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Fünftes Kapitel.

Lobele der Greiner, sein Gelöbnis und Robert Franke. – »Eine Welt im Kleinen,« oder wie Fritz und Franz zusammen spielen. – Von einer besorgten Großmutter, von Fritzens schlechtem Gewissen, und wie Tante Juliane darüber denkt.

 

Die nächsten Tage waren verhältnismäßig ruhig in der Schule abgelaufen. Franke hatte einen Tag Karzer erhalten, was er höchst gleichmütig aufnahm. Von Greiners Großmutter war ein Billetchen gekommen, man möge ihren Enkel entschuldigen; er müsse sich stark erkältet haben und leide schwer an Gliederschmerzen; es müsse vielleicht ein Hexenschuß sein, denn es sei ganz plötzlich gekommen.

»Den Greiner hat eine Hexe geschossen, hört ihr's?« spotteten da ein paar Buben, als sie's erfuhren. Da war aber Fritz Wurm, als er's zum ersten Male hörte, wie toll auf den ersten besten zugefahren und hatte ihn so heftig geschüttelt, daß er sich nachher die Knochen rieb und sagte:

»Seit wann ist denn der Wurm so gut Freund mit dem Greiner, daß er sich derartig seiner annimmt?«

Fritz war in den letzten Tagen wie verloren herumgelaufen. Am Morgen nach diesem Vorfalle hatte ihm Lieschen, auf die er im Grunde sehr große Stücke hielt, mit trauriger Stimme gesagt:

»Auch du, Fritz, hast unser Vaterle betrübt!« und aus den blinden Augen war eine Träne gerollt, was Fritz höchst unbehaglich war. Dann aber trieb es ihn zu erfahren, wie es mit Lobele stand, und ob er am Ende nicht doch Schaden genommen. Als er durch seinen Vater erfuhr, daß Greiner wirklich erkrankt war, da drückte ihn seine Schuld doch sehr. Er war wütend auf Franke und nahm sich fest vor, mit ihm keinen Umgang mehr zu haben und ihm nicht mehr zu folgen; hatte er Vater doch zu arg mitgespielt.

»Erstens ist's ja nicht mein Vater,« hatte ihm Franke hochmütig geantwortet, als er am andern Tage mit Aufwand all seines Mutes ihm dies vorhielt. »Zweitens macht jeder schneidige Kerl mit seinem Lehrer Späße, das war von jeher so, und drittens kannst du ja von mir wegbleiben. Ich glaubte, du seist mir anhänglich, aber ich sehe, daß du es nicht bist. – Mir kann's egal sein,« setzte er pfeifend hinzu. »Ich kann ein Dutzend andere so wie du bist haben, aber sehr nobel und dankbar finde ich's nicht, wenn man einem so ohne weiteres die Freundschaft aufkündigt wie du, nachdem man so viel für einen getan hat!«

Was eigentlich Franke so viel an ihm getan hatte, war Fritz nicht so ganz klar, aber immerhin schwebten ihm verschiedene Krapfen, Mohrenköpfe und Schneckennudeln vor, die Franke im Laufe der Zeit für ihn gekauft hatte, allerdings immer nur für geleistete Dienste. Robert kargte darin nicht, und Fritz, der nie solche Sachen zu Hause sah, geschweige denn bekam, überschätzte den Wert dieser Gaben. Ein anderes Mal, – Fritz wurde feuerrot, als ihm dies plötzlich wieder einfiel, – ja, da hatte ihm Franke wirklich aus der Not geholfen. Da hatte er ein Zwanzigpfennigstück, das Vater ihm nach langem Betteln für eine Affenkomödie gegeben, verloren. Traurig stand er an der Bude, als alle andern hineingingen. Nach Hause getraute er sich auch nicht, weil er wegen seiner Nachlässigkeit gescholten worden wäre. Da hatte ihm Franke ein Billet gekauft und dabei wegwerfend gesagt: »Brauchst mir nicht zu danken wegen so einer Lappalie!« Als ob zwanzig volle Pfennig eine Lappalie wären! – Nein, Fritz wollte und konnte gewiß nicht undankbar sein, und er rief Robert in seinem Zwiespalt noch nach, als dieser schon fast in seinem Hause verschwunden war:

»Anhänglich bin ich dir doch, – ganz gewiß, und dankbar auch!«

»Beweis es!« sagte Franke kurz, und Fritz ging nachdenklich nach Hause. Er wollte es so gern nach allen Seiten hin recht machen, und das war doch oft sehr schwer. Wenn's nur dem Greiner nicht wirklich geschadet hat! Das war noch seine Hauptsorge. Hätte er doch zu ihm können! Das wäre aber zu Hause aufgefallen, er hatte ja sonst nie mit ihm verkehrt.

Es war Sonntagnachmittag, und Fritz rüstete sich, zu Franz Weltingen zu gehen. Der Vater war sehr erfreut über diese Einladung und gab Fritz noch Ermahnungen. Er hatte einen nagelneuen Anzug; zwar war er aus Vaters altem gemacht worden, aber er saß ganz nett, und der weiße Kragen war tadellos, darauf hielt Mutter etwas. Lieschen strich noch mit der Hand wie prüfend darüber; sie fühlte sofort, ob die Kinder ordentlich aussahen oder nicht, und sagte:

»Fast beneide ich dich, Fritz, daß du die Stimme der lieben Dame wieder hören darfst.«

Anna sagte: »Bring mir auch was mit!« und Hansel ergänzte: »Ja, was mitbringen, – was Gutes!«

Fritz war sehr freundlich empfangen worden, nur von den Hunden nicht, die mochten es wenig leiden, wenn Kinder zu Franz kamen; sie waren dann ein bißchen eifersüchtig. Franz hatte die schöne, große Eisenbahn hergerichtet, die er zu Weihnachten bekommen hatte. Die Schienen konnte man durch ein paar Zimmer legen, und der kleine Zug fuhr wirklich vermittelst Mechanik durch einen Tunnel von Blech, über Brücken und Böschungen und hielt regelrecht an dem freundlichen Bahnhofsgebäude an. Fritzens Augen strahlten. So etwas hatte er noch nie gesehen. Anfangs stand er etwas befangen dabei, denn Frau von Weltingen saß in einer Fensternische und arbeitete, und er genierte sich vor ihr. Aber dann ging sie ab und zu, und Lindner brachte noch eine Menge von Schachteln mit Soldaten, Bauhölzern und Figuren und stellte sie bereit.

»Da kann man ja eine ganze Welt machen,« sagte Fritz ganz überwältigt, und nun ging's mit Eifer ans Spielen. Rechts und links von der Bahn wurden Landschaften gebildet. Schemel, über welche Tücher geworfen waren, stellten Berge dar, gewunden geschnittene Stücke Silberpapier die Flüsse und Bäche. Da wurde eine Meierei aufgestellt, dort aus Blöckchen eine Kirche gebaut. Hier waren grüne Bogen Papier gelegt, und ganze Schafherden weideten darauf, dort, auf einer Chaussee, die von Dominosteinen gelegt war, fuhren kleine Lastwagen und Equipagen. Am schönsten waren aber die großen Aufstellungen von Soldaten, die standen und manöverierten, und durch all dieses hindurch fuhr die Eisenbahn mit der größten Natürlichkeit. Lindner, der vergnügt zusah, brachte auch noch das Plättbrett und die Tischbretter herbei; über Stuhllehnen gelegt und mit Tüchern behängt, gab das prachtvolle Brücken und tiefe Schluchten, wo, etwas ferner vom Geleise der Bahn, wilde Tiere hausten und Indianer ihre Kämpfe aufführten. Fritz konnte prächtige Zelte von Papier machen und Schiffchen, die auf einem See hinfuhren. Lindner hatte zu diesem Zweck eine flache Schüssel mit Wasser gebracht, deren Ränder man mit dem Moos des Weihnachtsbaumes belegte. Franz hatte schon oft mit Lindner wunderschön gespielt, aber so herrlich wie heute war es noch nie gewesen, denn Fritz wußte im Spiel diese ganze Welt zu vereinigen. Die Soldaten wurden per Bahn zu dem Manöver geschickt, kleine Puppendamen in hübschen Wagen mit Lakaien sahen bei der Parade zu. Ganze Sendungen von Gebackenem, Quittenschinken und Würsten und Brezeln aus Franzens Kaufladen wurden nachher vermittelst Extrazuges unter die hungrigen Soldaten verteilt, und selbst Kaiser Wilhelm, der die Parade abgenommen hatte, verschmähte nicht, aus einem ganz kleinen Gläschen ein bißchen Likör zu nippen, und der Kronprinz und Prinz Eitelfritz bekamen Himbeersaft. Die kleinen Bahnwärterkinder aus dem Häuschen, die rechts und links an der Bahnlinie standen, und die auch den Soldaten nachgelaufen waren, wurden nun schleunigst zur Schule in die Dörfer geschickt, und die älteren mußten die Kühe auf der Weide hüten. Die Herren Kondukteure, die aus der Arche Noah stammten, freuten sich, wenn sie am Sonntag frei hatten und mit ihren stattlichen Ehefrauen zur Kirche wandern durften, in der eine verborgene kleine Spieldose die Orgel darstellte. Eine Zigeunerbande von Zinn, die etwas abseits ihr Lager aufgeschlagen und das schönste Grafenkind, eine kleine rosa Rokokofigur, aus dem stattlichen Schlosse – einer Blechsparbüchse – gestohlen hatte, wurde durch berittene Gendarmen verfolgt und gefangen genommen. Es war wohl nicht mehr als gerecht, daß sie ins hinterste Amerika, in die Schlucht unter dem Plättbrett, verbannt wurden, und daß man den Haupträdelsführer von oben herabstürzte. Das Grafenkind wurde aber im Triumph ins Schloß gebracht, und es heiratete einen Prinzen. Auf dem schönen, freien Platze vor dem Schlosse wurde ein Tisch gedeckt; alle Gäste kamen natürlich mit der Eisenbahn angefahren, die Militärmusik spielte zu Tisch, und der ganze Kaufladen wurde vollends geplündert für all die vielen Menschen, die von nah und fern herbeikamen und auch etwas zu essen haben wollten. Frau von Weltingen und Tante Juliane hatten schon lange mit Vergnügen zugesehen. Franz und Fritz waren jetzt in zu großem Eifer, als daß sie dies noch gestört hätte.

Nun aber mahnte Frau von Weltingen, die Hochzeitsgesellschaft sich selber ein bißchen zu überlassen und Schokolade zu trinken, die sonst kalt würde. Fritz, der sich ganz vergessen hatte, wollte es nun wieder ein bißchen bange werden, als er an dem schön gedeckten Tisch mit dem silbernen Geräte saß bei den beiden Damen, die auch hier ihren Tee einnahmen. Allein diese waren so lieb und freundlich mit ihm, die Schokolade so gut und die Kuchen dazu noch besser, daß Fritz alle Schüchternheit verlor und es sich herrlich schmecken ließ. Die Damen erkundigten sich nach Lieschen und den Geschwistern und sagten Fritz, daß Fräulein Mayer ihnen schon viel von ersterer erzählt habe. Sie sprachen von der Schule, von den Aufgaben, vom Herrn Präzeptor, der so viele Mühe mit den Kindern habe, und ob Fritz auch einmal Lehrer werden wolle. Das war nun für Fritz der dunkelste Punkt; Vater wünschte es so sehr, aber Fritzens sehnlicher Wunsch ging auf anderes. Maschinen bauen und erfinden, das erschien ihm das Höchste, oder auch auf einem Schiffe in die weite Welt fahren und fremde Länder sehen und recht reich werden.

Die Damen lächelten, als Fritz das alles so nach und nach vorbrachte. Auch Franz teilte den Wunsch, weite Reisen machen zu dürfen, und die Unterhaltung wurde ganz lebhaft.

»Es ist nur gut,« sagte Tante Juliane scherzend, »daß ihr zu allen euren Berufsarten noch ein paar Jahre tüchtig lernen müßt, sonst würdet ihr uns am Ende heute schon auf und davon fahren. Gelt Dackerle, gelt Feldmann, das wäre eine schöne Geschichte!« sagte sie schmeichelnd zu den zwei Hunden, die rechts und links von ihr saßen und die beiden Schnauzen auf ihre Knie legten. Franz rief sie nun zu sich heran, und sie mußten ihre Kunststücke machen. Dackerle konnte sehr schön aufwarten und ließ, wenn auch ungern, auf der Schnauze ein Zuckerstück liegen, bis man ihm erlaubte, es aufzuschnappen. Feldmann gab mit Würde seine große Pfote und stellte sich auf Verlangen tot. Beide Hunde machten die Sache tadellos, denn sie waren ehrgeizig und wollten sich vor dem fremden Gaste, der ihnen noch immer unbequem war, auch zeigen. Als Fritz aber seine natürliche Angst vor Hunden, denn er hatte ja nie welche gehabt, überwunden hatte, da sprangen sie auch bald an ihm hinauf, hauptsächlich als die Knaben nachher mit Lindner im Korridor sich tummelten. Fritz war gewandt im Turnen. Hier waren verschiedene Gerätschaften angebracht. Die Buben schwangen und schaukelten sich und rangen ein bißchen zusammen, wobei Franz der Stärkere war. Lindner war dabei, paßte auf und tat mit, und der Korridor war so schön durchwärmt. Fritz, der stets nur enge Räume gewöhnt war, genoß mit Entzücken die ungehemmte Bewegung; Franz, den er immer nur aus der Ferne gekannt hatte, war heute so lieb zu ihm, und er konnte sich gar nicht besinnen, je in seinem Leben so vergnügt gewesen zu sein.

Da kam Frau von Weltingen aus ihrem Zimmer und sagte: »Hast du heute schon Nachrichten von Gottlob Greiner, Franz? Gestern soll's ihm nicht ganz gut gegangen sein!«

Warum war mit diesem einen Satze plötzlich für Fritz alle Freude wie verschwunden? Der Greiner! Er sprang hier herum, genoß alles Gute und freute sich, und der Schulkamerad lag zu Bett, hatte Schmerzen und das mit durch seine Schuld! Ganz ernst geworden stand er da, Franz aber sagte zögernd:

»Heute weiß ich noch nichts, aber ich hab' ihm halb und halb versprochen, daß ich noch nach ihm sehen wolle!«

»Wenn du's versprochen hast, so mußt du es auch halten,« sagte Frau von Weltingen und sah auf die Uhr. »Freilich ist's nun ein bißchen spät,« setzte sie hinzu, »aber vielleicht wird Fritz noch mit dir hingehen; es ist ja nicht sehr abseits von seinem Heimwege.«

»Ja, o ja, gern!« fiel dieser so freudig ein, daß Frau von Weltingen fragte: »Ist Greiner ein Freund von dir?« und daß Franz ganz erstaunt den Kameraden ansah.

»Jetzt können wir aber das große Eisenbahnunglück nicht mehr machen!« sagte Franz in bedauerndem Tone, denn das war immer der Schluß des Spieles.

»Vielleicht kommt Fritz ein anderes Mal wieder?« fragte Frau von Weltingen, und Franz fiel diesmal sofort ein und sagte: »O ja! Gelt, Fritz?« und damit zogen die beiden Knaben ihre Überzieher an, verabschiedeten sich und gingen zusammen fort.

»Ich würde mich freuen, wenn dieser Fritz manchmal käme,« sagte Frau von Weltingen, als sie ins Zimmer zurückkam, wo Tante Juliane schon damit beschäftigt war, etwas Ordnung in die Welt im Kleinen zu bringen, wobei Lindner dann bald energisch half.

»Eigentlich müßte das Franz selber tun,« scherzte Frau von Weltingen, Tante Juliane aber nahm ihn in Schutz und sagte:

»Er kann unmöglich zur selben Zeit aufräumen und Krankenbesuche machen.«

Währenddessen waren die beiden Knaben durch die dämmernden Straßen zu Greiner gegangen. Fritzens Herz ward immer schwerer, je näher sie dem Hause kamen. Wie wird's mit dem Lobele stehen, und was wird er gesagt haben? Auf ihr Läuten hin öffnete die alte Frau selber.

»Ach, der junge Herr Baron und wohl noch ein Freund von meinem Gottlob? Der wird sich freuen! Kommt nur gleich herein, es zieht da draußen!« Die Frau Revisor zog sie in eine durchwärmte Stube, die mit Lavendel- und Räucherduft erfüllt war.

»Uns macht der Zug nichts,« konnte sich Franz nicht enthalten zu sagen, Fritz aber war mäuschenstill, er glaubte, sein Herz klopfen zu hören. Hinter einem grünen Schutzschirme unter einer mächtigen Federdecke, aus einem Berg von Kissen hervor guckte das aufgestülpte Näslein und die etwas geschlitzten Augen des Lobele hervor. Er war sichtlich überrascht, daß außer Franz noch jemand kam, und versuchte sich rasch aufzurichten, als er Fritz erkannte, worauf die Großmutter sofort ängstlich sagte:

»Bleibe drunten, bleibe drunten!«

»Hast du noch Schmerzen?« fragte Franz.

»Nicht mehr so arg,« sagte Gottlob.

»Aber gestern, da waren sie doch schrecklich,« klagte die Großmutter. »Wo nur aber auch der Junge eine solche Erkältung her hat? Ich kann ihn doch nicht mehr wärmer anziehen, als ich's schon tue!« Dabei schüttelte sie sorgenschwer den Kopf.

»Nein, nicht noch wärmer,« sagte Gottlob ängstlich aus seinem Federberg heraus, während Fritz ihm unbemerkt die Hand unter der Decke zu drücken suchte. »Es kam so unbegreiflich schnell,« klagte die Großmutter wieder. »Ganz gesund ist er in die Schule gegangen, und ihr hättet ihn nur sehen sollen, wie er heimkam! Mich hat fast der Schlag getroffen, so hat er gezittert, und ganz blau hat er ausgesehen. Dabei waren seine Kleider und Stiefel total naß. Wenn du mir nur endlich einmal erklären könntest, Gottlob, wie das gekommen ist! Auch dem Arzt hat er immer nur geantwortet: »Mir ist halt schlecht,« auch als dieser steif und fest behauptete: »Der Junge war wohl ein bißchen hinter der Schule und hat sich im Schnee herumgetrieben?« »Nein, Herr Doktor,« hab' ich gesagt, »das tut mein Gottlob nicht, das weiß ich gewiß. Der denkt an seine alte Großmutter, der er ihr ein und alles ist, und die ganz allein in der Welt stünde, wenn sie ihn nicht hätte!« Die alte Frau wischte sich eine Träne und ging dann in die Küche, um einen Trunk für den Enkel zu bereiten.

Gottlob sah mit einem verlegenen, kläglichen Gesicht unter seiner Decke vor, aber Fritz wußte vollends nicht, wo er hinsehen sollte; die ganze Unterredung war ihm qualvoll. Franz, der auch nicht recht wußte, was er sagen sollte, fragte Gottlob, ob er glaube, nächste Woche wieder in die Schule zu können. Als dieser es bejahte, bot er ihm an, ihm bei den Aufgaben ein bißchen behilflich zu sein. Beim Fortgehen hatte Fritz noch Gelegenheit, Gottlob rasch und leise ins Ohr zu flüstern: »Verzeih!«

Bis an die nächste Ecke gingen die zwei Knaben mit einander. Franz sagte:

»Weißt du, Wurm, etwas ist nicht ganz richtig mit dem Greiner. Wo soll er sich denn in der Schule so erkältet haben? Wenn sich nur nicht einer einen schlechten Witz mit ihm erlaubt hat! Mit jedem andern ja, aber mit so einem schwachen, elenden Jungen, das wäre gemein!« Mit diesen Worten schüttelte er dem Kameraden die Hand, und jeder ging seiner Wege.

Fritzens Schritte waren zögernd und langsam. Wie war es heute nachmittag so wunderschön gewesen! Er hatte so viel davon zu Hause erzählen wollen! Jetzt war sein Herz wieder so schwer, obgleich er ja nun wußte, daß Greiner wieder auf dem Wege der Besserung sich befand. Aber Fritz schämte sich im tiefstem innersten Herzen. Wie hatte er dagestanden vor der alten Frau in ihrer Herzensangst, und wie weit über ihm stand dieser »schwache, elende Junge«, wie Franz gesagt hatte, der lieber allerlei Mutmaßungen über sich ergehen ließ, als daß er sein Versprechen gebrochen hätte! Und was hatte Franz noch gesagt? Gemein hatte er einen Knaben geheißen, der jemand wie Greiner etwas zu leide täte. Hätte er nur mit jemandem darüber sprechen, hätte er nur sein Inneres erleichtern können!

Zu Hause saß die Familie um den runden Tisch unter der Lampe, und jedes freute sich auf Fritzens Erzählung.

»Hast du mir etwas mitgebracht?« fragte sofort Anna und sah enttäuscht auf Fritzens leere Hände. »Mitgebracht?« echote Hansel und lief zu Fritz hin, um ihm die Taschen auszusuchen.

»Ich kann doch bei fremden Leuten nichts einstecken,« bemerkte Fritz richtig, aber etwas mürrisch, und zog dabei in der Ofenecke seine Stiefel aus.

»Du hast nur nicht mögen,« sagte Anna schmollend und packte ihren Puppenkram zusammen, mit dem sie sich heute unterhalten hatte.

»Warst du vergnügt, Fritz?« fragte der Vater, und auch Lieschen war begierig auf die Antwort; sie hatte sich den ganzen Nachmittag auf Fritzens Erzählung gefreut.

»Ja!« sagte dieser kurz und machte sich nun mit seinen Schulbüchern zu schaffen, die er für morgen früh richtete.

»Ist das auch eine Antwort?« tadelte mißbilligend der Vater und schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick klopfte es an der Türe, und Lindner trat herein, ein mit weißem Papier und einem blauen Bändchen äußerst verlockend aussehendes Paket im Arm, das er abgab.

»Die Frau Baronin lassen Fräulein Lieschen Wurm schön grüßen, und es mache ihr vielleicht Freude, unsern heutigen Kuchen zu versuchen.« Lindner empfahl sich, nachdem die Frau Präzeptor ihm ihren gehorsamsten Dank aufgetragen hatte. Lieschen aber nahm freudestrahlend das Paket in Empfang und löste geschickt den Knoten.

»Aber Mutter, Vaterle, fühlt nur, wie viel! Und kleine Zuckerchen sind auch noch dabei! Ja, aber doch nicht für mich? Natürlich gehört das gerade so gut auch den Geschwistern,« sagte sie in ihrer selbstlosen Art und schob es der Mutter hin mit der Bitte, sie möge es verteilen.

Annas Gesicht, das sich schon wieder bedenklich verfinstert hatte, hellte sich bei den letzten Worten auf, und Hans und Gretel sagten: »Was Gutes!« und streckten die Händchen verlangend zur Mutter aus.

Lieschen war glückselig, daß sie so austeilen konnte. So reich war sie schon lange nicht gewesen, und sie vergaß fast selber das Essen über den Ausrufen der Geschwister.

»O, das ist gut!« – »Sieh nur, Mutter, der rosa Zucker!« – »Meins ist das Allerbeste, das ist von Schokolade und innen ganz weich!« u. s. w. – Vater und Mutter mußten auch ein Stück Biskuit versuchen, und Frau von Weltingen hätte sich gefreut, wenn sie all die vergnügt essenden Menschenkinder hätte sehen können. Auch Fritz vergaß für den Augenblick seinen Druck und erzählte, wie herrlich sie gespielt hätten, wie lieb man gegen ihn gewesen sei, und wie gut er und Franz sich verstanden hätten, und daß man gesagt habe, er dürfe wiederkommen.

»Das freut mich, das freut mich!« sagte der Vater. »Ich hoffe, du legst dort dein kurzes, zerstreutes Wesen wieder ab, das du dir in letzter Zeit angewöhnt hast!« –

In Tante Julianens Zimmer war es, wenn es anfing zu dunkeln, besonders behaglich. In der Ecke an ihrem Schreibtisch brannte eine Lampe, die auf die nächste Umgebung ein rosa Licht warf. Die Chaiselongue und der alte Armstuhl waren im Dämmerlicht, und einige Palmen und ein roter Wandschirm, an dem kleinere Familienbilder hingen, gaben dem Platze etwas Abgeschlossenes, Heimeliges.

Es war einige Tage später, als Franz und Tante wieder zusammen ihr Plauderstündchen hielten. Letztere, die für gewöhnlich sehr fleißig für die Armen arbeitete, streckte sich gern um diese Zeit ein bißchen aus und ließ Hände und Augen ruhen.

Franz hatte heute viel auf dem Herzen. Wo sollte er nur anfangen? Das Alltägliche war schon durchgesprochen worden, und er saß nun tief zurückgelehnt in dem großen Stuhl, den Blick auf die Decke gerichtet, wo er in Gedanken die Arabesken nachzeichnete. Wo anfangen? Die letzten Tage hatten ihm viel Bitteres gebracht wegen des Bannes. Er, Franz Weltingen, der sonst so frisch und zwanglos mit allen verkehrte, der gewöhnt war, daß ihm jedermann freundlich begegnete, er mußte es sich gefallen lassen, daß ein ziemlich großer Teil der Klasse ihn vollständig mied, und daß man ihn wie Luft behandelte. Und warum? Weil er nach seiner Ansicht recht gehandelt, weil er da nicht geschwiegen hatte, wo er glaubte, reden zu müssen. Dann aber hatte er seit heute noch eine Sorge, die ihn furchtbar drückte. Fritz hatte es nicht länger ausgehalten, sein Geheimnis und seine Schuld für sich allein zu tragen, um so mehr, da Greiner immer noch nicht zur Schule kommen konnte. Heute in der Freiviertelstunde, wo Franz und er nun meistens im hintern Teile des Schulhofes miteinander auf und ab gingen, hatte er plötzlich seinem bedrängten Herzen Luft gemacht und Franz die ganze Geschichte erzählt. Dieser war sehr betreten. So etwas hatte er nicht erwartet, und sein erstes war, daß er seiner Entrüstung über Franke Luft machte.

»Mußt nicht so sprechen, Weltingen,« erwiderte Fritz. »Ich hätt's eben nicht tun sollen, wenigstens dem Greiner nicht; das war gemein, hast du selbst gesagt! Aber daß die Türe so schwer geht, das hab' ich nicht gewußt und Franke wohl auch nicht, sonst hätt' er's gewiß nicht angestiftet. Aber was soll ich jetzt tun, Franz? Ich kann doch den Lobele nicht immerfort für mich schweigen und schließlich lügen lassen?«

»Nein, das kannst du nicht!« bestätigte ihm Franz, aber einen Rat wußte er auch nicht.

»Warte noch bis morgen,« hatte er ihm schließlich gesagt, als die Glocke das Zeichen zum Wiederbeginn des Unterrichtes gab.

»Tante Juliane!« unterbrach Franz plötzlich die Stille, die ziemlich lange gewährt hatte, aber Tante konnte warten und kannte derartiges.

»Tante Juliane!« begann er noch einmal. »Wenn einer etwas Unrechtes, wodurch ein Schaden entstanden ist, ausgeführt hat, und wenn er furchtbar bestraft würde, wenn er's gestände, müßte er es denn doch sagen, wenn es ihm auch schrecklich leid ist?« Franz rutschte auf einmal ganz nach vorn auf dem Stuhl und sah erwartungsvoll nach der Chaiselongue hinüber. Tante Juliane überlegte ein bißchen.

»Ich verstehe dich nicht ganz. Kannst du mir's nicht deutlicher sagen?«

Franz überlegte.

»Weißt du, ich meine so: Wenn einen etwas schrecklich quält, weil man's nicht hätte tun sollen, und wenn man gar nicht mehr vergnügt sein kann und einen nichts mehr freut, – wird das nur dann besser, wenn man es gesteht?«

Tante Juliane war etwas erschreckt. »Bist du's selber, Franz, von dem du sprichst?« fragte sie besorgt, denn schon lange hatte sie ja gefühlt, daß Franz etwas drückte. Es war ihr daher eine Beruhigung, als dieser rasch erwiderte: »Nein, nicht ich, aber mehr kann ich dir nicht sagen!«

»Ich will's auch nicht wissen,« sagte die Tante nachdenklich.

»Was nun deine Frage anbelangt, Franz, so dünkt es mich so zu sein. Wenn uns ein Unrecht drückt, so können wir nur dann wieder Ruhe bekommen, wenn uns derjenige verziehen hat, dem wir das Unrecht angetan haben. Geradeso ist's auch zwischen dem lieben Gott und uns. Es kann aber auch Fälle geben, wo wir's auch noch andern gestehen müssen, Eltern oder Lehrern, weil oft durch unser Unrechttun Unlauterkeit und falscher Schein entstanden ist. Dazu gehört aber sehr, sehr viel Mut!« setzte die Tante ernst hinzu. »Ist so wohl dein Fall?«

»Ja,« sagte Franz etwas gepreßt, und ihm ward bange für Fritz, und doch hätte er ihm so gerne geholfen.

»Weißt du, Franz,« sagte die Tante ermutigend, »vielleicht ist die ganze Sache doch nicht so sehr schwer zu lösen. Tut dem Betreffenden das, was er getan, wirklich leid, dann hilft der liebe Gott auch oft dadurch, daß er ihm eine Gelegenheit zum Gestehen schickt. – Aber die darf er dann ja nicht vorübergehen lassen, und die Strafe muß er geduldig auf sich nehmen; anders geht's einmal nicht!« Franz rutschte nun vollends vom Stuhle herunter und kauerte sich, was er sehr gerne tat, neben die Chaiselongue in das schöne, weiße Fell hinein, auf dem Feldmann schon der Länge nach ausgestreckt lag. Er schob ihn ein bißchen beiseite, setzte sich neben ihn und faltete die Hände um die heraufgezogenen Knie. Dann – er brauchte dabei nicht aufzusehen – erzählte er auch der Tante die Geschichte von dem Bann, und ob man denn wirklich sagen könne, daß er jemanden verklagt habe. Anzeigen, das wisse er wohl, sei etwas sehr Gemeines, und er würde es nie öffentlich tun, sagte er, und seine Stimme klang sehr erregt, so daß die Tante wohl sah, die Sache sei keine kleine für ihn.

»Darin gib dich zufrieden, Franz,« sagte sie und strich ihm mit der Hand liebkosend und beruhigend über den Kopf. »In dieser Sache wäre es einfach ein großes Unrecht gewesen, zu schweigen.«

»Aber Tante, es ist nicht leicht, wenn so viele jetzt gegen mich sind und mich ganz wie Luft behandeln. Auch Kurt Wilsdorf ist darunter,« sagte Franz, und seine Stimme bebte dabei.

»Das glaub' ich dir, mein Junge, das glaub' ich,« sprach die Tante in teilnehmendem Tone. »Aber gib acht, Franz,« fügte sie noch ermutigend hinzu, »es wird deinen Kameraden selber sehr bald langweilig werden, hauptsächlich sobald sie merken, daß du dir nicht viel daraus machst; und da sei klug, Liebling, und im übrigen bleibe gefällig und freundlich gegen jedermann.«

Es klopfte. Feldmann hob horchend den Kopf, und Dackerle sprang kläffend gegen die Türe, als Lindner eintrat und Fräulein Mayer meldete.

»Ja so, meine Stunde!« rief Franz und sprang schnell in die Höhe.

»Soll das Fräulein heraufkommen, oder wird unten geübt?« fragte Lindner. »Es sind eben einige Damen zum Tee gekommen,« fügte er hinzu.

»Dann führen Sie das Fräulein herauf,« sagte Tante Juliane und stand auf, um den Flügel zu öffnen und das elektrische Licht anzuzünden, während Franz Geige und Ständer holte.

Bei Fräulein Mayer dauerte es immer ein bißchen lange, bis sie glücklich hereingekommen war, die Anwesenden begrüßt und abgelegt hatte. Saß sie aber einmal an ihrem Klavier, dann war alles vergessen, und sie war die energische, gewissenhafte Lehrerin. Heute war es hauptsächlich das Intermezzo aus der Cavalleria rusticana, das sie mit Franz einübte. – Dieser hatte wirkliches Talent zur Musik, nur leider recht wenig Zeit zum Üben wegen der vielen Aufgaben. Er faßte aber rasch auf, empfand richtig, und sein Ton war schon merkwürdig sicher und rein. Die Tante, der dieses Stück noch fremd war, hörte mit Entzücken zu, und nachher, als die Stunde vorüber war und Fräulein Mayer mit ihr und Franz noch eine Tasse Tee trank, war es ihr eine Freude, mit dieser noch über Musik und auch andere Dinge zu reden. Tante Juliane hatte herausgefühlt, daß das Fräulein wohl schon Schweres im Leben getragen hatte, und fühlte sich darum zu ihr hingezogen. »Ja, die Musik ist eine Trösterin!« erwiderte Fräulein Mayer auf eine diesbezügliche Bemerkung der Tante.

»Spielen Sie des Abends, wenn Sie allein sind, auch oft Klavier?« fragte Tante Juliane harmlos. Fräulein Mayer kam in sichtliche Verlegenheit auf diese Frage.

»Nein, nicht oft ... das heißt eigentlich nie ..., ich habe eigentlich gegenwärtig kein Klavier,« sagte sie stockend, und ihr Gesicht färbte sich purpurrot. Die Baronin Richthofen war erstaunt. Eine Klavierlehrerin ohne Klavier! Das befremdete sie, aber sie mochte nicht weiter fragen, als sie des Fräuleins Befangenheit sah. Hätte sie gewußt, daß Fräulein Mayer, seit sie selber verdiente, alles, was sie einnahm, hergeben mußte, daß ihr einziger Bruder, ein Tunichtgut, ihr den größten Kummer machte, und daß sie in letzter Zeit, um ihm eine Fahrkarte nach Amerika zu ermöglichen, ihren höchsten Schatz, ihr Pianino hatte verkaufen müssen, sie hätte das innigste Mitleid mit ihr gehabt. Davon hatten auch die Mädchen in der Töchterschule keine Ahnung, die sich über ihren ärmlichen Anzug lustig machten, und Fräulein Mayer, die aus besseren Verhältnissen stammte, verbarg krankhaft ihre Lage.

»Wie geht's denn Ihrer kleinen, blinden Nachbarin?« fragte Baronin Richthofen, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Bei diesem Gesprächsthema ging Fräulein Mayer das Herz auf. Sie erzählte, wie Lieschen trotz ihrer Schwäche der Mittelpunkt der ganzen Familie sei, wie es sie beglücke, sie unterrichten zu dürfen, wie sie für alle ein warmes, teilnehmendes Herz habe, und wie ihr Geist weit voran sei. Ihre größte Freude sei, Musik zu hören. Leider werde bei Wurms keine getrieben, und es blieben ihr nur die Klänge, die aus den Nachbarhäusern zu ihr dringen. »Aber ich muß nun rasch nach Hause gehen,« fügte Fräulein Mayer hinzu, indem sie, gegen ihre sonstige Gewohnheit, sich schnell verabschiedete. Sie hatte auf einmal Angst bekommen, man könnte wieder von ihrem fehlenden Klavier sprechen.

Für Franz war es auch Zeit, zum Nachtessen hinunterzugehen. Er raffte seine Noten zusammen, pfiff den Hunden und verabschiedete sich wie allabendlich mit einem Handkuß von der Tante.

»Tante Juliane,« er blieb unter der Türe noch ein bißchen zögernd stehen, »glaubst du, daß Lieschen Wurm gerne einmal mein Intermezzo hören würde, und glaubst du, daß Mama mir erlaubt, einmal mit der Geige hinzugehen?«

»Freilich, mein Junge,« sagte Tante Juliane zärtlich, »das ist eine gute Idee! Frage nur, die Mutter wird nichts dagegen haben!«

*


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