Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Wie die Ferien in Wirklichkeit waren. – Lieschens Krankenlager und sie und ihr »Vaterle«. – Viel Feuerwerk und Zigaretten. – Vater bekommt einen Haufen Geld und Fräulein Mayer ein neues Klavier. – Von traurigen Dingen in der Schule, und wie ein böser Streich enden kann.

 

Lieschen war noch in derselben Nacht sehr krank geworden. Vater war aufgewacht von einem jammervollen Rufe seines Kindes und hatte es in Krämpfen gefunden. Er hielt, bebend vor Angst, den zitternden Körper Lieschens, die nicht bei Bewußtsein war, bis endlich nach einer langen Stunde Fritz mit dem Arzte kam und die angewandten Mittel Linderung brachten. – Die qualvollen Zuckungen und Krämpfe hörten auf, aber die Schwäche nachher war sehr groß, und es blieb eine gewisse Unruhe, die es der Kranken kaum möglich machte, länger als eine Stunde auf demselben Flecke liegen zu bleiben. Da war es denn der Vater, der sein Kind unermüdlich hob und legte und schließlich, wenn Lieschen zu sehr litt, sie in Decken gehüllt auf seine Arme nahm und in der Stube auf und ab trug, wie er es vor zehn Jahren schon getan hatte. Lieschens Körper war ja so leicht und schmal, und die Anstrengung war keine zu große.

»Weißt, Vaterle, auf deinem Arm ist's am besten!« Auch die Mutter wollte es versuchen, aber Lieschen hatte bei der kleinen, korpulenten Frau nicht so das Gefühl der Sicherheit. Anfangs konnte Lieschen kaum reden. Nach und nach aber machte ihr das Sprechen keine Beschwerden mehr, und auch das Interesse für andere kehrte wieder, ja es war sogar ein fast krankhaftes geworden.

»Geh an die Luft, Vaterle, ich bitte dich!« sagte sie des Tags oft zehnmal, und wenn Vater dann endlich fortging, so konnte sie es doch kaum erwarten, bis er wiederkam. Die Geschwister hatten auch keinen leichten Stand. Die Wohnung war eng, die Kinder lebhaft und Lieschen sehr ruhebedürftig. Statt der gehofften Spaziergänge ins Freie mußte nun meist Fritz bei den Kleinen bleiben und sie unterhalten, während Anna der Mutter in den vermehrten Arbeiten des Haushalts half. Oft wollte das junge Mädchen recht bitter werden, wenn sie an die andern dachte draußen in Freude und Freiheit, aber wenn sie Lieschen in ihrem Leiden ansah und sie selbst alles so gesund und frisch tun konnte, da fiel ihr das Arbeiten doch nicht gar so schwer.

Die Briefe von den fernen Freunden blieben nicht aus, namentlich als sie von Lieschens Erkrankung hörten. Fritz hatte an Franz geschrieben und Anna, wenn auch ungern, an Alice und Fräulein Mayer. Alle waren von der innigsten Teilnahme erfüllt, und Franz schickte Lieschen »für die beiden kleinen Unnütze, daß sie dich in Ruhe lassen,« eine ganze Schachtel voll selbstgesuchter Muscheln, und von Alice kamen immer wieder die schönsten, duftendsten Gebirgsblumen. In den ersten Wochen mußte man all diese Liebesgrüße stillschweigend beiseite tun, denn Lieschen war zu krank, um sich über etwas zu freuen. Aber jetzt tat ihr jede Sendung unendlich wohl, und schon in der Morgenfrühe fragte sie:

»Hat mir der Postbote nichts gebracht?«

Besonders sehnte sie sich nach Briefen von Alice und versuchte auch, ihr zu schreiben, aber es wollte nicht recht gehen, und Alice mußte sich mit den kurzen, etwas steifen Briefchen von Anna begnügen. Die beiden Schwestern waren nun dadurch, daß Anna frei hatte, viel mehr beisammen als sonst, und wenn Anna für Lieschen schrieb, so besprachen sie auch manches vorher zusammen, und Anna lernte vieles von Lieschens innerer Gedankenwelt besser verstehen. Es fielen auch für den Augenblick aller Neid und jede Eifersucht bei Anna weg, und sie fühlte sich gehoben, weil sie sich wirklich nützlich machte.

Daß Vater gerade jetzt Ferien hatte, war ein wahrer Segen. Wie wäre es nur gegangen, wenn er nicht hätte da sein können, und wie hätte er es ertragen, Stunden geben zu müssen und den ganzen Tag ferne zu sein mit dem Herzen voll Sorgen! Freilich, an Vaters eigene Erholung da konnte nicht gedacht werden, und der arme Kopf hatte es doch so nötig gehabt! Aber alles schien ihm so nebensächlich dagegen, daß sein Herzblatt leiden mußte, daß es sich wieder erholen möchte. Wenn möglich, war das Verhältnis zwischen beiden noch viel inniger geworden: Es war merkwürdig, wie Lieschen durch das Kranksein innerlich reifte, und der Vater konnte ihr von allem sagen, was ihn bewegte, und sie verstand ihn in allem.

Es war gegen Ende der Ferien, und Lieschen hatte einen recht guten Tag.

»Am Ende erholt sie sich doch noch einmal,« hatte der Doktor heute früh gesagt, und des Vaters Herz war leichter als seit lange. Er hatte Lieschen ein wenig vorgelesen, und nun schien sie zu ruhen. Aber das währte nie lange. Nach ein paar Augenblicken öffnete sie die Augen und sagte lebhaft:

»Vaterle, jetzt kommen sie bald alle wieder zurück. Wie hat das so lange ausgesehen, und jetzt ist's doch so rasch vorbeigegangen! – Gelt, so geht es mit allem?« Lieschens Gesicht hatte dabei einen recht glücklichen Ausdruck. »Alle kommen, weißt du, Franz und Fräulein Mayer und Gottlob Greiner, aber nur meine Alice nicht,« setzte sie hinzu, und aus ihren Zügen war plötzlich der Schimmer von Freude verschwunden. Frankes blieben noch vierzehn Tage länger auf dem Lande als die andern, nur Robert allein mußte wegen der Schule heim.

»Das geht auch rasch herum,« tröstete der Vater, aber Lieschen blieb nun ernst.

»Wenn die Schule wieder anfängt, darfst du nicht mehr bei mir wachen, Vaterle,« sagte sie wieder nach ein paar Augenblicken. »Nicht mehr wachen und nicht mehr herumtragen darfst du mich,« fügte sie bei. »Ich werde schon lernen, wieder ruhig zu liegen!«

»Das wollen wir dann sehen,« ermunterte der Vater. »Und was meinst du,« versuchte er zu scherzen, »bei der Hitze kann man ja doch nicht schlafen, da ist's eine wahre Wohltat, ein bißchen herumzugehen!«

Der Vater tröstete, aber es war ihm doch selber so angst auf den Anfang der Schule. Die Freudigkeit und die guten Nerven fehlten ihm diesmal, um frisch mit den Schülern wieder anzufangen, und ihm bangte auch vor dem stundenlangen Fortsein von Lieschen.

Und nun kamen sie der Reihe nach wieder zurück mit fröhlichem Mut und gebräunten Wangen, mit frischen Kräften und neuen Eindrücken, die guten, alten Freunde. Fräulein Mayer hatte die Ferienzeit auf dem Lande gründlich abverdienen müssen mit Französischsprechen und Stundengeben bei den nicht sehr liebenswürdigen Töchtern der Base, aber es war doch sehr, sehr schön gewesen, versicherte sie, und ihrem ganzen Äußern hatten die Milch und die Butterbrote, an denen nicht gespart worden war, sehr gut getan. – Weltingens waren die nächsten, die heimkehrten, und gleich am andern Tage war Franz zu Lieschen geeilt, aber er durfte nicht hinein, weil sie gerade schlief.

»Aber es geht doch wieder besser?« hatte er zu Fritz gesagt, den er im Höfchen mit den Kleinen traf. Franz hatte sich so schrecklich auf Lieschen gefreut, er hatte ihr ja so viel zu erzählen, und nur ungern ging er wieder heim, denn auch Fritz war heute nicht so recht genießbar gewesen.

Den andern Tag kam er wieder und durfte nun zu Lieschen hinein, aber mit dem Erzählen war es da auch wieder nichts. Lieschen sei wohl viel besser, hieß es, aber heute nacht habe sie wieder kaum geruht, und er solle sie nur begrüßen. Franz wußte nicht recht, was er tun sollte; ihm war so beklommen zumute, und Lieschen sah so ganz anders aus. Aber er vergaß es, als sie ihm die Hand hinstreckte und lebhaft sagte:

»Bist du wieder da, Franz? O wie schön, daß du wieder da bist! Ich habe so oft an dich gedacht. Ist es wirklich so schön, wenn das Meer rauscht und die Wellen kommen, und ist der Wind wirklich so frisch und so kühl, wenn er über die Wasser einherfährt, wie es in den Psalmen heißt? Hier ist es sehr heiß gewesen,« fügte sie in plötzlich ganz anderem Tone hinzu, und der Vater bedeutete Franz, daß es nun genug sei.

»Aber du kommst bald wieder!« rief ihm Lieschen noch nach, als er unter der Türe war. Franz war zu unerfahren in Krankheiten, als daß er sich schwere Gedanken gemacht hätte, aber der Mutter und Tantchens Gesicht bei der Erzählung seines Besuches behagte ihm nicht.

»Es wachsen ihr Flügel,« hatte Tante bedeutsam zu ersterer gesagt.

»Lieschen wird doch bald wieder gesund; nicht wahr?« sagte Franz etwas ängstlich und beruhigte sich wieder, als die Tante sagte: »Wir wollen's zu Gott hoffen, Franz!«

Er hatte jetzt auch wirklich viel zu tun, und wenn auch Lindner und die Jungfer auspackten, so mußte er doch alle seine Schätze vom Meeresstrand unterbringen und seine Bücher für die Schule richten. Greiner war vorhin auch bei ihm gewesen. Er war tüchtig gewachsen, und wenn sein Gesicht auch nicht gerade rotbackig und gebräunt aussah, so erschien es doch nicht mehr so aufgedunsen und schwammig, und der ganze Leib hatte etwas Aufrechtes und Freieres.

»Das ist ja eine wahre Freude, wie dir die Sommerfrische bekommen ist, Gottlob!« sagte Frau von Weltingen und sah ihn wohlgefällig an.

»Ja, das sagt jedermann,« erwiderte dieser vergnügt. »Großmutter war anfangs ganz unglücklich über die Behandlung des dortigen Arztes und wollte gleich wieder abreisen. Aber ich bin froh, daß sie dann doch geblieben ist, denn die kühlen Bäder und das Turnen im Freien waren herrlich. Ich esse jetzt auch alle Tage, ohne daß Großmutter mich darum bittet,« fügte er stolz hinzu.

Einmal war Franz auch mit Tante Juliane zu Lieschen gegangen, und Lindner hatte ein großes Paket mitgenommen. Es war eine ganz weiche Decke darin, gefüllt mit Eiderdaunen, den feinsten, leichtesten Federchen.

»Das soll dich wärmen und nicht drücken, liebes Kind,« hatte Tante Juliane zärtlich gesprochen, und Lieschen war an diesem Tage so lebhaft und gesprächig gewesen, daß die Tante nachher zu Frau von Weltingen sagte:

»Ich glaube, wir haben doch zu schwarz gesehen!«

Die Schule hatte nun wieder begonnen, und die Knaben waren vollzählig da. Die meisten hatten ihre Erholung gehabt, und sie hätten nun mit recht frischem Eifer anfangen können. Der Eifer war wohl da, aber er erstreckte sich vorderhand auf andere Dinge, auf gegenseitiges Erzählen, Rühmen und Überbieten dessen, was sie gesehen.

»Ich bin mit meinem Vater auf dem Hohenzollern gewesen,« sagte der eine voll Stolz.

»Und ich mit dem meinigen auf einem Berg, wo wir aus der Ferne Gemsen gesehen haben,« sagte der andere.

»Das ist alles noch gar nichts,« übertrumpfte ein dritter. »Ich war auf dem Faulhorn, und wir sind durch Schnee gewatet, und die Gemsen waren ganz weit unter uns!«

»Ich habe auf dem Gute meiner Mutter reiten und mit auf die Jagd gehen dürfen,« sagte Kurt Wilsdorf und blickte triumphierend im Kreise herum. »Und wenn ich im Herbst wiederkomme, darf ich die Fuchsjagd mitreiten; heidi, da geht's über Gräben und Hecken!« und er machte eine Bewegung, als ob er die Reitpeitsche sausen ließe.

»Am Meer ist's auch schön,« schaltete Franz Weltingen ein. »Wir haben Festungen im Sande gemacht, und nachmittags sind wir gesegelt, oft bei Wellen so hoch wie die Stube hier!«

»O das ist furchtbar niedrig!« sagte wegwerfend ein anderer Knabe. »Mein Bruder ist bei der Marine, der hat gesagt, es gäbe Wellen wie Berge.«

»Wald ist doch viel schöner als Wasser,« rechtete einer, der mit den Seinen im Schwarzwald gewesen. »Die Tannen hättet ihr sehen sollen und das Moos darunter! Wir aßen auch manchmal dort zu Mittag, – man hat es halt in einem Korbe mitgenommen, und nachher legten wir uns nur so in die Heidelbeeren hinein und schmausten rechts und links.«

»Da mögt ihr schön ausgesehen haben!« spottete Franke, und ein verächtlicher Blick von oben bis unten streifte den etwas einfachen Kameraden. Er selbst war nach neuester Mode gekleidet und trug zum ersten Male statt der Bluse wie die andern eine Jacke mit Weste und lange Hosen.

»Wo bist denn du gewesen, Franke?« fragte einer, der ihn im stillen sehr beneidete.

»Zuerst wie immer auf unserem Schloß am Starnbergersee,« antwortete dieser nachlässig. »Dort hab' ich mich aber wie gewöhnlich schrecklich gelangweilt, und ich war froh, als Vater mich mit sich nach Gmunden und Wien nahm. An den beiden Orten hab' ich mich herrlich amüsiert, und die Theater sind doch dort ganz anders als hier!«

Die Kameraden ärgerten sich eigentlich über Frankes Ton. Sie wußten selbst nicht so recht, warum, aber im stillen imponierte er heute doch allen, selbst Franz, dessen höchster Wunsch lange Hosen waren. Und es war doch etwas Besonderes, wenn einer so von oben herab von »seinem Schlosse« sprach und über Theater urteilte, die die meisten der Knaben nur von außen kannten. Franke bemerkte die Wirkung, die seine Worte hervorbrachten, und war befriedigt davon. Es war ihm noch nie so zuwider gewesen, wieder auf die Schulbank zu müssen, wie diesmal, und er hatte den festen Vorsatz, sich Unterhaltung und Autorität zu verschaffen. Er war ja jetzt ganz allein in der Villa; die alte Haushälterin und der Diener mußten tun, was er wollte, und die Buben sollten einmal sehen, was er konnte. So lud er, als ob es sich um gar nichts Besonderes handle, die ganze Klasse gleich auf den andern Abend zu sich in den Garten ein.

»Darfst du denn das?« fragte erstaunt ein Neuer, der heute zum erstenmal gekommen war.

»Wer soll mich denn hindern?« erwiderte Franke hochmütig. »Meine Eltern sind nicht hier, und unser Haus ist groß genug. Also topp, ihr kommt doch alle?« und er sah fragend um sich. »Es ist Samstag, dann können wir den andern Morgen auch ausschlafen.« Die meisten sagten mit Freuden zu, ein Teil etwas verlegen. Über Fritz Wurm, der Franke zunächst stand, blickte dieser absichtlich weg, als erwarte er von ihm keine Antwort, hingegen blickte er gespannt nach Franz Weltingen.

»Da muß ich erst meine Eltern fragen,« sagte dieser etwas ängstlich, denn er ahnte, daß ihm die Erlaubnis wohl nicht zuteil werden würde, und doch gelüstete es ihn eigentlich sehr, auch dabei zu sein.

»Tu, was du nicht lassen kannst,« sagte Franke kurz und etwas geärgert. Um den Weltingen war es ihm eigentlich am meisten zu tun gewesen.

Fritz Wurm kam recht bedrückt nach Hause. Zuerst all die Reiseschilderungen, die er hatte mit anhören müssen, und dann dieses absichtliche Übersehen seiner Person! Er kam sich wie ausgestoßen vor, und wäre er nicht ein Knabe gewesen, wahrhaftig, er hätte vor Wut geheult, so aber schluckte er wacker die Tränen hinunter. Aber Lieschens Ohr war scharf, und nach dem Essen rief sie ihn zu sich heran.

»Ich bin so froh für dich, Fritz, daß Franz nun wieder da ist,« sagte sie innig, »und ich hoffe immer, daß er dich bald wieder einladet, daß du auch ein Vergnügen hast. Weißt, Friederle, es tut mir so schrecklich leid,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, »daß du meinetwegen so traurige Ferien gehabt hast,« und sie suchte nach Fritzens Hand.

»Es ist gar nicht traurig gewesen,« sagte da Hansel, »sondern sehr lustig! Grete war immer das Rotkäppchen und Fritz der Wolf. Und dann war er die Großmutter, und ich habe piff, paff! gemacht. Und heute mußt du mit uns in die Allee gehen und wieder Soldaten mit uns spielen. Ich kann jetzt ganz gut den Stechschritt und Grete auch, gelt Fritz?« und Hansel machte Anstalt, ihm von hinten her auf den Rücken zu klettern.

Fritz überlief es kalt. In den Ferien, wo weit und breit niemand da war, da hatte er nicht ungern all die Spiele mit den Kindern auch auf der Straße getrieben. Aber jetzt, wo jeden Augenblick ein Kamerad kommen konnte, war dies unmöglich, und noch dazu angesichts des Frankeschen Parkgitters. Er war darum sehr erleichtert, als die Mutter sagte:

»Jetzt müßt ihr auch wieder mehr allein auf euren Sandhaufen spielen, Fritz muß in seine Schule gehen und lernen. Aber nicht wahr, er ist ein braver Kerl gewesen, daß er uns allen so geholfen hat?« fügte sie noch im Hinausgehen hinzu und warf Fritz einen freundlichen Blick zu, indem sie mit dem Ellbogen die Türe faßte; denn sie trug die schwere Nähmaschine in die Küche, weil Lieschen das Geräusch nicht ertragen konnte. Wo war aber Fritzens Trübsinn plötzlich hingekommen? Es war ihm zumute wie einem Soldaten, der einen Orden bekommen hat, denn Mutter lobte fast nie, wenn sie es aber tat, dann hatte es auch einen Wert. Und wie war er glücklich, als gleich darauf Lindner kam und ihn feierlich im Namen von Frau von Weltingen auf morgen abend von sechs bis neun Uhr einlud.

»Ich muß nachher noch zu Herrn Franke hinüber und sagen, daß unser junger Herr Baron nicht in der Gesellschaft sein kann, er erwarte selber Besuch,« sagte Lindner pfiffig lächelnd. Lieschen ließ sich die Sache erklären, als der Diener fort war, und dann sagte sie herzlich:

»Wie ich mich für dich freue, Fritz!«

Der Abend bei Weltingen war reizend gewesen. Die Knaben hatten getollt und gespielt. Fritz freute sich, wie gut ihn die beiden Hunde noch kannten, und nachher speisten alle zusammen im Garten, und Fritz hörte nun ganz gerne vom Meere erzählen; hier ärgerte es ihn nicht. Um neun Uhr trat er den Heimweg an und war schon beinahe zu Hause, als aus dem Frankeschen Garten ein toller Lärm zu ihm drang.

»Bin recht froh, Fritz, daß du nicht bei denen da drüben bist,« sagte der Vater, als Fritz heimkam. »Es ist ein Unfug, all die wilden Buben beisammen und keine Aufsicht! Nun fangen sie gar an, Feuerwerk loszulassen,« und der Vater sah besorgt auf Lieschen, die das alles sehr aufregte, und die bei jeder Rakete, die drüben aufzischte, erschreckt in die Höhe fuhr.

»Es ist nur gut, daß morgen keine Schule ist,« sagte die Mutter, »da hättest du einen bösen Stand!«

Als es aber zehn Uhr schlug und der Lärm da drüben noch nicht aufhörte, da faßte der Herr Präzeptor einen raschen Entschluß. Er nahm seinen Hut und ging eiligen Schrittes über die Straße dem Frankeschen Parktore zu. Dort zog er energisch die Klingel, und als niemand öffnete, denn der Diener war jedenfalls gerade im Hause, läutete er noch einmal.

»Wer ist denn da draußen, Donnerwetter, der zu so ungebührlicher Zeit einem fast die Glocke herabreißt?« erscholl da die Stimme von Robert Franke, und er und ein paar andere sahen zum Fenster des Gartenhauses hinaus, in dem die Knaben sich eben regalierten.

»Zum Kuckuck, der Wurm!« sagte Franke, doch ein bißchen erschreckt, und die Knaben warfen schnell ihre Zigaretten unter den Tisch, während der Diener, der inzwischen zurückgekommen war, das Tor öffnete.

»Ich bin zwar ein ungebetener Gast, und ich komme allerdings zu ungebührlicher Zeit,« sagte der Herr Präzeptor, indem er unter den Türrahmen des Gartenhäuschens trat, »und wenn eure Eltern da wären, so hätte ich mir auch diesen späten Gang geschenkt. Aber so nehme ich mir als euer Lehrer das Recht zu sagen, daß der Lärm, den ihr verführt, höchst unstatthaft ist, daß ihr die Nachbarschaft stört, indem ihr unbefugter Weise mitten in der Stadt Feuerwerk loslaßt, und daß es für Schüler in eurem Alter die allerhöchste Zeit ist, sich zur Ruhe zu begeben. Von dem Dufte, der in diesem Raume schwebt, will ich gar nicht sprechen,« fügte er noch bei, und mit einem kurzen: »Gute Nacht!« ging der Herr Präzeptor wieder heimwärts.

Kaum hatte sich das Parktor hinter ihm geschlossen, als ein zuerst unterdrückter, dann immer stärker werdender Lärm losging.

»Der alte Schleicher, der Ausschnüffler, mir so etwas zu bieten auf meinem eigenen Grund und Boden!« schrie Franke in höchster Wut, aber doch erst, als er wußte, daß man ihn nicht mehr hören konnte.

»Und ins Bett schicken wollen wie Babies, das ist einfach beleidigend! Er hat kein Recht dazu, und ich werde mich bei meinem Vater beschweren, wenn er heimkommt.«

»Feuerwerk loslassen ist allerdings, glaube ich, nicht erlaubt,« wagte ein jüngerer Knabe einzuschalten. »Mein Vater hat's einmal gesagt, und er ging mit mir vor die Stadt hinaus, um meine Frösche loszulassen.«

»Blödsinn! Ich kann in meinem Garten tun und treiben, was ich will,« sagte Franke protzig. »Der Wurm ist nur voll Ärger, weil wir seinen Filius nicht eingeladen haben.«

»Vielleicht ist's ihm um sein krankes Lieschen gewesen,« sagte Kurt Wilsdorf plötzlich ernüchtert. Es gewann bei ihm das gute Herz immer wieder schnell die Oberhand über den Leichtsinn. »Franz hat neulich erzählt, sie sei sehr leidend!«

»Was geht uns das an?« sagte Robert brutal. »Wenn wir uns um alle kranken Leute in der Welt bekümmern wollten, da wäre es bald aus mit der Lustigkeit. Aber jetzt erst recht nicht! – Da setzt euch wieder her, und Jean soll uns noch einmal Bier einschenken, und dem Wurm wollen wir's eintränken, daß er unser Fidelsein so gestört hat!« Franke setzte sich in die Mitte und machte den andern Zeichen, aber er brachte es nicht mehr zu stande, daß sie wieder Platz nahmen. Der und jener der Knaben erinnerte sich mit Schrecken, wie spät es schon sei, und was die Eltern wohl sagen würden, und ein anderer Teil ersehnte das Heimgehen, denn es machte sich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend fühlbar nach den ungewohnten Genüssen, die sie gehabt. So ergriff einer nach dem andern seine Kopfbedeckung und verließ den Garten, Franke aber blieb in der mißmutigsten Laune und im größten Ärger zurück.

»Das war doch wieder eine kolossale Niederträchtigkeit, einem das ganze Fest zu verderben,« murmelte er wütend vor sich hin. »Jetzt ist aber das Maß voll! Von solch einem niederträchtigen Kerl laß ich mir nichts mehr gefallen!« Franke ließ die Dienerschaft nun aufräumen und ging voll tiefsten Grolls zu Bett.

Lieschen hatte lange gebraucht, bis sie sich von dem Geknalle und Geknatter etwas erholt hatte, und erst gegen Morgen war sie eingeschlafen, nachdem Vater ihr von der beruhigenden Arznei gegeben hatte.

»Es ist der letzte Löffel in der Flasche,« sagte der Vater zur Mutter, »du mußt das Rezept wieder machen lassen!«

»Ich kost' euch so viel!« hatte Lieschen, wie schon oft, klagend gesagt und dachte an all die Medizin, die stärkenden Mittel und die Doktorbesuche.

»Du weißt ja, Lieschen, daß wir Geld wie Heu haben,« scherzte der Vater, aber dieser Satz verfehlte vollkommen seine Wirkung, seit Lieschen vor einigen Nächten ein Gespräch der Eltern gehört und diesem entnommen hatte, daß der Mutter langgehüteter Sparpfennig für Vaters neuen Rock nun herhalten mußte.

»Du glaubst nicht, wie gut und anständig der alte noch ist,« hatte Vater sie nachher zu beruhigen gesucht, aber Lieschen wußte von Fritz, daß die Knaben schon lange über ihn spöttelten, und das war ihr ein ganz unerträglicher Gedanke.

»Lieber Gott,« hatte sie heute früh vor dem endlichen Einschlafen wieder so recht herzlich gebetet, »lieber Gott, mach', daß ich geduldig bin und ruhig liegen bleiben und schlafen kann, und gib Vaterle einen Rock!« so fügte sie jetzt jedesmal kindlich hinzu.

Am andern Morgen, es war spät geworden, als Lieschen erwachte, hörte sie im Nebenzimmer lebhafter als sonst reden. Die Stimme der Mutter klang noch lauter als gewöhnlich, aber freudig. Fritz sagte einmal übers andere: »Das ist fein!« Anna stimmte vergnügt bei, und den Vater hörte sie sagen:

»Gott sei Lob und Dank!«

Lieschen griff eben nach ihrer Klingel, als der Vater eintrat.

»Ich will dir etwas zeigen, Lieschen,« sagte er und legte ihr ein dickes Blatt Papier in die Hand. Lieschen tastete daran herum und fand, daß es ein Briefcouvert mit einem großen Siegel sei.

»Nicht wahr, Kind, da muß ich mich schon näher erklären,« sagte er, und seine Stimme hatte einen freudigen Klang. »Denke dir, in dem Umschlag ist ein Brief und in diesem steht, daß dem Herrn Präzeptor Wurm ein jährlicher Gehaltaufschlag von fünfhundert Mark zugestanden sei; dabei bleibe ich noch ein Jahr in der vierten Klasse. Wir haben's erst in einem Jahr erwartet,« fügte er hinzu, und Lieschen fühlte aus seinem Sprechen eine Rührung heraus. Mutter und die Geschwister waren nachgekommen.

»Was fangen wir denn nun mit dem ganzen Haufen Geld an?« fragte Fritz.

»Zipfel!« erwiderte die Mutter, aber es war nicht schlimm gemeint. »Hosen und Röcke und Stiefel und Essen schaffen wir davon an und sind froh, daß wir jetzt alles sofort bezahlen und auch einen großen Vorrat Kartoffeln und Kohlen kaufen können.«

»Ich hab' geglaubt, es werde jetzt alles anders,« sagte Anna enttäuscht. »Alles das haben wir ja vorher auch gehabt!«

»Es wird auch anders,« fiel der Vater fröhlich ein. »Mutter braucht nicht mehr Angst und Sorgen auszustehen, wenn ihr heranwachst und immer größere Mägen und längere Kleider braucht. Vor allem reicht's aber nun dazu, Mutter die schönste Mantille der Welt zu kaufen ...«

»Und dir endlich den schwarzen Rock,« unterbrach ihn die Frau Präzeptor lebhaft. Die Kinder waren auch vollständig befriedigt, als die Mutter aus freiem Entschluß in die Küche ging, um zur Feier des Tages dem Sonntagsbraten noch eine Mehlspeise beizufügen. Fräulein Mayer nahm auch an dem Festessen teil, und der Vater stieg selber in den Keller und holte eigenhändig in einem Krügchen Wein, ein Ereignis, das nur an hohen Festtagen vorkam. »Auch ich habe Ihnen eine Freude mitzuteilen,« sagte Fräulein Mayer in ihrer bescheidenen Art am Schluß des Essens.

»Na, schießen Sie los!« sagte die Frau Präzeptor, und der Vater schenkte ihr erwartungsvoll noch einmal Wein ein, was sie aber energisch zurückweis. »Haben Sie einen Brief aus Amerika erhalten?« fragte die Mutter etwas rasch.

»Ach nein, das leider immer noch nicht,« erwiderte Fräulein Mayer, und ein Schatten flog über ihre Züge. »Es ist etwas anderes! Sie wissen, wie schmerzlich ich oft mein liebes Klavier vermißte, und wie eben die Summe von ein paar hundert Mark, die ich mir seit vorigem Winter ersparte, noch nicht weit reicht. Nun hat Herr von Weltingen in Berlin seiner Frau einen neuen, schönen Flügel gekauft, und denken Sie sich, da bot mir Frau von Weltingen gestern nach der Stunde ihr schönes Pianino an, das sie seither benützte.«

»Selbstverständlich zum Kaufen,« sagte sie gleich. »Ich habe es schätzen lassen,« fuhr sie fort, »und wenn es Ihnen für dreihundertundfünfzig Mark nicht zu teuer erscheint, so würde ich mich herzlich freuen, wenn es in Ihre Hände käme!«

»Das ist ja halb geschenkt!« entfuhr es der Frau Präzeptor.

»Nicht wahr, das sagen Sie auch?« wiederholte nun Fräulein Mayer ganz ängstlich. Frau von Weltingen sagt freilich, das Äußere sei ja ganz aus der Mode, und das mache im Preise alles aus.«

»Natürlich macht das alles aus,« bestätigte der Herr Präzeptor aufs bestimmteste und sah seine Frau etwas vorwurfsvoll dabei an. »Was Ihnen die Dame sagt, das dürfen Sie auch glauben, und ich gratuliere recht herzlich, wenn Sie jetzt wieder ein gutes Instrument bekommen. Da hat Lieschen auch etwas davon, nicht wahr, Kind?« rief er ins Nebenzimmer, und eine liebe Stimme antwortete:

»Ja, Vaterle!«

Die Türe war offen gelassen, und Lieschen konnte alles, was gesprochen wurde, mit anhören. Sie freute sich auch mit, als nachher für Anna ein rosa Sommerkleid und für Fritz ein neuer Atlas bewilligt wurde und für die Kleinen weiße Schürzen und ein Ball. Es hatte sie aber bedrückt, als der Vater sagte:

»Was ich für Lieschen kaufe, das ist vorderhand noch mein Geheimnis!« Was mochte es wohl sein? Lieschen regte gleich alles so auf, auch die Freude, darum war es ihr wohl auch heute gegen Abend so beklommen zumute, und doch mochte sie niemand die Freude stören und klagen. Ja, wenn Alice dagewesen wäre! Nach ihr hatte sie nachgerade ein krankhaftes Verlangen. Sie wußte auch, daß Alice in steter Sorge um den Bruder war, und doch konnte sie ihr nichts Tröstendes berichten. Fräulein Mayer hatte ihr heute gesagt, in vierzehn Tagen etwa werde Alice zurückkommen.

In vierzehn Tagen! Lieschen seufzte und versuchte dann, eine andere Lage anzunehmen. Es war so heiß und so enge! Vater saß an ihrem Bett, aber er hatte heute nur rosige Gedanken. Er sah im Geiste einen kleinen, wohlgebauten und wohlgepolsterten Rollwagen und Lieschen darin. Und er sah, wie ihre Wangen sich röteten, da sie nun wieder in die Luft kam, wie sie sich freute über die Wiesen und Blumen, durch die er sie führen würde, und er gelangte mit ihr in Gedanken sogar bis an die Waldesgrenze dort am Ende der Stadt, – in zehn Minuten wäre sie wohl zu erreichen!

»Tut nichts, wenn's auch heiß ist, Lieschen,« sagte er etwas zerstreut und beruhigend, als diese sich wieder aufgeregt hin und her bewegte. »Warte nur, bald brauchen wir nicht mehr in der dumpfen Stube zu sitzen. Der Arzt hat auch gestern erst gesagt, du sähest wieder viel besser aus, Liebling,« und er streichelte ihr über die heißen Bäckchen. Lieschen hatte versucht einzuschlafen, es war ja heute kein Lärm auf der Straße. Aber in der Nacht war wieder das heftige Fieber, das so schön vergangen gewesen, in ihr ausgebrochen und damit die ganze alte Ruhelosigkeit. Vater war kaum ins Bett gekommen, und dann hatte er Lieschen wieder herumgetragen oder sie in den Armen gehalten. Der Anfall war wohl schwächer als der frühere, aber die mühsam errungene Besserung war doch wieder dahin, und Vater hatte noch nie solch ein schweres Herz gehabt, als er zur Schule mußte. Vier Stunden lang von dem kranken Kinde weggehen, war ein schrecklicher Gedanke für ihn, und so sollte es ja nun fortgehen. Er hatte jetzt andere Pflichten und konnte nicht wie in den Ferien seine ganze Zeit der Pflege widmen. Mit den Büchern in der Hand beugte er sich über sie und gab ihr einen leichten Kuß.

»Adieu, Lieschen, ich muß jetzt leider in die Schule,« sagte er in möglichst leichtem Tone. Lieschen war im Halbschlummer gewesen und verstand nur, daß Vater fort wollte.

»Bleib da, Vaterle, bleib da!« sagte sie aufgeregt und umklammerte seine Hand. »Wer soll mich denn tragen?« fügte sie fast ein wenig eigensinnig hinzu.

»Es nützt nichts, ich muß in die Schule; es ist beinahe acht Uhr!« Der Vater riß sich fast mit Gewalt los, und es waren schon ein paar Minuten über die richtige Zeit, als er atemlos in die Schulstube trat.

Dort war es sehr lebhaft zugegangen. Die Knaben hatten den Samstagabend wieder durchgesprochen, aber in Gruppen, daß Fritz Wurm es nicht merke. Ausrufe wie: »Es war doch riesig nett!« und »elend fein!« im echtesten Schulknabenton sollten ihn und Franz Weltingen noch nachträglich neidisch machen. Und dann zischelten sie wieder zusammen, und das Zischeln schwoll an, und man hörte einzelne Sätze: »Er hat kein Recht dazu gehabt!« oder: »Ja, doch, er hat's gehabt, mein Vater hat es gesagt!« und dann Frankes und einiger anderer Stimmen, die sagten:

»Einfach gemein ist es gewesen! Er steckt seine Nase auch in alles hinein!« als der Besprochene eintrat. Hätten Schulkinder, wie es sein sollte, auch ein Auge für das Aussehen ihres Lehrers, sie hätten sich heute sagen müssen: »Wir müssen uns ein wenig zusammennehmen!« Herr Präzeptor Wurm sah sehr blaß und angegriffen aus und fuhr sich auch immer wieder mit der Hand über die Stirn, ein Zeichen, daß die Kopfschmerzen wieder im Anzuge waren. Franz Weltingen und Greiner allein betrachteten ihn mit Teilnahme, denn Fritz hatte ihnen schon vorher gesagt, daß es mit Lieschen wieder weniger gut stehe. Der Herr Präzeptor sprach heute mit sichtlicher Anstrengung, und es mochte sein, daß dies auf die Schüler zurückwirkte; keiner war so recht bei der Sache. Bei einem Aufsatz, der über den Sonntag hatte gemacht werden müssen, entdeckte der Lehrer, daß er einfach aus einem Buche abgeschrieben war, die andern, bis auf wenige Ausnahmen, waren schlecht und liederlich geschrieben, was ja begreiflich war nach einem solchen Abend. Franke lieferte sogar gar keinen Aufsatz ab; er hatte die Frechheit zu behaupten, er habe sein Heft verloren. Der Herr Präzeptor warf ihm einen bezeichnenden, tief ernsten Blick zu; er hatte heute wirklich nicht die Kraft, sich mit ihm einzulassen. Franke zuckte beleidigend geringschätzig mit der Achsel und spielte mit seiner goldenen Kette. Er schien es jetzt darauf anzulegen, den Lehrer zu ärgern, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Eine Handvoll Knallerbsen, die er unbemerkt auf den Boden geworfen hatte, wurden von dem Herrn Präzeptor gesehen, ehe er auf sie getreten war, und der nächstsitzende Knabe war einfach angewiesen worden, die kleinen runden Dinger zu entfernen. Daß auf dem Pulte heute allerhand Ungeziefer, Raupen und Käfer ihr Wesen trieben, ja daß sich plötzlich ein großer Regenwurm aufbäumte und sich über das Lehrbuch schlängelte, schien der Herr Präzeptor kaum zu bemerken, wie auch nicht, daß der Schlüssel zum Pult und seiner Feder fehlte. Er ließ sich ruhig von einem der Schüler eine solche geben. Sein Gemüt war heute von so ganz anderen Sorgen erfüllt, als daß ihn solch kleine Dinge hätten beunruhigen können. Viel peinlicher berührte es ihn, daß er fühlte, wie Frankes Blick ihn unausgesetzt in auffallendster Weise verfolgte, und es schien ihm sogar, als mache er jede seiner Bewegungen nach. In dem angegriffenen Zustande, in dem er war, fiel ihm dies qualvoll auf die Nerven. Auch wenn er ins Buch sah, empfand er den impertinenten Blick, und er war froh und erleichtert, als die Glocke zehn Uhr schlug. Lange hätte er die Spannung nicht mehr ausgehalten, und dann, das fühlte er deutlich, wäre er nicht mehr Herr über sich selbst und seine Sprechweise gewesen. Müde ging er ins Lehrerzimmer, wohin Fritz ihm folgte. Die Mutter hatte ihm in einem Fläschchen etwas Wein für den Vater mitgegeben und ein Brötchen. »Er braucht's heute,« hatte sie gesagt. Aber beides wurde kaum versucht und dann beiseite geschoben. Der Vater blickte mit gefalteten Händen vor sich hin. Wenn er auch nur einen Augenblick geschwind hätte nach Hause sehen können! Fritz, der sich trotz seiner aufrichtigen Betrübnis doch des verschmähten Brötchens angenommen hatte, saß neben ihm. Er mochte heute lieber bei dem Vater als bei den Kameraden sein.

Diese vertrieben sich inzwischen die freie Viertelstunde aufs beste. Draußen sprühte ein feiner Regen herab, und da es Knabennatur ist, sich Bewegung zu machen, so spielten sie Fangen über die Bänke weg und balgten und rauften sich. Auch die interessanten ausgesetzten Tiere auf dem Pult wurden einer genauen Besichtigung und Betastung unterworfen, und jeder wollte sich ein solches aneignen, über zwei Käfer, die schleunigst die Flucht ergriffen hatten, erhob sich ein Streit.

»Ich will sie haben!« – »Nein, laßt sie laufen!« – »Schlagt das Ungeziefer tot!« so scholl es wirr durcheinander, und um den Stuhl des Herrn Präzeptors her entbrannte ein heftiger Kampf. Die einen zogen hinten, die andern rissen vorn, und der große Klassenletzte, der für »Totschlagen« gestimmt hatte, hob ihn in die Höhe und schlug mit ihm kraftvoll nach den nur noch krabbelnden, schon halb toten Lebewesen. »Knacks!« flog da einer der hölzernen Stuhlfüße in einem Bogen davon, und die Knaben hielten plötzlich inne.

»Das ist dumm!« sagte der junge Herkules und besah sich den Schaden.

»Du, mit dem Wurm ist heute nicht zu spaßen! Er hat so etwas Eigentümliches an sich wie noch nie,« sagte ein anderer.

»Der Wurm soll heute noch kriechen, das verspreche ich euch,« sagte plötzlich Robert Franke, und seine Augen, die sonst meist etwas schlaff und halb geschlossen aussahen, blitzten dabei auf. Er erhob sich von seinem Platze, wo er inzwischen mit einem Federmesser seine Nägel behandelt hatte, und ging vor.

»Gebt den Fuß her,« kommandierte er, »der wird ja wohl auch wieder einzusetzen sein!« Einige der Knaben gehorchten, wie sie es ihm gegenüber immer taten, und Franke hielt prüfend das Stück gegen das Ganze.

»Es geht nicht,« sagte Franz Weltingen, »das Holz ist zersplittert und wird nicht mehr halten.«

»Halt du dein M...,« herrschte ihn Franke an und drückte und schob die beiden Ränder mit aller Macht zusammen.

»Freilich hält's,« sagte er barsch, »der Wurm ist ja dünn und mager. Und wenn's nicht hält, so gibt's einen Mordsspaß,« setzte er etwas leiser hinzu, nur für die Nächsten hörbar, denn der Herr Präzeptor war eben eingetreten, und Franke hatte den Stuhl schnell noch an seinen Platz gestellt.

Der Lehrer ging langsam an sein Pult. Dort blieb er einen Augenblick stehen, denn er mußte sich sammeln. Wie war es doch so schwer, seine Pflicht zu tun, die Gedanken, die wo anders hineilten, zurückzurufen! Es war ihm, als ob er Lieschens Stimme hörte:

»Nimm mich auf den Arm, Vaterle, mir ist so bange!« Er fuhr sich mit der Hand über Stirn und Hinterkopf und faßte sich gewaltsam. Dann griff er nach dem Buch auf dem Pulte und sagte:

»Wir haben heute die Addition der Brüche, Seite 142,« und machte dabei ein paar Schritte seitwärts und schob sich zwischen das Pult und den Stuhl, noch immer den Blick auf das Buch gesenkt.

Es war eine merkwürdig lautlose Stille in der Stube. Es schien, als ob die Knaben den Atem anhielten. Franz Weltingen ward bald blaß, bald rot, und der kleine Greiner rutschte unruhig auf seinem Platze hin und her. Noch stand der Herr Präzeptor, aber nur noch eine Sekunde, dann setzte er sich schwer müde nieder. In demselben Augenblick hörte man zwei Kinderstimmen rufen: »Halt!« aber auch zu gleicher Zeit ertönte ein schrecklicher Krach, und der Stuhl war urplötzlich zusammengebrochen; der auf ihm gesessen, lag auf der Seite am Boden. Er hatte nur einen einzigen Schrei ausgestoßen, und dann war es stille. Fritz sprang voll Entsetzen vor, Franz, Gottlob und ein paar andere nach, und der Urheber, der Klassenletzte, hatte den Famulus geholt, denn es war ihm plötzlich himmelangst geworden. Dieser hob den Herrn Präzeptor ein bißchen in die Höhe, und Fritz holte, bebend vor Angst, den Wein, der sich noch im Nebenzimmer befand. Und dann gab es ein großes Durcheinander. Der Mann am Boden wurde aufgerichtet. Er war so blaß, aber doch wieder bei Bewußtsein. Die Lehrer aus den Nebenklassen waren herbeigeeilt, ein Arzt wurde geholt, der ihn untersuchte, und Fritz stand bitterlich weinend daneben.

»Soviel ich jetzt unterscheiden kann, ist ein Bruch des linken Oberarmes vorhanden und einige Schürfungen,« sagte der Arzt. »Und dazu kommt natürlich auch noch der jähe Schrecken! Ich werde dafür sorgen, daß der Herr Präzeptor gleich in einem Wagen nach Hause gebracht wird. Es ist am besten, der Arm wird dann umgehend eingerichtet. Oder ziehen Sie vor, lieber in einem Spital untergebracht zu sein?« fragte ihn der Arzt teilnehmend.

»Nein, ach nein, lieber nach Hause!« sagte der Verletzte mit schwacher Stimme und verbiß die Schmerzen, als man ihn gleich darauf halb getragen, halb geführt die Treppe hinabbrachte. Franke hatte den Triumph erlebt, den Wurm heute noch »am Boden kriechen zu sehen«, aber es fehlte ihm vollständig der sonst gespendete Beifall. Franz Weltingen hatte mit blitzenden Augen und mit geballter Faust zu ihm gesagt: »Es ist eine Niederträchtigkeit, wie du gehandelt!« und der Lobele stand fest neben ihm und wiederholte wacker, was Franz sagte. Aber auch der größte Teil der übrigen Knaben war zur Besinnung gekommen, und sie schämten sich dessen, was geschehen war.

»Das hättest du nicht tun sollen, Franke, du bist zu weit gegangen!« sagte der eine. »Der Wurm lag da, wie wenn er gestorben wäre,« sagte ein anderer. »Er hätte auch das Genick brechen können,« meinte wohlwollend ein dritter. Selbst Kurt Wilsdorf, der heute mit Franke das Gewürm geholt und auf das Pult gesetzt hatte, schlug in seiner Meinung um.

»Uzen und Unsinn machen tu' ich gerne, aber wenn's so geht wie heute, dann ist's eklig,« und selbst er drehte sich um und ließ Franke stehen.

»Memmen!« sagte dieser und raffte seine Bücher zusammen, um auch nach Hause zu gehen. Er war blaß und verstört, doch trotz allem konnte er sich eines Gefühls innerer Genugtuung nicht erwehren.

Als alle Schüler aber draußen waren, da hielt Neckelmann, der Famulus, die Teile des zerbrochenen Stuhles in der Hand und sagte zu einem der Lehrer, der noch da war:

»Herr Professor, ich will mich gleich auf der Stelle aufhängen lassen, wenn da nicht eine Lumperei dahinter steckt. Fast ganz neue Stühle, wie dieser hier einer war, brechen nicht so mir nichts dir nichts unter so einem mageren Herrn, mit Respekt zu sagen, wie der Herr Präzeptor Wurm einer ist, zusammen,« und er stellte die Teile »zu einer näheren Revision höchsten Ortes,« wie er sich ausdrückte, in eine Ecke.

*


 << zurück weiter >>