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Neunzehntes Kapitel

Drei Wochen waren seither verflossen.

Die in die Ferne schweifenden Reisepläne hatten sich in einen kleinen Ausflug in die Gefilde der Bretagne verwandelt, die Alice noch unbekannt waren, und so kurz auch die Abwesenheit gewesen war, hatte doch der eigenartige Reiz, wieder im eigenen Heim zu sein, den jungen Leuten eine unvorhergesehene Freude bereitet. Am Abend des Tages, wo sie, innig aneinander geschmiegt, von gleichem Glück erfüllt, über die Schwelle getreten waren, sagte die junge Frau bei einem Spaziergange im Park: »Nicht wahr, jetzt bleiben wir immer hier?«

»Immer,« erwiderte Jean lächelnd, »immer unter der nämlichen Eiche, und noch unsre Urenkel werden uns unter ihr sitzen sehen, wie Philemon und Baucis!«

In Erwartung dieses mythologischen Abschlusses ihrer Liebe hatten Philemon und Baucis wiederum angefangen, die Umgegend zu durchstreifen.

Den letzten Tag von Jeans Urlaub benutzten sie zum Besuch eines alten, einige Meilen von Kerdren entfernten Klosters, das sowohl seiner Architektur als auch seiner Lage wegen sehr interessant war. Es war völlig verlassen, halb zerfallen und hing gleich einem alten Adlerhorst auf einem Felsengipfel. Ueber eine Stunde lang war das junge Paar in den noch wohlerhaltenen inneren Höfen und Kreuzgängen umhergewandert und hatte deren wunderbare Skulpturen – wahre Meisterwerke der Kunst – und die Ueberreste von Wandgemälden in den Sälen des Erdgeschosses bewundert. Die Sonne neigte sich zum Untergang, und obgleich sie wußten, daß sie nun erst spät in der Nacht nach Kerdren zurückkommen konnten, vermochten sie sich nicht loszureißen, weil sie den Urlaub Jeans bis auf die letzte Minute ausnützen wollten und überzeugt waren, daß sie nicht bald wieder einen so reizenden Tag erleben könnten. So ließen sie denn ihre angebundenen Pferde ungeduldig wiehern und setzten ihre Wanderung immer weiter fort.

Die Wölbungen des Kreuzganges füllten sich nach und nach mit geheimnisvollen Schatten, nur die mit grünlichem Moos bedeckten Fliesen waren noch deutlich sichtbar, und aus dem hohen Gras, das den Hof überwucherte, ragten die Bildsäulen auf einigen Gräbern wie Gespenster empor.

»Wenn wir rasch da hinaufgingen, kämen wir gerade noch recht, um zu sehen, wie die Sonne ins Meer hinabsinkt,« sagte Jean plötzlich und wies auf ein noch völlig erhaltenes Türmchen. »Hast du Lust?«

Schleunigst folgte sie ihm die noch fast neu aussehende weiße Wendeltreppe hinan und trieb ihn zur Eile, wenn er sich damit aufhielt, eine Stufe erst gründlich zu prüfen, ehe ihr Fuß sie betrat.

In einigen Minuten waren sie oben, und in dem Augenblick, wo sie auf die Plattform hinaustraten, berührte der untere Rand der Sonne die Wasserfläche.

Soweit das Auge reichte, lag die herrlich grüne See spiegelglatt, und eilends tauchte die Sonne unter in ihren Fluten.

Der Anblick war großartig, und es wäre unmöglich gewesen, einen andern Aussichtspunkt zu finden, von wo man ihn in seinem ganzen Umfang so hätte genießen können, und doch schien die ganze zauberhafte Herrlichkeit, die ganze rotgoldne, flammende Pracht, die das sinkende Gestirn noch um sich verbreitete, den jungen Offizier völlig kalt zu lassen.

Mit gerunzelten Brauen und bekümmerten Auges kehrte er dem Sonnenuntergang den Rücken und beobachtete mit peinlicher Aufmerksamkeit jede Bewegung seiner Frau, während diese, an die leichte Balustrade gelehnt, die um die Plattform lief, voll Entzücken in dem Anblick schwelgte, der sich ihren trunkenen Blicken bot.

Sie hatte ihr Reitkleid fallen lassen und die schwere Schleppe schleifte in dem weißlichen Staub, der auf den Steinfliesen lag, ihre Arme hingen an den Seiten herab und die völlige Nachlässigkeit und Ruhe ihrer Haltung machten ihr heftiges, mühsames Atemholen nur um so bemerklicher; von Zeit zu Zeit, wenn ein etwas frischerer Windzug über den Turm wehte, ließ sie ein leichtes, fast unmerkliches Husten vernehmen.

Uebrigens schien sie dies leichte Unbehagen gar nicht zu beachten, und ihre Augen strahlten vor Bewunderung.

»Wie schön das ist!« rief sie nach einer Weile ihrem Gatten zu mit der innigen Begeisterung, die er so sehr an ihr liebte. »Hinreißend schön und erhebend! Findest du es nicht auch?«

»O ja, sehr schön,« erwiderte er zerstreut, »aber du bist zu schnell gestiegen,« setzte er, seinem Gedankengang folgend, rasch hinzu.

»Wohin? In die Wolken etwa?« fragte sie ganz erstaunt.

»Nicht ganz,« erwiderte Jean, der sich trotz seiner Sorge eines Lächelns nicht enthalten konnte, »aber hier herauf. Du bist ja noch jetzt ganz außer Atem!«

»Keine Rede,« entgegnete sie in einem Ton, der ihn beruhigen sollte, »das Treppensteigen hat damit gar nichts zu thun; es ist nur eine leichte Beklemmung, die mir wie auch das bißchen Husten von meiner Erkältung bei dem Brand zurückgeblieben ist.«

»Seit dem Brand?« wiederholte Jean hastig. »Wie ist es möglich, daß ich das nicht bemerkt habe, und warum hast du nichts gesagt?«

Ohne zu merken, wie beunruhigt er war, erwiderte sie unbekümmert: »Weil's nicht der Mühe wert ist. Das kommt morgens und abends, oder auch wohl in einer etwas schärferen Luft, wie eben jetzt – das ist alles.« Und als ihr Gatte sie rasch hinunterziehen wollte, sagte sie noch auf der Schwelle: »Bitte, laß uns nur noch einmal hinaussehen!«

Jean blieb stehen, heftete aber die Augen nicht auf den fernen Horizont, sondern auf das Antlitz der jungen Frau, deren strahlendes Lächeln ihm das Herz erhob, und die, von der flammenden Röte des Himmels mit einem blendenden Glanz umwoben, über der dunklen, gähnenden Treppenöffnung stand. Dann stiegen sie hinab; es machte einen eigentümlichen Eindruck auf sie, als sie von der blendenden Helle in die Nacht des Treppenhauses untertauchten, und ihre Augen konnten sich kaum an diese traurige Dunkelheit gewöhnen.

Die allen alten Gebäuden eigene, gruftartige Kälte legte sich ihnen wie etwas Greifbares auf die Brust, und wiederum wurde die junge Frau von dem kurzen, trockenen Husten befallen.

Plötzlich bemächtigte sich des jungen Mannes ein unaussprechlich angstvoller Gedanke. Mit Blitzesschnelle zogen alle früheren unbestimmten Besorgnisse an seinem Geist vorüber, um die Angst und Pein des Augenblicks zu verschärfen.

Das Entsetzen, das ihn erfüllte, war so überwältigend groß, daß er einen physischen Schmerz am Herzen fühlte und kalter Schweiß auf seine Stirne trat.

Von einer seinem Wesen ganz fremden Angst ergriffen, zog er seine Frau eilends die Treppe herab und antwortete in seinem fast krankhaften Verlangen nach Tageslicht nur einsilbig und zerstreut auf das, was sie sprach.

Als sein Fuß den Hof betrat, atmete er erleichtert auf und begann aufs neue das Gesicht seiner Gattin forschend zu betrachten; die Wangen der Frau von Kerdren hatten nie rosiger geblüht, ihre Augen strahlten und die entblößte Hand, die er in der seinen hielt, war zart und frisch.

Wieder atmete er tief auf, aber an der letzten Biegung des Weges hob er sich noch einmal im Sattel und blickte zurück, als hoffte er der durchbrochenen Zinne eine Antwort zu entreißen auf den Zweifel, der dort in ihm aufgestiegen war.

Am andern Morgen wurde ihm eine völlig unerwartete Ueberraschung zu teil. Einer seiner Kameraden von der »Najade« war auf achtundvierzig Stunden nach Lorient gekommen und machte sich, sobald seine dienstlichen Angelegenheiten erledigt waren, auf den Weg nach Kerdren, wo er gegen vier Uhr ankam.

»Du mußt bei mir bleiben,« erklärte Jean, sobald sie die ersten Worte der Begrüßung ausgetauscht hatten, und als der Lieutenant erklärte, er habe nur bis morgen abend Urlaub, ließ Jean dies nicht gelten, sondern sagte: »Anderthalb Tage sind besser, als nichts, und ich bin entzückt, dich bei mir zu sehen.«

Der Freund ließ sich nicht lange bitten, und Frau von Kerdren, die ihn aufs anmutigste und liebenswürdigste empfing, erwies sich als eine so zartfühlende und zuvorkommende Hausfrau, daß sich der Gast nach Verlauf von zwei Stunden schon völlig zu Hause fühlte und erklärte, er sei bereit, den Rest seiner Tage im Schatten von Kerdrens grünbelaubten Bäumen zu verbringen.

Alice veranlaßte ihn, zu erzählen; sie fragte ihn aus über alle Abenteuer, die die »Najade« während der letzten sechs Monate erlebt hatte, und zeigte sich so bewandert, nicht nur mit dem Leben an Bord, sondern auch mit allen Kameraden ihres Gatten und deren persönlichen Angelegenheiten, daß der junge Offizier ganz überrascht war.

Er hatte weder für sich, noch für die übrigen Freunde Jeans so viel freundliches Interesse erwartet, und die offene, schlichte Herzlichkeit, mit der ihm die junge Frau entgegenkam, rührte ihn tief. Er beeilte sich, Jean seine lebhafte Freude und seine angenehme Ueberraschung über diesen Empfang auszudrücken, und dieser folgte voll beglückend zärtlichen Stolzes seiner Frau mit den Augen und freute sich, wenn das beglückwünschende Lächeln des jungen Seemanns seiner Bewunderung zustimmte.

Allein zwei- oder dreimal wollte es ihn bedünken, als ob der Blick seines Kameraden mit einem seltsamen Ausdruck, mit mehr Sorge als Vergnügen oder Bewunderung auf Alices Antlitz verweile. Leise Unruhe beschlich sein Herz, und ungeduldig erwartete er die Stunde der Abfahrt, wo er dann mit seinem Freund allein sein und offen mit ihm reden konnte.

Doch sobald dieser von Frau von Kerdren Abschied genommen hatte und der Wagen sie beide nach Lorient brachte, verstummte Jean. Was sollte er sagen oder fragen? … Er wußte es selbst nicht, und die Unterhaltung der beiden Freunde berührte, wie es in solchen Fällen meistens zu geschehen pflegt, lange nur ganz alltägliche Gegenstände. Erst als sie in die lange, nach dem Bahnhof führende Allee eingebogen waren, wo der Kutscher seine Pferde im Schritt gehen ließ, wendete sich Jean plötzlich zu seinem Freund und wollte eben die Lippen öffnen, als dieser sagte: »Bringe deiner lieben Frau nochmals meinen herzlichsten Dank und die Versicherung meiner ehrerbietigsten Freundschaft … Ich habe sie so reizend gefunden wie je … nur … nur glaube ich, ist sie ein wenig magerer geworden,« fuhr er fort, mit kleinen Pausen zwischen den einzelnen Sätzen, als hoffe er, Jean werde ihn unterbrechen.

Allein als der junge Ehemann beharrlich schwieg, nahm er noch einen Anlauf und sagte schneller: »Möchtest du nicht eine …«

»Eine Konsultation,« unterbrach ihn Jean mit unglaublicher Schroffheit, »nein, tausendmal nein!«

Damit stieß er den Wagenschlag so heftig auf, daß dieser wieder zufuhr, ehe Jean auch nur den Fuß auf das Trittbrett setzen konnte.

Noch hastiger ergriff er die Klinke wiederum und stieg so schnell aus, als wolle er entfliehen, aber immerhin nicht so schnell, daß sein Freund nicht noch hätte sagen können: »Wer spricht denn von einer Konsultation? Sprich doch nur einmal mit dem hiesigen Arzt! Bei jungen Frauen kommen ja wohl öfter solche Ermattungen vor, von denen unsereiner nichts versteht, und die die Ursache von der übrigens ganz unbedeutenden Veränderung deiner Frau sein werden. Zum Teufel auch,« setzte er mit einem Versuch zu scherzen hinzu, »wenn man einmal eine ›Schönheit‹ heiratet, so darf man sie auch kein Atom ihrer Frische einbüßen lassen!«

Jean schritt voran, ohne zu antworten, und als sie auf den Bahnsteig traten, stand der Zug schon bereit, und die Reisenden stiegen ein.

Er selbst nahm die Reisetasche seines Freundes dem Diener ab und legte sie ins Coupé, und während die Schaffner geräuschvoll die Thüren zuwarfen und die kleinen Rollwagen leer über das Asphaltpflaster polterten, drehte er sich lebhaft um, legte beide Hände auf die Schultern seines Freundes und sagte einfach und schlicht: »Ich danke dir!«

In seiner Stimme und in seinem Blicke lag dabei etwas so unendlich Ergreifendes, daß den Lieutenant plötzlich eine Angst überkam, die ihm den Hals zusammenschnürte, und er einen unbezwinglichen Drang fühlte, irgend etwas hinauszuschreien, was das Lächeln auf Jeans Antlitz zurückzubringen vermöchte; aber bei den ersten Worten, die er zu stammeln versuchte, unterbrach ihn der Graf: »Nein, jetzt kein Wort mehr! Ich danke dir, daß du gesprochen hast; man verlernt, das richtig zu sehen, was man immer sieht. Von Zeit zu Zeit bedarf es der Augen eines Freundes, damit man wieder hellsehend wird.«

Damit drückte er ihm heftig die Hand und ging fort, ohne den Kopf zu wenden.

»Armer Kerl!« sagte der Reisende traurig vor sich hin, als er seinem Kameraden mit den Augen folgte, vor dessen hoher Gestalt die Gruppe der Bahnbeamten auseinandertrat, und »Armer Kerl!« wiederholte er in dem Augenblick, wo der Zug den ersten Ruck that und Jean sich auf der Schwelle des Wartesaales noch einmal umwendete, um ihm einen letzten Gruß zuzuwinken. Traurig lehnte er sich dann in seine Ecke zurück, während die Lokomotive einen gellenden Pfiff ertönen ließ und riesige schwarze Rauchsäulen in die nun völlig hereingebrochene Nacht hinaushauchte.


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