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Zwölftes Kapitel

An jenem Abend hielt Jean Alice zurück, als sie nach Tisch in den kleinen Salon treten wollte.

»Wie wär's, wenn wir hinaufgingen?« sagte er, »dort findest du dein Klavier wieder.«

»Aber so groß ist meine Leidenschaft nicht,« entgegnete sie lachend, »ich kann es des Abends ganz gut entbehren, falls nicht … liebst du die Musik?« fragte sie schneller.

»Unendlich,« erwiderte er.

»Oh, dann …!«

Bediente trugen die Lampen und Holz hinauf, um in dem großen, geschnitzten Kamin Feuer anzumachen, und Jean und Alice folgten ihnen.

Der Raum, worin das Klavier stand, war eine Art Bibliothek oder Arbeitszimmer und in Tapeten und Möbeln so dunkel gehalten, daß das Licht der Lampen fast ganz von den Tapeten verschlungen wurde und den Eindruck machte, als wollte es im nächsten Augenblick ersterben und verschwinden wie eine im Sand versiegende Quelle.

Die junge Frau lehnte am Kamin und sah träumerisch zu, wie die lodernden Flammen des Reisigs von allen Seiten die dicken Holzklötze umzüngelten und beleckten, als überlegten sie sich, von welcher Seite sie ihnen am leichtesten beikommen könnten. Sobald dann die Bedienten das Zimmer verlassen hatten, eilte sie, wie jemand, der eine Aufgabe zu erfüllen hat, ans Klavier, das ziemlich entfernt vom Kamin an einem Fenster stand. Als sie sich von der Wärme des Feuers und aus dem Lichtkreis der Lampen entfernte, schauerte sie leicht zusammen. Jean war ihr gefolgt, und als er sah, an welch schlechtem Platz das Klavier stand, faßte er es mit beiden Händen an und rollte es vors Feuer so mühelos und leicht, als sei es ein Kinderspielzeug. Dann stellte er den Klavierstuhl zurecht und schob eine kleine spanische Wand aus eigenartig mit Gold eingelegtem, indischem Holz hinter ihren Sitz, dann ließ er sich wieder in seinen Lehnsessel nieder und sagte: »So, jetzt bin ich ganz Ohr.«

Das war alles mehr als genug gewesen, um die junge Frau, die ohnehin bei dem Gedanken zitterte, vor ihrem Gatten spielen zu müssen, in höchste Aufregung zu versetzen, und sie fühlte sich von diesem Beweis seiner Sorgfalt dermaßen gerührt, daß ihr Herz laut pochte und sie nahe daran war, ganz außer Fassung zu kommen.

Gleichwohl ließ sie sich nieder und flüsterte einige Worte des Dankes; dann fragte sie nach einer kleinen Pause: »Was soll ich spielen? Willst du klassische oder moderne Musik, traurige oder lustige Stücke hören?«

»Ganz wie du willst, natürlich,« gab er zurück.

»Mir ist das am liebsten, was dir gefällt,« entgegnete sie sanft. »Nenne mir deine Lieblingskomponisten, es ist kaum denkbar, daß ich nicht von einem oder dem andern was im Kopf habe!«

»Ich fürchte das doch,« erwiderte er mit freundlichem Lächeln; »das, was du meine Lieblingskomponisten nennst, das, was alle meine Kinderträume lieblich begleitet und gewiegt hat, kurz das, was ich liebe, ist die Melodie des Meeres und des Windes; aus den Wogen, die jetzt zornig aufbrausen und dann sich plötzlich wieder besänftigen, daß ihr Grimm erstirbt und ausklingt in lang anhaltendem, leisem Rauschen am Strand gleich dem Ton einer Harfe, der stundenlang ausgehalten wird und doch immer gleich rein und gleich voll bleibt – aus ihnen ertönt meine Lieblingsmelodie. Gibt es eine Menschenhand, die vermocht hat, dies in Noten zu setzen? Das wirst du besser wissen, als ich; ist es der Fall, so spiele die Werke dieses Komponisten, und du hast den gefunden, der mir der liebste ist, ohne daß ich selbst seinen Namen kenne.«

Die junge Frau überlegte einen Augenblick und spielte dann ohne jede Vorbereitung in einfachster Weise ein Nocturno von Chopin, diesem gliederte sie ein zweites und ein drittes an und ging dann plötzlich in jenes berühmte Impromptu über, denn dies schien ihr am meisten der Schilderung ihres Gatten zu entsprechen.

Bei keinem andern Musiker findet sich jenes plötzliche Aufbrausen, unterbrochen von Klagen und Stöhnen, wie es die Wellen so ergreifend rauschen, und wie es jedes Menschenherz erschüttert und packt. Und unmittelbar darauf vergißt man wieder alles über der köstlichen Weichheit und Zärtlichkeit der nächsten Melodie.

Schon nach den ersten Takten hatte sich Jean, von der einschmeichelnden, eigenartigen Weise angezogen, erhoben und aufs Klavier gelehnt.

Von seinem Platz aus umfaßte sein Blick die junge Frau von den aschblonden Haaren bis zu der etwas schmächtigen, aber eleganten Taille; trotz der durch das schnelle Spielen entstehenden Bewegung behielt der Oberkörper seine aufrechte, anmutige Haltung, und die weißen Hände glichen den weichen Sammetflügeln zweier ständig hin und her flatternden Schmetterlinge.

Jean kam nicht auf den Gedanken, seine Aufmerksamkeit könne Alice stören, und betrachtete sie unverwandt und ließ mit der Musik zugleich die Reinheit dieses wunderbar schönen Antlitzes auf sich wirken. Es war ihm, als könne er beides nicht voneinander trennen, und als sei das, was Alice spielte, ihr so eigen, wie ihre Schönheit, und er versank in eine Träumerei, in der ihm die rosigen Wangen, die dunklen, sich regelmäßig hebenden und senkenden Wimpern der jungen Frau und die Harmonieen, die ihn überfluteten, völlig ineinander verflossen.

Da er für jeden poetischen Eindruck stets empfänglich war, beherrschte ihn seine Bewegung so sehr, daß seine Augen feucht waren, als seine Frau endete und schüchtern fragte: »Gefällt dir dies? Ist dies der richtige Komponist für dich?«

»Nenne mir seinen Namen nicht,« erwiderte er lebhaft. »Was du gespielt hast, ruht in der Tiefe des Menschenherzens; wenn ich Musiker wäre, hätte ich so komponiert, und ich frage mich, ob deine Finger die Töne nicht im Spielen erst gefunden haben.«

»Damit thust du ihnen doch zu viel Ehre an,« erwiderte die junge Frau, die diese Art, Chopin zu loben, belustigte.

Aber sie fühlte sich so beglückt, ihrem Gatten Freude gemacht zu haben, daß sie innehielt und die Augen wieder auf die Tasten des Instrumentes senkte.

»Und das Meer?« fragte sie nach einer kleinen Weile.

»Er muß sich von dessen Rauschen haben einwiegen lassen, wie ich einstens,« erwiderte Jean ernst, »es klingen solche Töne daraus hervor.«

Als Alice nun eine Bewegung machte, um das Klavier zu verlassen, fragte der junge Offizier: »Und der Gesang?«

»Meine Stimme kommt dem nicht gleich!« erwiderte sie und schüttelte den Kopf.

»Ich habe sie ja gehört …«

»Ja, aber aus der Ferne …«

»Die Thür ist dünn,« sagte er dringend.

Ohne sich weiter bitten zu lassen, nahm sie ihren Platz wieder ein, und als es elf Uhr schlug, saß sie noch am Klavier.

Ihre Stimme schien Jean nicht weniger zu gefallen als ihr Spiel, die Impromptus und Nocturnos, denn er behielt seinen alten Platz inne und lauschte unermüdlich den Liedern, Träumereien und Barcarolen. Als er die Uhr schlagen hörte, fuhr er auf und rief: »Ich habe deine Güte mißbraucht! Du mußt todmüde sein!«

»Durchaus nicht,« sagte sie im Aufstehen, »mein armer, lieber Vater und ich haben unsre Abende stets in dieser Weise verbracht.«

»Dann habe ich dir am Ende gar wehe gethan?« erwiderte der junge Mann lebhaft und trat näher zu ihr heran.

»Ach bitte, glaube das ja nicht,« sagte sie ebenso rasch, dann faßte sie etwas Mut und brachte schließlich heraus: »Ich bin so glücklich, wenn ich dir eine Freude machen kann!«

Jean murmelte einige Dankesworte, und als die junge Frau sich schon Vorwürfe machte über diese Worte, die ihr nun wie eine offene Liebeserklärung vorkamen, und hastig das Instrument schloß, drückte er plötzlich einen Kuß auf ihre zarte Hand und sagte halblaut: »Meinen Dank den Fingern, die mich bezaubert haben!«

Das kam ihr so unerwartet, daß Alice keine andre Antwort fand als ein leichtes Neigen des Hauptes und ein schwaches Lächeln und dann schleunigst in ihr Zimmer entfloh.

Von nun an verbrachten sie alle Abende in der nämlichen Weise, und ganz unmerklich fühlte sich Jean immer stärker heimgezogen. Sein müßiges Auf- und Abgehen im Salon war zu Ende, die Musik hatte völlig Besitz von ihm ergriffen, und er wurde nicht müde, seine Frau spielen zu hören.

Der Klavierstimmer war dagewesen und die Bibliothek hatte ein bewohntes Aussehen bekommen, sonst war alles geblieben wie an jenem ersten Abend. Unabänderlich lehnte sich Jean wie zum erstenmal über das Klavier, um zu lauschen, und als Frau von Kerdren die Aufmerksamkeit beobachtete, die an Stelle der unsteten Stimmung ihres Gatten getreten war, wunderte sie sich und dachte manchmal, nicht ohne eine gewisse geheime Eifersucht: »Wie sehr er doch die Musik liebt!«

Da sie völlig übersah, daß ihr Talent und ihre Anmut gleichsam ein Teil des Instruments waren, betrübte sie sich darüber, daß sich Jean stundenlang durch etwas andres als durch sie fesseln ließ, und daß der Musik gelang, was ihr selbst nicht geglückt war.

»Warum sollte er mich auch lieben!« sagte sie sich dann wohl mit gewohnter Bescheidenheit, wenn sie während ihrer langen Nachmittage darüber nachdachte. »Unsre Heirat war ja nichts als ein Akt ritterlicher Aufopferung seinerseits – gar nichts weiter; er hat mich nicht auserkoren und auch nie ein Wort zu mir gesagt, das mich an seine Liebe hätte glauben machen können!«

Das war strengste Logik, aber das hielt die junge Frau nicht ab, gelegentlich darüber zu seufzen.

Jean seinerseits beschleunigte seit dem Tag, wo er nicht auf der Freitreppe erwartet worden war, ganz unbewußt die Gangart seines Pferdes, sobald er in die Hauptallee einbog, hob sich in den Bügeln und flüsterte, indem er Samory auf den Hals klopfte: »Was meinst du, Alter, ob man heute abend wohl an uns gedacht hat?«

Der Zweifel war zwar nur schwach, aber er genügte, die Neugierde des jungen Mannes zu reizen und seine ruhige Sicherheit einigermaßen zu stören, so daß er befriedigt lächelte, wenn er Alices schwarze Gestalt an ihrem gewohnten Platze entdeckt.


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