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Fünfzehntes Kapitel

Von diesem Augenblicke an trat in den Beziehungen der jungen Eheleute zu einander noch einmal eine Veränderung ein. Der leichte, heitere, vertrauliche Verkehr war plötzlich wieder zu Ende. Jean fiel in das nämliche zerstreute Wesen und in die vornehme, feierliche Höflichkeit der ersten Zeit zurück, und Alice verwandelte sich, aufs neue verschüchtert und unsicher geworden, wiederum in die scheue Pensionärin des Klosters von Toulon.

Trotz der Impromptus und Träumereien von Chopin lief der junge Mann des Abends wieder in der Bibliothek auf und ab, und traurig beobachtete ihn die junge Frau, die glaubte, er habe Heimweh nach der See und bedaure seine unterbrochene Laufbahn, sein Kommen und Gehen.

Wie so ganz anders war er nun, als an jenem Morgen, zu welchem ihre Gedanken so oft zurückschweiften!

Als sie an jenem Tage nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie sich, noch ehe sie ihr Reitkleid ablegte, auf die Kniee geworfen und ein glühendes Dankgebet gestammelt … zeigte sich ihr doch erstmals die Hoffnung, seine Liebe zu gewinnen!

Aber schon den nämlichen Abend war diese Täuschung wieder geschwunden; was ihren Gatten beschäftigte, war offenbar nicht sie, sondern jenes Bedauern, das sie so sehr gefürchtet hatte, in ihm entstehen zu sehen, und jeden Morgen suchte sie Kraft zu der Bitte zu finden, er möge die Lebensweise wieder aufnehmen, nach der er sich so schmerzlich sehne.

Dem jungen Manne lag indes nichts ferner, als die Erinnerung an das Leben zur See, und die Gedanken, die ihn bewegten, waren ganz andrer Natur, als Alice ahnte.

Von der eigentümlichen Erregung, die er an jenem Morgen empfunden hatte, war ihm eine unbestimmte Unruhe zurückgeblieben, und nun suchte er sich selbst zu ergründen und in seinem Herzen zu lesen; das, was er fühlte, erregte dermaßen seine Verwunderung, daß er seinen Gedanken und Empfindungen alle möglichen Erklärungen zu unterschieben suchte, anstatt sie einfach in ein Wort zusammenzufassen.

Niemals war ihm der Gedanke gekommen, daß er dies junge Mädchen, dem er, von unendlichem Mitleid erfaßt, eines schönen Abends seine Hand gereicht hatte, wirklich lieben könnte. Wohl fand er sie interessant, voll Seelenadel und von unbestreitbarer Schönheit, aber da er die Liebe nicht in seinen Lebensplan aufgenommen hatte, hielt er sich auch für völlig gesichert gegen sie, und sein Erstaunen, als er sie nun doch in sich zu finden glaubte, war grenzenlos.

Nach und nach tagte es in ihm, aber als er sah, welchen Platz die junge Frau schon in seinem Herzen einnahm, wurde er zum erstenmal in seinem Leben ängstlich und wagte nicht, in Worten auszudrücken, wovon sein Herz erfüllt war … Blitzartig entwickelte sich aber auch naturgemäß das Verlangen nach Gegenliebe, und er fragte sich, nachdem er sich über sein Empfinden klar geworden war: »Aber sie! … Wie soll ich es anfangen, mir ihre Liebe zu erwerben?«

Da er nicht im mindesten eingebildet war, quälte und ängstigte er sich wie der bescheidenste Schuljunge, der einen ganz unerreichbaren Stern anbetet, und übersah alles, was einer Frau liebenswert an ihm erscheinen konnte, hauptsächlich aber auch den Nimbus von Poesie, Selbstlosigkeit und Edelmut, mit dem er in Fräulein von Valvieux' Augen umflossen sein mußte. Von Tag zu Tag sah er mehr ein, welch köstliches, auserkorenes Weib seine Frau war, und machte sich die bittersten Selbstvorwürfe darüber, daß er nicht gleich beim ersten Sehen in Liebe für sie entbrannt war wie »Romeo für Julia«, und während er sich in derartige Empfindungen und Betrachtungen verlor, verfiel er in jenes Schweigen, das sich Alice auf so unrichtige Weise erklärte.

So stand die Sache, als einer der Pächter von Kerdren im Schloß erschien, um die Herrschaft zu ersuchen, die bevorstehende Hochzeit seines Sohnes durch ihre Anwesenheit zu beehren.

Zur größten Befriedigung der Bauern wurde die Einladung angenommen; da außerdem die Schloßbewohner dem Brautpaar auch noch ein Geschenk hatten zukommen lassen, das ganz dazu angethan war, einer jungen Haushaltung den Anfang beträchtlich zu erleichtern, kannte die Dankbarkeit der Familie keine Grenzen mehr, und der Ehren, die man Jean und seiner Gemahlin zudachte, waren unzählige.

Auf dem Platze vor der Kirche hatte sich die ganze Hochzeitsgesellschaft zu ihrem Empfange versammelt, und der Küster verdoppelte sein Läuten, als die bei keiner derartigen Feierlichkeit fehlenden Gassenjungen von den Bäumen, die sie zum Zweck besserer Ausschau erklettert hatten, das Kommen des gräflichen Paares verkündeten.

Als Alice ausgestiegen war, wurde ihr die Braut vorgestellt, ein großes, ergriffenes, in seinem Staat erglühendes Mädchen, dessen Gesicht bei den Glückwünschen der jungen Frau freudig aufleuchtete.

Da Herr und Frau von Kerdren dicht hinter dem Brautpaare standen, entging ihnen auch nicht die geringste Einzelheit der Trauung, und in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand machte die Feier einen tiefen Eindruck auf sie. Trotz der Verschiedenheit des Rahmens setzten sie sich in Gedanken an die Stelle der jungen Gatten vor den Altar und sahen sich im Geiste wiederum in der von Licht durchfluteten kleinen Kirche in Toulon, wo sie den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Jean rief sich die Gedanken zurück, die ihn damals beschäftigt hatten, und gestand sich ehrlich, daß bei dem Gemurmel der lustigen jungen Stimmen und dem Klirren der Portepees seiner Kameraden ein Gefühl von Bedauern durch seine Seele gezogen war. Heute war dies Gefühl verschwunden, und es war ihm, als habe er kürzlich einen neuen Kopf und ein neues Herz bekommen, deren er sich etwas linkisch und verwundert zu bedienen lernte.

Was wohl seine Frau denken mochte! Das fragte er sich, als er sie dastehen sah, die Hände über dem Gebetbuch gefaltet und die Augen träumerisch ins Weite gerichtet.

In der gedämpften Beleuchtung des Chors schien sie ihm von einem köstlichen, geheimnisvollen Zauber umflossen, und er fühlte das Verlangen, sie bei der Hand zu nehmen, mit ihr vor den Priester zu treten und zu sagen: »Geben Sie uns noch einmal zusammen! Das erste Mal haben mein Kopf und mein Wille mit ›Ja‹ geantwortet auf die Frage, ob diese hier das Weib meiner Wahl sei, heute aber will ich dies ›Ja‹ wiederholen mit der ganzen Glut meines Herzens.«

Die Gedanken Alices, die er so gern von ihrer Stirn gelesen hätte, bewegten sich ungefähr in der nämlichen Richtung.

Nach der Ansprache des Pfarrers wurden die Ringe gewechselt, wobei der Bräutigam offenbar am ergriffensten war; als er seine biedere grobe Hand des weißen Handschuhs entledigte, in den er geglaubt hatte, sie einzwängen zu müssen, zitterte sie sichtlich, und mit bewegter Stimme antwortete er auf die Frage seines Seelenhirten. Dagegen hatte Alice in dem glücklichen, vertrauensvollen Blick, mit dem das junge Mädchen dem Geliebten sein ganzes Leben zu weihen versprach, ihr eigenes Empfinden wiedergespiegelt gesehen, und sie hatte darüber gelächelt. Aber die Gestalt des ernsten Marineoffiziers, der bei ihrer eigenen Hochzeit so ruhig und gesetzt neben ihr gestanden, bildete einen schroffen Gegensatz zu dem strahlenden Glück des jungen Bauern, und unbewußt seufzte sie leise, als sie sah, wie er sich nun mit leuchtendem Blick seiner Neuvermählten zuwandte und seine Freude nicht einmal zu unterdrücken vermochte, bis man die Kirche verlassen hatte.

Nachdem man wieder draußen war, und Jean sein Herrenrecht ausgeübt und die frischen Wangen der Braut geküßt hatte, folgte die ganze Hochzeitsgesellschaft seinem Beispiel, und nur der Gedanke an das Festmahl vermochte diesen Gefühlsergüssen Einhalt zu thun.

Nach Landessitte hatte jeder der Gäste am Tage zuvor irgend welche Nahrungsmittel geschickt: Hühner, Fleisch oder Gemüse, und selbst der große Pantagruel hätte es nicht verschmäht, sich an der Tafel niederzulassen, die in einer mit Laub bekränzten Scheune gedeckt worden war.

Frau von Kerdren saß am obersten Ende der Tafel und bemühte sich verzweifelt, es den fabelhaften Leistungen ihrer Nachbarn auch nur einigermaßen gleichzuthun. Sie glaubte, einem homerischen Gelage des Altertums anzuwohnen, wo die Helden die den Göttern geopferten Ochsen untereinander teilten und verspeisten, ehe sie zu neuen Thaten eilten.

So neu ihr der Anblick eines solchen ländlichen Festes auch war, bemerkte Jean, der sie aus der Ferne beobachtete, aber doch, als die Geiger ihre Instrumente unter ihren Stühlen hervorzogen und der umhüllenden farbigen Taschentücher entledigten, daß sie ermüdet aussah.

Eine halbe Stunde später, als der Tanz schon in vollstem Gange war, folgte Alice, die sich schon lange sehnte, ein wenig aus dieser Stickluft hinauszukommen, der Brautmutter, die sie voll Stolz in dem kleinen Haus des jungen Ehepaares mit den nagelneuen Möbeln und der in großen eichenen Schränken aufgespeicherten Ausstattung herumführte und ihr alles zeigte.

Alice ging überall mit ihr hin, zeigte für alles Interesse und bewunderte den Hühnerhof und die Ställe; allein sie fühlte, daß sich ihr plötzlich eine schwere Traurigkeit auf die Seele legte. Sie dachte an Jean und wünschte, daß er nur ein schlichter Bauer wäre, wie der Bräutigam von heute, und sie selbst eine bescheidene Pächtersfrau, daß sie dafür aber auch in seinen Augen die Liebe lesen dürfe, die sie in der Kirche aus denen des jungen Burschen hatte leuchten sehen.

Als sie aus dem Hause traten, war es schon Nacht, und Jean ging draußen auf und ab und rauchte seine Cigarre, die er fortschleuderte, als er seine Frau kommen sah, auf die er hier gewartet hatte.

Nun nahm sie den Arm, den er ihr bot, und beschrieb ihm alles, was sie gesehen hatte, und ihre Bewunderung und die Lobsprüche des jungen Grafen versetzten die Pächterin an ihrer Seite in helles Entzücken.

Bald waren sie wieder an der Scheune angelangt, vor der die Festesfreude mittlerweile ihren Höhepunkt erreicht hatte, und wo man mit größtem Feuereifer tanzte. Die Paare hatten sich nach und nach von der überheißen Scheune in den sauber gekehrten Hof hinausgemacht, wo der Vollmond ihnen zu ihren Rundtänzen und Quadrillen leuchtete.

Noch immer auf den Arm ihres Gatten gestützt, betrachtete Alice das abwechslungsreiche Getümmel, als die Geigen einen Walzer anstimmten. Plötzlich beugte sich Jean zu ihr herab und flüsterte: »Weißt du, daß wir noch gar nie miteinander getanzt haben?«

»Das ist wahr,« erwiderte sie mit leisem Lächeln, »nicht einmal bei Frau von Sémiane.«

»Willst du mich jetzt dafür schadlos halten?« fragte er hastig.

Im nämlichen Augenblick fühlte sie sich von seinem Arm umschlungen und im Tanz davongeführt. Der junge Mann tanzte vorzüglich, und in der etwas leeren Ecke, wohin er seine Frau geführt hatte, um sie vor allzu derben Zusammenstößen zu schützen, konnte er sich in aller Freiheit bewegen.

Mit halbgeschlossenen Augen und etwas schwindligem Kopf ließ sie sich von ihm drehen und wenden, ihre kleinen Füße berührten den Boden kaum, und die Empfindung, die bei diesem Tanz über sie kam, war ihr völlig neu.

Der frische Abendwind, der statt der schwülen Luft der Tanzsäle um ihre Stirne spielte, das sanfte Licht des Vollmonds, in dem die sich drehenden Paare phantastischen Schattengebilden glichen – das alles übergoß die Umgebung mit dem Zauber fremdartiger Poesie und machte einen tiefen Eindruck auf sie.

»Wie du tanzst!« sagte Jean plötzlich und neigte sich ein wenig zu ihr hinab; »es ist mir, als hielte ich eine Sylphide im Arm! Ist es auch sicher, daß du nicht allnächtlich zur Mitternachtsstunde auf den Spitzen der Grashalme tanzst und mir nicht plötzlich in diesem bleichen Mondstrahl entschwindest?«

Ohne zu antworten, lächelte sie ihn an, und sie tanzten weiter.

»Ich möchte –« begann der junge Mann nach einer Weile wieder, aber die Geigen verstummten, und er brach plötzlich ab.

Etwas atemlos und schwindlig blieb Alice unbeweglich auf seinen Arm gelehnt stehen. Sie glaubte zu fühlen, daß er zitterte, und sein Verstummen dauerte so lange, daß es sie befangen machte.

In diesem Augenblick wurde der Wagen, der von Kerdren kam, um sie abzuholen, auf der Landstraße sichtbar, und der Hufschlag der Pferde und das Licht der Laternen schien Jean aus tiefem Sinnen aufzuschrecken; er fuhr zusammen und rief: »Was für ein Thor bin ich, du wirst dich erkälten!«

Damit lief er nach dem Wagen und holte einen großen Pelzmantel, mit dem er sie umhüllte.

»Du packst mich ja förmlich ein,« sagte sie und lachte, wie sie es zu thun pflegte, wenn sie fürchtete, ihre Dankbarkeit könne sich zu lebhaft äußern. »Die Nacht ist warm.«

»Köstlich,« erwiderte Jean, »und wenn ich nicht fürchten müßte, die Wege seien zu feucht für dich, so würde ich vorschlagen …«

»Zu Fuß zurückzugehen,« unterbrach sie ihn lebhaft.

»O, das thue ich von Herzen gern!«

Unentschlossen blickte er vom Wege auf die Schuhe seiner Frau.

»Ich habe ganz derbe Stiefel an,« fuhr sie fort, als sie seinen Gedanken erriet, »du kannst dich darauf verlassen,« und damit streckte sie ihr winziges Füßchen mit überzeugter Miene vor.

Noch einen Augenblick zögerte er und warf einen Blick auf den durch die knorrigen Eichen geschützten dunkeln Fußpfad, in den nur ab und zu mit mattem Dämmerschein ein Mondstrahl fiel, dann aber bot er ihr mit der raschen Bewegung eines Mannes, der einen großen Entschluß gefaßt hat, den Arm und sagte: »Komm!«

Im Vorbeigehen befahl er dem Diener, der einige Schritte von ihnen entfernt stand, mit dem Wagen zurückzufahren, und zog dann hastig, als fürchtete er, ihr Entschluß könne sie reuen, seine junge Frau mit sich fort.


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