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Wege zur Kunst unserer Zeit

Winter 1945/46

Lassen Sie mich mit dem Tassowort beginnen:

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.

Goethe rührt hier den einen Lebenspol an, dem Kunst entwächst: die Not. Jubel und Lebensüberdrang umkreisen den anderen. Kann uns Deutschen Kunst heute anders gedeihen als in der Aussage unserer Not! Muß sie, unsere Not, nicht elementar in ihre Aussage drängen, in ihr um ihre geistige Bewältigung ringen durch Gestaltung! Wenn je einem Volk erwiesen ward, daß Kunst nottut, dann heute dem unseren, – daß wir sie brauchen, nicht als lockeres Schmuckwerk am Rande unseres Lebens, – nein, als seinen Halt, als Bewußtmachung, seiner Ängste, als Gerichtstag und Läuterung. Kunst tut uns not.

Im Reich der Klänge und im Reich der Worte tasten schon Gestaltungsversuche herauf, und viele lassen sich von ihnen erschüttern, erneuern. Auch im Reich des Bildnerischen rührt sich der herrlich alte Trieb. Hier aber nehmen wenige das Neue an. Die meisten bergen sich zu Tröstung und Sicherung im Tempel früherer Gestaltung, lehnen ab, was die eigene Zeit ihnen als künstlerische Deutung ihres Lebens bietet.

Beglückt und dankbar nehmen wir alles auf, was eben in diesen Tagen, erlöst aus Stollen und Verstecken, von großer alter Kunst uns wieder gezeigt wird, lang entwöhnte kostbare Speise für Auge und Herz. Wie brauchen wir es heute, wie weckt es unser Vertrauen, unsere Kraft! Da drängen sie sich vor den Bildern unserer Großen, die aus den Kontoren und die aus den Schulen, aus den Fabriken, aus dunklen Küchen und Kellern, vergessen auf ein Kurzes ihre Ruinen, saugen sich voll mit lieblicher Darstellung, mit frommem Glanz, holen sich wieder zurück im Anblick der geliebten Bilder in ihr eigenes Leben. Und sie glauben ihr eigenes Empfinden gespiegelt zu sehen im gestalteten Empfinden der Großen.

Wie aber – kann es denn ihr eigenes Empfinden sein? Wir meinen hier nicht die Unterschiede an Intensität, an innerem Format, wir meinen die Freuden und Ängste des Herzens, wie der Tag sie aufruft, wie das Heute sie formt. Kunst deutet unser Leben. Aus dem Zeitboden dieses Lebens wächst sie heraus, überwächst ihn wohl oft ins ewig Gültige hinauf, bleibt doch immer verwurzelt in ihm. Kann, was heute erlebt, erlitten wird, im Erlebnis eines Dürer beschlossen sein? In höchster Sublimierung des Erlebens: ja – im Ansatz der Empfindung, in ihrer formalen Begründung: nein. Da steht ein Halbjahrtausend an seelischer Wandlung dazwischen. Es täuscht sich, wer es nicht verspürt. Er verwechselt Erbe und Sein. Am Erbe mag er sein Empfinden schulen, seinen Ausdruck läutern. Zur Lösung des Eigenen gelangt er nur im schaffenden Sein. Das aber ist heutiges Gestalten, heutige Kunst.

Wie ist es möglich, daß eine Epoche, die sich im Praktischen so grausam auf ihre Irrtümer gestoßen sieht, die im Begrifflichen so verzweifelt um Lösung ringt, daß diese Epoche ihre Selbstdeutung in der Kunst abweist? Wie ist es möglich, daß unser Volk in seiner großen Not sich nicht anklammert an den Ausdruck seiner Not, wie seine Künstler befreiend sie ihm weisen? Hat es die Lebenskraft verloren, seiner Not ins Auge zu sehen? Hat man ihm diese Lebenskraft geraubt? Oder ist es nur stumpfe Gewöhnung ans Alte, ans Vertraute, was ihm das Auge verschließt für das heute Notwendige?

Daß man von dem, was einem im Reiche der Kunst das Herz bewegt, wieder frei reden darf, gehört zu den aufbauenden Erlebnissen dieser Tage. Was man durch schwere Jahre hindurch nur im engsten Freundeskreise besprechen, hoffnungsfroh oder bekümmert durchdenken durfte, darf heute vor weitem Forum wieder angeschnitten werden. So ist es, als ob einem ein neues Jungsein geschenkt wäre, und kampfesfroh nimmt man die Positionen der eigenen Jugend wieder ein. Wie damals geht der Kampf um die Kunst unserer Zeit.

Damals war es ein mühseliger Kampf. Wir versuchten, den Zeitgenossen von der Echtheit des Gefühls, was da um die Gestaltung des Zeitgeistes rang, zu überzeugen. Alle Mittel wurden angewandt: die freundliche Überredungsmühe, der bestürmende Glaubenseifer, der ätzende Sarkasmus. Wir müssen gestehen, daß unsere Bemühungen wenig fruchteten, daß jener kleinbürgerliche Geist, den wir bearbeiteten, uns nur lästig, bestenfalls komisch fand. Bis er furchtbar aufstand und die Welt des Geistes, unsere Welt und uns selbst zertrampelte.

Nun ist diese verlogene Sentimentalität, dieser unheimliche Gegner, an seiner plumpen Brutalität zusammengebrochen. Das Geistige sucht sich wieder zu erheben, auch das Geistige in der Kunst. Aber wieder wie damals trifft es auf dumpfen Widerstand. Wieder wird es verunglimpft von den Vielen und als Lästerung wider das gesunde Gefühl verdammt, verhöhnt, beschmutzt. Als lägen nicht diese zwölf Jahre dazwischen! Ach ja, diese zwölf Jahre haben den Widerstand ja nur bestärkt.

Durfte man anderes erwarten? Das Kleinbürgertum als politische Macht ist zusammengebrochen. Als private Seelenträgheit lastet es noch in den meisten derer, die ihm je und je verfallen waren. Auch weltenstürzende Erschütterungen reichen in deren Schlupfwinkel nicht hinunter. Soll man resignieren, sich abwenden, in einsamen Zirkeln sich verschließen? Müssen wir es als unser Schicksal, das Schicksal später Geschlechter begreifen, daß der unmittelbare Ausdruck unseres Lebens nur mehr wenigen gestaltbar, nur mehr wenigen faßbar ist, das Sichselbstverstehen nur noch dem Einsamen gelingt? Die eigene Lebendigkeit läßt es nicht zu. Das Gesetz des Geistes ist Aktivität, die erobern will. Wieder also geht der Kampf um die Kunst unserer Zeit.

Heute erscheint er von Anfang an zugespitzt. Jenes Fanal angesichts der Abstimmungsergebnisse bei einer Ausstellung heutiger Kunstwerke betraf vor allem die Haltung der Jugend. Ja, daß junge Menschen für das künstlerische Ausdrucksringen ihrer eigenen Zeit kein Empfinden haben, – muß es nicht erschrecken! Sie, die von Konventionen doch unbelastet scheinen sollten, müßten doch, wo nicht verstehenden Geistes, so doch offenen Herzens für das Neue als für ihr eigenstes Anliegen eintreten. Wo denn, wenn nicht in der Jugend, soll Wahrhaftigkeit gegenüber dem Zeitgeschehen – und um ein solches handelt es sich tiefsten Grundes – aufkeimen? Ja, um die Jugend geht der Kampf.

Unbelastet von Konventionen? Dürfen wir es bei einer Jugend, die, soweit es zeitgenössisches Schaffen angeht, seit ihrem ersten geistigen Erwachen vor Pseudokunst geführt wurde, erwarten? Gewiß nicht. Gegen weltanschauliche Zwangskonventionen wußte sich so mancher zu wehren, teils ermutigt durch die Haltung des Elternhauses, der Kirche, der Freunde, teils vom eigenen jungguten Urteil getrieben. Sobald nun aber ein Ausdrucksbedürfnis nach Gestaltung, sei es fremder, sei es eigener, suchte, glitt es hinunter ins »Vorbildliche«, wie das System es befahl, wie auch die vorigen Zeiten es dem Geschmack der Vielen anbequemt hatten.

So geht es ja nicht nur jungen Menschen. So werden auch Persönlichkeiten, die das Leben gereift hat, sobald sie aus den Schranken der eigenen Sachvollkommenheiten treten, vor künstlerischen Wirklichkeiten höchst unsicher und meist konventionell. Man erschrickt oft über Kunsturteile anerkannter, ansonsten durchaus zeitgemäß eingestellter Gelehrter, Ärzte, Unternehmer und anderer. Ist es also die Erstarrung des Bürgertums, die sich hier erweist? Nein, auch bei der arbeitenden Bevölkerung trifft man nur ausnahmsweise und oft als Protestgebärde gegen das Bürgertum auf freimütige Annahme heutiger Kunst. Meist trübt auch da eine klebrige Vorliebe für sentimentalen Kitsch den Blick für echte heutige Kunst. Die ist ein Fremdling im Herzen dieser Zeit. Die Kluft zwischen Sein und künstlerischem Empfinden ist heute über alle Distanzverhältnisse früherer Zeiten hinaus beträchtlich. Es wird uns noch beschäftigen. Hier geht's um die Jugend.

Hätte die Schulung an alter Kunst diese jungen Empfindungen nicht packen, nicht vor dem Postkartenkitsch feien müssen, dem – jenen Wahlergebnissen zufolge – ihr Ideal immer noch folgt? Oh, dieser Jugend war wenig Muße zum Betrachten alter Kunst gegönnt. Sechs Kriegsjahre haben ihr wohl Länder und Völker gezeigt, aber zur Verarbeitung der Eindrücke in der Transposition großer Kunsterlebnisse ließ die jagende Zeit, die Schematisierung der Erlebnisstruktur durch den Kasernenstil auch des Frontlebens, kaum kommen. Und wo es noch gelang, – wie gründlich falsch wird auch alte Kunst von den meisten gesehen! Nicht, daß sie nicht im Sinne der Mitzeit ihrer Schöpfer gesehen wird, ist das Bedenkliche, – wem könnte das wirklich gelingen? Nein, daß sie vom Sentimentalen statt vom Künstlerischen aus gesehen wird, im letzten Jahrzehnt meist vom Politisch-Sentimentalen her, das ist es, was alte Kunst nicht zur Wirkung auf die wahren künstlerischen Instinkte kommen läßt. Bei den Älteren nicht und nicht bei den Jungen.

Ja, aber hätten die grausigen Erlebnisse der Frontjahre nicht zum Durchbruch durch verkrustete Empfindungsschichten zwingen müssen? Hätte nicht Angst vor dem fremden Draußen und vor dem fremd gewordenen eigenen Inneren, hätte nicht das Sterben der anderen, das eigene, den Abgrund aufreißen müssen, dem nur noch der unmittelbarste, der ganz selbst durchlebte Ausdruck zu begegnen vermag? War das nicht unser tiefstes Erlebnis in den Schreckensjahren von 1914 bis 1918! Kehrten wir von den Leichenfeldern nicht zurück mit inbrünstigem Willen zu ändern, zu bessern, zu stürzen und neu zu bauen, im Leben und in der Kunst! Jubelten wir nicht ergriffen jenen Vorkämpfern zu, die schon vor jener Katastrophe das Unheil geahnt, den Neubau in Bewußtmachung durch die Form begonnen hatten! Waren wir nicht glühende Opposition gegen alles Gestrige, das uns faul schien!

Ja, Opposition! Wo bleibt die Opposition der heutigen Jugend, wo ihr Protest, den sie als Jugend dem weitertreibenden Leben, eine notwendige Stromstauung, schuldig ist?

Fragen wir nicht zu früh? Dürfen wir die Lage dieser Jugend mit der unserigen Anno 1918 vergleichen? Hatten wir unseren tiefsten Glauben ans Leben nicht durch alle Schrecknisse und Zweifel jener Jahre bewahrt! Der heutigen Jugend ist er zerbrochen. Er mußte zerbrechen, denn er war falsch begründet. Fanden wir nicht eine im Mark noch gesunde unzerstörte Heimat vor, so daß wir sofort in den Kampf ums Geistige uns werfen konnten! Wo hat diese Jugend ihre Heimat, woanders als in einem verstörten Herzen? Waren uns die Fronten für unsere Opposition nicht klar vorgegeben? Gegen welche Fronten soll die Opposition der heute Jungen sich richten! Sie glaubte sich Opposition bis gestern. Viele unter ihr glaubten es, das eigene Wollen mit dem der Verführer verwechselnd. Und die bis 1939 die wirkliche, die uns und ihnen wirkliche Front kannten, die wurden seither in die Wirbel der Todesnot gerissen, aus denen sie erst wieder aufsteigen müssen zu sich selbst.

Sie werden aufsteigen. Es werden nicht wenige sein, nicht weniger als wir 1918. Seien wir ehrlich, auch damals war es nicht die gesamte Generation der Jugend, die um das Neue kämpfte. Auch damals verblieb eine Mehrheit oder sank schon wieder zurück in Konvention, Ressentiment, Verdumpfung. Wir hätten heißer um sie werben sollen. Heut wird's geschehen. Die unter den heute Jungen, die vom Erlebnis der Front aufs tiefste ergriffen wurden, sie werden sich einzeln sammeln, werden sich zusammenfinden und werden um den Ausdruck ihres Empfindens kämpfen. Wir werden mit ihnen gehen. Auch wenn ihr Erlebnis dieses rätselvollen Daseins ein anderes sein wird als das unsere.

Denn das ist die Frage, die nach all diesen Besinnungen entscheidend aufsteht, um die es hier geht, von der alles Künftige abhängt: wie erlebt die heutige Jugend die Welt? Aus einem furchtbar verwirrten Lebensrohstoff soll sie ihr Leben aufbauen, aus einer zerstörten Heimat – als Idee und als Wirklichkeit zerstört – soll sie Grundlagen der eigenen Existenz wie der des Volkes errichten. Aus einer fragwürdig gewordenen Kultur soll sie den Glauben an eine Kunst entwickeln. Wie wird sie ihr »Dennoch« erzwingen? Wird sie ein resignierendes Ich oder ein gläubiges Wir gebären? Wird sie dem Leben wieder trauen? Wie wird sich ihr Ringen und Suchen in der Kunst formen?

Wird diese Kernfrage gestellt, so klingt als Vorbote einer Antwort schon voraus: die Kunst, die zwischen 1908 und 1928 geschaffen wurde, kann vielleicht eine Wegschwelle, nicht aber das Ziel dieser Jugend sein. Ein anderes Erlebnis des Daseins erzwingt eine andere Kunst. Dieser anderen Kunst das Hervorbrechen zu erleichtern, muß die Bemühung aller verantwortlichen Erziehung zur heutigen Kunst sein.

Indem wir uns die Wege solcher Kunsterziehung überlegen, wird uns bewußt, daß uns im Kampf um heutiges Kunstschaffen zwar ein neues Jungsein geschenkt ward, daß wir heute aber doch als andere wie 1920, als Ältergewordene kämpfen. Manche Einsicht hat sich unserem Tun unterlagert. Einmal die von den ungeheueren Schwierigkeiten unserer Zeit, zu gültiger Kunst und zu gerecht wertendem Urteil über diese Kunst zu gelangen. Sie beinhaltet ein gemäßeres Verstehen der tiefen Kluft zwischen Schaffenden und dem Durchschnitt der Aufnehmenden heute. Dann: die vom Abgeschlossensein der expressionistischen Epoche. Sie war Ausdruck der Lebenserlebnisse zweier Generationen. Sie trägt heute den Stempel des historisch Gewordenen. Zum Dritten: Erziehung zur heutigen Kunst darf nicht den gestalteten Ausdruck einer, auch nicht der nächstliegenden, Epoche zum Kanon ihrer »Eröffnungen« machen, sondern muß die allem Kunstschaffen überhaupt zugrunde liegenden Ausdrucksenergien der Formelemente dem zu Belehrenden zum Bewußtsein bringen.

Zum Ersten: Wir dürfen die künstlerische Krise dieser Zeit nicht verwechseln mit Richtungskrisen, wie sie in der näheren und ferneren Vergangenheit häufig sich folgten. Damals ging es gemeinhin um mehr oder minder einschneidende Korrekturen eines im Grunde gesicherten Weltbildes. Heute geht es um den Neuaufbau eines Weltbildes überhaupt. Seit 1800 wird darum in immer zunehmender Bewußtheit und entsprechend in immer stärkerer Gefährdung des dumpf-schöpferischen Impulses gerungen. Wir stehen in einer historisch sehr besonderen Situation.

Will man schon eine Entsprechung aus früherer Zeit heranziehen, so bietet sich annäherungsweise die krisenreiche Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit. Das auf eine transzendente Gottheit hingeordnete Weltbild des Mittelalters geriet in Verfall. Ein neues, im menschlichen Selbstgefühl verankertes, regte sich unter dem zerbröckelnden Gefüge. Die Gottheit sank aus der Transzendenz hernieder ins Empfinden des sich als Maß setzenden Individuums. Dies sein eigenes Maß ward Grundmaß einer neuen Ordnung. Um sie mühte sich vor allem die Kunst, mühte sich in schwerem und tapferem Ringen und unter Preisgabe altgesicherter Werte. Auch damals atmete der geistige Mensch, der Künstler besonders, schon in einer anderen Welt als noch die dumpfe Masse. Aber in schöpferischer Unruhe waren beide noch eins: Dürers Apokalypse riß ein ganzes Volk mit sich. Und williger ließ es sich führen, denn sein Mythos, die Christmythologie, blieb im Neuen erhalten, ward durch das neue Formsystem sogar vertrauter, im gewissen Sinne unmittelbarer, wenn auch auf Kosten des symbolischen Gehalts, gestaltet. Was an Gestaltungstypen hinzutrat: Porträt, Landschaft, Schloß und Garten, Elemente des antiken Mythos, das wurde vom naiv-vitalen Lebensvertrauen jener Generationen, teils ins Heimische zurückverschnörkelt, aufgenommen. Ja, ein gewaltiges Lebensvertrauen bis in die erschütternden Religionskämpfe hinein, ihm entsprechend ein wunderbar geballtes Schöpfertum im Künstlerischen, führte damals hinüber in die neue Ausdruckswelt.

Auch heute zerbröckelt ein durch Jahrhunderte geglaubtes Weltbild. Der Mensch verzagt, sein eigenes Empfinden allem Sein als Grundmaß anzulegen. In der beispiellosen Konsequenz der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts von Ingres bis Cézanne spiegelt sich dieser Verfallsprozeß der menschlichen Gestalt und gegenläufig die Mühe um eine neue Ordnung des Sichtbaren. Der Mensch will sich wieder einfügen in übergreifende Gesetzlichkeiten, deren Macht er verspürt, deren Wirken er nur erst als Dämonien, die sein versuchender Geist heraufgelockt hat, erleiden muß. Aus der Unsicherheit steigt dem Ahnen vieler die transzendente Gottheit wieder empor. Doch das alte Symbol ist verloren. Ein neues zu gründen, mangelt ein allen gemeinsamer Glaube, mangelt die Wucht einer zentral gerichteten Lebenskraft.

Worauf kann der Künstler heute aufbauen, als einzig auf die eigene, einsame Ergriffenheit. Mit was kann er bauen, als einzig mit den Blöcken einsamen Erlebens. Wie kann er bauen, als einzig mit den elementaren Formen, die einstmals durch den Mythos, sei es von der Gottheit, sei es vom Menschen, ihr Gleichnishaftes, darunter ihr Fleisch und Blut bekamen.

Dies ist die heutige Situation der Kunst. Dies ist der tiefe Bruch zwischen Vorgestern und Heute. Kein fürder geglaubter Mythos trägt hinüber. Die Unruhe des Volkes ist in die Vermassung abgeschwemmt, läßt sich durch die einsame Unruhe des Geistes nicht mehr ergreifen. Das naive Vertrauen ins Leben, das über alles Verstehen und Nichtverstehen hinübertreiben könnte in ein Neues, ist dahin. Untergangsstimmung überschattet diese Zeit, teils insgeheim gefürchtet, teils leichtfertig oder grob bekämpft. Der Lebensrohstoff zerschleißt sich in politischen und sozialen Wirren. Sein vitales Vorwärts wird in die Dämonien der Technik abgesogen, unter denen eine dumpf-beharrende Sentimentalität weiterbrütet, losgerissen von der vorwärtsdrängenden Wahrhaftigkeit des Geistes. Quer über die Kluft zwischen den Epochen reißt sich die Kluft innerhalb der Epoche auf. Künstler und Aufnehmende sind abgrundtief geschieden. Nicht dumpfe Kraftzufuhr, geschweige denn Zuspruch aus den Reihen der Mitlebenden stärkt den Künstler, treibt ihn voran. Unglaube, Zweifel, Spott ob seiner Mühen hetzt ihn abseits, bedroht ihn als Gegenwehr mit Verstockung, als Ergebnis mit Erstarrung. Die Absaugung so mancher bildnerischer Energien der Zeit aus dem Bereich künstlerischer Bewußtmachung ins Zweckgetriebe der Technizität kann in diesem skizzenhaften Überblick nur angedeutet werden.

Man begreift, die heutige Fremdheit zwischen Gegenwartskunst und Volk ist anders, ist schicksalhafter geartet als jene Richtungskrisen früherer Zeit, anders sogar als jene Entsprechung gegen Ende des Mittelalters. Wir wollen es bedenken bei unserer Urteilsbildung.

Zum anderen: Wir dürfen die zwischen 1908 und 1928 geschaffenen Werke nicht mehr unbedingt als heutiges Kunstschaffen ansehen. In ihnen haben die um 1880 und 1890 geborenen Generationen ihr Erlebnis vom Sein verarbeitet und mehr oder minder gültig gestaltet. Eine innere Gesetzlichkeit des Ablaufs ist unverkennbar. Die Distanzierung vom kritiklos angenommenen »Natur-Vorbild« ist dabei allen Schaffenden gemeinsam, ebenso und vor allem die Betonung der elementaren Formqualitäten, über die noch zu sprechen sein wird. Darüber aber setzen zwei gegensätzliche Richtungen an. Die Angst des Konventionsgläubigen, die jede Art der Ablehnung des Naturvorbildes als Verhöhnung des gesunden Menschenverstandes anprangert, hat die Unterschiede verschleiert.

Was so gemeinhin als »Expressionismus« bezeichnet wird, scheidet sich in zwei radikal verschiedene Grundhaltungen. Die eine führt die subjektivistische Einstellung des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zu äußerster Intensivierung des Ichgefühls weiter, unter der die Gestalt des Menschen, aber auch andere naturalistische Motivansetzung bis zur Unkenntlichkeit deformiert, in neue, von dem aufs höchste gespannten Ich-Bewußtsein geschaute Fügungen gezwungen werden. Der Ausdrucksgehalt ist entscheidend. Ihm zuliebe werden primitive, exotische, vorbewußte Gestaltungen, auch aus den Traumbezirken, zu Hilfe gerufen und mit überbewußten Regungen zusammen zum Gebilde kombiniert.

Die andere Haltung versucht eine völlig objektive, Ichentbundene Einstellung: sie baut aus Form- und Gestaltungselementen gemäß deren Gesetzlichkeiten ein Gebilde auf, das von außen her, von einer außermenschlichen Gesetzmäßigkeit her, dem menschlichen Ausdrucksbedürfnis entsprechen soll. So entstand als Raumsystematik auf der Fläche der Kubismus – voller heimlicher Lyrismen auch er und in Frankreich durchtränkt von fülliger Sinnlichkeit –, so entstand als allgemeine Formsystematik auf der Fläche und im Raum der Konstruktivismus, kühl und befremdend und doch noch, besonders in seinen kritischen Zonen, von heimlicher Durchmenschlichung zeugend.

Beide Haltungen stoßen vor bis in ihr Extrem, bis zum Umschlag in eine neuerliche Bindung ans Konkret-Gegenständliche, dessen geheime Magie nun das Ausdrucksbedürfnis des Gestaltungswillens stillen soll. Hier aber, in dieser anscheinend neuerlichen Bindung ans Konkret-Gegenständliche der Natur vollzieht sich wieder eine Scheidung der Geister. Auf der einen Seite läßt man die menschliche Gestalt, an der die expressionistischen Künstler trotz aller Deformationen, Verrenkungen und Verzerrungen, wie sie einerseits die Herausarbeitung der elementaren Formqualitäten, andererseits die Bemühung um höchstgespannten Ausdruck veranlassen, doch immer noch festgehalten hatten, wieder in ihr »normales Aussehen« zurücksinken. Es ist, als ob die sehr ausgezogenen Gummistränge wieder in die ursprüngliche Ruhelage sich zurückentspannt hätten. Man nähert sich wieder, um neuen Lebensrohstoff aufzunehmen, einem allgemeingültigen Empfinden und Sehen. Der Konventionsgläubige atmete erleichtert auf: der ihm teuere Gegenstand, die robuste Tatsächlichkeit des Lebens schien ihm gerettet. Er griff eben, was er begriff. Bezeichnend, daß mancher Nazikitsch hier ansetzen konnte. Im Grunde lebte die Fragwürdigkeit der künstlerischen Situation weiter. Sie wartete auf eine neue Welle, die aus Erlebnistiefen heraus neue Lösungen versuchen würde.

Auf der anderen Seite vollzieht man den radikalen Bruch mit der rational faßbaren Erscheinung der menschlichen Gestalt. Sie löst sich den Künstlern des sogenannten Surrealismus ins Chimärische auf, zerstiebt, zerstückt sich in ihre Form- und Phantasieelemente, die nun, mit anderen Wirklichkeitselementen teils traumhaft visionär, teils bizarr-spielerisch-dekorativ zu neuen Gestalteinheiten kombiniert, ein von aller Bewußtheit scheinbar völlig gelösten Ausdrucksleben führen. Der Konvenienzgläubige steht ratlos und empört davor. Der Formempfindliche verspürt in ihnen ein merkwürdig aufwühlendes Tiefenleben, verspürt vor allem auch hier eine geheime Magie, der in der berückenden Formgroteske nur erst ein spukartiges Vorspiel zu gelingen scheint.

Was wir hier mit »geheimer Magie« nur erst recht schwank umreißen, ist es nicht das Vortasten eines neuen Symbolischen, das um seine Bedeutungsgestalt noch ringt? Dies jedenfalls läßt sich beim Überschauen all dieser modernen bildnerischen Versuche als Gemeinsames feststellen: was dem von der Renaissance aus gerichteten Blick als negativ, als »Denaturalisieren« erscheinen muß, es erweist sich einer auf Künftiges eingestellten Betrachtung als ein mehr oder minder bewußtes »Verbegrifflichen« des Gebildes, als ein Gerinnenlassen der gestalteten Erscheinung ins »Zeichen«, in die Chiffre, die einen unserem heutigen Empfinden gemäßen Ausdrucksgehalt ansaugt und zum Teil auch schon ausstrahlt. Eine unabdingbare Gespanntheit der Kräfte, der unsere Existenz eingefügt ist, wird in solchem »Zeichen« ihrer selbst sich bewußt. In dieser Bewußtwerdung erlöst sich der wissende Geist zur Freiheit. Daß es nur erst »Zeichen« ist, noch nicht Symbol – das macht die Not unserer Zeit aus. Zum Symbol könnte es erst geladen werden durch ein Mitwissen aller, wie es im Glauben sich verwirklichen müßte.

Dies Ringen um das »Zeichen« spielt sich in der obersten Schicht des Kunstgebildes ab, als Ringen um die »Bedeutungsgestalt«. In der darunterliegenden Schicht der »Stilfigur« fügen sich die elementaren Formen der untersten Schicht (s. u.) zu scharf konstruktiven figürlichen Bezügen, dem »Stil« unserer Tage entsprechend. Im Ineinanderspiel der drei Schichten ersteht die neue Gestaltung.

Man darf heute jedenfalls feststellen: der Expressionismus hat seine geschichtliche Funktion erfüllt – und darin bedeutsame Kunstwerke geschaffen! – indem er den im Auslauf seiner Entfaltung aufs höchste gesteigerten Ichdrang, auch den frömmsten, ad absurdum führte, und gleichzeitig die Ausdrucksenergien der Form aus der Umkrustung durch sentimental-naturalistische Abbildungspraktiken befreite, so nachdrücklich befreite, daß selbst ein Wölfflin, der bedeutendste Repräsentant jenes Renaissance-Erbes von menschlicher Würde, menschlichem Maß, »die gewaltigen Möglichkeiten ganz abstrakter Malerei« zugestand. Dies führt uns zum entscheidenden Punkt unserer Erörterungen.

Zum Dritten: Wir dürfen in unserem Bemühen um Erziehung zu heutiger Kunst nicht mit jener obersten Schicht der Kunstwirklichkeit beginnen, in der die Deutung eines Seinserlebnisses in seiner fertigen Gestaltung ruht. Auch nicht mit jenen mittleren, in der die Stilfigur ihre Fügung sucht. Wir müssen dem zu Erziehenden die unterste Schicht nahezubringen versuchen: den Ansatz der Deutung am zur Verfügung stehenden Formenrohstoff. Ja, die latenten Energien dieses Formenrohstoffes müssen dem heutigen Menschen, dessen rein sinnliches Empfinden für Formqualitäten durch deren Zweckabnutzung bedenklich verarmt ist, wieder faßbar gemacht werden. »Kunst ist Form als Symbol ihres Sinns« (Paul Frankl). Nicht mit der Sinngebung, zu der die Form erst in der Kunst bestimmt wird, kann heute begonnen werden. Daß sie, die reine Form, symbolträchtig ist, daß sie zum Element einer Sinngebung durch ihre eigensten Qualitäten beschaffen ist – das dem Durchschnitt der Heutigen wieder zum Erlebnis werden zu lassen, tut not. Mitten in der naturalistischen Epoche hat Konrad Fiedler von seinem Standpunkt aus darauf aufmerksam gemacht, zu welch bestürzendem Erlebnis die Welt der sinnentleerten Form, die nackte Sichtbarkeit also, werden kann, und zu welch schöpferischen, wenn der bildnerische Trieb beginnt, sie zu ordnen, aus ihrer Ordnung die künstlerische Deutung eines Seinserlebnisses zu gestalten. Erziehung zum spontanen Erfassen der Formqualitäten ist heute dringlich.

Ja, der »Expressionismus« hat in der Wiederbewußtmachung dieser Formqualitäten, in ihrer Wertung für die Gestaltung Großes geleistet. Seine vielbeschriene Formzertrümmerung war im Grunde ein elementarer Formenaufbau. Er traf beim Publikum auf unvorbereiteten Boden. Unter den Deutungen, mit denen er sie füllte, erlebnismäßig füllen mußte, entschwand ihm das Vertrauen der Betrachtenden vollends. Sicherlich wäre an seinen Werken eine elementare Form-Empfindungs-Schulung fruchtbar durchzuführen – wäre der Widerwille auch noch der Heutigen gegen diese meist mißverstandenen Deutungen nicht allzugroß.

So gebe man aus pädagogischen Gründen nach. Gegen die Väter tobt der Protest meist stärker als gegen die Großväter und Urgroßväter. Auch in der älteren und alten Kunst sind die Formqualitäten, die »abstrakten Formen« wirksam. Sie sind die Urschicht, die unter allem Stil- und Bedeutungswandel, unter aller Entfaltung des subjektiven Bewußtseins, mehr oder minder stark überlagert vom jeweiligen »Zeitgeist«, durchzieht bis heute. Sie ist der neutrale Grund, aus dem Gestaltung aufwächst und Kunst wird.

So nehme man denn als vornehmstes Material für die Erziehung unsere alte Kunst. Nicht um die geschichtliche Folge, die historische Bedingtheit der verschiedenen Stile klarzumachen, woraus dann Verständnis und Liebe für eine neue Gestaltungsart von selber kommen müsse. Nein, um an solchen durch Würde des Alters und der Leistung vor plumper Ablehnung gefeiten Werken jene Urschicht aufzudecken, deren Begreifen die erste Bedingung für jedes Bemühen im Reiche der Kunst ist, für ein schaffendes und für ein betrachtendes – auch heute.

Wie klar liegt diese Urschicht in den großartigen Schöpfungen der ottonischen Buchmalerei vor Augen. Wie da ein spitzwinkliges Dreieck stilgebend für eine Gesamtkomposition wird, wie da parallele Kurvenzüge zu monumentalem Rhythmus gewertet, wie abstrakte Ornamentfiguren zur Ordnung von Einzelformen geadelt werden – das müßte doch zu überzeugender Belehrung des Auges reichsten Stoff geben. Und gar die Gestimmtheit der Farben, dieser schwebenden Purpur und Violett, der festigenden Weinrot und Oliv, der aufbauenden Blau und Karmesin und der in allen Leuchttiefen grundierenden Golds –, diese ganze Gestimmtheit lagert sich locker und doch wunderbar gebunden den Formquellen ein. Oder erzeugt sie sie aus sich heraus! Das Wechselspiel zwischen Farbe und Form gehört eben zum Geheimnis der Kunst, das sich schwer fassen läßt. In solche Urmelodik, die in der Stilschicht sich gesetzmäßig ordnet, gießt sich dann die gewaltige Bedeutung ein: die auf die transzendente Gottheit hingerichtete Vision. Sie hat es noch leicht, sich in jene Formelemente einzugestalten, sie braucht nur erst wenig vom Zweck usurpierte Sichtbarkeit zu durchstoßen, um zu den elementaren Trägern ihres Ausdruckswillens, dem zarteste Sinnangaben genügen, zu gelangen. Ihre »Abstraktheit« entspricht der Abstraktheit des Formenrohstoffs. So denn auch der freie und tiefe Klang dieser Gestaltungen, ihr unmittelbares Empor aus dem Stofflichen zum Geist.

Wie viel mühevoller ward es den Späteren, einem Grünewald z. B., zur Bindung von Bedeutungsgehalt und elementaren Ausdrucksträgern zu gelangen. Das Halbjahrtausend dazwischen hatte einen umfassenden Bereich von natur- und zweckbedingter Sichtbarkeit verarbeitet, hatte es einer neuen Bildwirklichkeit einverleibt und aufgebürdet. Das gab wohl reiche Möglichkeiten zu tatsächlicher Beglaubigung der Vision, zur Ausweitung der Sinnauswirkung ins Praktisch-Wirkliche hinein. Es forderte nun aber ein Durchstoßen dieser vorgelagerten Bedeutungsschichten der tatsächlichen Welt, um hinunterzugreifen zum Quellgebiet des visuellen Ausdrucks. Grünewalds bildnerisches Genie riß die Urformen wieder hoch, band in sie seine Gestaltung. In der Isenheimer »Auferstehung Christi« entwickelt sich aus dumpfgelagerten Klumpen- und Kastenformen (der hingeschmetterten Kriegsknechte und des Grabes) ein Thema aus spitzaufzuckenden Rautenfiguren (Leichentuch, Unterkörper Christi), das, in blitzförmigem Zickzack übereinander wiederholt, von der Kreisform (der Lichtglorie um Christi Antlitz) gestillt und ins Emporschweben übergeführt wird. Erst die Farben entlocken diesem Formgerüst seine volle Magie: dies Aufwölken lichtester Rosa- und Goldgelbtöne aus dem dumpftragenden Oliv des Grundes, aus dem die Stahllichter auf den Harnischen der Wächter aufgeistern. Ebenso wie nur ein unerhört gesteigertes subjektives Mitleben damals noch den Heilsvorgang ins glaubhafte Erlebnis zwingen konnte, ebenso vermochte im Anschaulichen auch nur die Freiwerdung unerhörten persönlichen Genies solche unmittelbare Bindung des Visionären an das wirklichkeitsüberkrustete Formsystem des Urgrundes noch zu leisten. Die hohe Kunst der Mitzeit (Raphael und die anderen) mußte damals schon die menschliche Würde ins Tragische steigern, mußte entsprechend den Formenrohstoff einer dem menschlichen Organismus anempfundenen Ordnung nähern, um ein Gleichnis – nur noch ein Gleichnis, nicht mehr ein Symbol! – des Übernatürlichen glaubhaft zu gestalten.

Zeitlich zwischen den Reichenauern und Grünewald schafft der Naumburger Meister. An seinen Schöpfungen läßt sich das Plastische als bildnerischer Urtrieb in überwältigend reiner Art aufweisen. Wie in dem Lettner-Relief des »Abendmahls« die plastischen Energien durch elementare, die Masse aufgliedernde Bewegungsformen ins künstlerische Leben gehoben werden, wie Konture einzelne Massenteile dumpf umrollen, andere zu scharf vordrängender Körperlichkeit akzentuieren, wie in vor- und rückstoßenden Gesten Raumaktivität geschaffen und sinnvoll geordnet wird, das weist unter allem Bedeutungsgehalt des Dargestellten auf die Urantriebe plastischen Empfindens, die heute erst wieder bewußt gemacht werden müssen, ehe an Genuß und Wertung gegenwärtigen plastischen Schaffens gedacht werden kann. In diese plastische Grundierung schüttet der Naumburger dann sein bebendes Erlebnis der einsam leidenden, hoheitsvoll sich opfernden Gottheit.

Im gleichen Zeitabstand nach Grünewald wie der Naumburger vor ihm, plante Balthasar Neumann sein Spätwerk, den Bau der Stiftskirche über dem schwäbischen Neresheim. Die lichtdurchrauschte Bewegtheit von Vierzehnheiligen ist gewichen. Hoheitsvoll ernste Großformen gliedern den Raum. Sie verwirklichen im Symbol des Kunstwerks die tiefste Absicht des Meisters, den Weltsinn zu deuten als das einsame Gegenüber der Seele zu Gott: – die erhabene Mittelrotunde löst den Andächtigen aus aller gemeindlichen Bindung, führt ihn durch die eigene Einsamkeit hindurch zum Erlebnis der einzigen und wesentlichen Bindung – religio. Doch uns beschäftigt hier, wie der Meister die Mittel, die ihm als Baumeister zu Gebote stehen, in ihrer elementaren Wirksamkeit, also vor ihrer Gestaltung zum Stil, handhabt. Er arbeitet verschiedene Raumformen: Raumzylinder über elliptoidischem und kreisförmigem Grundriß in gegenseitiger Berührung und Durchdringung zu reinster Wirkung heraus, er präzisiert die Schnittlinien der sie deckenden Gewölbeschalen zu ausdrucksstärkster Kurvung. Im Stützensystem läßt er die Freiheit der Säule markant herauswachsen gegen die Gebundenheit der Wandpfeiler. Im feinen Relief der Wandschichtung wird gleichsam das Antasten des Raumes an die körperliche Masse, im klaren Profil der Gesimse das Anschwellen der körperlichen Energien in den Raum hinein deutlich gemacht. Die ruhige Führung der Lichtbahnen stärkt die Festigkeit der Körperformen, durchnervt den Raum. All dies, was hier beobachtet wurde, liegt noch unter der Schwelle des Barock, des Zeitstils also, im Bereich elementarer architektonischer Ausdrucksformen. Erst das Gestaltungsprinzip, zu dem es geordnet, in bestimmte Figur gebracht wird, hebt es in den Sinnzusammenhang des Stils, und aus ihm dann wieder in den Bedeutungsgehalt des persönlichen Ausdrucks hinauf.

Auch die Romantiker wollten in ihren Kunsterneuerungsversuchen bei den Elementen ansetzen, aber sie schieden nicht genügend klar zwischen Formelementen und Bedeutungselementen. Runge müht sich um die neue Grundlegung des Bildes und versucht sie über die Arabeske. Als Bausteine schieben sich ihm nun aber nicht die elementaren Formen zu, sondern die mit menschlichem Ausdrucksgehalt geladenen Elemente der Natur: Blumen, Kinder, Sonne, Ähren usw. Zwangsläufig bleiben diese »Symbole« im formalen Ausdruck, der ja nicht von Grund aus neu, elementar gesehen wird, matt und verbraucht. Da frommt keine Kontursteigerung, keine Neu-Zusammenordnung. Es ist im Grunde das gleiche Vokabular, mit dem der Klassizismus seine an antiken Vorbildern geschulten Symbole verleiblichen möchte. So kann man auch im Hinblick auf die Deutungssphäre die Nähe der Romantiker zum Klassizismus nicht übersehen: wie jener die sentimentalische Hinneigung zum antiken Weltbild gestaltet, so versandet die romantische Bildnerei später über die sentimentalische Hinneigung zu einer durchmenschten Natur ins formenmatte Naturabbild.

Solcher Beispiele aus alter Malerei, Plastik und Architektur ließen sich unzählige anführen, durch andere aus der Graphik, der Handzeichnung, dem Ornamentstich vermehren. Sie würden das jeweilige Vokabular, in ihm die Phonetik wieder lebendig werden lassen, mit dem der bildende Künstler wie der Dichter mit dem Wort und in ihm mit dem Laut arbeitet. Aus solchem Unterricht wäre dann der Einblick in die Gestaltungsprinzipien des Stils und zuletzt die Hinaufhebung in die Deutungssphäre zu entwickeln.

Dem mit solchem Elementarmaterial vertraut gewordenen Auge können dann auch Beispiele aus der »expressionistischen« Kunstweise angeboten werden. Es mußte erst an gewohnten Bildungen das Erschrecken vor der abstrakten Formwucht, wie sie dort unter dem vertrauten Deutungsgehalt latent liegt, wieder lernen, ehe es diese, gleichsam in nackter Darbietung und wohl erst noch unter minder zwingendem Deutungsgehalt, in expressionistischen Bildungen ertragen kann. Jetzt weiß es zu scheiden zwischen Ausdrucksgehalt der Elemente und dem der Erlebnisdeutung. Von hier aus wird der Aufnehmende nun auch dieser Deutung gerechter werden, ohne daß ihm zugemutet würde, daß er in ihr die eigene Deutung des Weltbilds anerkennen müßte.

Denn das muß offen bleiben: die Freiheit dieser Zeit zu eigenster Deutung. Mag sein, daß sie sich eng an das von den Expressionisten eroberte »Weltbild« anschließt. Vielleicht auch wächst ihr ein sehr anderes zu. Die uns Älteren oft erschreckende »Konkretheit« der heutigen Jugend läßt es erwarten. Die vom »Expressionismus« errungene Befreiung der elementaren Ausdrucksformen wird sie nicht wieder rückgängig machen können noch wollen. Sie muß ihr der Ausgangspunkt, die Schwelle zu eigenen Deutungsversuchen sein, so wie ihr die Kühnheit des Absprungs der Expressionisten aus dieser Elementarzone ins Symbolische hinauf ein Vorbild bleiben kann.

Werden junge Menschen sich solcher Erziehung nicht öffnen wollen? Ihr Jungsein ist so gespalten: jung sind sie an Jahren, an Wissen, an Erfahrungen eines normalen Lebens, – aber sie sind alt an Erlebnissen des Schreckens, des Todes. Sie wollen Methoden lernen, dies Leben zu bewältigen, – seine Deutung scheint ihnen leidvoll vorgegeben. Was kann ihnen die innere Einheitlichkeit wiedergeben? Vielleicht die Erfahrung der Güte, des hilfreichen Beistands der Älteren. Wir wollen sie ihnen geben, so viel und so stark wir nur können. Auch die Hinführung zu echtem Ausdruck in der Form kann Hilfe sein. Ein eigenes Weltbild, eine Hilfe gegen die Verzweiflung im eigenen Innern können wir ihnen nicht vermitteln, wollen wir ihnen nicht aufdrängen. Das muß ihnen aus der eigensten Not erwachsen. Ihr dürfen sie nicht ausweichen in billige Klischees sentimentaler Tröstung. Sie müssen sie bestehen und fruchtbar machen. Indem sie um eine eigene Deutung dieser Not ringen, ja schon, indem sie versuchen, sie auszusagen, wird ihnen der Blick frei werden für die Gestaltung dieser Not. Diese Gestaltung wird echte Kunst unserer Zeit sein.


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