Fehler der gesellschaftlichen Oberflächlichkeit noch in den der gewöhnlichen Verliebtheit zu verfallen. Zwischen beiden Klippen führt nur ein ganz schmaler Pfad hin.

Wenn diese geliebten Briefe nicht an mich gerichtet wären, wenn ich unbefangen über sie nachsinnen und sprechen könnte, wäre ich versucht, aus diesem Dokument einen Essay über dieses seltsame Kapitel der menschlichen Kultur zu schöpfen. Ein Romandichter fände vielleicht den Stoff zu einem psychologischen Roman darin. Man könnte ihn »Herzensfreundschaft« betiteln. Wenn ich dieser Romandichter wäre, wurde ich Tagebuchfragmente der beiden seltsamen Leute dazwischen fügen. Wenn man sie selber erlebt hat, lassen sich die sonderbarsten Bizarrerien der Herzen schildern. Man muß sich nur hüten, das Rätselhafte in nicht rätselhaften Worten erklären zu wollen. Wie im Leben muß das Letzte der Seelen in der Geste, im Aufleuchten der Augen, im Druck der Hand sein kaum verspürbares Symbol behalten. Die wunderbaren Geheimnisse der Mona Lisa zu enthüllen, würde selbst Lionardo niemals versucht haben. Er begnügt sich, sie zu malen. Das hat die Kunst vor der Wissenschaft voraus.

Ich habe bereits einmal über die Schamlosigkeit der Dichter geplaudert. Meine Bedenken teilen alle sensiblen Schriftsteller. Es fällt mir aus dem mir geistesverwandten Vigny folgende Stelle ein: »Ich weiß nicht, ob ich dermaleinst, und sei es nur für mich selbst, alle geheimsten Einzelheiten meines Lebens niederschreiben werde. Ich will nur von einem Gefühle reden, das mich von vornherein dabei beherrscht. Zuweilen, wenn die Seele von der Vergangenheit gequält wird und von der Zukunft nicht mehr viel erwartet, tritt die Versuchung an uns heran, die Mysterien der über unsern Lebensweg Geschrittenen und unsres eigenen Herzens der Nachwelt zu verraten. Ich begreife vollkommen, daß sich geistvolle Männer daran ergötzt haben, die Blicke aller Welt in das Innere ihres Lebens und sogar ihres Gewissens eindringen zu lassen; daß sie keine Scheu empfanden, ihr Herz bloßzulegen und vom Lichte der Öffentlichkeit durchleuchten zu lassen: wirr wie es war, ein buntes Durcheinander von Vorzügen und Schwächen, verlorenen Illusionen und trautesten Erinnerungen. Es gibt solche Werke unter den schönsten Blüten der europäischen Literatur, die ich mit jenen herrlichen Selbstbildnissen vergleichen möchte, die Rembrandt nicht müde wurde zu malen. Aber die Künstler, die sich so dargestellt haben, sei es leichtverschleiert, sei es nackt, hatten gewisse Rechte dazu, und ich glaube nicht, daß man seine Bekenntnisse der Welt mitteilen darf, bevor man hinlänglich bejahrt, hinlänglich berühmt oder hinlänglich zerknirscht ist.«

Die Beschäftigung mit diesem Problem wird Ihnen meine immer wieder zum Vorschein drängende geheime Sehnsucht verraten, künstlerisch zu schaffen. Warum sollte ich sie Ihnen verheimlichen? Aber gleichzeitig sehen Sie immer wieder die starke Gegenströmung. Wenn mich innere Erlebnisse bewegen, habe ich den Drang, sie vor andern zu verbergen. Meine beständige Sorge, mein Innenleben nicht zu profanieren, hat mich ost zur Ironie meine Zuflucht nehmen lassen. Ich bin in den Ruf eines spöttischen Skeptikers gekommen. In Wirklichkeit bin ich aber doch ein gefühlsseliger Romantiker.

Mit dieser schönen Selbsterkenntnis will ich schlafen gehen. Gute Nacht, meine gütige Freundin!


Agathe an Georg

Steinbach, den 20. November.

Mein lieber Freund!

Das war endlich wieder einmal ein lieber Brief! Jede Zeile darin hat mir gezeigt, daß Sie Ihr – Ihnen wie mir heiliges – Innenleben mit mir teilen. Diese wundervolle Zusammengehörigkeit ergreift mich tief und füllt mir das einsame Herz von neuem mit warmer Dankbarkeit.

Herzensfreundschaft! nennen Sie unsern Bund. Ich glaube, einen trefflicheren Namen könnte niemand finden. Mein Herzensfreund, ja, das sind Sie!

Sie haben recht: wir sind häufig voneinander getrennt gewesen. Wirklich, wir haben uns wenig gesprochen, seitdem wir uns richtig kennen. Aber Sie tragen daran die Hauptschuld! Fassen Sie das nicht als Vorwurf auf, denn ich denke zwar leichter, als ich schreibe, aber ich schreibe leichter, als ich spreche. Es gibt so vieles, was einen im Gespräch ablenkt. Ein Blick, ein Lächeln, eine Bewegung, zu große Aufmerksamkeit oder Zerstreutheit des Andern, alles derartige kann mich plötzlich aus der Fassung bringen, wie ich ja überhaupt viel Leute um mich nicht vertrage. Das Zarte und Feine meiner Gedanken vermag ich nicht ohne Nachdenken in Worte zu kleiden. Was meine Seele bis in die dunklen Winkel und in die geheimsten Gründe erfüllt, das kann ich nicht im Augenblick voll zum Ausdruck bringen. Gespräch ist Improvisation. Mit Natürlichkeit plaudern zu können, voll Geist und Anmut, ist etwas Geniales, also etwas sehr Seltenes. Die meisten Menschen verstehen wenig von der Kunst, aus ihrem eigenen Innern zu schöpfen. Der vorhandene Stoff ist zu spröd und der sich Mitteilende zu unbeholfen. Mir geht es Ihnen gegenüber trotz aller Vertrautheit oft so. Wenn ich aber schreibe, bin ich unbefangen, zumal vor Ihnen. Ich träume minutenlang zwischen zwei Worten. Ich sehe Sie dann immer im Geiste vor mir. lind es kommt mir dabei vor, als sei Ihr Blick gütig, nachsichtig, voll Zuspruch und Verständnis für das Gewirr meiner Gedanken. Dann beschwöre ich den »gefühlsseligen«, besser: feinfühligen Romantiker herauf, der insgeheim in Ihnen lebt. Und dann schenke ich Ihnen die ganze Welt meines Herzens. Es gehört doch nur Ihnen! Und wenn ich nicht fürchtete, Sie zu langweilen, wüßte ich Ihnen alle Tage viele, viele Seiten lang daraus vorzuplaudern! Sehr oft schreibe ich Ihnen lange bekenntnisreiche Briefe, die ich freilich nie absende! Vielleicht sind das meine allerschönsten, herzlichsten Briefe.

Ihre so oft stumme Freundin – Frau Verschwiegenheit, wie Sie mich eines Abends so drollig genannt haben, – lebt längst oft Abende lang in einer überirdischen Gefühlswelt, die ihr die Sprache der Wirklichkeit verhaßt macht.

Sagen – kann ich Ihnen so Vieles nicht, aber warum soll ich es Ihnen nicht schreiben? Ich weiß ja, Sie verstehen mich immer, auch wenn es Ihnen Ihre in gewisser Hinsicht egoistische Philosophie gebietet, es sich mir gegenüber ja nicht anmerken zu lassen.

Seien Sie vielmals von Herzen gegrüßt!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

22. November.

Liebe Freundin.

In aller Eile nur ein paar Zeilen. Herzlichen Dank für Ihr letztes Briefchen voll Gesundheit und Vernunft! Es hat mich sehr erfreut. Es scheint mir zu vermelden, daß Sie wieder froh und lebenslustig sind. Sie waren wirklich einer Gemütskrankheit nahe. Ich hegte große Sorge um Sie. Jetzt, da die Gefahr abgewendet ist, darf ich es Ihnen ja sagen.

Wann kommen Sie nun endlich? Ich erwarte Sie sehnsüchtig.

Soviel für heute! Ein bißchen wenig? Das nächste Mal will ich Ihnen umsomehr vorschwatzen. Ich habe Besuch, und wenn jemand im Zimmer sitzt, wird nie etwas Ordentliches aus einem Briefe.


Agathe an Georg

Steinbach, den 24. November.

Mein lieber Freund!

Sehnsucht haben Sie nach mir?

Wie soll ich das glauben, wenn Sie einen solchen flüchtigen Brief an mich abzuschicken imstande sind!

Daß Sie Besuch hatten, das ist keine Entschuldigung, zum mindesten nur eine, die mich tief betrübt. Ein guter Freund schreibt seinem Freunde nur in guter Stunde. Warum muß ich Ihnen das sagen? Sie wissen es selbst und haben es hundertmal selbst so gehalten, vor allem mir gegenüber.

Dazu loben Sie meine Vernunft in einer Art (so von oben herab!), die mich kränkt. Sagen Sie nun aber nicht, ich sei mißlaunig! Nein, das bin ich niemals, am allerwenigsten vor Ihnen.

Als ob Verstand und Vernunft Vorrechte der Herren der Schöpfung seien. Das sind sie zu keiner Zeit gewesen. Heutzutage gleich gar nicht, – ich möchte beinahe sagen: bedauerlicherweise. Erinnern Sie sich, daß wir einmal recht gründlich über die selbständigen, einen Beruf ausübenden Frauen von heute gesprochen haben? Sie waren statistisch gut unterrichtet. Sie gaben auch vollkommen zu, daß die unverheiratete Frau ein Recht auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Selbständigkeit, öffentliche Tätigkeit und wissenschaftliche Anerkennung habe, mit gewissen Beschränkungen, indessen waren Sie in einer Hinsicht ein starker Zweifler. Sie behaupteten, bei der (sagen wir) altmodischen Frau herrsche die Gefühlswelt und eine ihr entsprechende Wertung aller Dinge vor. Die moderne gebildete Frau sei auf der Jagd nach Wissen allzuleicht eine blinde Durchgängerin. Dabei fülle sie nicht nur ihr Hirn, sondern leider auch ihr Herz mit Reichtümern des Verstandes. Und was sei eine Frau ohne ein unverfälschtes Herz?

Merkwürdigerweise unterhalten Sie sich trotz dieser Meinung ganz gern mit gelehrten Frauen. Sollte das nur zur Abwechselung sein? Oder studieren Sie bisweilen auch diese Abart des Weibes? Haben Sie nicht einmal gesagt, es bereite Ihnen hohen Genuß, sich in andere Menschen hineinzudenken. Einmal, bei einem Abendessen im Schöningschen Hause, waren Sie Tischnachbar einer allbekannten Führerin der Frauenbewegung. Ich beobachtete Sie. Beide waren Sie sehr aufgeräumt und sehr vertieft in irgendein wissenschaftliches Thema. Hinterher brachte ich Sie gelegentlich dazu, sich über jene Frauenrechtlerin zu äußern. Was sagten Sie daunter anderem? Gelehrte Frauen seien für Sie geschlechtslose Wesen.

Vielleicht haben Sie im allgemeinen nicht unrecht. Aber ist es nicht ein Zeichen unserer Zeit überhaupt: die Überschätzung der Wissenschaft als Selbstzweck. Erzieht man etwa auf unseren Schulen und Hochschulen das Gemüt? Nein, man vernachlässigt es.

Genug davon! Ich kenne Ihre Weltanschauung. Gefühlsmenschen stehen Ihnen unendlich höher als Gehirnmenschen. Ach, loben Sie nie wieder an mir den Verstand!

Wissen Sie, in gewissen Augenblicken erscheinen Sie mir selber als eine Verstandesnatur. Ich kann mir nicht helfen. Dann empfinde ich ein leises Kältegefühl vor Ihnen – bei all meiner Treue zu Ihnen. Und dann fühle ich mich todeinsam. Verstehen Sie mich?

Gute Nacht!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

26. November.

Meine liebe Freundin.

Deuten Sie es nicht falsch, wenn ich Ihnen im folgenden Dinge schreibe, die Sie vielleicht verstimmen. Aber ich muß Ihnen allezeit ehrlich sagen, was ich denke. Sie befinden sich auf einem seelischen Abwege. Glauben Sie mir das! Ihnen tut eine andre Umgebung immer mehr not. Warum zaudern Sie solange? Sehen Sie es nicht längst selber ein? Ich erkenne meine männlich-feste Freundin in ihrem jetzigen kraftlosen und unlustigen Zustande nicht wieder. Dabei glauben Sie Tatkraft zu üben, indem Sie mit Windmühlen kämpfen.

Eines schickt sich nicht für alle. Eine Träumernatur, wie ich sie zum Beispiel habe, die sich dem Leben der Wirklichkeit bewußt abwendet, verträgt ein auf sich beschränktes Leben, wie Sie es jetzt führen, ohne unbestimmter, von Tag zu Tag wechselnder Schwache zu verfallen. Mir genügt zuweilen das ständige Rauschen des Waldes, die milde Stille der Luft, das ruhige Blau des Himmels und schlaftrunkene Einsamkeit ringsum. Ich begnüge mich gern mit dem, was ist. Das ist mein Glück. Aber eine tätige und tatenlustige Natur wie die Ihre, der Träume gern zu Plänen werden und für die Gedanke und Ausführung am liebsten eines ist, muß dieses ewige Alleinsein mit einem Kinde auf einem stillen Gute zur Verzweiflung bringen. Das ist die Ursache Ihrer seelischen Trübsal und Ihres körperlichen Unbehagens. Bücher und Grübeleien machen Sie immer schwermütiger. Sie brauchen Beschäftigung und Veränderung. Ich habe viel darüber nachgedacht.

Kommen Sie also schleunigst zurück! Vierundzwanzig Stunden hier in Dresden – und Sie sind wieder frisch und gesund! Sie waren doch ehedem so gern lebenslustig.

Ich will Ihnen zum Schluß noch ein bißchen was von unsern Bekannten und Freunden berichten.

Heute abend bin ich zu Tisch bei Ihrem Schwager. Vorgestern traf ich Fräulein Susanne auf der Straße. Sie hat mich ziemlich ungnädig behandelt. In ihrem Köpfchen, das doch schließlich nur ein Kindskopf ist, gehen Dinge vor, von denen ich nichts wissen soll, durch deren Verheimlichung man mich in Verlegenheit zu setzen glaubt. Szanto scheint bei dieser mir unbillig grollenden kleinen Mondäne endgültig Favorit geworden zu sein. Ich versichere Ihnen, daß ich froh bin, nicht mehr der Beichtvater Ihrer launenhaften schönen Nichte zu sein. Das war eine undankbare Sache.


Agathe an Georg

Rosenhof, Sonntag den 1. Dezember.

Lieber Freund!

Endlich sind wir wieder hier! Seit gestern abend! Sehen wir uns morgen bei meiner Schwägerin? Ich freue mich, Sie wieder zu haben. Sie ahnen nicht wie sehr!

Auf frohes Wiedersehen!

Ihre Agathe


Agathe an Georg

Am 8. Januar 1913.

Lieber Freund!

Gestern in der Oper, während des mir liebsten aller Werke Wagners, des Tristans, haben Sie mir etwas gesagt, was mich recht gekränkt hat. Unsere Freundschaft schreibt mir volle Offenheit vor. Sie erinnern sich vielleicht nicht einmal mehr Ihrer Worte.

Sie haben gesagt: »Ich mag helle Samtkleider nicht. Die sind gräßlich auffällig; sie verletzen meinen Schönheitssinn.« Der harte fast feindliche Ton, in dem Sie dies äußerten, hat meinem Herzen sehr weh getan. Und dann haben Sie sich den ganzen Abend Evelinen und Susannen gewidmet. Nicht wie sonst haben Sie mich gebeten, mich in das Foyer führen zu dürfen. Ahnen Sie nicht, welche Freude Sie mir damit vorenthalten haben? Ich wandle so gern an Ihrer Seite.

Mir war jeglicher Genuß an der himmlischen Musik und an dem sonst so wohligen Gefühl, in Ihnen der Welt zu gefallen, mit einem Schlage genommen. Ich litt qualvoll und wäre am liebsten sofort nach Haus gefahren, wenn mich meine Schwägerin nicht so scharf beobachtet hätte, nachdem sie bemerkt, wie kühl Sie mich behandelten.

Warum lassen Sie mich Ihre schlechte Laune entgelten? Warum mißachten Sie einen ganzen Abend lang unsere alte liebe Freundschaft? Warum werfen Sie mir auf einmal schlechten Geschmack vor?

Ich weiß wohl, sensible Menschen sind nervös. Ist das aber die rechte Entschuldigung für eine Gefühllosigkeit von einem sonst so oft überfeinfühligen und gegen alle Welt rücksichtsvollen Manne? Es muß da ein anderes Motiv mitwirken. Warum sagen Sie mir nicht die Wahrheit? Was meinen schlechten Geschmack anbelangt, so liegt mein Fehler darin, daß ich zu wenig eitel bin und meinem Schneider (es ist übrigens der erste Dresdens) oft zu freie Hand zu lassen pflege. Gut, ich werde mich hierin ändern! In Äußerlichkeiten gebe ich gern nach. Ich lege großen Wert darauf, von meimem grausamen Freunde unter die erlesen-eleganten Frauen gerechnet zu werden. Wenn ich aber fortan einmal in den Fehler des Extrems (den der Koketterie) verfalle, so bitte ich ihn im voraus, die Schuld gelassen auf sich zu nehmen.

Glauben Sie nicht, daß ich wie die meisten Frauen keinen Tadel vertrüge. O nein. Sie haben mich in Ihrer freimütigen Art schon manchmal arg getadelt. Aber ich habe stets bewundert, wie gütig und liebenswürdig Sie das immer zu tun verstanden. Ich schätze die Aufrichtigkeit und hasse nichts gründlicher als die alberne landläufige Schmeichelei der Männer. Ich vertrage Ihren Tadel, aber gestern haben Sie mich ihn in einer Art empfinden lassen, die mich bis ins Tiefste verwundet hat.

Demütige Unterwerfung liegt nicht in meiner Natur. Ich bin zur Herrin geboren, nicht zur Sklavin. Sie haben mich gedemütigt, nachdem Sie mich so lange wie eine Fürstin behandelt haben. Lieber will ich auf Ihre mir so teure Freundschaft freiwillig und immerdar verzichten, als noch einen solchen Abend verleben.

Ich habe mein Herz auf die Opferschale der Freundschaft gelegt. Das Ihre liegt mit einem Male nicht mehr daneben, und so nehme ich auch das meine stillschweigend zurück. Ich möchte beinahe glauben, mein Entschluß wird die behagliche Beschaulichkeit Ihres Daseins nicht allzusehr stören.


Georg an Agathe

8. Januar abends.

Meine beste Freundin.

Ganz bestürzt und bekümmert durch Ihren Brief, sehe ich ein, daß ich mich durch eine leichte Verstimmung zu einem unritterlichen Benehmen gegen Sie habe hinreißen lassen. Ich spreche diesen schweren Vorwurf gegen mich ehrlich aus, ohne Sie auf Ihr Gewissen zu fragen: Sind Sie nicht noch aus irgendeinem andern mir verborgenen Grunde etwas gereizt gegen mich? Kennen Sie sich hierin genau? Liegt seit kurzem nicht etwas Fremdes zwischen uns beiden? Wie dem auch sei, ich komme zu Ihnen und will Ihnen den Grund jener Verstimmung persönlich beichten. Sie werden zu Ihrer Befriedigung hören, daß er in einem äußeren Umstande wurzelt. Ich bitte Sie herzlich um Ihre freundschaftliche Verzeihung. Was kann uns beiden eine flüchtige schlechte Laune anhaben, eine kleine menschliche Schwäche, wie wir sie einander gewiß gern lächelnd nachsehen. Glauben Sie mir, ich achte Sie so hoch, ich liebe Sie so innig, ich fühle mich mit Ihnen so über dem Alltag mit seinem unvermeidlichen Ungemach, daß ich an die Unwandelbarkeit unsres Zusammengehörens und Einander-Verstehens fest glaube. Sie sagen, Sie vermißten mein Herz in unsrer Freundschaft! Selbst wenn Sie das Ihre zurücknähmen, so soll das meine doch in unserm Heiligtume verbleiben und bis zu meinem letzten Stündlein treu und ergeben Ihnen gehören.


Georg an Agathe

21. Januar.

Beste einzige Freundin.

Unsre Freundschaft erscheint mir viel zu fest begründet, als daß sie eines Mißverständnisses und einer vorübergehenden leisen Verstimmung wegen wanken könnte. Das ist doch sicherlich unser beider Überzeugung.

Vor vierzehn Tagen, in der Oper: ich will Ihnen den Hergang einfach berichten, so herzbedrückend es mir jetzt ist, daran zurückdenken zu sollen. Aber es gilt ja, Sie mir wieder zu versöhnen. Der Zufall fügte es, daß ich eine häßliche Bemerkung hören mußte, die zwischen zwei mir unbekannten Herren in der Nachbarloge fiel. Diese dummen Worte hefteten sich an Ihre Toilette. Sie kennen mich: ich bin in Fragen der Mode kein Spießbürger. Ich weiß nicht, was es war, irgend etwas reizte auch mich von diesem Moment ab an Ihrer Kleidung. Im allgemeinen hasse ich hellen Samt an Frauen. Oder war es das leuchtende Grün, das mich an jenem Abend ärgerte? Bei Gott, ich weiß es nicht mehr. Kurz, ich war nervös geworden, ärgerlich, verstimmt. Ich litt, litt maßlos, glauben Sie mir! Sonst hätte ich mich beherrschen müssen. Daß andre auf Gedanken kommen, die Sie, wenn auch nicht in meinen Augen, herabsetzen, das kann ich nicht vertragen. Das tut mir weh. Wie soll ich mich ausdrücken, ohne Sie noch einmal zu verletzen?

Sie werden lächeln, Sie, das geliebte Weltkind! Ich habe mich lächerlich gemacht. Gewiß. Lassen wir es dabei! Nur seien Sie nicht ungerecht gegen mich ! Eine schicke Frau geht nach der Mode, und die Mode hat mitunter Eigentümlichkeiten, die einem contre coeur sind. Wie konnte ich so entgleisen, wo ich Sie sonst in allem, was Sie tragen, so aufrichtig und voller Entzücken bewundere? Ich sehe ein, daß es töricht und unliebenswürdig von mir war, mir meinen Ärger anmerken zu lassen. Aber jetzt, wo Sie den verborgenen Zusammenhang kennen, verzeihen Sie mir doch? Ich bitte Sie innigst darum. Ihnen Schmerzen bereiten, das habe ich nicht gewollt!

Mein letzter Brief an Sie ist ohne Antwort geblieben. Ich erwartete ein paar halbverzeihende Zeilen von Ihnen und hatte mir vorgenommen, Ihnen daraufhin einen Besuch zu machen, um Ihre volle Verzeihung zu erlangen. Da aber kein Briefchen kam, habe ich mich aufgemacht und bin zu Ihnen hinausgewandert.

»Die gnädige Frau ist ausgegangen!« meldete mir Josef.

Ich witterte Ihren Befehl hinter den Worten Ihres Dieners, und um Gewißheit zu haben, bin ich am Tage darauf nochmals gekommen.

»Die gnädige Frau ist ausgegangen!«

Ihr Getreuer machte eine verlegene Miene dazu. Er weiß, welchen ausgezeichneten Stand er bei mir hat. Ich erkundigte mich, ob Ihr Töchterchen und Miß May zu Hause seien. Erhöhte Verlegenheit.

»Nein, Herr Baron!«

Was soll dieses Sich-Verleugnenlassen, dieses Sich-Verstecken besagen? Unter so guten alten Freunden?

Am Sonntag darauf war ich bei Ihrer Frau Mutter. Ich ging mit Absicht zeitig hin, um der erste aller Gäste zu sein. Ich hoffte ganz bestimmt. Sie zu sehen. Ich fragte nach Ihnen.

»Agathe? Sie war vor Tisch da, nur auf ein paar Minuten. Sie hat für nachmittag irgend etwas vor. Übrigens ist sie seit einiger Zeit recht nervös – –«

Von da an habe ich Ihren unverkennbaren Wunsch, mir aus dem Wege zu gehen, geachtet und Sie nirgends gesucht. In solchen Fällen bin ich ein mir selber unbegreiflicher Dickkopf. Aber gestern habe ich durch Ihre Frau Schwägerin erfahren, daß Sie leidend seien. Das hat mich besorgt gemacht. Sagen Sie mir, bitte ich, ist es an dem? Am liebsten eilte ich unverwandt zu Ihnen. Seit Sie mich meiden, leide auch ich. Von Tag zu Tag habe ich auf einen Ruf geharrt. Wenn ich Sie verletzt habe, so war das doch nicht Absicht von mir. Sie dürfen mich nicht so hartherzig behandeln.

Ich selbst vermag niemandem etwas nachzutragen. Ihnen vollends, das wäre mir unmöglich, Und so will ich das Schweigen brechen, das ich nicht länger ertragen kann. Liebe Agathe, reichen Sie mir Ihre Hand zur Versöhnung. Das ist mein heißester Wunsch, mein innigstes Begehren! Daß Sie sich so lange mir verschließen, martert mir das Herz. Wenn Sie es weiterhin tun, machen Sie mich todunglücklich. Ich bitte Sie demütig um Verzeihung. Lassen Sie mich unter Ihrem Zorn nicht noch mehr leiden!

Wollen Sie mich annehmen, wenn ich morgen als reumütiger Sünder an Ihre Tür klopfe, um mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen? Wollen Sie mich einen Blick in Ihr grollendes Herz tun lassen? Sagen Sie mir zur Ermutigung ein einziges liebes Wort! Wie endlos lange ist es her, daß ich das entbehre!

Ich küsse Ihre Hände untertänigst.


Agathe an Georg

(Depesche)

Loschwitz, 22. Januar, 10 Uhr vormittags.

Wenn Ihnen recht, kommen Sie heute vier Uhr.

Agathe


Agathe an Georg

Rosenhof, den 22. Januar abends.

Mein geliebter Freund!

Bin ich noch dieselbe, die Ihnen noch gestern, noch heute früh so leidenschaftlich gegrollt hat? Ach, ich bin des Lebens müde, bin zu Tode verwundet durch diese grausame Freundschaft. Ich weiß nicht mehr: liebe ich oder hasse ich? Heute sind Sie ganz nahe meinem geheimsten Wesen und morgen ist es mir, als stünden wir uns hunderttausend Meilen fern.

Wie steht es um Ihr Herz? Was geht in dem Ihrigen vor? Lieben Sie mich noch? Haben Sie mich je wirklich geliebt? Wie groß ist Ihre Liebe?

Weil ein paar uns beiden Unbekannte irgend etwas an mir ausgesetzt, haben Sie mir harte und häßliche Worte zu sagen vermocht! Und heut? Heut überschütten Sie mich mit Ihrem Lob. Sie tun mir weh! Wie jene Frauengestalt des Voltaire rufe ich aus: Lieben Sie mich, Fürst, aber loben Sie mich nicht! Ich kenne mich nicht mehr, weiß nicht, wohin ich steure. Als Sie heute in der Dämmerstunde in mein Zimmer traten, als ich Sie nach so langer Zeit wieder vor mir sah, in Ihrer ungezwungenen Lebhaftigkeit, im Ausdruck alle Ihre Güte und Milde, da hätte ich vor Herzensangst sterben mögen. Ich hatte mich nach Ihren dunklen Träumeraugen gesehnt, und als Sie vor mir standen..., ach, wozu Ihnen noch mehr sagen? Sie sind vor mir niedergekniet, haben mir die Hände geküßt und haben mich »Herzliebste!« genannt.

Bin ich denn das?

Sie haben mich gefragt: »Was soll ich tun? Was verlangen Sie? Was bin ich Ihnen?« Mein Gott, ich hatte nicht die Kraft, Ihnen einfach zu antworten: »Helfen Sie mir!«

Ich habe stumm Ihr Haar gestreichelt, – und jetzt, da Sie fort sind, ohne daß ich Ihnen mein Herz offen in die Hände gelegt, jetzt weine ich und rufe die Stunde zurück, in der Sie von mir gegangen sind, zweifelnd und traurig.

Sie haben mir einmal gesagt, ein großes Unglück, das den meisten Menschen widerfahre, sei dies: ihr Leben lang der Seele nicht zu begegnen, zu der sie aufrichtig sein könnten. Und dies sei auch nur dem möglich, der gelernt habe, gegen sich selbst aufrichtig zu sein.

Ich habe mich in den letzten Wochen viel mit mir selbst beschäftigt. Ich bin tief in mich gegangen. Das war vielleicht das Gute an dem Leid, das Sie mir zugefügt haben. Es hat an unserer Freundschaft gerüttelt. Aber sie ist unerschütterlich. Das weiß ich jetzt. Nur wußte ich nicht, daß sie im Grunde rätselhaft und traurig ist. Diese geheimnisvolle Melancholie haben wir beide geliebt, ohne uns klar zu werden: warum?

Ihre Seele ist ruhig geworden, aber die meine ist voller Unruhe. Einst war es mit uns umgekehrt. Sie haben sich überwunden. Ihr Herz empfindet klare kühle Freundschaft. Aber meines ist in Glut geraten. Es will sich nicht mit den Tropfen begnügen, die Sie mich aus dem Becher der Liebe nippen lassen. Sie weisheitsvoller Gefährte. Es begehrt darnach, den Trank in heißen Zügen ganz auszutrinken, und wäre es tödliches Gift.

So steht es mit mir. Geben Sie mir den Trank! Ich will dann zufrieden sterben. Mag kommen, was da will!

Ihr Wesen, Ihre Zusprüche, Ihre Tröstungen bereiten mir Qualen. Sie spielen mit meinem Herzen. Ach, Georg, ich bin nahe daran, es schmerzlich zu bedauern, daß Sie in meinem Leben erschienen sind. Ehe ich Sie kannte, war ich zufrieden mit meinem armseligen Schicksal, fast mit mir selbst. Ach, beinahe glücklich. Und jetzt bin ich verwirrt, schwach, elend, krank, sterbensunglücklich. War es aus Vorahnung, daß ich Ihnen zuerst aus dem Wege gehen wollte? Die dunkle Warnung war nicht stark genug, Und alles entwickelte sich wie aus sich selbst. Dann wehrte ich Sie ab. Aber wenn ich Ihnen damals weh getan habe, so büße ich jetzt dafür. Sie sind gerächt!

Einst war mir mein Töchterchen alles. Jetzt genügt mir die Fürsorge für meinen Liebling nicht mehr. Die Liebe zu meinem Kinde feit mich nicht mehr gegen die Stürme in meinem Herzen. Einst liebte ich die Wunder der Natur; ich ging in der Anbetung schöner Werke auf. Jetzt mahnt mich alles nur an den Wunsch, es zusammen mit Ihnen zu genießen. Wenn ich einsam bin und in Grübeleien versinke, so kreisen meine Gedanken immer um Ihre Person. Wenn ich durch die herbstliche Heide wanderte, wenn ich am Meeresstrande in die Ferne sah, wenn ich mich in der Oper in die Melodien und Harmonien verliere, immer sind Sie es, den meine Träume suchen. Ich flüstere Ihren Namen vor mich hin und wehre die unsichtbare Macht ab, die Sie wider mich entsendet haben.

Das ist seit einem Jahre so. Ich leide und kämpfe mit keinem andern Erfolge, als daß sich meine Verzweiflung vermehrt und meine Sehnsucht vergrößert. Sie ist schon riesengroß. Ich weine, ich bete, ich ringe mit mir. Nichts vermag mein armes Herz zu erleichtern. Und heute kommen mir Ihre Worte von der Aufrichtigkeit in den Sinn. Ich klammere mich an sie. Ich gebe alle Verstellung auf.

Um der Barmherzigkeit willen, Georg, helfen Sie mir! Schützen Sie mich vor mir selber! Wenn ich wanke, so ist das für mich schändlicher und qualvoller als für jede andre: weil Sie mich nicht mehr lieben. Weil Sie mich nie so innig geliebt haben wie ich Sie.

Ich muß mir gehören, mir allein. Dazu müssen Sie mir helfen. Sonst sind Sie nicht mein echter, treuer, lieber Freund.

Nun kennen Sie meine Herzensnot. Ein wenig macht mir das mein Herze leichter.


Georg an Agathe

23. Januar.

Meine Agathe,

betroffen stehe ich vor Ihrem Bekenntnis. Ich fühle bis ins tiefste Herz, was es heißt, die Liebe einer über alles verehrten Frau erworben zu haben. Sie wollen sie mir schenken, und Sie müssen sich dies zugleich doch schmerzlich versagen. Ihr großer Schmerz ist auch der meine.

Ich halte mich für im höchsten Maße schuldig und bin bereit, alles zu tun, um Ihnen wieder zu Ihrem inneren Frieden zu verhelfen. Das Schicksal ist sehr hart gegen Sie, dieweil es Ihnen das höchste Erdenglück nicht vergönnt.

Was soll ich Ihnen sagen? Was soll ich tun, um Sie nicht noch unglücklicher zu machen? Befehlen Sie! Soll ich von neuem weit in die Welt hinaus pilgern?

Ein Wort von Ihnen genügt, meine angebetete Freundin.

Bis in den Tod der Ihre,

Georg


Agathe an Georg

Den 26. Januar.

Liebster Freund!

Nein! Verlassen Sie mich nicht! Was sollte dann erst aus mir werden? Ich würde mich mit meinen Grübeleien zu Tode quälen. Hören Sie mich lieber nachsichtig an! Ich mußte Ihnen doch alles sagen, was ich denke und fühle. Ihnen mein ganzes Herz offenbaren. Hätten Sie nicht sonst meiner scheinbaren Launenhaftigkeit gar bald überdrüssig werden müssen?

Sie sollen mich nicht anders lieben, als Sie mich just lieben, denn ich möchte um alles in der Welt den unvergleichlichen, zuverlässigen, geliebten, unentbehrlichen Freund nicht verlieren. Hätte ich in meinem Schweigen verharrt, so wäre unsre Freundschaft sicherlich der alten Offenheit verlustig gegangen. Zweifellos hätten Sie manche Züge an mir falsch deuten müssen, so vor allem meine Traurigkeit, die Sie schließlich selber unruhig und nervös gemacht hat. Ich muß Ihnen dies Geständnis machen. Meine Seele ist zerrissen, und ich fühle mich verloren. Ich bin alles andre denn Ihre Heilige mehr. Mit Tränen in den Augen schreibe ich Ihnen.

Eines tröstet mich in meinem Leid. Sie lernen mich dadurch ganz kennen, und Ihre Liebe und Ihre Achtung für mich müssen wachsen. Sie werden nachsichtig über so manches hinwegsehen, was Sie wie Unfreundlichkeit, Entfremdung berühren muß, und was sich gegen meinen innersten machtlosen Willen oft gerade dann zeigt, wenn ich Sie am innigsten liebe. Reichen Sie mir hilfreich Ihre Hand, dann werde ich genesen! Ich liebe Sie. Meine einzige Hoffnung ist die, daß die Vision, die mich betört hat, sanften Tränen weichen wird. Die will ich gern vergießen, wenn sie nur auf Ihr Herz fallen und es mir weicher machen.

Meine Leidenschaft bereitet mir nicht nur seelische Schmerzen und Gewissensweh, sondern seltsamerweise auch körperliche. Ich gebrauche fast übermenschliche Kraft, um meinen schwachen Körper zu beherrschen. Glauben Sie aber nicht, daß ich Ihnen diesen Brief schreibe, um Sie zu rühren! Ich will nichts weiter als Sie in all der Einsamkeit meines Herzens lieben. Dies darf ich Ihnen auch sagen, damit Sie wissen, daß ich aufrichtig bin. Zu Ihnen muß ich das sein. Dieser Gedanke soll mich aufrecht erhalten und – glücklich machen. Glücklich? Sie haben mir einmal eine Verherrlichung des Glückes der Resignation gepredigt. Erinnern Sie sich?

Fern von Ihnen versuchte ich, Sie zu vergessen. Ich habe es nicht zuwege gebracht. So fest halten Sie mein Herz. Behalten Sie es also! Ich will es nie wieder zurückhaben. Wie meine kleine Sophie will ich alle Abende beten: Niemand soll in meinem Herzen wohnen als du allein!

Wie ist es so weit gekommen? Ich weiß es nicht. Nur das weiß ich, daß ich Sie liebe, mit allem Schönen, was in Ihnen ist, und auch mit allen Ihren Fehlern und Schwächen. Wenn Sie mich anschauen, so berühren mich Ihre Blicke wie Liebkosungen. Die eigentümliche Art, wie Sie manches sagen, ist für mich erlesenster Genuß. Und so viele Ihrer Gedanken umschmeicheln mich wie die warme Sonne.

Die Sonne? Das war es ja, was mir in den letzten sieben Jahren gefehlt hat: die Sonne, auf die jedes gesunde Menschenkind ein Recht hat.

Lassen Sie mich drei Worte wieder und wieder schreiben, die ich nicht aussprechen darf:

Georg, die Deine!

Georg an Agathe

27. Januar.

Liebste Freundin.

Ich bin tief ergriffen und fühle mich schuldig. Aber was soll ich Ihnen sagen? Diese plötzliche Leidenschaft! Ihre größte Feindin ist Ihre empfängliche Natur.

Wenn ich bisher innerlich nicht ganz gefestigt war, so bin ich es von heute an. Sie können keinen besseren Schutz haben als mich. Ich reiche Ihnen meine Hand und will Sie durch Nacht und Sturm sicher geleiten.

Ich habe Ihrem Gefühl nach in Ihnen die Liebe wachgerufen. Das ist eine schlimme Krankheit, die vorübergeht. Rasch oder langsam, je nachdem. Unsre Freundschaft ist älter als Ihre Leidenschaft. Lassen wir diese verlodern und wünschen wir nichts, als daß uns aus ihrer Asche die alte kostbare Freundschaft unversehrt wiedererstehe und uns dann um so inniger eine. Da ich die Ursache Ihres Leids bin, will ich alles tun, es wieder zu bannen. Ihre Leidenschaft ist Lebensdurst. Einmal mußte dies Sie ergreifen. Sie sind zu jung, zu sehnsuchtsvoll, zu liebefähig, als daß Sie dauernd verschont bleiben sollten. Soweit ich mitschuldig bin, vergeben Sie mir! Ich glaube, unsre Freundschaft war zu zärtlich, die Verwandtschaft unsrer Seelen zu stark, die Nähe unsrer Herzen zu groß.

Meine Liebe zu Ihnen gleicht nicht der Ihren. Wenn in beiden von uns eine Mischung von Liebe und Freundschaft herrscht, so hat bei mir längst die Freundschaft die Obergewalt, bei Ihnen mit einem Male die Liebe, eine große starke Leidenschaft. Es wird Ihnen tausendmal schwerer fallen, Ihrer Sinne Herr zu werden, als mir ehedem.

Sie besitzen ein unverbrauchtes Herz. Sie haben niemals geliebt. Sie möchten den Becher der Lust austrinken. Sie wollen Ihre Rechte an das Leben endlich geltend machen. Ich aber, als ich Sie fand, ich war übersättigt vom Leben, ohne noch an das ganz große Glück glauben zu können. Ich sehnte mich, angeekelt von allerlei schwülen Abenteuern und überwundenen Erlebnissen, nach einem sonnigen Hafen des Herzens. Ein letzter kleiner Sturm focht mich an. Sie wissen! Dann war ich fähig, Ihnen der Freund ohnegleichen zu werden. Heimlich sind Sie bei alledem meine angebetete Geliebte, aber in einer Art, die Sie niemals verletzen kann. Meine Augen haben Sie jedesmal geküßt, wenn wir uns sahen. Meine Nerven haben sich um Sie gesponnen und Sie umarmt. Ihre Gegenwart hat mir die Wangen gestreichelt, Haar und Hände, ohne daß Sie selbst es ahnten. Ihre Stimme hat mich auf das Süßeste umschmeichelt. Ach, keine andre Liebe der Welt hatte mich glücklicher machen können! Sie sind mir der Kristallisationspunkt der erlesensten Lebensfreude. Ihre anmutige Mütterlichkeit, Ihre Begeisterungsfähigkeit, Ihre Anpassungskraft, Ihre Natürlichkeit, Ihr häuslicher Sinn, dies und noch sehr viel mehr wirkt da mit. Mit einem Wort: Sie sind die Madonna meines Lebens.

Zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihnen alles das sage. Ich fühle es. Sie hörten lieber ganz andere Worte. Liebste Agathe, ich bin tief betrübt, daß ein dunkles Etwas zwischen uns aufgetaucht ist. Tun wir alle beide alles, damit wir einander nicht entfremdet werden! Das ist meine Angst. Erscheint sie Ihnen egoistisch? Vielleicht gar.

Bekämpfen wir den Feind!

Sie sind ein Stück meiner Existenz. Wenn ich Sie verlöre, spränge ein Teil meines Herzens ab.

Ich habe Sie so namenlos lieb!

Ihr Georg


Agathe an Georg

Den 26. Januar.

Mein lieber Freund!

Schuldig? Das sind wir wohl beide nicht. Sie nicht und ich auch nicht! Es ist mein Schicksal, daß ich Sie lieben muß!

Sie haben mir gute, liebreiche Worte, Worte voller Nachsicht geschrieben, und ich bin Ihnen dankbar dafür. Ach, könnte ich damit zufrieden und froh sein! Aber ich bin es nicht. Ich weine hilflos und untröstlich. Und ich habe nicht die Kraft, mich zu fassen.

Warum durfte ich nicht früher auf Ihren Lebensweg kommen? Zu Zeiten, da Sie noch an das ganz große Glück fest glaubten?

In tausend wehmütigen Stunden verwünsche ich mein Herz. Weil es nicht mehr schläft, nicht mehr leidenschaftsfremd ist. Warum habe ich es nicht auch verbraucht, im Wirbel des wilden Lebens, ehe Sie in meinen Daseinskreis traten? Was wäre uns beiden dann für eine wunderbare Freundschaft beschieden, eine goldschwere, dabei doch kühle bis ans Herz hinan! Und dann hätten Sie wenigstens einmal in Ihrem ereignisreichen Leben eine Ihnen vollkommen erscheinende Frau gefunden!

Du mein Gott, das ist Ironie! Ich verliere mich. Helfen Sie mir! Ich möchte mich wiederfinden.

Sie nennen mich Ihre Madonna, Ihre Heilige. Ich möchte sie sein – oder möchte ich es nicht? Ich weiß es nicht. Ich kenne mich nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, was ich will. Also habe ich wohl auch nicht die Kraft, Ihre Heilige zu sein? Sie, Sie müssen mich schützen, vor mir selber!

Die Erinnerung an jenen Augustabend liegt mir beständig im Sinn. Ach, warum entfloh ich damals und ließ Sie allein im Garten? Allein mit den lichten Sternen der wunderbaren Nacht? Ach, es war nicht vor Ihnen, daß ich geflohen! Es war vor meinem Gewissen, vor der Sünde, vor der Liebe.

Warum haben Sie Ihre Leidenschaft sich verkriechen lassen? Warum rufen Sie sie heute nicht zurück? Was fürchten Sie?

Ich weiß es: die Enttäuschung.

Ich bin jung. Sie haben mir tausendmal gesagt, ich sei liebenswert, reizend, verführerisch. Was weiß ich noch? Waren das nur Schmeicheleien? Bin ich heute nicht mehr begehrenswert? Warum begehren mich andere, deren Beteuerungen ich nicht hören will. Es stellen mir so viele nach. Sie wissen es, wenn Sie es auch stumm zu übersehen pflegen. Sie wissen auch, geliebtester Freund: wenn ich das in dieser Stunde erwähne, so ist das alles andere denn armselige Eitelkeit.

Neulich, bei einem Diner, da haben Sie mir gesagt: »In diesem blassen Seidenkleide, in diesem Wirrwarr von Spitzen hab ich Sie unsagbar gern!« An demselben Abend, eine Weile später, traten Sie an mich heran, und fast mit dem herrischen Gehaben eines Ehemannes befahlen Sie: »Kommen Sie, Agathe! Brechen wir zusammen auf! Ich beginne mich zu langweilen.« Ich mußte über Ihre Tyrannei lächeln und habe mich wohl durch meine Miene dagegen leise gewehrt. Heimlich aber war ich über Ihre Natürlichkeit entzückt. Erschrocken flüsterten Sie, und Ihre Augen schimmerten so eigentümlich: »Seien Sie mir nicht bös! Sind Sie nicht die Meine?«

Und als wir dann im Wagen saßen, fröstelnd, da sind Sie ganz nahe an mich herangerückt oder ich an Sie? Sie lehnten Ihren Kopf zurück und sagten heiter wie ein kleiner Junge: »Agathe, jetzt ist mir so froh zumute!«

Sie überschätzen meine Kräfte, wenn Sie hin und wieder leise, süße Zärtlichkeiten in unsere seltsame Freundschaft legen. Haben Sie nie geahnt, wie gewaltsam ich mich in solchen Augenblicken beherrscht habe? Ach, während mir die Sinne vergehen wollten, war Ihnen alles das nur ein schönes Spiel.

Die Liebe des höheren Mannes? Ein Spiel ist es der Sinne, der Nerven, der Erinnerungen. Kaum mehr. Ich weiß es wohl. Und doch:

Georg, ich bin die Deine!

Bringt Ihnen mein Bekenntnis Freude, wahrhaftige glückliche Freude, Georg?

Agathe


Georg an Agathe

1. Februar.

Liebste Freundin und Schwester.

Ich möchte zu Ihnen kommen, aber ich wage es nicht. Es ist mein Beruf, meine heilige Pflicht, Sie sicher zu geleiten, und doch fürchte ich, es könne eine Stunde kommen, in der ich meiner Rolle nicht gewachsen wäre.

Sie müssen sich und Ihrer Lebensanschauung treu bleiben! Unmöglich hat uns das Schicksal zusammengeführt, damit Sie gegen Ihre innere Bestimmung fehlen. Sie sind keine Ihrer leichtherzigen Genossinnen, die reuelos ihre eignen Ideale umwerfen. Ertragen Sie den Schmerz, den ich Ihnen um Ihrer Ehre willen zufüge! Gerade dieses Leid wird Ihre Liebe läutern. Unsre Liebe muß dem Irdischen fernbleiben. Wollen Sie, daß mir Ihr Haß eines Morgens sicher ist?

Was soll ich Ihnen sagen? Soll ich morgen doch zu Ihnen kommen? Vielleicht finde ich da die rechten Worte?


Agathe an Georg

Rosenhof, den 2.

Lieber Freund!

Es ist besser, Sie kommen nicht. Ich fürchte mich vor dem Feuer, vor dem Sturm. Ich habe mich an Sie verloren. Ich bin schwach. Wenn Sie kommen, bin ich nicht mehr die ehemalige Agathe. Das weiß ich.

Niemand ahnt den tollen Aufruhr in mir. Ich zwinge mich auf das Mühseligste,ruhig zu erscheinen. Welche Komödie nach außen! Und drinnen, tief drinnen die unseligste Tragödie.

Außen Lächeln und Nicken,
Innen schluchzendes Weh!

Sie wollen mir helfen, Herzliebster! Darum dürfen Sie nicht kommen! Im Allein mit Ihnen verläßt mich die Herrschaft über mein zitterndes Ich, das nichts mehr kennen und anerkennen will als seine übermächtige Leidenschaft. Überlassen Sie mich der einsamen Trauer! Sie soll meinen so armselig gering gewordenen Willen wieder stark machen.

Ich möchte mich der ganzen Welt verschließen.

Ihre Agathe

Doch! Ich muß Sie sehen! Inmitten der Menschen, im Schwarme der Anderen, da wird es gehen. Ich bin morgen mit meiner Schwägerin in der Oper. Wir haben einen Platz für Sie. Toska, Frau Eva von der Osten! Wundervoll! Die Musik hat einen unerträglichen Text. Aber es ist ein Stück der Leidenschaft.

Kommen Sie! Still neben Ihnen: Lust und Leid zugleich! Aber ich muß Sie sehen.


Agathe an Georg

Sonnabends.

Mein lieber Georg!

Die Leidenschaft ist eine Sirene. Man kann nicht vor ihr fliehen. Sie sind mein Schicksal! Ich muß Sie alle Tage sehen, mit Ihnen plaudern. Ihnen immer mehr gehören, bis ich ganz die Ihre bin. Ich habe mich Ihnen geschenkt. Sind Sie stolz und glücklich darüber? Zeigen Sie mir Ihr Herz, das viel zu verschlossene! Rasch, kommen Sie! Reden Sie! Drücken Sie mir die fiebernden Hände! Sagen Sie nicht, Sie dürfen meine Nähe nicht suchen, da Sie mir helfen sollen und wollen! Sie helfen mir doch nur, wenn Sie bei mir sind. Wenn Sie kommen, werde ich dem Leben wiedergehören. Wenn Sie aber nicht kommen, – du mein Gott, ich könnte es nicht ertragen! Ich stürbe an meiner Sehnsucht zu Ihnen. Ich warte ja schon so lange auf Sie.

Ganz Ihre Agathe


Georg an Agathe

Sonntags früh.

Meine liebste Agathe.

Ich bitte Sie, gestehen Sie mir einmal das Recht zu, mir, Ihrem allerbesten Freunde, für Sie mit wahrer Vernunft zu denken und mit kühlen Augen zu sehen. Und lassen Sie mich einmal frei sagen, was ich denke und was ich sehe. Betrachten und werten wir einmal das menschliche Dasein ohne phantastische Zutaten und ebenso das, was das Leben der Menschen mit so starker Kraft treibt und bewegt, die Liebe.

Trotz der schmerzlichen Erfahrung Ihres Leben glauben Sie an die Liebe, und zwar an eine idealistische Sinnenliebe. Diese Art gibt es wohl im Rausche einer schönen Stunde, aber sie ist von sehr flüchtiger Dauer. Mit der Stunde rinnt auch sie dahin. Der Schatten ihres unvermeidlich frühen Todes gießt Wehmutstropfen in diesen Liebestrank und macht ihn dadurch seltsam verlockend. Es ist Romantik in dieser Liebe.

Wären Sie die meine geworden, so hätten wir diesen Trank alle beide getrunken. Dann aber? Wenn der Rausch dahin gewesen wäre? Glauben Sie mir: Schmerz, Scham und Reue wären in Ihnen mächtiger geworden als die Erinnerung an die trügerische Seligkeit der glücklichen Stunde. Das hätte unsre Liebe zertrümmert. Und was wäre aus unsrer Freundschaft geworden? Die Freundschaft zwischen Mann und Weib lebt von dem, was sie sich von der Liebe borgt, der uneingestandenen Liebe, die in jeder solchen Freundschaft schlummert. Mit dem Tode unsrer Liebe wäre auch unsre Amitié amoureuse hingestorben. Es hätte so sein müssen.

Sie beseelen das Körperliche und erwarten Dinge, die das Körperliche nicht geben kann. Wenigstens uns beiden nicht. Eines Morgens würden Sie ernüchtert sein. Ihre innere Not könnten dann auch meine heißesten Küsse nicht ersticken. Vor diesem Morgen fürchte ich mich.

Das Ihnen entschwindende Wolkenbild der Liebe verträgt die Erdenluft nicht. Jedes Ideal ist übersinnlich! Und mich haben Sie dereinst zu diesem Ideal bekehrt. Ich kann und mag nicht mehr umkehren. Ich bin in dieser Liebe glücklich; die Freuden und Wunder solch himmlischer Liebe erscheinen mir unvergleichlich gegenüber den Genüssen der irdischen Liebe. Und warum wollen Sie nun mit einem Male umkehren?

Agathe, vergessen Sie Ihr Begehren!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 7.

Ich komme zu Ihnen, und ich sage: Ich habe mich in Sie verloren. Ich kann nicht mehr. Helfen Sie mir! – Und Sie? Sie finden als Erwiderung nichts denn Worte, Worte, Worte. Sie klingen klug und weise, ja. Aber was soll ich damit? Ihr Herz will ich! Ihr wahrstes Ich! Sie sollen mir sagen, daß Sie mich noch lieben! Warum entgegnen Sie mir nicht einfach und ehrlich, daß Sie Ihre einstige Liebe zu mir nicht zurückzurufen vermögen? Daß sie von hinnen gegangen ist, damals als ich sie nicht erhörte!

Mein Gott, strafen Sie mich doch jetzt nicht für das Einst! Meine Sinne schliefen damals. Wie vermochte ich zu geben, was nicht da war?

Jetzt bin ich erwacht, nach so langer Zeit. Groß und unbezähmbar ist sie nun da, die späte Leidenschaft. Maßlos. Sie beherrscht, treibt, quält, beseligt mich. Es ist ein Zustand, wie ich ihn nie erfahren. Wilde, törichte Wünsche peinigen mich. Georg, die Deine! Hören Sie mich an! So schwach, so unfrauenhaft bin ich! Sagen Sie nicht, es sei zu spät!

Steht nicht gerade das in Ihrem Brief da vor mir? Gibt er mir nicht deutlich genug zu verstehen, daß Ihre Wünsche, Ihr Begehren, Ihre Forderungen an Leben und Lieben bescheiden geworden sind? Erschrecklich zwerghaft sogar! Daß Sie sich nichts mehr wünschen denn beschaulich dahinzuleben? Um Gottes willen keine Leidenschaft! Sie würde Sturm und Aufruhr, Angst und Not in die philosophische Idylle Ihrer Seele tragen, den behaglichen Einklang darin stören, die Weihkerzen des Selbstkults in einem Tempel der Eigenliebe auslöschen ... Und Sie sind vierzig Jahre alt? Sagen Sie! Können Sie eigentlich lieben? Haben Sie es je gekonnt?

Wenn Sie ein so überlegener Weltweiser sind, dann mußten Sie zu allererst eines wissen: daß Freundschaft zwischen Mann und Weib etwas Unmögliches, Unwahres, Unhaltbares ist. Sie haben dies gewußt! Denn Sie sind ein Vielerfahrener. Also haben Sie ein müßiges und frevelhaftes Spiel mit mir getrieben! Ich war Ihnen nicht viel mehr denn ein Instrument, Ihre legendensüßen Träume zu begleiten. Und jetzt zerreißen Sie die Saiten, da Ihnen die Melodie meines lautpochenden Herzens zu laut, zu schrill erklingt!

Ich könnte wie eine Bacchantin lachen, wenn ich nicht wie ein Kind, das seine Heimat verloren, weinen müßte.


Georg an Agathe

9. Februar.

Liebe Agathe.

Die Liebe ist eine Krankheit. Ich bin Ihr Arzt. Ich bereite Ihnen Schmerzen, in der Hoffnung, Sie zu heilen, zu retten. Sie widersetzen sich mir. Nichts aber darf mich, den Arzt, kränken oder verletzen, nichts von meiner ernsten Pflicht abhalten oder zurückschrecken. Der Tag wird kommen, wo Sie mir das danken werden, was Ihnen heute so qualvoll und grausam an mir erscheint.

Die Liebe ist eine Krankheit. Sie entsteht heimlich, sie entwickelt sich langsam, sie schleicht in alle Winkel des Körpers und der Seele. Auf dem Höhepunkt verwüstet sie, brennt sie, lodert sie in Fieberschauern und Phantasien. Es gibt Naturen, die an ihr zugrunde gehen. Andere genesen, werden wieder gesund. Manchem bleibt das Herz auf immerdar krank, zerbrochen, leer. Glauben Sie ja nicht, ich hätte den Verzicht von damals ganz und gar überwunden!

Es ist das Schicksal aller Menschen, zu lieben, um zu leiden, und zu leiden, um zu lieben. Wir wissen es auch alle, und dennoch sehnen wir uns alle nach dieser fernen Vision, als sei sie das höchste Glück. Solange wir jung sind, ist uns Lieben und Leiden überhaupt das volle Leben. Und sind wir alt und weise geworden, dann blicken wir auf jene Leiden wie auf etwas Selbstverständliches zurück. Abermals sind sie ferne Visionen. Und die wehmütigsten Erinnerungen leuchten dann verklärt am fernen Horizont, von mildem Abendsonnenschein wundersam durchglüht. Fast möchten wir sie uns wieder zurückwünschen. Was wäre unser Leben ohne diese Leiden gewesen! Schon der späteren schönen Erinnerung wegen müssen wir also mitten im Leid tapfer und heldenmütig sein. Seien auch Sie tapfer, meine arme liebe Agathe!

Ich werde Ihnen wieder sehr sehr wortreich und allzu vernünftig vorkommen. Ich bin mir dessen bewußt. Vielleicht rede ich hartherzig, nüchtern, unzart, beinahe gemütlos. Sie haben es mir in bitteren Worten schon vorgeworfen. Sei es! Gegengift muß ebenso stark sein wie das Gift. Es ist meine Pflicht, Ihnen Leid anzutun. Es bewahrt Sie vor tödlicher Reue. Alle Zärtlichkeiten meines Herzens könnten Ihnen niemals die Verzweiflung aus der Seele verscheuchen. Es wäre nicht nur der bedrückende Vorwurf des Ehebruchs. Den vermöchten Sie mit innerem Rechte wohl zu überwinden. Tausendmal schwerer würde etwas ganz anderes auf Ihnen lasten: die für Sie wehmütige Erkenntnis, daß ich Ihnen nur die Trümmer eines Herzens darzubringen gewagt hätte. Ich liebe Sie, ja, aber nicht mit dem heiligen Feuer, das in Ihnen lodert. Die Freundschaft, die ich für Sie empfinde und betätige, die werden Sie nicht wieder in Ihrem Leben finden. Die Liebe hingegen, die ich Ihnen schenken könnte, die fänden Sie jeden Tag in jedem Männerherzen. Soll ich meine uns beiden solange köstlich gewesene Freundschaft schänden, indem ich ihr die Maske der Liebe vorbinde? Wenn es möglich wäre, daß Sie die Ehescheidung durchsetzen könnten, würde ich Ihnen, zumal um eines Umstandes willen das eheliche Geleite durch unser weiteres Leben anbieten: Sophiens wegen. Aber gerade Ihr Töchterchen wäre der Ihrem jetzigen Gatten zu zahlende Kaufpreis Ihrer Freiheit! Das haben Sie mir so oft gesagt.

Über den vielen vergessenen und halbvergessenen Frauen, die meinen Lebenspfad gekreuzt haben, ragen Sie wie eine Heilige. Sinken Sie nicht zu ihnen hinab, Schwester, Gefährtin, einzigste Freundin! Achten Sie meine Ehrenhaftigkeit höher als eitle Liebesworte! Lassen Sie Ihre Liebe wieder zur Herzensfreundschaft wandeln! Haben Sie ein wenig Geduld dazu!

Während ich Ihnen dies schreibe, blutet mein Herz. Alles, was ich auf Erden habe, möchte ich hingeben, wenn dafür ein Licht- strahl vom Himmel käme und Ihnen meine Gesinnung, mein Verhalten, meine Worte verständlich machte. Ich erfülle meine Pflicht. Ich kann nicht anders.

Wie lieb habe ich Sie, um Ihnen so viel Schmerz bereiten zu können!


Agathe an Georg

Rosenhof, den 12. Februar.

Herzliebster Freund!

Diese Briefe, o diese Briefe!

Sie sind der kühlste Verstandesmensch, der mir je im Leben begegnet ist! Kalt und vielerfahren, sehen Sie die Leiden, die Sehnsucht, die Schande, die Entnüchterung, kurz, die ganze Bahn der Leidenschaft voraus. Ich hasse Ihre Kenntnis des Herzens, Ihre Gelassenheit, Ihre Klugheit. Ich hasse Ihre mich verschmähenden Briefe. Ach, ich hasse Sie – und ich liebe Sie, bis zum Wahnsinn.

Warum verachten Sie meine Liebe? Ist sie Ihnen nicht erhaben genug? Bete ich Sie nicht an? Fühlen Sie das Allgewaltige nicht, das mich willenlos zu Ihnen drängt? Ist das Ihnen nicht etwas Wunderbares? Eilt mir Ihr Herz nicht deshalb allein schon entgegen?

Sie können nie geliebt haben! Ach, heben Sie mein armes gequältes, schon halbzertretenes Herz rasch auf! Ich will Sie lieben lehren. Es ist so süß! Sagen Sie nicht, Sie könnten nicht lieben! Sie wissen es nicht. Es ist unmöglich, daß meine Liebe nicht auch in Ihnen auflodern muß! Ich komme zu Ihnen wie im Traume. Ich schäme mich nicht mehr, es Ihnen frei zu sagen, daß ich Sie liebe. Vielgeliebter, ich will nicht mehr vor mir und meiner Liebe bewahrt werden. Es war ritterlich, edel, gut von Ihnen, es tun zu wollen. Aber es ist gegen die Natur. Haben wir je gesehen, daß eine Blume kurz in der Entfaltung wieder zur scheuen Knospe wird? Niemals. Es müßte der Reif des Winters über sie fallen. Ich fühle mich so namenlos glücklich, mich Ihnen schenken zu dürfen. Seien Sie nicht mehr herzlos!

Ewig die Ihre,

Agathe


Georg an Agathe

13. Februar.

Geliebte Agathe!

Tiefgerührt bin ich, und tiefbeschämt, und voll des Gefühles, so großer Liebe nicht würdig zu sein! Ich habe Ihnen mein Herz nicht verschlossen, aber ich habe es vor Ihnen verleugnet. Sie wissen, warum! Nicht aus Eigenliebe, gewiß nicht! Glauben Sie mir, ich bin voller Sehnsucht und Verehrung, heute wie damals, wo Sie mich nicht verstehen und nicht erhören wollten! Ich habe mich dann stärker gestellt, als ich es in Wahrheit war. Ich bin nicht kalt und nicht herzlos, aber ich glaubte, zu Ihrem Seelenheil müßte ich lügen.

Ich liebe Sie, ich bete Sie an. Ich erwarte Sie, Innigstgeliebte! Geben wir den törichten Widerstand gegen uns selbst auf. Kommen Sie! Ich will Ihnen von meiner bisher stummen Sehnsucht erzählen. Ich will Sie küssen, bis Sie mir sagen. Sie seien glücklich!

Von fünf Uhr ab erwarte ich Sie. Ist diese Zeit Ihnen recht?

Ihr Georg


Agathe an Georg

Nachts.

Mein Freund!

Sie hatten recht. Ich war von Sinnen! Ich dürstete nach Ihrer Liebe, nach einer Liebe gleich der meinen. Was hätten Sie mir aber gewährt? Die ersehnte große grenzenlose Liebe? Nein. Doch wohl nur Ihr Mitleid! Also Scheidemünze für Gold!

Die Krisis ist vorüber. Noch schüttelt mich wildes Fieber. Werde ich es überwinden? Wenn ich mich zur alten Freundschaft durchringe, dann werde ich nicht sterben. Beichten will ich Ihnen aber gleich heute. Alles, alles sagen. Bis ins Kleinste. Es soll mir eine Art Buße sein. Ich will mich nicht nur vor mir schämen. Auch vor Ihnen. Es ist vielleicht heilsam. Sprechen wir dann beide nie wieder davon!

Ich erhielt Ihr Briefchen mittags um eins. Mein Wunsch, darin zu finden, was ich mir von Ihnen erbeten, war so mächtig, daß ich beim Lesen fast ohnmächtig wurde. Dann war ich froh und zuversichtlich. Stand ich doch endlich vor dem Tore meiner Sehnsucht. Umständlich und wählerisch machte ich mich zum Ausgehen fertig und fuhr dann mit der Straßenbahn zur Stadt. Am ersten Droschkenhalteplatz nahm ich mir eine Droschke. Es war dreiviertel fünf Uhr. Aus Vorsicht gab ich dem Kutscher die Nummer des Hauses neben dem Ihrigen an.

Der Wagen hielt. Ich weiß nicht, was mich hinderte, auszusteigen: eine seltsame Schwäche. Ich ließ eins der Fenster herunter und befahl dem Kutscher: Halten Sie hier! Ich erwarte jemanden. – In seiner behäbigen Antwort kam das Wort: Fräuleinchen! vor. Nach ein paar Minuten war er offenbar eingenickt. Ich wollte meine Schwäche überwinden und lehnte mich in meine Wagenecke... .

Fräuleinchen! So hatte er mich genannt.

Ich lächelte belustigt vor mich hin und dachte mir eine kleine Geschichte aus, in der ich als Fräuleinchen die Heldin war. Aber mit einem Male schlug meine Stimmung um. Fräuleinchen! Ja, mehr war ich wirklich im Augenblicke nicht: ein unbesonnenes, ängstliches, liebebedürftiges armes Ding. Ich schauerte zusammen. Ich war verstört. Hatte Fieber. Mir ward zumute, als hätte ich etwas ganz Schlimmes vor. Die Tränen kamen mir. Ich war tiefunglücklich.

Unentschlossenheit und Sehnsucht, Liebe und Angst, Scham und Verlassenheit kämpften in mir. Eine volle Stunde ging so vorüber. Die Uhr der Kreuzkirche drinnen in der Stadt schlug langsam sechsmal: sechs Uhr! Es war finster geworden. Die Straßenlaternen brannten bereits, und durch das blätterlose Astwerk der Bäume der Bürgerwiese blinkte der Schimmer ferner Lichterreihen. Tiefe Ruhe. Schreckliche Einsamkeit. Mein Kutscher regte sich nicht.

Ich sah, in Ihrer Wohnung war es hell; alle fünf Fenster erleuchtet. Einmal erblickte ich Ihre Umrisse im Fenster. Sie warteten auf mich.

Wieder verging Minute auf Minute. Nervös, halbmechanisch, eine gräßliche Leere im Kopfe, suchte ich Ihren letzten Brief aus meinem Handtäschchen. Das Papier knisterte zwischen meinen zitternden Fingern. Was brauchte ich erst zu lesen? Wie Flammenschrift standen mir die Worte vor den Augen meiner Phantasie: Ich erwarte Sie, Inniggeliebte! Geben wir den Widerstand gegen uns selbst auf!

Ich dachte über diese Worte nach und suchte mich auf den Wortlaut des ganzen Briefes zu besinnen. Und wiederum verstrich viel Zeit. Ich vermochte nicht mehr recht klar zu denken. Ich hatte die Herrschaft über mich verloren. Frost und Fieber schüttelten mich. Ich hätte nicht sprechen, nicht gehen können. Einmal sagte ich vor mich hin: Es regnet... . Der Kutscher schläft... . Mich friert... . Wie spät ist es eigentlich? ... Er wartet auf mich ... Dort oben! ... Ich muß zu ihm hinauf... . Er wartet... . Er wartet noch immer... . Wer liebt mich so wie er in der ganzen Welt? – Aber alles das waren Worte ohne rechten Zusammenhang, beinahe ohne Sinn und Verstand. Ich lebte kaum mehr; ich war gelähmt, halbtot.

Die Straßenlaternen kamen mir wie lodernde Fackeln vor. Ich besinne mich dunkel: die ferne Turmuhr schlug sieben, dann viertel acht, schließlich dreiviertel acht... . Da auf einmal traten Sie aus dem Hause. Einen Augenblick verweilten Sie unter dem Torwege. Sie knüpften gemächlich Ihre braunen Handschuhe zu. Sie bückten sich, um Ihre Beinkleider aufzukrempeln, weil der Boden vor Feuchtigkeit glänzte. Ich sah das Lichterspiel auf Ihren Lackschuhen. Dann zogen Sie Ihren Überzieher ein wenig zurecht. Und dann, die Hände in den Taschen, gingen Sie mit gleichmäßigen weichen Schritten davon, ein freier, glücklicher Mann.

Da bin ich in heiße Tränen ausgebrochen und habe so geschluchzt, daß der Kutscher aufwachte. Er ist von seinem Bock heruntergestiegen, hat den Wagenschlag geöffnet und versuchte, mich zu trösten.

Wie ist das Leben traurig und sonderbar!

Dabei nannte er mich wieder Fräuleinchen. »Weinen Sie nur nicht!« sagte er. »Das geht allen so. Hab ja schon manche so gesehen wie Sie. Nur nicht gleich den Kopf hängen lassen! Ein andermal wird er schon kommen. Nur nicht weinen! Es geht alles vorüber!«

Es geht alles vorüber! Genau wie Sie das manchmal sagen! Es fiel mir ein, und ich fing an zu lachen – laut und unheimlich – über die groteske Übereinstimmung. Der dicke Droschkenkutscher tröstete mich gemütlich mit Ihren Worten! Ich lachte. Ich konnte nicht anders. Der Mann sah mich bestürzt und ratlos an.

»Na, Fräuleinchen, wohin soll ich Sie nun fahren?«

Diese Frage brachte mir meine Fassung zurück. Ich sehnte mich nach meinem Heim, nach meinem Töchterchen, nach dem Frieden meines Hauses.

»Fahren Sie mich zum Hauptbahnhof!«

Ich hatte den Entschluß gefaßt, mir dort ein Auto zu nehmen. Fort aus dieser schrecklichen engen Droschke!

Zu Haus habe ich mich am Bett meines Kindes ausgeweint. Ohne mein Töchterchen hätte ich den Nachklang jener dunklen Stunden nicht ertragen. Georg, was wollte ich aus Liebe zu Ihnen tun!

Es ist elf Uhr. Ich habe seit Mittag noch keinen Bissen gegessen. Alles im Hause schläft außer mir und einem der Hunde.

Georg, ich glaube, ich bin über den Berg meiner Liebestorheit. Ich empfinde etwas wie leise, süße, glückselige Dankbarkeit für Sie. Gestern noch grollte ich Ihnen, weil Sie sich zu kühl, zu überlegsam, zu klug zu verhalten schienen. Jetzt verzeihe ich Ihnen die vielen Leiden, die Sie mir bereitet haben. Ach nein, ich kann alles das noch nicht vergessen. Das Herz blutet mir. Wie habe ich Sie geliebt, und wie sehr liebe ich Sie immer noch! Warum war ich so feig, trotz meiner großen Liebe? Und hätte ich hinterher sterben müssen! Ich verachte mich. Was werden Sie von so armseliger Liebe denken?


Georg an Agathe

15. Februar.

Geliebteste Agathe.

Wie rührend lieb und gütig waren Sie gestern zu mir, und wie schön und anbetungswürdig haben Sie ausgesehen. Nur so müde und matt. Ich hätte Sie auf Ihre geliebten Augen küssen mögen.

Ich verehre Ihre Offenheit, Ihr Märtyrertum, Ihre Ergebenheit in Ihr Schicksal. Als ich vor Ihnen lag und Ihre Hände küßte, so lang und so zärtlich, ln Liebe, in Anbetung und innigster Herzensfreundschaft, da haben Sie mich so wehmütig angeschaut. Sie sind über die Krise hinaus, gewiß, aber Ihr Blick hat mir unsagbar weh getan. Sie müssen noch immer leiden.

Darf ich morgen nachmittag wiederkommen? Erlauben Sie mir dies! Sie bedürfen des Freundes. Ich will alles tun, damit Sie recht bald wieder ganz gesund sind.

In Liebe und Verehrung

Ihr getreuester Georg


 

Loschwitz, den 16. Februar 1913.

Sehr geehrter Herr von Rockau!

Meine Tochter ist schwer krank und verlangt im Fieber nach Ihnen. Der Arzt meint, Ihre Anwesenheit wäre heilsam. Daher bitte ich Sie, möglichst sofort zu kommen.

Ihre

Barbara von Strahlenheim


Agathe an Georg

Rosenhof, den 25. Februar.

Lieber Freund!

Der Arzt hat mir erlaubt, wieder Besuche anzunehmen. Aufstehen darf ich noch nicht, aber Sie müssen der erste sein, der eine Tasse Tee an meiner Seite gereicht bekommt.

Ich erwarte Sie morgen, Mittwoch, recht zeitig um 4 Uhr. Erzählen Sie mir schöne kleine Geschichten, wie Sie das so gut können, wenn Sie guter Laune sind. Ich will auch frohgemut sein. Ganz so wie Sie mich am liebsten mögen. Sagen Sie: Liebe Agathe, lieben Sie mich! – Nein, nicht so viel! – Na, doch ein bißchen mehr! So, so ist's brav! – Ich tue alles. Ich bin ja nun Ihre gute Freundin, wie Sie sich die in Ihren Träumen schon lange gewünscht haben.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

3. März.

Liebste Agathe.

Unsrer gestrigen Verabredung gemäß habe ich die Fahrkarten nach dem Gardasee für Sie, Ihre Frau Mutter, Sophie, mich, Miß May und Ihre Jungfer besorgt. Desgleichen die Schlafwagenkabinen bestellt. Ich erwarte Sie alle morgen abend gegen elf Uhr im Hauptbahnhof.

Je nachdem es Ihr Zustand gestattet, verweilen wir entweder einen oder zwei Tage in München oder im lieben alten Bozen. Im Greifen! Ich brauche nur den Namen hinzuschreiben: gleich steht der ganze Walther-Platz vor meinen Augen. Oder aber wir reisen ohne Unterbrechung. Das wird sich unterwegs entscheiden. Auf jeden Fall ist es für Ihre Gesundheit vortrefflich, daß es mir gelungen ist, Sie zur sofortigen Abreise zu überreden.

Nachdem ich Sie im sonnigen Gardone gut untergebracht habe, werde ich mich wieder hierher begeben. Sie müssen in der Einsamkeit Ihren alten schönen Seelenfrieden wiederfinden. Und Sie finden ihn wieder. Glauben Sie mir das!

Tausend herzliche Grüße! Auf Wiedersehen!

Ihr treuergebener

Georg


Agathe an Georg

Gardone, den 15. März.

Mein lieber Freund!

Mein Brief wird Sie überraschen. Wozu Briefe, da wir hier unsre Tage gemeinsam verleben, unter einem Dache!

Ich habe die Kraft, Ihnen zu schreiben, aber nicht dazu, Ihnen Auge in Auge zu sagen: Gehen Sie! Und ich muß es Ihnen sagen. Verzeihen Sie es mir!

Wenn Sie um mich sind, habe ich keinen Mut. Dann ist es mir vielleicht auch ganz unmöglich, Sie mir fern zu wünschen. Dann stehe ich völlig im Banne Ihres geliebten Wesens. Ich bitte Sie herzlich: Verlassen Sie mich! Gehen Sie von mir! Überantworten Sie mich der Einsamkeit an diesem paradiesischen See. Anders kann ich nie wieder Herrin meiner selbst werden. Ich gerate von neuem in Herzenswirren.

Ich möchte immer bei Ihnen sein, Ihre Stimme hören, Ihre nachdenklichen Augen sehen, Ihr heiteres Lachen genießen, mich an Ihren spöttischen Gedanken und göttlichen Einfällen erfreuen. Aber wohin führt uns das schließlich?

Die schrecklichste Verzagtheit durchzittert mich. Ich möchte leben, mit wilder Lebenslust, und zugleich auf alles verzichten, was mehr denn bloßer Traum und ziellose Sehnsucht ist.

Georg, wie habe ich Sie geliebt! Die innigste Vereinigung hatte dieses Mich-in-Ihnen-verlieren nicht steigern können. Ich war eins mit Ihnen. Sie waren der Inhalt meines Ichs. Und doch war das nur ein Traum, der nie zur Wirklichkeit werden kann, überschwenglich und grausam, der Erfüllung so nahe und doch niemals erfüllbar.

Was ist mir meine Standhaftigkeit, meine Pflichttreue, meine Keuschheit wert? So viel wie Ihre Besonnenheit, Ihre kalte Vernunft, Ihre ewige Selbstbeherrschung! Ward mir daraus auch nur ein winziges Körnchen von Glück? Mein Herz ist so trostlos leer und öd. Ich hege nur noch einen Wunsch: zu vergessen oder zu sterben. Nachts, wenn ich nicht einschlafen kann, sitze ich stundenlang am Fenster und starre in die Sternennacht hinaus. Die Ora braust, und der See lockt mich wie eine Sirene.

Gehen Sie, geliebter Freund! Solange Sie bei mir sind, kann ich nicht vergessen.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

15. März, halb 12 Uhr.

Geliebte Freundin.

Eben wollte ich Ihnen Sophie zurückbringen. Nach herrlicher Kahnfahrt. Wir waren in Malcesine. Auf den Spuren Goethens. Da meldet mir Ihr Mädchen, Sie schliefen und kämen nicht zum Dejeuner. In meinem Zimmer habe ich dann Ihren Brief vorgefunden.

Ihre Bitte erfüllt mich mit tiefster Trauer. Aber ich verstehe und billige Ihren Entschluß. Es wird mir unbeschreiblich schwer fallen, Sie zu verlassen. Ich sehe aber ein, Sie sind noch weit von der vollkommenen Genesung entfernt. Werden Sie fern von mir wieder gesund und glücklich!

Den Nachmittag werde ich benützen, Sirmione wiederzusehen. Ich habe dort vor Jahren einen wundervollen Sonnenuntergang erlebt. Und morgen muß ich diesen schönsten aller Seen verlassen.

Gönnen Sie mir ein paar liebe Abschiedsworte?

Ich werde abends zu Tisch nicht im Hotel sein.


Agathe an Georg

Am 15. März.

Lieber Freund!

Kommen Sie, bitte, zu Tisch wie immer! Mutter würde sich über Ihr Fernbleiben wundern. Teilen Sie ihr während des Essens mit, daß Sie morgen abreisen. Einen glaubwürdigen Vorwand werden Sie leicht finden. Ich fühle mich sehr schwach. Seien Sie nachsichtig, wenn ich nicht viel sprechen werde, und vor allem zeigen Sie sich nicht betrübt, daß wir voneinander scheiden! Es ist nicht für ewig.

Mein Töchterchen liebt Sie, als seien Sie ihr Vater. Mein Gott, ich darf nicht von Ihnen lassen!

Ihre Agathe


Georg an Agathe

Mailand, 16. abends.

Liebste Agathe.

Der Abend gestern um diese Zeit am Strand im Vollmondschein, ach, unvergeßlich! Der Himmel war wie aus dunkelblauem Glas, der See fast schwarz. Myriaden glitzernder Brillanten über den geringen Wellen. Drüben San Vigilios verträumte Schatten, geisterhaft die Häuserchen und die Zypressen, und hoch über dem allen der Monte Baldo, märchenhaft still, ein helleuchtendes Schneefeld unweit seinem Gipfel. Hand in Hand mit Ihnen vor diesem Bilde, unvergeßlich!

Ich bin im Geiste immer bei Ihnen. Versonnen wandle ich durch die menschenvollen Straßen und Gassen dieser fast an das Nordische gemahnenden Hauptstadt meiner geliebten Lombardei.

Eine halbe Stunde habe ich in einer der Seitenkapellen des Domes verträumt, Ihrer innig gedenkend. Morgen soll mich der schnellste Zug über die Alpen zurückbringen. Am liebsten bliebe ich in Italien, bis es droben bei uns wieder warm wird. Venedig, Florenz, Rom, Neapel, Sorrent locken mich. Aber ich hätte doch nicht die rechte Stimmung. Man darf nicht Melancholie als Reisegepäck mit in den heiteren Süden bringen. Und ich will nicht lebenslustig sein, während Sie um mich leiden.

Sie haben mir beim Scheiden versprochen, ich solle jeden Sonntag einen Brief von Ihnen bekommen. Heute in acht Tagen also den ersten! Es ist noch sehr, sehr lange bis dahin.


Georg an Agathe

Dresden, 24. März, abends.

Liebste ferne Freundin.

Heute vormittag bin ich hier angekommen. Am Nachmittag habe ich den Rosenhof besucht. Alles in allerbester Ordnung. Krokus blühen im Garten. In Ihrem Zimmer Ihr leises Parfüm, als ob Sie da seien. Coquerro hat mit mir geschwatzt. Vor Freude hat er seinen Freßnapf bis aufs letzte Korn leergefressen. Am Kutscherhause eine Dackelattacke. In Josefs Augen ein paar Tränen, als ich ihm von Ihnen erzählte.

Und ich?

Schweigen wir davon!

Lange habe ich in der Diele gestanden, wissen Sie, wo Tizians Himmlische und irdische Liebe hängt.

Es küßt Ihnen die geliebten Hände

Ihr Georg


Agathe an Georg

Gardone, am 27.

Geliebter guter Freund!

Den Sonntagsbrief! Sie werden ihn pünktlich haben, denke ich.

Wenn ich wieder gesund werde, verdanke ich das diesem himmlischen See mit seinem Frieden, seiner Sonne, seinen frohen Farben.

Ich bin noch recht schwach. Und diese sonderbare Unruhe! Ach, mein lieber Georg, Sie mögen noch so melancholisch sein, aber weinen Sie Nacht um Nacht? Klagen Sie in Ihren Träumen? Sagen Sie sich hundertmal am Tage: Ich werde nie wieder glücklich?

Ich schließe, ich kann nicht weiter schreiben. Ich bin einer Ohnmacht nahe; so sehr strengt mich das Schreiben an.

Wir haben schlimme Nachrichten von Hermann.

Leben Sie wohl, Georg!

Ihre getreue Agathe


Georg an Agathe

Sonntags, 30. März 1913.

Geliebte Agathe.

Teuerste, Ihr Zustand beunruhigt mich stark. Ich ängstige mich um Sie. Nehmen Sie alle Kraft zusammen! Sie müssen überwinden! Wie herrlich werden die neuen Tage unsrer alten, nun vergänglich gewordenen Freundschaft sein!

Ich möchte Ihnen viel schreiben, aber es ist besser für Sie, ich begnüge mich in meiner Trübsal mit der aufrichtigen Versicherung, daß ich Ihrer zu allen Stunden gedenke.

Ihr immerdar ergebener

Georg


Agathe an Georg

Gardone, den 3. April.

Geliebter Freund!

Es geht mir gar nicht gut! Am meisten schwächt mich eine entsetzliche Schlaflosigkeit. Nacht um Nacht die gleiche Qual! Ich möchte vergessen. Eher kann ich nicht gesunden.

Aber warum sind auch Sie traurig und trübsinnig? Sie sollen's nicht sein! Was fehlt Ihnen zu Ihrem Glück?


Georg an Agathe

Sonntag, 6. April.

Geliebte Agathe.

Ich fühle mich allzu schuldig, um lebensfroh sein zu dürfen. Vergraben in Einsamkeit und Schwermut, mache ich mir immer gewichtigere Vorwürfe. Ich bin nahe daran, zu glauben, daß ich nicht recht gehandelt habe. Was ich für hohe ritterliche Pflicht hielt, war ein Wahngebilde, eine Torheit, eine Unmenschlichkeit.

Ich liebe Sie und habe nie aufgehört, Sie zu lieben. Seien Sie dessen überzeugt! Nur weil ich mir einbilde, ein Liebesbund zwischen mir und Ihnen, der Unfreien und so Bedenklichen, müsse Sie zugrunde richten, habe ich meine Liebe bekämpft und zum Schweigen, zur Lüge verurteilt. Jetzt, da ich einsehe, daß ich Sie nur noch tiefer unglücklich gemacht habe, muß ich reden. Ich liebe Sie, Agathe!

Sie sind für die zärtlichste Liebe geschaffen. Seien wir Menschen! Lieben wir uns bis in alle Tage! Wir ahnen ja beide nicht, welch wunderschöne Blumen am Wege unsrer Liebe erblühen werden.

Darf ich wiederkommen?

Ich verspreche, Sie zu heilen. Mit der Glut meiner Küsse, Geliebteste!

Ewig der Ihre,

Georg


Agathe an Georg

An Catulls Villa, am 9. April, in der Abendsonne.

Teurer Freund!

Nein!

Ich habe zu viel gegrübelt, zu viel gelitten, zu viel geweint, zu viel verloren! Ich habe zu lange in meiner ungestillten Sehnsucht gelebt. Nun ist meine Liebe schon zu erdenfern. Verstehen Sie das, zarter und zärtlichster aller Menschen? Gewiß!

Ich weiß noch, daß ich Sie unermeßlich begehrt habe, aber ich erinnere mich dessen nur noch wie eines Erlebnisses in einem mir fremden früheren Leben. Oder wie eines seltsamen Traumes, der mich auf ein fernes wundersames Eiland geführt hat, das ich nie wieder erblicken werde. Der Traum ist verweht. Was hat das wirkliche Dasein mit diesem verlorenen Traume zu schaffen?

Wenn ich auf der Erde noch eine Bestimmung zu erfüllen habe, so ist es die Erziehung meiner Tochter. Ich habe nur noch einen Wunsch: Sophie einmal glücklicher zu sehen als mich. Fast alle Tage denke ich stundenlang darüber nach: Womit muß ich sie rüsten, damit sie die Vorbedingungen zum Glück hienieden in sich trägt? Ich glaube, es zu wissen. Ich muß sie im Herzen so reich machen, daß sie dem Manne, den sie einst lieben wird, kein leeres Herz entgegenbringt, aber auch keins, das nur erfüllt ist von Sehnsucht, Erwartung und großer Hoffnung, sondern ein Herz, das beim Erwachen der Liebe überströmt vor Güte, Begeisterungsfähigkeit und Verständnis. Innerlich reich sein, reicher als der Geliebte, und geben können, viel geben können, das ist weibliches Glück. Denn was ist das höchste, das eine Frau auf dem Throne der Liebe vermag? Dornner et pardonner!

Kommen Sie nicht! Es ist besser so. Ich werde in der Liebe zu meiner Sophie wieder gesund werden.

Verzeihen Sie die Bleistiftschrift! Aber im Hotel, da kann ich nicht schreiben.


Georg an Agathe

13. April.

Liebste Freundin.

Ich füge mich, Ihnen ergeben, Ihnen und Ihrem Willen. Über meinem eignen Herzen stehend, segne ich Sie. Die Befriedigung, die Ihnen aus der Liebe zu Ihrer auch mir über alles teuren kleinen Sophie quillt, möge Ihr stilles Glück werden.


Agathe an Georg

Gardone, den 16. April.

Lieber Freund!

Das Glück des Verzichts ist ein armseliges Glück. Aber es muß mir genügen. Ich will fortan zufrieden sein. Meine Liebe zu Ihnen war so groß, daß Reue oder Haß niemals in ihrem Gefolge hätten sein können. Selbst meine Enttäuschung ist rein von jedem häßlichen Gefühl. Sie ist kühl und frei. Mit dem Rüstzeug meiner Resignation wandle ich festen Schritts durch die Ebene des weiteren Lebens. Ich danke es Ihnen.

Wir sind einander nichts mehr schuldig. Ich habe Ihnen alle Schuld mit meinem Leid bezahlt.

Wir bleiben hier noch den halben Mai. Ich vermag mich vom köstlichen See nicht zu trennen.

In einem alten Bande der »Jugend« fand ich vor einiger Zeit, da Sie noch da waren, ein Gedicht »Lago di Garda«. Ich habe es mir abgeschrieben:


Lago di Garda

Lago di Garda! In mein Herz gegossen
Hat frühe Sehnsucht dieses Zauberwort.
Oft, wenn die Welt im Wintergrau zerflossen.
Verhieß es mir den neuen Frühling dort.

Da liegt er nun, der See, ein blauer Fächer,
Von Silberspitzen wunderbar umsäumt,


Die Berge weiß, die sonnenfrohen Dächer,
Zypressen, ernst und wehmutsvoll verträumt.

Die Ora singt, der nächtelang ich lausche:
Sirenensang, ich traue ihm nicht mehr!
Wo ist die Lust, der ich mein Leid vertausche?
Limonenduft, wie bist du süß und schwer ...

So fand ich nicht, was mir der Traum versprochen.
Es war ein Märchenglück, das ich begehrt.
Und doch, ich segne euch, göttliche Wochen,
Lago di Garda, die du mir beschert!

Heben Sie mir die Verse auf!

Mein Bruder Hermann hat sich abermals zu einem langen Europa-Urlaub entschließen müssen. Wir erwarten ihn in vierzehn Tagen. Er schreibt wortkarg. Wir fürchten, dies ist das Zeichen, daß es ihm wenig gut geht.

Ihre Agathe


Agathe an Georg

(Depesche)

Gardone-Riviera, 18. April.

Lieber Freund, wir erhalten soeben aus Lome die telegraphische Nachricht, daß Hermann gestern am Herzschlag verstorben ist. Unfähig, Anordnungen zu treffen, bitten wir Sie, auf das Kriegsministerium zu gehen. Unser Hermann soll in afrikanischer Erde ruhen. Es war sein Wunsch.

Ihre Agathe


Georg an Agathe

(Depesche)

Dresden, 20. April.

Ihr und Ihrer verehrungswürdigen Mutter Schmerz ist auch der meine. Wir müssen ihn vereint tragen. Ich habe Ihrem Wunsche gemäß gehandelt. Ausführlicher Brief folgt. Ewig der Ihre.

Georg


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