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Große Kinder.


I.

Ist Euch wol jemals einer jener Männer der Wissenschaft der Staubfäden und der langen lateinischen Namen, der Salbentöpfe und der Pillenschachteln zum ersten Mal begegnet, ohne daß Ihr auf der Stelle gesagt hättet, dieser da ist ein Mann, welcher die wolthätige Absicht hegt, noch heute für irgend eine leidende Seele ein Pflaster zu streichen, – es ist ein Apotheker? Trägt nicht die ideale Gestalt eines Geheimen Secretairs unverkennbar, wie in leuchtender Hieroglyphenschrift auf einer Stirn geschrieben: ich bin ein geheimer und großer Hebel im weltbeherrschenden Gesammt-Organismus der Dintenconsumtion? Und wenn Euch Caspar begegnet, ist es möglich, daß Ihr Euch irrt, wenn Ihr sagt: dieser Mensch muß heißen wie einer der heiligen drei Könige, wahrscheinlich aber weder Melchior noch Balthasar; er muß Caspar heißen. Bei den Frauen ist dieß Errathen noch leichter. Gretchen z. B. hat viel zu runde, rothe Wangen, viel zu fröhlich in die Welt schauende Schelmenaugen, als daß Ihr auf die barocke Idee kommen könntet, sie hieße Constanze oder Thusnelda.

Die Bezüge zwischen dem Namen und der Sache, der Person und ihrem Beruf, dem Stoff und dem belebenden Wesen sind sonderbar; und der Typus, den der Geist der Materie aufzudrücken weiß, das Wappen, das er seinem Eigenthum, die Livree, die er seinem Diener gibt, – tritt uns täglich wie ein Wunder vor Augen.

Es ist ebenso mit dem Raum, den ein Mensch bewohnt; sein Zimmer ist sein zweytes, ein weiteres Kleid. Wie dieses gestaltet, zieht es sich nach der Figur, die es umgibt; mag es Anfangs viel zu weit, viel zu nackt seyn für den gemüthlichen, alten Herrn, den es beschützt, am Ende hat es sich durch allerhand Meubles und Habseligkeiten ausgefüllt und zusammengezogen wie ein Rock, der wattiert worden ist, und – dort in jener Ecke, um den Schmollwinkel, hat es sich gar in Falten geworfen, man sieht – dieser Mensch muß gerade in dieses Zimmer gefahren seyn – er könnte kein anderes besitzen; dieses Zimmer aber keinen Anderen.

Wenn Ihr die nähere Bekanntschaft unseres Helden gemacht haben werdet und in die Eigenschaften und Ansichten dieses nicht alltäglichen Characters eingeweiht worden seyd, wird es Euch nicht befremden, daß ich Euch heiße, ihn mit mir aufzusuchen in Räumen und Umgebungen, die vielleicht weit entfernt sind, wie dem seinen, Eurem Geschmacke zuzusagen.

Die Stadt, in der er wohnt, besteht aus zwey Theilen; in dem einen, um den Palast des Landesregenten in neuerer Zeit erstandenen, wohnt der Adel, stehen die Gebäude der Ministerien, die Casernen, das Theater. Die Straßen sind breit und hell, die Trottoirs mit Asphalt gepflastert, die Façaden hoch und öde, ohne characteristische Physiognomie, eine wie die andere, weiß, geradlinig, oft die mehr oder minder ausgezierte Seite eines ungeheuer großen Wohnkastens vielmehr, als das Gesicht eines rechten Hauses, aus dem ganze Geschichten von Familienglück und Leid, von aufgeblühten und abgewelkten Generationen herausschauen müssen. Viel Livree, viel Carossen, im Sommer viel Hitze und Staub, etwas Blumenduft von den Kallah's und Camelien auf den Balconen unter grauleinenen Marquisen; ein still und beschaulich seiner einsamen Fensterparade nachgehender Lieutenant – im Ganzen wenig Menschen.

Wir dürfen unseren Helden nicht in diesem Stadttheil suchen.

Vertiefen wir uns in die Altstadt, in die engeren, von Handel und Gewerbe belebten, in die gewundenen, düsteren Gassen, wo die gothischen Giebel, das kunstreich ausgeschnitzte Gebälke, die schweren, massigen Verhältnisse den Wohnungen noch einen bestimmten Typus geben; wo man noch Wetterfahnen sieht, in den Nischen noch kernhafte Römergestalten mit ihrem Gürtel aus hängenden Riemen oder fette Agrippinen und Metellen mit ihrer bedenklichen Schürzung der Gewande stehen, aus grobem Sandsteine gehauen, zum Schmuck einer prächtigen Renaissance-Façade.

In einem dieser Gebäude, das mit einem sich breitmachenden Selbstgefühle seine Nachbarn recht nachdrücklich zusammengequetscht hat, führt ein geräumiger und langer, aber dunkler Gang in eine zwei Stockwerk hohe, tempelweite Küche, in welcher zwey himmellange Fenster mit Wappenmalereien in den Scheiben den besten Willen zeigen, Licht zu verschaffen, wenn nur die Mauer des gequetschten Nachbars nicht rachsüchtig mit ihrem Schatten da wäre. Links von dem Heerde leitet eine Treppe in einer Flucht an die Schwelle einer etwa mannshoch vom Boden sich befindenden Thür.

Sie öffnet sich vor uns; wir stehen in dem Raum, den wir aufsuchen, in dem Zimmer, wohin sich der junge Eigenthümer des großen Hauses, der einzig übriggebliebene Erbe einer alten Patrizierfamilie jener Stadt zurückgezogen hat. Das erste, was deutlich aus einer Menge von Gegenständen, die das weite Gemach anfüllen, uns entgegenkommt, ist die Ueberzeugung, daß ein Mann von Geist und Phantasie hier haust.

Der Boden ist mit Teppichen bedeckt, schwere, seidene Vorhänge sind heruntergelassen und bringen eine Dämmerung hervor, die der Bewohner lieben muß; denn Sonnenschein ist nicht, der sie nöthig machte. Die Wände sind bunt durcheinander mit Bildern bedeckt, bei deren Auswahl mehr eine bestimmte Geschmacksrichtung für die Art des dargestellten Gegenstandes, als Rücksicht auf den Werth der Arbeit vorgeherrscht zu haben scheint. Es sind meist Darstellungen mittelalterlicher Scenen oder historischer Ereignisse, alte Holzschnitte mit ausdrucksvollen Köpfen, gemalte Ahnenbilder und daneben lithographische Blätter der neuromantischen Schule.

Auf einem runden Tisch in der Mitte des Zimmers liegen blau und roth broschirte Erzeugnisse der jüngsten Literatur über pergamentnen Handschriften aus der Rathhausbibliothek, und zwischen den Blättern der »Gräfin Faustine« steckt ein alter Dolch mit ciselirtem Griff von florentiner Arbeit als Lesezeichen.

Zwey Gypsabgüsse nach Arbeiten von Canova theilen sich mit alten, geschliffenen Deckelgläsern, mit großen Seemuscheln und einer feinen Schnitzarbeit aus Elfenbein unter Glasrahmen in den Raum, den der Spiegeltisch bietet. Und wenn das Alterthum in großen Aschenkrügen, Urnen und hetruskischen Thonvasen – die einen alten und kunstreich ausgelegten Wandschrank belasten – seinen Tribut zur Ausstaffierung des Zimmers hergegeben hat, so stellte das Mittelalter nicht weniger freigebig rostige Hellebarden, seltsam geformte Feuergewehre mit Radschlössern und lange Ritterschwerter in die Winkel; ein halbrunder Erker links, dessen Fensterscheiben mit alten und neuen Glasmalereien durcheinander überdeckt sind, wird dagegen von einem gypsernen Apoll von Belvedere bewohnt, der durch die farbigen Gläser den rothglühenden Garten unten und eine blaufarbig schimmernde, alte Kirche, die dahinter liegt, betrachtet und wie verwundert über den seltsam beleuchteten Tempel eines ihm unbekannten Gottes die Rechte erhoben hat.

Und der Besitzer so vieler Meubles und Rococo-Habseligkeiten, als hätten ihm alle Zeiten und Jahrhunderte Andenken geschenkt – der junge Mann, der ausgestreckt auf dem Teppich liegt, den Kopf auf den rechten Arm stützend und mit einem grauen Windspiele tändelnd – ich gebe Euch zu rathen auf, welcher Namen zu diesem wunderlichen Menschen paßt?

Er ist groß und schlank, sein Gesicht regelmäßig, wie aus Marmor gehauen, aber auch blaß wie Marmor; sein schönes Auge ist graublau, von braunen Wellungen, die von dem schwarzen Mittelpuncte ausstrahlen, leise, kaum sichtbar durchwässert; die Stirn ist hoch und stolz, aber der Mund kann nur einem Menschen von viel Sanftmuth und Weiche gehören; dieser Mund sagt es am deutlichsten, daß Ihr mit dem Alltagsnamen hier nicht auskommt; Ihr seyd versucht, ihn Guido oder Anselm zu nennen: – nein, – Ihr kommt nicht darauf, er heißt Benedict.

»Benedict, Du bist krank,« sagte ein älterer Mann zu ihm, sein Freund und seines Zeichens ein Arzt, der in der Ecke eines Sophas ruht und aus seinem Meerschaum leichte Wolken Rauches saugt.

»Ich weiß es ja, dieß verfluchte, weiße Weib bringt mich um,« versetzte Benedict, ohne von dem Hunde aufzusehen, der in diesem Augenblick den rechten Vorderfuß spielend um den Nacken seines Herrn schlägt und mit dem Maule an der Schleife seines Halstuches zerrt.

»Ach, mit Deinen einfältigen Phantastereien! Du bist krank durch Mangel an frischer Luft und frischem Muth; Du bist ein Stubenhocker; Du durchstudirst die ›groß' und kleine Welt,‹ um Dir von allen Ecken und Enden her allerhand Wehe, Kümmernisse, Kreuz und Elend in ein Bündel für Deinen Rücken zusammen zu schnüren, damit Dir ja nie der nöthige Vorrath ausgeht. Nun, Jeder hat sein Steckenpferd. Aber auf Deinem – eine wahre Schindmähre ist's – reitest Du Dich zu Tod.«

»Was geht's Euch an, Heinrich; verliert Jemand an mir etwas, wenn ich sterbe? Könnt Ihr Leute mich gebrauchen? Kann ich irgend eine Rolle spielen, eine tragische oder eine komische Rolle? Ich passe nicht für die Tragödie, für das Drama nicht, für das Lustspiel nicht, für die Posse nicht, für das Melodrama nicht – und für das Ballet: sag', tauge ich für das Ballet?«

»Liebster Freund, Du spielst eine tragikomische Rolle seit langer Zeit ganz unvergleichlich.« –

Benedict erhob sich und schritt im Zimmer auf und ab. Dann sagte er: »meine Rolle paßt aber doch nicht in Eure Stücke, auf Eure Bühne; ich agiere mich selber, und Ihr, was Euch der Souffleur einbläst.«

»Wie heißt der?«

»Ja, du lieber Gott, das ist viel gefragt; heute heißt er so, morgen so; heute Mode, Vorurtheil, Sitte, Herkommen; morgen Verstellung, Aberwitz, Eigennutz. –«

»Wenn man Dich so reden hört, sollte man uns Alle – unter Alle versteh' ich das große Heer der Menschen gegenüber der Person des sehr ehrenwerthen Benedict Vollrath – für eine saubere Bande halten!«

»Nicht Alle – aber die Menge, in deren Leben und Treiben. Du willst, daß ich mich mische, die Welt, wie man es nennt. Aber nein, Doctor, ich will Euch nicht Unrecht thun; wenn ich unglücklich bin, weil ich mich vereinsamt fühle und ohne Verwandtschaft zu denen, die mir verwandt sein sollten, so will ich nicht durch ein vorschnelles, allgemeines Urtheil die Schuld auf die Menschen schieben; ich kann ja selbst die Schuld haben. Ich finde und fühle, daß überall, wo ich die Mächte, die unsere Zustände regieren, sich spreizen sehe, eine große Lüge sich in ehrwürdige Gewänder geworfen hat und wie der Fuchs im Meßgewande dasteht, der an der straßburger Kanzel den Gänsen predigt. Aber darf ich darüber mich beklagen, so lange ich selbst die Wahrheit nicht gefunden habe, die an die Stelle treten könnte, und in deren Gewänder sich nicht auch am Ende die Füchse schlichen?

Daß ich übrigens bei einer düsteren Lebensansicht heiteren Lebensmuth haben soll, das heißt zu viel verlangt. Doch ja, heiter bin ich schon – wenn ich allein mit meinen Büchern und Gedanken bin. Die Stelle, die Archimedes verlangte, um die Welt zu bewegen, ich habe sie gefunden, hier in diesen vier Mauern, nämlich eine Stelle außer der Welt; aber zu bewegen weiß ich sie dennoch nicht – ich weiß nicht einmal die Last, die sich oft auf meine Brust legt, fort zu bewegen, einen wunderbaren Sehnsuchtsschmerz los zu werden, der am Tage an meiner Kraft saugt, um meinen Nächten in die Hand zu arbeiten.« –

»Was soll ich nun mit allem Dem, Benedict?« erwiderte der Arzt; »Du bist nicht zufrieden, wenn Du nicht irgend etwas zu beseufzen hat. Heute ist es ein wunderbarer Sehnsuchtschmerz, morgen ist es die Quadrupelallianz, die an Deiner Kraft saugt, und übermorgen wird man glauben müssen, Du hättest in den letzten Tagen alle hungrige Fabrikarbeiter England's mit Deinem Herzblute zu nähren. Ich habe lange gegen Deine Launen gesprochen; aber was kann ich machen? ›Les nerfs, voilà tout l'homme!‹ Geh in's Seebad.«

Der Doctor erhob sich und klopfte die Asche aus seinem Meerschaum; dann nahm er Hut und Stock, knöpfte den Makintosh zu und sah eine Weile Benedict theilnehmend in die ungewöhnlich glänzenden Augen.

»Vollrath,« sagte er dann, »Du bist ein innerlicher Mensch, und deshalb hat unsere äußerliche Welt keine Befriedigung für Dich. Das ist das ganze Räthsel. Ich will Dir jetzt mein letztes Recept verschreiben; wenn das nicht anschlägt, bin ich mit meiner Weisheit am Ende. Es muß etwas gefunden werden, was Dich aus Deinen Lucubrationen reißt, was Dich an sicher umschriebene Verhältnisse bindet, was Dir bestimmte irdische Sorgen aufbürdet. Geh und nimm ein Weib! – Gute Nacht.«

Der Doctor gab ihm rasch die Hand und ging.

Benedict verschränkte die Arme über der Brust und stand lange sinnend da.

»Geh und nimm ein Weib!« sagte er dann; »das ist leicht gerathen, aber nicht leicht ausgeführt. Ich werde lange suchen müssen, bis ich ein Weib finde, denn, meiner Treu, die müßte einen seltsamen Geschmack haben! Nun an meinem Suchen soll's nicht liegen! Fangen wir gleich an!«

Benedict nahm seinen Hut und hüllte sich, weil es Abend geworden war, in seinen Mantel; dann ging er, um eine Frau zu suchen.

Eine Viertelstunde nachher saß er in dem hellerleuchteten Salon einer befreundeten Familie der dampfenden Theemaschine gegenüber.

»Fräulein Emma, was verlangen sie von einem Manne,« fragte er eine junge Dame, sie mitten in einer Verhandlung unterbrechend, welche sie über ein Ballkleid mit ihrer Mutter führte, wobei sich etwas von einer dem Fremden gegenüber verhaltenen Heftigkeit verspüren ließ. Die Damen fanden wenigstens ihre gegenseitigen Gründe jedesmal so ungemein komisch und erheiterten sich zusehends mit jedem Worte mehr. Wahrscheinlich würden sie sich aus lauter Lustigkeit über den von der Tochter verfochtenen und von der Mutter für sehr überflüssig erachteten Blondenbesatz am Ende sehr spaßhafte Dinge gesagt haben, wenn nicht Benedict's Frage dazwischen gekommen wäre.

»Was verlangen Sie von einem Manne? ich bin überzeugt, daß Sie schon darüber nachgedacht haben, Fräulein Emma?«

Unter der weißen Stirn der Blondenvertheidigerin hatten allerdings schon solche Nachgedanken gewohnt, und sie versetzte deshalb ohne Zögern:

»Nun, der muß viel Eigenschaften haben; er muß eben so gut wie gescheut seyn; er muß vortrefflich tanzen können und wunderschön aussehen und dabei reden wie ein Buch; er muß so recht von Herzen gutmüthig seyn, galant, muthig, kräftig, genial, sanft –«

»Ja, so wollt Ihr die Männer,« unterbrach hier der Hausherr seine Tochter; »außer dem Hause wahre Löwen und im Hause Schafe!«

»Und welches Ideal machen Sie sich, mein gnädiges Fräulein,« fragte Benedict die zweite Tochter deßhalb mit um so größerer Höflichkeit, weil sie Aschenbrödel im Hause war.

»Tüchtigkeit, die ganz ihre Stellung auszufüllen weiß, und viel Liebe ist das Einzige, was ich verlange,« war die Antwort.

Für die Eine hab' ich zu wenig und für die Andere nicht genug, dachte Benedict; mich soll wundern, ob ich irgendwo so glücklich bin, die Antwort zu erhalten: ich verlange von einem Manne, daß er ein rechter Grillenfänger sey.

Du glücklicher Benedict, da könntest Du einschlagen!

Eine Stunde später schritt Benedict, in seinen Mantel gehüllt, durch die leer und öde gewordenen Gassen. Es war ein rauher und regnerischer Märzabend; die Bewohner der Stadt hatten sich nach und nach in ihre Häuser geflüchtet, und als Benedict endlich in die breiten Gassen der Neustadt gerieth, begegnete ihm fast Niemand mehr.

Auf einem freien Platze, der mit Kugelakazien bepflanzt war, ging er lange unter den vom Winde zersausten Wipfeln auf und ab. Am Ende dieses Platzes war eine Brücke, die über einen bedeutenden Fluß führte. Die Gaslichter aus den nächsten Laternen warfen einen gelben Schein auf die Wellen, die unten rasch in die Dunkelheit hinein sich weiter wälzten. Benedict lehnte sich über das Steingeländer und blickte in die Tiefe hinab auf das hastige, strebsame Rollen.

»Seltsam, dieses eifrige Drängen, sich in die Dunkelheit zu verlieren!« sagte er; »so ist Alles Hast und Eile, von unserem Blut, das sich wie gepeitscht durch die Adern schnellt, bis zu der Erde selbst, die sich wie in wildester Raserei um die Sonne schleudert, bis zu den Gedanken des Menschen, die immer sich der Gegenwart vorausstürzen. Nirgends Rast. Wohin, wohin nur? – in die Dunkelheit! – O Jahrhundert! Du verdienst die Palme vor allen Deinen Vorgängern; Du hast allein verstanden, über den Grundgedanken der ganzen Schöpfung klar zu werden und den Menschen damit in Harmonie zu setzen; Du hast ihn auf die Eisenbahn gesetzt! – Die Schnelligkeit ist der innerste Nerv der Welt, ist Leben, ist Kraft, die Schnelligkeit ist Gott. Das Jahrhundert hat ihn; es läuft triumphierend mit ihm auf Schienenwegen über Land!« –

Benedict wandte sich, um heim zu gehen; aber kaum hatte er ein Paar hundert Schritte gemacht, als er plötzlich bis aufs Mark zu frieren anfing. Zugleich begann der gelinde Staubregen, den er bis jetzt kaum wahrgenommen hatte, in ein tüchtiges Schauern überzugehen. Er sah sich nach einem Zufluchtsorte dagegen um; hier und da streckte sich an einem Gebäude ein Balcon vor; aber kaum hatte er sich darunter gestellt, als auch jedesmal der heftige Zugwind ihn weiter trieb, der die weite und schnurgerade Straße durchfuhr und die Lichter in den Laternen flackern machte, daß ihr gelber Wiederschein zitternd und bebend auf dem zum Spiegel gewordenen nassen Trottoir sich bewegte.

Endlich sah er eine Carosse unter einem von zwei Säulen getragenen Vordache halten. Der Kutscher nickte im Halbschlummer mit dem Kopfe.

»Guter Freund,« sagte Benedict, »erlauben Sie mir, daß ich in dem Wagen dieses Schauern abwarten darf; ich befürchte sonst, hier im Zugwinde krank zu werden.«

Der Kutscher nickte mit dem Kopfe.

Benedict öffnete den Schlag, stieg ein und drückte sich frostschaudernd in die Ecke des Wagens.


II.

Der Kutscher nickte mit dem Kopf.

Es ist wahrscheinlich, daß der Kutscher, als er diese bejahende Bewegung machte, nicht ahnte, welcher folgenreiche, für das Schicksal ganzer Generationen entscheidende Moment in diesem Nicken seines Kopfes lag; und dazu in einem schlummertrunkenen Nicken, ohne helles Bewußtseyn der schweren Verantwortlichkeit, welche er damit über sich nahm. Denn wäre der Kutscher wach gewesen, so würde er höchst wahrscheinlich Anstand genommen haben, einen fremden, durchnäßten Menschen in den Wagen seiner Herrschaft steigen zu lassen. So aber nickte er, und das Kopfnicken dieses Bockmonarchen ist für unsere Geschichte, was des olympischen Gottes Brauenzucken für die alte Welt war.

Als Benedict eingestiegen war und die Wagenthür hinter sich zugeschlagen hatte, merkte er im nächsten Augenblick, daß ein gemeinsamer Irrthum den Kutscher und die Pferde ergriff; diese, wahrscheinlich längst zu der Ueberzeugung gekommen, daß das Stehen und Warten in einer naßkalten Nacht zu den unangenehmeren Situationen im Lebenslaufe eines braunen Holsteiners gehöre, zogen ungeduldig an; der Kutscher fuhr aus seinem Nicken empor, und seine Herrschaft eingestiegen wähnend, übrigens auch ganz in einer sehr zu rechtfertigenden Harmonie mit den Gefühlen seiner Untergebenen, versetzte er ihnen beiden einen schnalzenden Peitschenhieb. Der Wagen flog rasselnd über das Pflaster davon.

Benedict fühlte sich mit einer rasenden Schnelligkeit fortgerissen; die Wagenfenster klirrten, als ob sie zerspringen wollten; bald schleuderte ein Stoß rechts ihn in die linke Ecke, bald einer links in die rechte; eine der Laternen am Bock verlöschte im Zuge; die Pferde mußten in gestreckten Galopp gefallen seyn; in toller Eile ging es weiter, zuerst durch die Straßen der Stadt, dann durch ein dunkles, hallendes Thor, und endlich über eine schlechtgebaute, mit frischen Bruchsteinen beworfene Chaussee in die Finsterniß hinein, die über dem rabenschwarz verhüllten, flachen Lande lag.

Bei solcher Schnelligkeit aus dem Wagen zu springen, war höchst gefährlich; sich im Wagen dem Kutscher draußen verständlich zu machen, war, da Benedict keinen Schellenzug fand und es ihm nicht glückte, die Schiebfenster im Rücken des eilfertigen Pferdelenkers niederzulassen, unmöglich; alles Rufen, Klopfen, alle Anstrengungen blieben fruchtlos bei diesem ohrbetäubenden, tollen Rennen; und als der Wagen außerhalb der Stadt auf die Landstraße gekommen war, fand Benedict auch keinen Beruf mehr, sich den zweifelsohne höchst lebhaften Aeußerungen der Ueberraschung auszusetzen, welche die Entdeckung, einen Fremden gefahren, die eigene Herrschaft im Stich gelassen und im Platzregen umsonst eine halbe Stunde Weges zurückgelegt zu haben, dem nickenden Olympier äußerst wahrscheinlich abgelockt haben würde. Und da unser Held auf der einen Seite ein Abenteuer vor sich, auf der anderen Seite nichts als einen kothigen Weg in Nacht und Regen hinter sich sah, streckte er sich resigniert auf dem Kissen aus und schloß die Augen mit den Worten:

»Dieser Mensch hat das Jahrhundert begriffen, oder besser, es hat ihn ergriffen und da ist keine Hilfe mehr. In Gottes Namen: er wird einmal aufhören.«

Dieß Aufhören fand denn auch in der That nach einer kleinen Stunde etwa statt. Die rasselnden Räder fingen plötzlich an, geräuschlos über Sand zu laufen, und nach einigen Augenblicken machte ein gellender Pfiff des Kutschers die Pferde stehen.

Benedict sprang aus dem Wagen; aber als er den Schlag zugeworfen und kaum das erste Wort der Entwickelungs- und Erkennungsscene, die nun bevorstand, seinem Entführer zugerufen hatte, rasselte dieser abermals davon und verlor sich zwischen einer dunkeln Gruppe von Wirthschaftsgebäuden.

Benedict sah sich allein vor einem großen Gebäude stehen, dessen obere Fensterreihen erleuchtet waren. Beim Schein dieser Hellung sah er hinlänglich, daß es ein alterthümlich gebautes Landhaus sey, vor dem er abgesetzt worden, und daß der Raum zwischen zwey rechts und links in rechten Winkeln vorspringenden Flügeln als Blumengarten benutzt wurde.

Doch hielten ihn diese Beobachtungen nicht lange auf, er trat über einige Treppenstufen in das Innere, um sich der Nachtluft zu entziehen; denn in seinen feuchten Kleidern, müde obendrein und keineswegs der Entwicklung des Abenteuers, in welches er fortgerissen war, ganz unbekümmert entgegengehend, da es zu fatalen Erörterungen und Entschuldigungen bei wildfremden Menschen führen mußte, fühlte er sich angegriffen und unwol, wie gewöhnlich, wenn ihn etwas innerlich heftig bewegte.

In dem Corridor, den er zuerst betrat, flackerte eine hängende Lampe in einer Glasglocke und zeigte ihm im Hintergrunde eine nach oben führende Treppe. Mit leichten Schritten huschte etwas vor ihm hinauf; dann ertönte oben eine helle Klingel. Er erstieg die Treppe; im zweiten Stock des Gebäudes lief ein langer Gang an den Fenstern her, und weil er die Person, die vor ihm die Treppe hinaufgelaufen, zu seiner Rechten im Hintergrunde dieses Ganges verschwinden sah, beschloß er, dahin zu folgen. Die Thür, in welche sie, wie er glaubte, eben eingetreten war, öffnend, fand er sich in einem dunkeln Salon, doch ihm gegenüber strahlte ein heller Lichtschein durch eine offen stehende, aber mit einer rothen Draperie verhangene Flügelthür.

Du bist doch einmal wie ein Dieb in der Nacht hier eingebrochen und mußt nun weiter: mag der Mann, welcher das Jahrhundert begriffen, die Verantwortung tragen! – dachte Benedict, schritt geräuschlos über Teppiche durch den dunkeln Raum, schob die Draperie bei Seite und stand plötzlich in der allerseltsamsten Gruppe, in welche je ein Mensch unvorbereitet gerathen ist.

Benedict stand in einem großen Saal; aber er sah die todte Umgebung nicht, er sah nur die Personen, die neben und vor ihm standen und von einem ganz seltsamen, bläulichen, mattfahlen Lichte beleuchtet ihn anstarrten, wie drohende Gebilde einer schrecklichen und unerträglichen Vision, die plötzlich aus der Erde heraufbeschworen, zu gewaltsam, zu unerwartet die Thore vor dem Reich des Jenseits aufreißt, um nicht für ein unvorbereitetes Gehirn überwältigend zu werden.

Vor ihm stand ein alter Mann mit schneeweißen Locken und Bart, letzterer bis auf den Gürtel niederwallend; er war in schwarzen Sammet mit breiter Zobelpelzverbrämung gekleidet, der Schnitt seiner Tracht durchaus alterthümlich, etwa wie sie Edelmänner in ihrer Hauskleidung gegen das Ende des dreißigjährigen Krieges tragen mochten. Mit dem Ausdruck der höchsten Ueberraschung und des Schreckens wendete sein Gesicht sich nach der Seite des Eintretenden hin, während die beiden Arme erhoben waren, wie man sie beim höchsten Erstaunen zu halten pflegt.

Ein anderer alter Mann, in einer ähnlichen, nur weniger reichen Tracht, aber in seinen Zügen dasselbe Erstaunen und dieselbe Furcht zeigend, stand hinter ihm; zur Seite aber eine jüngere Gestalt, ein Mann in rother, ungarischer Tracht, die reich mit goldenen Schnüren besetzt war, eine Pelzmütze mit einer Edelstein-Agraffe und hohem Reiherbusch auf den langen, kastanienbraunen Locken, und mit Säbel, Dolch und Pistolen bewaffnet. Auch er hielt den linken Arm, von demselben Gefühl überwältigt, erhoben, den rechten Arm aber hatte er um ein hohes Frauenbild geschlungen, das, in weißen Gewändern, sich erschrocken an ihn schmiegte und ihr Gesicht an seiner Brust verbarg.

Der Eintretende sah im nächsten Augenblick, daß nicht er dieß haarsträubende Entsetzen wecke; die starren Blicke dieser Gestalten richteten sich auf etwas Anderes, und als er seine Blicke, ihnen folgend, suchen ließ, gewahrte er im Hintergrunde des Raumes, auf der Schwelle einer geöffneten Thür, wie ein Bild im Rahmen stehend, eine große, todesbleiche Frau. Sie war in weiße, faltig niederfließende Gewänder gehüllt, aber mit der Hand den Schleier zurückwerfend, der ihr Haupt bedeckte, zeigte sie starre, von der Hand des Todes im Augenblick des letzten krampfhaften Ringens zwischen Seyn und Nichtseyn fixirte und mit dem Siegel des Schmerzes ausgeprägte Züge. Ihre von dem bläulichen, matten Lichte überflossene Gestalt hatte etwas unendlich Grausiges, sie gehörte dem Grabe an, sie war wie aus Moderduft gewebt; und diese gräßliche, fahle Beleuchtung um sie her, dieser Verwesungs-Schimmer – ja, sie war eine Todte – das geheimniß- und schreckenreiche Jenseits hatte vor Benedict's Augen seine Pforten aufgeworfen, es sandte ihm seine scheußlichste Gestalt – sie schritt auf ihn zu, sie umschwebte ihn, ihr Hauch berührte ihn, seine Pulse stockten, er wollte sie von sich stoßen, die jetzt wie ein Alp sich auf seine Brust warf, aber es schwindelte ihm und im nächsten Augenblick lag er ohnmächtig am Boden.


III.

Acht Tage später tönte eine rauschende Tanzmusik in den Sälen des Landhauses, welches das Ziel von Benedict's nächtlicher Fahrt geworden. Eine glänzende Versammlung, meist den aristocratischen Kreisen der nahen Residenz angehörend, füllte die Räume, und der jüngere Theil der Geladenen tanzte in Rococo-Costümen und gepudert eine Quadrille; an der Stelle, wo Benedict ohnmächtig geworden durch eine Erscheinung, die das Grab heraufgesandt, trippelten jetzt gestickte Seidenschuhe mit rothen Absätzen ihre Pas. Es war ja Carneval.

Als ob die Welt nicht immer Carneval hätte!

»Der Puder ist wieder Mode geworden! Er ist schon einmal wieder Mode gewesen – kurz vor der Julirevolution, bei den Festen der vertriebenen Dynastie. Und jetzt wieder; seltsam! Der Strom der Zeit hat uns zu weit hinabgeführt; er wird immer reißender, immer rascher. Wohin wird er uns bringen? Es ist zu gefährlich, widerstandslos sich ihm hinzugeben; ja, ja, man muß ihn wieder hinaufschwimmen! Hinauf, mit allen Kräften wieder hinauf; an den Ufern, wo der Puder wächst, raten wir einen Augenblick; mit dem Puder ist viel gewonnen; er ist der sichtbare Duft einer unsichtbaren Blume, der lebensüppigen Sorglosigkeit früherer Jahre; er ist das Symbol der Ansprüche, welche die Jugend auf Alter, auf das Verbundenseyn mit alten, uralten, mit vorsündflutlichen, weißen Scheiteln macht; er ist der Reif, den wir von unseren Stammbäumen schütteln. Wahrhaftig, dieser Puder ist ein weltgeschichtlicher Gedanke; er ist ein kecker Antagonist der lauten Stimme des Jahrhunderts, die da ruft: es lebe die Jugend, es lebe das Lebendige, Blühende; der Puder ruft: es lebe das Alte, es lebe, was abgelebt, verwelkt, es lebe, was weiße Haare hat!

Und wenn der Puder wieder eine Zeit lang Mode gewesen,« fuhr Benedict fort, der, in einem Cabinet neben dem Tanzsaale sitzend, die obige Standrede hielt, gegen seinen Freund Heinrich gewendet: »dann können wir kühne Schwimmer gegen den Strom noch weiter hinaufschwimmen; wir tanzen dann Quadrillen, worin wir nicht mehr Graf B., Baron L. und Herr v. W. sind, sondern als Christoph der Springer, Friedrich mit der gebissenen Wange, Eberhard der Rauschebart erscheinen. Auch wieder ein Fortschritt –«

»Um Gotteswillen!« unterbrach hier Heinrich seinen Freund, »hör' einmal auf mit dem Unsinn! laß das in den Halleschen Jahrbüchern drucken, aber hier, bitte ich Dich, laß mir den Puder ungeschoren. Ich versichere Dich, er steht ganz allerliebst und es ist eine wahre Philisterei, in die Ihr klugen Leute so oft gerathet, wenn Du, weiß der Himmel was, im Puder nur deshalb witterst, weil schon Ninon de l'Enclos oder Manon de l'Escaut gefunden, daß er ganz allerliebst stehe. Komm, stell' Dich lieber zu mir in die Thür, um Clotilde tanzen zu sehen; das Mädchen ist zum Entzücken schön; diese Anmuth in allen Bewegungen, dieser stolze Ausdruck des Gesichtes, diese volle, schlanke Gestalt – eine wahre Königin von einem Weibe!«

Benedict sprang rasch auf – dann, als ob er der unwillkürlichen Bewegung sich schäme, setzte er sich wieder und sagte:

»Sie ist schön, aber diese Geschöpfe sind so äußerlich und Clotilde nun gar: Quadrillen tanzen, Blonden auswählen, Tableaux darstellen, höchst tiefsinnige Erörterungen über das tiefsinnigste aller Werke, die ›Nina‹ Roman der schwedischen Autorin Fredrika Bremer (1842). – Anm.d.Hrsg. oder ›Thomas Tyrnau‹ Roman der deutschen Autorin Henriette von Paalzow (1843). – Anm.d.Hrsg. anstellen und dergleichen für die Aufrechterhaltung der ewigen Weltordnung und des alten Laufes der Dinge höchst ersprießliche Bemühungen mehr, das ist ihr Leben! O Gott, welch eine reiche Welt ist den Frauen mit ihrer Seele gegeben! ein klarer See voll mährchenhafter Wunder! ein Spiegel der Himmelsbläue, ein Auge, das durch die Unendlichkeit schaut! Und muß nun auch diese Clotilde in ihrer Seele nichts als den Spiegel für Putz und Glanz und Aeußerlichkeiten sehen!«

Benedict trat, nachdem er durch diese Betrachtungen eine Art Verwahrung gegen mögliche Mißdeutungen eingelegt, in die Thür neben seinen Freund, um Clotilde tanzen zu sehen.

Der Gegenstand jener Betrachtungen, die königliche Clotilde, welche die Tochter des Hausherrn, des Ministerialraths M. war, blickte in diesem Augenblick nach den beiden Freunden hin und ihrem Tänzer schien es, als ob sie plötzlich noch leichter ihn umschwebe, als ob ihr Fuß sie noch elastischer trage, ihre ganze, schlanke Gestalt sich hebe.

Als sie während der Pause ruhte, sagte ihre Nachbarin:

»Wie der junge Vollrath Dich mit großen Augen anschaut, Clotilde. Es ist ein seltsamer Mensch; man wird nicht recht klug aus ihm; oft spricht er ganz vernünftig und oft so schrecklich pedantisch. Aber hübsch ist er, nicht wahr, Clotilde?«

»Findest Du, Emma?« versetzte Clotilde zerstreut.

Emma, die heute ihre gegen die Mutter siegreich verfochtene Ballparure triumphierend zur Schau trug, fuhr lachend fort:

»Denk' Dir, er fragt alle Mädchen: Mein Fräulein, was verlangen Sie von einem Manne? Ich bitte Dich, wie komisch! was würdest Du da antworten?«

»Einfach, daß er ein Mann sey!«

»Er gefällt Dir wol?«

»Liebe Emma, das ist kein Wort für ihn: er ist kein Spielzeug oder neuer Modestoff; er scheint mir geistig bedeutender zu seyn, als alle unsere jungen Herren; – aber er ist so ganz anders, man weiß nicht recht, ob er's ernsthaft meint oder scherzt, wenn er spricht; er geniert, weil man befürchten muß, man scheint ihm fade, wenn man ihm etwas sagt. Ich glaube, er verachtet uns Alle.«

»Nun, weßhalb nicht gar!«

»In der That, er ist ein so durchaus innerlicher Character.«

»Was willst Du damit sagen, Clotilde?«

Das Gespräch wurde hier abgebrochen, denn ein junger Legationssecretär nahte sich, um Fräulein Emma und ihren Blondenbesatz zum Tanze aufzuziehen.


IV.

Die Frauen sind Detailnaturen. Sie fassen das Ganze nur, indem sie nach und nach der getrennten Stücke sich bemächtigen; sie halten sich an das Besondere – und deshalb sind sie oft praktischer als wir. Den weiblichen Character bilden viele complicirte Regungen und Gefühle, die nach einer gewissen Seite hin gravitieren; den unsrigen ein hervortretendes Gefühl, eine vorspringende Idee, unter deren Herrschaft die übrigen gebracht sind.

Clotilde war fünf und zwanzig Jahre alt geworden und damit ihrer in lauter Detail zerschnittenen Existenz, ihres vom Einzelnen auf's Einzelne hüpfenden, kreisförmigen Lebenslaufes, der stets um dieselben Dinge sich drehte und nicht geistig und menschlich weiter brachte, zuweilen recht herzlich müde. Sie wußte nun freilich nicht, wie sie etwas Ganzes und Großes erfassen solle, noch hatte sie es je in Anderen wahrgenommen, in welchen es die Seele über der Unersprießlichkeit der Masse von Besonderheiten emporgehoben hätte; aber darum nicht weniger fühlte sie die Sehnsucht darnach, eine unverstandene Sehnsucht nach einem Etwas, welches bald diese, bald jene Form vor ihren Augen annahm. Es waren nebelhaft verschwimmende Bilder, bald heiter, bald tragisch, und mit raschen Uebergängen und wunderbarer Leichtigkeit aus dem einen in's andere sich umgestaltend, je nachdem die äußeren Anstöße kamen. Bald war es ein glückbringendes Wirken als Hausfrau im befriedeten, harmonischen Kreise, bald die Muttersorge mit all ihrer Angst und mit ihrer Fülle von Glück, bald das Bild einer weitgreifenden Wirksamkeit durch die Gaben des Geistes und die Gewalt des Worts, welche der Schriftstellerin sich eröffnet; bald, in den Stunden der Wehmuth, ein wahrhaft heroisches Verlangen durch eine großartige Handlung der Entsagung sich für immer ein erhebendes, stolzes Bewußtseyn zu erkaufen.

Die blasse Poesie mit den Siechthum-verklärten Augen, welche weibliche Duldungsfähigkeit sich aus dem Gedanken der Entsagung zu weben versteht, war es nicht, die sich in solchen Stunden ihrer bemächtigte; nein, es war der Drang nach einer starken That, welche sich über der einförmigen Fläche ihres Lebens als eine Säule aufrichten sollte, an die sie sich lehnen und stützen, über welche sie das ganze Gewebe ihres übrigen Daseyns werfen könne, um sich so ein Gezelt zu bauen, unter dem sie, von der schalen Alltäglichkeit getrennt, mit stolzer Selbstzufriedenheit und in Frieden ihre Tage abspinne. Und welche andere starke That ist den Frauen möglich geblieben, als eine That der Entsagung? –

Aber wir müssen gestehen, Clotilde dachte nicht immer so ernsthafte Gedanken; sie wußte sich in anderen Augenblicken mit der ganzen Selbstvergessenheit eines jungen und an Erfolge gewöhnten Mädchens dem Vergnügen hinzugeben, welches überall den Frauen da erblüht, wo sie fühlen, daß sie gefallen.

Und Clotilde mußte freilich viel gefallen: mochte sie ihre anmuthige, und wie von Künstlerhand in stolz geschweiften Linien gezeichnete Gestalt in die Gruppen eines Tableau's mischen, oder mochte sie sie im Rhythmus des Tanzes schaukeln, ein verkörpertes, klangreiches Gedicht voll Lieblichkeit und Pathos – Clotilde war immer der Bewunderung gewiß, sie war immer die Königin.

Und oft wieder, in den Stunden der Ermüdung und Abgespanntheit, wie ihrer so viele sind beim Leben in der großen Welt, fühlte sie nur einen unbestimmten, wehmüthigen Sehnsuchtsdrang, ohne Lust zu der Anstrengung, welche es gekostet hätte, diesem Sehnsuchtsdrang mit sinnenden Gedanken nachzufolgen, bis er sie zu irgend einem bestimmten, erfaßlichen Ziele, zu irgend einem ausgesprochenen Wunsche geführt hätte. Sie klagte in solcher Stimmung viel, daß sie nicht verstanden werde. – Die gewöhnliche Klage der Charactere, die, um etwas über die mattselige Alltäglichkeit emporgehoben, nun sich selbst nicht recht mehr verstehen; wenn sie nicht von solchen kommt, die sich zu hoch anschlagen und die mindere Schätzung von Seiten Anderer ein Mißverständniß nennen.

Als ob nicht ein reicher Geist mit seiner innerlichen Unendlichkeit so gut ein unverstanden wandelnder Stern bleiben müßte, wie jeder am Himmelszelt! Der Geist, der ganz verstanden wird, ist ein armer Geist! –

Clotilde war erzogen worden wie die meisten jungen Damen, das heißt, höchst unzulänglich. Aber sie besaß einen großen Durst, sich zu unterrichten. Benedict war ihr deshalb eine anziehende Erscheinung; man sah ihm an, daß er viel wußte. Doch war es nicht leicht, von ihm zu lernen, oder nur etwas zu erfragen: er schweifte ab, er ergriff lieber die Gelegenheit, sich auszusprechen, als auf den Gedankengang des Anderen einzugehen. Es war der ganze Egoismus des Denkers in ihm.

Clotilde hatte bis jetzt durch ihn noch nichts gelernt, nur hie und da die Erklärung einer Sache, die sie längst kannte und wobei sie wie alle Frauen, denen man etwas erklärt, das sie zufällig schon wissen, gewaltig böse wurde. Am liebsten hätte sie von ihm das Geheimniß seines eigenen Characters gelernt, denn er hatte ein Geheimnißvolles, ein ganz Besonderes für sie, und sie fühlte ein seltsam heftiges Verlangen, in das innere Leben dieses Characters zu schauen, das Räderwerk dieser eigenthümlichen Organisation sich mit dem Finger weiblicher Neugierde auseinander zu legen.

Sie fühlte sich anders werden in seiner Gegenwart, als sie früher je gewesen, – es kam ein Anflug von leiser Coquetterie und zugleich von Mißvergnügen mit sich selbst, über sie; und in demselben Augenblick, wo sie fühlte, daß ein muthwilliger Scherz sie in Männeraugen reizend und allerliebst machen mußte, gerieth sie oft in eine Verlegenheit, welche sie mit einem scheuen, bittenden Ausdruck von Taubenhaftigkeit in ihren blauen Augen seitwärts auf Benedict's Züge blicken ließ.

Der Legationssekretär führte Emma an ihren Platz zurück und machte jene moderne, sonderbare Verbeugung, wobei ein Mann den Kopf auf die Brust fallen, die Arme schlaff herabhängen und die Augen zu Boden sinken läßt, als ob die Demuth eines Capuziners in ihn gefahren. Dann setzte er sich neben sie, und zu ihrem Schrecken nahm Clotilde wahr, daß sie über Benedict sprachen. Es machte ihr ein höchst unbehagliches Gefühl, daß diese beiden Menschen über ihn redeten. Keinen Falls konnte sie es über sich gewinnen, diesem Gespräche ruhig einen eigenen Verlauf zu lassen und nicht berichtigend hie und da das Wort zu nehmen.

»Aber Emma, das ist ja gar nicht wahr!« sagte sie, ihre Freundin unterbrechend; »es war allein ein Irrthum unseres tauben Kutschers, der geglaubt hat, mein Vater – er ist an jenem Abend noch sehr spät beim Minister gewesen, weil wichtige Depeschen angekommen waren – sei endlich nach langem Warten eingestiegen. Mein Vater ist Anfangs wol verdrießlich und über das Schicksal seiner Equipage besorgt gewesen; als er aber gesehen, daß dieser Zufall den Sohn eines Universitätsfreundes ihm in's Haus gebracht hat, war er bald versöhnt.«

»Aber ohnmächtig ist er doch geworden, liebe Clotilde!«

»Nun ja, das ist auch wol möglich, Herr von M.,« versetzte Clotilde, sich zu dem Diplomaten wendend, »wenn man wie durch Zauberei, ohne zu wissen wohin, davon geführt wird und sich plötzlich aus der stockfinsteren Nacht in eine gespenstische Beleuchtung dem Zerrbilde eines wieder gehenden Grabbewohners gegenüber sieht. Sie wissen, wir hatten an dem Abend eine kleine Gesellschaft, und dafür die Darstellung von lebenden Bildern arrangiert.«

»Ich hörte davon,« antwortete der Legationssecretär; »Sie hatten eine Scene aus der Ahnfrau »Die Ahnfrau« (1817), Drama von Franz Grillparzer, eines jener »Schicksalsdramen« jener Jahre. – Anm.d.Hrsg. gewählt.«

»Ja wol,« fuhr Clotilde fort: »dort standen wir, links Graf Alberg als Jaromir und ich als Bertha neben ihm, – rechts mein Oheim und Herr von Saint Erlong als Graf Barotin und als Burgvoigt. Jene Thür, die rechts in den Vorsaal führt, war mit einer Draperie verhängt; aus der Thür zur Linken, dem Cabinet da, trat die Ahnfrau hervor. Ein großer, mit Gaze überspannter Rahmen trennte uns von den Zuschauern. Nun hob sich just in demselben Augenblick, in welchem die Ahnfrau in das Bild trat und wir mit der Pantomime des höchsten Schreckens uns zu ihr wandten, die Draperie rechts und der Fremde trat herein.«

»Und spielte den Erschrockenen so natürlich mit, daß er am Ende in allem Ernst ohnmächtig am Boden lag!« sagte lächelnd Herr von M.

»Nun ja, der Anblick mußte um so überraschender auf ihn wirken, als meine Mutter, welche die Ahnfrau machte, in der That so schreckenerregend und grauenhaft aussah, daß auch ich, obwol vorbereitet und eingeweiht, mich ernsthaft fürchtete; und um so mehr mußte dieß ein Fremder, der zudem wegen seiner Stellung nicht gleich wahrnehmen konnte, daß noch andere Leute außer der eben so sonderbar gekleideten als beleuchteten Gruppe und der gräulichen Erscheinung da waren.«

»Es gehören doch schwache Nerven dazu,« warf der Diplomat ein, mit einem Tone, der Clotilde etwas ärgerlich und doch zögernd antworten ließ:

»Nun ja, vielleicht. So viel ist gewiß, daß der Arzt, den Herr Vollrath verlangte und der ihm zur Ader ließ, uns Allen verboten hat, nach dem eigentlichen Grunde zu fragen, weßhalb jene Erscheinung so erschütternd auf ihn wirkte.«

»Das sieht ja aus, als ob ein Geheimniß dahinter steckte,« sagte Emma; »was mag das seyn? Da muß ich noch heute an dem Arzt eine Eroberung machen, um ihn auszuforschen!«

»Ich mag die Tableaux jetzt gar nicht mehr,« fuhr Clotilde fort: »sie sind mir immer unbehaglich gewesen; das Bild ahmt das Leben nach und wir ahmen nun wieder das Bild nach! Was soll denn nur eigentlich dieß Darstellen einer durch irgend einen Zauber plötzlich erstarrten Gruppe? Wenn man noch dabei sich vorstellen könnte, woher dieser Zauber kommt, was ihn bewirkt hat, wenn er noch der Phantasie eine Perspective eröffnete oder auf einen mystischen, der Einbildungskraft Spielraum gewährenden Hintergrund deutete! Aber nichts von Dem, ein Zauber hält diese Gestalten fest, ohne daß irgend Jemand sich einzubilden vermag, was die festbannende Formel seyn kann und wer sie ausgesprochen? Weßhalb stellt man das Erkaltete, Starre, das Todte überhaupt nur dar, und dazu noch in die Farben des Lebens gekleidet, um es noch unheimlicher zu machen? – statt die Leistung der Malerei durch Bewegung, durch Vervielfachung der Momente (da sie ja nur einen festhalten kann) und dann auch durch die Wahrheit der Lebenswärme zu vervollkommnen und zu erhöhen?«

»Aber, mein Fräulein, Sie sind undankbar,« versetzte der Legationssekretär: »Sie gerade machen in Tableaux eine so unvergleichlich imposante Figur!«

Clotilde hatte diese Antwort auf ihre Fragen nicht gewollt, sie stand auf, um mit einer ältlichen Dame ihr gegenüber ein Gespräch anzuknüpfen.


V.

Der Ministerialrath M. hatte Benedict eingeladen, oft das Landhaus zu besuchen, welches, ungefähr anderthalb Stunden von der Residenz entfernt, ihm und seiner Familie von den ersten Lenzmonaten bis tief in den Herbst hinein zum Aufenthalt diente. Clotilde liebte das Freie, die frische Luft, das Land, und der Ministerialrath liebte nur sie, seine einzige Tochter, er gab deshalb gern ihren Wünschen nach.

Benedict, der sonst nicht leicht aus dem Kreise seiner Beschaulichkeit gerissen wurde, gab dafür wieder gern dem Wunsche des Ministerialraths nach, und so kam es, daß er viele Tage in Dolenstein – so hieß das Landhaus – zubrachte, und wenn ihn zu früh der Abend überrascht hatte, manche Nacht dazu.

Auch Heinrich begleitete seinen Freund oft hinaus, obwol für kürzere Zeit; wenn der Ministerialrath dann nicht gerade in der Stadt in seinen Büreau's beschäftigt war, sah man ihn dann oft mit dem Arzt, wie in geheimer Unterredung, sich entfernen und Benedict und Clotilde allein lassen.

Es war ein schöner Mai-Abend. In den Gartenanlagen, welche einen weiten Flächenraum hinter dem Gute Dolenstein bedeckten, dufteten nach einem frisch gefallenen, warmen Regen das junge Grün, die Maiglocken, der Flieder. Es war etwas Warmes, Wonniges in der Luft; das junge Buchenlaub, die aus der Knospenhülle noch zart gefältelt hervorbrechenden ersten Blätter der Birke, die Rasenstrecken so hell, so zart und lieblich gefärbt, der Himmel so klar und weich in seiner Bläue.

In einem der entlegeneren Theile der Anlagen befand sich ein kleiner Weiher; die Erde, welche man ausgegraben, um ihn anzulegen, bildete einen Hügel, besetzt mit Weihmuthskiefern und mit Lerchentannen, die jetzt ihre gelbgrünen, jungen Nadeln in dichten Büscheln, wie kleine Reiherbüsche, und schöne, hellrothe Ansätze zu den Saamencapseln trieben.

Von der Anhöhe übersah man ein großes Stück Rasengrundes, einen reinen, klaren Teppich, auf den von der rechten und linken Seite her der Fuß der wie Coulissen vorgeschobenen Gebüschparthien trat, die schon zart angedeutet die verschiedenen Nüancierungen des Baumschlags zeigten, welche der Herbst so prachtvoll entwickeln sollte.

Ueber dem Gebüsch in einiger Entfernung sah man die weißen Essen des Landhauses ragen. Eine Schaar von Staaren hüpfte schreiend auf dem Rasen umher, über dem Weiher wirbelten unzählige Mücken in still summendem Tanze, der Schilf im Wasser zitterte, wenn sich eine Phaläne, deren Puppe daran befestigt gewesen, losrang aus der Hülle und nun fröhlich auf flatterte; es lag eine stille Feier in der Natur, zu welcher die einfache und gutgemeinte Choralmelodie der Frösche aus allen Teichen in der Gegend zusammenklang.

Auf einer Gartenbank unter den Bäumen, die den Hügel bedeckten, hatte sich Benedict ausgestreckt und horchte dem kurzen Grunzen des Igels, der schleichend im dürren Laube raschelte; sah dem Käfer zu, der sich durch den Sand wühlte, oder folgte mit dem Auge dem Fluge einer Schwalbe, deren Schatten so eben wie ein schwarzer Fleck über den Spiegel des Teiches geschossen war.

Von den vielen Dingen, die sein Leben lang beunruhigend und quälend durch seine träumerische Natur gezogen waren, auf die sich das große und ungestillte Liebesbedürfniß seiner Seele, der Grund alles seines Harmes, geworfen, hatte Benedict noch keines so innerlich tief ergriffen, wie das, worüber er jetzt brütete, und das nichts Geringeres war, als die Aeußerlichkeit der Frauen-Charactere – oder vielmehr des Frauencharacters; denn für seine Gedanken gab es in der letzten Zeit nur noch einen Frauencharacter, nämlich den Clotildens.

Nicht als ob er an und für sich diese Aeußerlichkeit verwünschte: nein, er sehnte sich eigentlich darnach, sein Wesen durch eine gesunde, frische und verständige Auffassung der äußeren Dinge zu ergänzen, eine Heilung für seinen zu sehr nach innen gewandten Sinn daran zu finden. Deßhalb liebte er, noch halb unbewußt, Clotilden; er sah in ihr diese ersehnte Ergänzung.

Aber er stand jetzt vor dem gesunden, nach außen gewendeten Sinn wie ein muthlos Verzagender, in der Ueberzeugung, daß eine Natur wie die seine mit all ihrer für Charactere ohne tiefes, inneres Leben nie begreiflichen Gränzenlosigkeit, mit dem Vagabundenartigen ihrer bald hier, bald dort, bald auf den höchsten Bergen, bald in den tiefsten Gründen schwärmenden Gedanken, nie Liebe finden könne bei den anders organisirten, lebenstüchtigeren Characteren, welche ihn umgaben.

Er fürchtete, daß Clotilde im Innern seiner spotte, daß sie ihn unmännlich, ja lächerlich finde – schon wegen seiner Ohnmacht bei einem Spiel mit phantastischen Bildern, die unmöglich geeignet, einem Manne von Muth und Entschlossenheit Furcht einzujagen: um sich zu rächen an dieser Clotilde, wie er sie sich dachte, nannte er sie äußerlich – bemitleidete er ihr ganzes Geschlecht wegen seines Ausgeschlossenseyns von dem Reiche des wahren Lebens, von dem Reiche der Gedanken, und sann mit philanthropischer Bekümmerniß über die Mittel und Wege nach, die Frauen nicht für das Leben, sondern für das Denken zu emancipiren.

Clotilde ihrerseits hatte seit einiger Zeit an einem anderen Harme zu zehren. – Sie sehnte sich nach einer Theilnahme an ihrem aufblühenden, inneren Leben, nach einem Verständniß der Psyche, die, lange von dem Lärm des Alltagstreibens eingelullt und in Schlummer gehalten, zu erwachen und ihres Daseyns inne zu werden begann; die in ihr die zarten und schwachen Schwingen regte, aber für ihre Jugendlichkeit des Rathers, des Beistandes, der Pflege und des Schutzes bedurfte, um groß und schön sich entwickeln zu können.

Dieß Bedürfniß war zur höchsten Lebhaftigkeit gestiegen, als so plötzlich, wie vom Mond gefallen, ein fremder, junger Mann in ihren Lebenskreis trat, dessen Denkrichtung und ganze Erscheinung den Reiz des Fremdartigen und Originellen hatte, aus dessen Augen Liebesfähigkeit und der Zutrauen erweckende Ernst sprachen, den die Frauen vor Allem zuerst fordern, da der Ernst ihnen Größe des Characters, und die Charactergröße Größe der Leidenschaft verheißt. Clotilde sah in Benedict, was sie vergeblich gesucht hatte, den Pfleger, den Beistand für ihre wachsthumdurstige Psyche.

Aber – war dieser Mensch eine monumentale Gestalt, welche durch ihr Daseyn und ihre Form von einer Geschichte spricht, in der sie einst eine Rolle spielte, zu deren Erzählung sie aber nie den Mund öffnen wird? Es war für sie wie eine Schranke um ihn gezogen, ein Gitter, das eine abwehrende Schildwache, der Humor Benedicts, bewachte; er war wie ein seltener Baum, um den man zur Abwehr Dornen flicht; Benedict hatte Dornen für Clotilde, die sie nicht bis zu ihm dringen ließen.

Sie glaubte aus seinem Wesen schließen zu können, er achte sie gering, er verspotte sie, als ob sie mit Geist coquettire, wenn sie doch nur die aufrichtigsten Fragen, die aus einem Bedürfnisse ihrer Seele hervorgingen, an ihn richtete.

Er liebte, ihr mit dem Humor zu antworten, den die Frauen so langweilig finden – und der bei ihm doch Nichts war, als die Furcht, sie werde seinen Ernst zu langweilig, zu abstract, zu innerlich, zu grillenhaft finden. Oder fürchtete er, daß ihm nach seiner Ohnmacht nie mehr gelingen werde, vor Clotilden's Augen eine ernsthafte und Achtung einflößende Figur zu spielen, und versuchte er's deßhalb mit der amüsanten, mit der geistreichen? Jedenfalls glaubte Clotilde wahrzunehmen, daß er geflissentlich kein gegenseitiges Nähertreten, keine gegenseitige Theilnahme wolle und durch Scherz abwehre.

Sie verwünschte nun die Erziehung der Frauen, die Stellung derselben zur Gesellschaft und zur Welt, welche sie ewig für große Kinder halte, und zum ersten Mal in ihrem Leben fiel ihr die Verkehrtheit in ihrer ganzen Größe aufs Herz, daß man die Frauen nicht zu Geistes- und Gedankengenossinnen des Mannes erziehe. Und da sie durch Benedict's Kälte natürlich verletzt wurde, verwünschte sie die geistig-bedeutenden Männer sammt und sonders, weil sie, so stolz auf ihre Vorzüge, sich nicht einmal zu den Frauen herunterließen, die doch nicht durch ihre eigene Schuld, sondern durch den hauptsächlich von den Männern gemachten Weltlauf so äußerlich geworden und geblieben.

Clotilde wandelte in den Anlagen umher und Benedict sah sie einen gewundenen Pfad, der zu einem Hügel führte, heranschreiten. Sie hatte die Augen auf den Boden gerichtet; als eine Schaar Staare vor ihr aufflog, sah sie empor und gewahrte Benedict. Sie wollte im ersten Augenblick umkehren – aber nein, es wäre auffallend, es wäre albern gewesen; sie schritt weiter. Sie fühlte ihren Gang etwas schwankend werden; wie um ihn zu festigen, warf sie stolz den Oberkörper zurück und legte die Arme über den Gürtel leicht auf einander; doch schienen die Gesträuche und Gräser, die an ihrem Wege standen, bald rechts, bald links, eine ganz besondere Aufmerksamkeit von ihr zu verlangen; denn sie blickte abwechselnd dahin, als ob sie in diesem Augenblick von Nichts in der Welt angelegentlicher in Anspruch genommen werde, als von Blättern und Gräsern.

Sie trug ein weißes Kleid und zum Schutze gegen die Abendkühle eine Kafawaika von violetter Seide mit schwarzem Sammtbesatz darüber; ihr glatt gescheiteltes Haar war hinten in einer so langen und dichten Flechte aufgewunden, daß es schien, sie müsse, wenn sie den Kopf zurückwerfe, mit dem schwer herabhängenden Reichthum ihres braunen Haares den Nacken berühren können.

Benedict hatte sie nie so schön gesehen; ihre regelmäßigen Züge hatten trotzdem, daß sie mit geraden, ausdrucksvollen Linien wie von einer festen Hand gezeichnet schienen – von einem Künstler, der in classischer Einfachheit die höchste Schönheit gesucht – etwas Weiches, Kindliches, einen romantischen Reiz, und da sie etwas mehr als gewöhnlich geröthet waren und die Augen glänzender strahlten, so leuchtete aus ihnen eine gehaltene und süße Schwärmerei, die so ganz mit dem duftigen Frühlings-Abend in Harmonie stand, welcher sie geweckt haben mochte.

Als sie näher kam, brach sie eine Fliederdolde und zerrupfte die Blüthen. Benedict stand auf und ging ihr entgegen.

»Seit wann botanisieren denn die Blumen, Fräulein Clotilde?«

»Sie sind fade, Benedict – oder boshaft« – versetzte sie, etwas gereizt und forschend ihn anblickend, ob er vielleicht über ihr verlegenes zur Seite sehen nach den Gräsern scherze.

»Boshaft? weßhalb? nein – aber fade, das ist eher möglich. Doch weßhalb, Clotilde, soll ich Sie nicht eine Blume nennen? Die Frauen sind alle Blumen, oder Pflanzen mindestens, die einmal hätten blühen können, vielleicht noch werden.«

»Ich weiß es, Ihr betrachtet uns Alle als Blumen, als Geschöpfe, deren Verdienst in Euren Augen nur die Blüthe, das Farbige ist.«

»Goethe sagt: Am farbigen Abglanz haben wir das Leben,« versetzte Benedict.

»Aber der farbige Abglanz hat kein Leben, keinen Werth für sich.«

»Er verräth es, er kündigt es an.«

»Bei der Blume nicht; es ist keines da. Wir sind keine Blumen, Benedict; wer uns so nennt, beleidigt uns, entwürdigt uns!«

»Nun wahrhaftig,« versetzte Benedict lächelnd, »können Sie leugnen, daß Sie gerade jetzt eine Sensitive sind?«

Sie setzte sich auf die Bank, welche Benedict vorher eingenommen hatte, während er, seinen Arm um den Ast einer Lerchentanne schlingend, vor ihr stehen blieb.

»Ihr müßt das letzte Wort behalten, freilich,« fuhr sie scherzend fort, »und ich muß mich gefangen geben. Also ich bin eine Blume: aber welche Farbe habe ich und wann blühe ich, im Lenz, im Sommer, oder im Herbst?«

»Im Winter!«

»Das heißt, ich bin eine Treibhauspflanze, und ich wette, Sie sind im Begriffe hinzuzusetzen, meine Farbe sei die der Mode! Es ist ein schmeichelhaftes Bild, das Sie sich von mir machen! – Sagen Sie, wodurch habe ich Ihnen Veranlassung gegeben zu einer so schlechten Meinung?« setzte sie mit einem Tone der Stimme hinzu, der Benedict bis in's innerste Herz drang; er sah, daß ihre Augen feucht geworden waren.

»Habe ich Sie beleidigt, Clotilde? O Gott, ich kann es mir denken! Es ist nicht das erste Mal, daß ich da beleidige, wo ich es am wenigsten möchte. Sagen Sie mir, wie kann ich es abbüßen?«

»Sie haben mich seit lange beleidigt, ja, fast so oft ich mit Ihnen gesprochen habe; mich und mein Geschlecht; Sie schätzen uns gering, und da liegt Ihr Unrecht. Mich mögen Sie immerhin ganz so schätzen, wie ich Ihnen scheine; – aber bei anderen Frauen dürfen, sollen Sie nicht nach dem Schein urtheilen! – Wie Sie es abbüßen können? durch Reue: und diese Reue sollen Sie zeigen, indem Sie ein weibliches Wesen – wozu ich unmaßgeblich mich selber vorschlage – Ihres Vertrauens würdigen. Sie fühlen sich unglücklich, es zehrt ein Kummer an Ihnen, Sie leiden geistig und körperlich, Sie sind krank! Ich bitte Sie um Gotteswillen, gehen Sie nicht so verschlossen an Denen vorüber, deren Theilnahme Ihnen aus aufrichtigem Herzen entgegenkommt. Glauben Sie mir, es steht Ihnen schlecht, dieß Verschlossenseyn, das die Männer für einen Ihrer würdigen Stolz halten und das doch nichts als ein falscher Stolz und Eigensinn ist.«

»Es freut mich, Clotilde, daß Sie mich unrecht beurtheilen.«

»Ich möchte weinen aus Aerger!« sagte Clotilde, »immer diese Paradoxen, diese Scherze, und nie ein Wort, das zeigt, Sie halten mich für etwas anderes, als ein Kind. Sie sagten vorhin, es sey möglich, daß Sie fade gewesen. Weßhalb nur sind Sie fade uns gegenüber? schämen Sie sich!«

Sie stand auf und schien gereizt sich entfernen zu wollen. Benedict ergriff ihren Arm, zog sie auf die Bank zurück und setzte sich an die andere Seite derselben.

»Es freut mich, daß Sie mir ein Unrecht thun, weil ich eben eingesehen, daß ich Ihnen ein weit größeres gethan; und indem wir nun gegeneinander aufrechnen können, hoffe ich für den Ueberschuß an Unrecht, der auf meiner Seite ist, eher Ihre Verzeihung. Ich bin nicht von Natur verschlossen; aber ich schweige, weil ich eher Verspottung als Verständniß von meiner Umgebung hoffe. Ihrer Theilnahme, die mich beglückt, will ich gern Alles vertrauen, was ich zu vertrauen habe. Es ist nicht viel und bald gesagt; aber es ist von Anderen, in denen sich die Welt anders spiegelt als in mir, nicht zu begreifen, und ich bin überzeugt, auch Sie werden die Theilnahme, deren Sie mich jetzt versichern, nicht recht mehr fühlen; Sie werden mich für ein Kind halten, für krank an einem Leiden, das mich nichts angeht: denn mein Leiden ist das der Welt, und wer vernünftig ist, hat mit der Welt nichts gemeinsam. Ja, ich leide mit der Welt; ich fühle die Wunden mit, welche sie selber in ihrer Thorheit sich schneidet, oder welche eine finstere Macht, die mir über allem Leben zu herrschen scheint, ihr versetzt. Sie müssen eingestehen, daß man auf diese Weise viel zu leiden haben kann!«

»Gewiß, recht viel,« versetzte Clotilde, »aber ich fühle deshalb noch nicht, wie tief. So tief, um dadurch die eigene Existenz verkümmern zu lassen? Ich verehre diese Fähigkeit des männlichen Herzens, so tief für das Allgemeine, für die Menschheit zu fühlen. Aber sie ist mir darum nicht minder ein Räthsel; ich bin zu egoistisch, um für etwas Anderes leiden zu können, als für Das, was ich liebe. – Die Welt! wie ist das abstract! Auch Sie sind mir noch zu abstract, Benedict: ich will einen besonderen Gram wissen, der Sie drückt, der Sie so blaß, so menschenscheu macht. Vertrauen Sie mir an, weßhalb z. B. an jenem Abend, als Sie zuerst zu uns kamen, die Gestalt der Ahnfrau einen so erschütternden Eindruck auf Sie hervorbrachte? Ich weiß, daß Ihrem auffallenden Ergriffenseyn, Ihrem Krankwerden in Folge jenes Anblicks etwas Anderes zum Grunde liegt, als die bloße Ueberraschung. Ja, ich weiß es, läugnen Sie nicht. O, sagen Sie mir, was lag für Sie in jener Scene, das so schrecklich auf Sie wirken konnte?«

Clotilden's Worte rollten einen Stein von Benedict's Herzen; sie berührte einen Punkt, den er immer scheu im Gespräche mit ihr vermieden und doch so gern erwähnt hätte, um sich rechtfertigen zu können. Er antwortete: »Es war freilich nicht blos die Wirkung der Ueberraschung, welche mich – ich befürchte sagen zu müssen – eine lächerliche, wenigstens unmännliche Rolle in Ihrer Darstellung übernehmen ließ. Um Ihnen die Erklärung geben zu können, die Sie von mir heischen, muß ich Ihnen eine Geschichte erzählen, welche ich noch Niemandem als meinem Arzt anvertraut habe, aber Ihnen zu verschweigen keinen Grund mehr finde. Es ist eine Geschichte, die man an einer solchen Stelle, wie diese ist, am besten anhören kann, wenn die Schatten, die sie heraufruft, sich mit den Schatten der Aeste und der Gesträuche, welche der herandämmernde Mondschein webt, vermischen, wenn man ihre klagenden Stimmen in dem Nachtwind zu hören sich einbilden kann, der durch die Nadeln der Kiefern über uns zu rieseln und zu schneiden beginnt. In der Ahnfrau Ihres Tableau's glaubte ich wahr und wirklich ein Schreckensbild meiner Nächte, eine Art Vampyr, dessen Opfer ich bin, und der an meinem Leben zehrt, vor mich hingetreten. Es ist eine Qual, der ich seit mehren Jahren unterworfen bin und die ich Ihnen nicht beschreiben kann, – die nur mit meinem Leben endigen wird – was freilich bald sein mag! Mein Freund, der Arzt, nennt es einen Alp: aber welches Gewicht hat für mein lebendigstes Gefühl, für das Zeugniß meiner Sinne ein Name, ein beruhigendes Wort der Pathologie! Nein, es ist nicht eine in mir wohnende Krankheit, es ist eine äußere, feindselige Macht, die fast Nacht um Nacht aus dem Grabe emporsteigt, um, über mich gebeugt, an meinem innersten Mark zu zehren, wie der Geyer des Prometheus – mit dem Unterschied, daß mein Blut nicht nachwächst und es daher mit mir zu Ende geht. – Es ist eine weißgekleidete, weibliche Gestalt, todtenbleich, starr, grauenhaft wie Ihre Ahnfrau es war, nur auf den fahlen Lippen Tropfen des frischen Blutes, das sie sauget. Es ist ein Weib, das seit Jahren gegen mein Geschlecht wüthet, weil mein Urgroßvater sie ermordet hat. Seitdem sind mein Großvater und mein Vater vor der Zeit gestorben; derselbe Dämon hat sie fortgerafft, der auch mich quält. – In jener Zeit, als noch die individuellen Entwickelungen ungehinderter waren; als der Mensch noch mehr seine Kraft und weniger das Gesetz fühlte; als in einfacheren Lebensverhältnissen noch That und Unthat in grelleren Farben, in maßloserem Ueberschreiten sich geltend machte, da hat die Leidenschaft meines Ahns den Fluch auf uns gebracht. Er hat die Stiefmutter seiner Verlobten erschlagen, weil diese das Mädchen durch Mißhandlungen zwingen wollte, in's Kloster zu gehen. Ich will die Geschichte nicht weiter erzählen; sie lautet wie aus einem schlechten Roman genommen; aber leider ist sie kein Roman, sondern wahr, und ihre Wahrheit enthüllt mir die Zeit der Ruhe und des Friedens für alle Anderen, die Nacht, deren ewig wiederholte Schrecken mich aufreiben. Meine Nächte sind mein Tod.«

Während Benedict dieß erzählte, entging es ihm nicht, daß seine Worte einen tiefen, ja erschütternden Eindruck auf Clotilde machten. In so schmerzlicher Aufregung er selbst auch war, unterließ dieß dennoch nicht, ihm ein höchst wolthuendes Gefühl zu verursachen, eine Freude und eine Hoffnung; und so ertappte er sich endlich darauf, daß er, innerlich mehr und mehr getröstet, die Geschichte seines Leidens mit dunkleren Farben und hoffnungsloser darstellte und ausmalte, als sie eigentlich in der That seyn mochte. Es reizte ihn, die Theilnahme Clotilden's immer höher zu spannen, er freute sich des Effectes seiner Geschichte, er berauschte sich darin.

Clotilde antwortete:

»Ich kann nicht ganz an die Wirklichkeit Ihrer Erscheinung glauben; aber die bloße Einbildung ist schon schrecklich genug. Gibt Ihnen denn der Arzt keine Hoffnung, Sie zu befreien, ehe es –«

»Ehe es zu spät ist, wollen Sie sagen. O Gott, ich weiß am besten, daß keine Rettung möglich ist. Doch, ja, es gibt ein Mittel mich zu befreien: ich habe die innerste Ueberzeugung, daß mir die Ruhe wieder gegeben ist, wenn es mir gelingt, meiner Vampyrgestalt mit irgend einer Waffe das Herz zu durchstechen; ich glaube, daß sie dadurch getödtet werden kann.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Nun, es ist eine innere Offenbarung, ich habe den lebendigen Glauben, die feste Ueberzeugung. Aber das Mittel dazu! Ich bin wach, ich bin aller meiner Sinne Herr, wenn es über mich kommt, so gut, wie ich es in diesem Augenblick bin – ich bemerke den geringsten Nebenumstand, sehe die Thür sich öffnen, sehe den Schritt, die leiseste Bewegung der Gestalt, kenne jede Runzel ihres scheußlichen Gesichtes – doch die Bewegung mangelt mir; im Begriffe nach meinem Dolche zu greifen, nehm' ich jedesmal wahr, daß meine Glieder schwer wie Stein, wie festschmiedet sind, und obwol mich der erste Schrei befreit, denn alsdann verschwindet das Phantom, bin ich doch nicht im Stande, den leisesten Laut zu stammeln. Ich muß geduldig zusehen, wie es sich über mich wirft, und erst, wenn der Schmerz in meinem Herzen zu unerträglich wird, gewinne ich die Macht, eine Bewegung zu machen; dann ist Alles vorüber und fort.«

»Doch genug,« fuhr er nach einer Pause fort, »lassen wir es; es thut mir leid, daß ich Ihre harmlose Phantasie mit einem so schrecklichen Bilde erfüllt und in Ihr Gemüth den Schmerz des Mitleid geworfen habe. Ich würde es nie gethan haben, – wenn nicht,« setzte er zögernd hinzu, »mir zu viel daran gelegen wäre, mich wegen eines anscheinenden Uebermaßes von lächerlicher Furcht in Ihren Augen zu rechtfertigen.«

»Benedict!« sagte Clotilde weich, und fuhr dann fort: »ich bitte Sie, führen Sie mich nach Hause, es dunkelt!«


VI.

Heinrich,« sagte Benedict am anderen Tage zu seinem Freunde, »ich bitte Dich, versuche noch einmal Deine Kunst an mir; ich will Dir ja gern glauben, daß meine nächtlichen Gesichte nichts als Hallucination, nichts als der Alp sind, aber ich bitte Dich, heile mich endlich davon; ich möchte zu gern zu einem frischen, thatkräftigen Leben genesen; es scheint mir plötzlich so heiter und klar, dieß Leben, wenn man es von der rechten Seite anzufassen weiß; o ich könnte ihm einen unendlichen Reiz abgewinnen, – und alles Düstere, alles Traurige vergessen; ich fühle Muth, mitten in's Getümmel mich zu stürzen; aber dieß vermaledeite Siechthum, diese Nerven! O gib mir ein Mittel! ich thue Alles, was Du willst, ich schlucke ein Meer von Deinen Tropfen, ich thue das Alleräußerste, was einem lebendigen, nicht zu dem Geschlechte der Biber gehörenden Wesen angesonnen werden kann, ich gebrauche die Wasserkur – nur schaff” mir den Alp vom Leibe!«

»Benedict!« rief Heinrich freudig überrascht aus, »ei, mein Gott, Du bist ja schon zur Hälfte genesen; Deine fixe Idee ist ja fort! wie geht das nur zu? Nicht wahr, Du siehst ein, daß Du nur an einem, durch eine häufige Wiederkehr verschlimmerten Alpdrücken leidet?«

»Nun, nun, nicht so rasch! so weit sind wir noch nicht; aber ich gäbe viel darum, wenn ich es glauben und der Hoffnung der Genesung leben könnte!«

»Du beginnt doch mindestens, an Deiner abenteuerlichen Stiefmuttergeschichte einen gelinden Zweifel zu fassen? Und wer hat dieß Wunder bewirkt?«

»Clotilde, oder vielmehr –«

»Dacht' ich's doch!« rief lächelnd Heinrich aus. »Was dachtest Du? Du Sensualist, Du Mann der Materie, Du Simsongeschlagener, Du Fuchsschwanzfackeln-beschädigter Philister!«

»Ich habe meine Geschichte Clotilden mitgetheilt; und, denke Dir, wie ich recht so mitten im Erzählen bin, da fällt mir plötzlich ein: aber ist denn das Alles auch wirklich wahr? es wurde mir so seltsam traumhaft zu Muthe, und am Ende kam ich mir sammt meiner Geschichte wie eine Fabel vor. Und jetzt bei diesem heiteren Morgen, dessen Sonne so klar und sorgenbannend in's Fenster schaut, als gäb' es gar keine Nacht, ist mir es wieder so, als sey ich ein Thor, der das Leben verträumt, statt es mit beiden Armen zu ergreifen. Ach, – die nächste Nacht vielleicht wird mich eines Anderen belehren!«

»Ich kann Dich versichern,« sagte Heinrich, seinen Freund mit einem schlauen Ausdruck eines Blickes beobachtend, »daß Deine Geschichte auf Clotilden einen großen Eindruck gemacht und sie mit tiefer Theilnahme erfüllt hat. Sie hat mich heute zu sich rufen lassen; als ich kam, schien sie verweinte Augen zu haben und sah so angegriffen aus, daß ich glaubte, sie wolle meinen Beistand. Aber was war's? sie wollte nichts, als tausend Fragen über fixe Ideen an mich stellen. Ich habe Ihr Alles mitgetheilt, was ich über die Materie wußte und noch ein halb Mal mehr. Ich habe Ihr gesagt, daß an der Deinigen meine Kunst gescheitert sey: und daß man sie schonen müsse, und daß nur, indem man ihr nachgebe und von dem Standpunkte der fixen Idee selber ausgehe, mir eine Heilung möglich scheine.«

»Und was hat sie geantwortet?«

»Ja, du lieber Gott, Vieles; aber Du weißt, uns Aerzten gewöhnt das Symptome-Aufzählen unserer Patienten eine leidige Zerstreutheit an. Man kann unmöglich Alles anhören, was man schon weiß. Aber ich muß zur Stadt zurück. Du wirst die Nacht über hier bleiben, nicht wahr? Ja, thu' das; ich verordne Dir die Landluft von Dolenstein als Vorkur, vielleicht kommt dann die einen Monat dauernde Honigkur, welche die wirksamste von allen ist, hinterher. Ich hoffe, sie schlägt an. Behüte Dich Gott bis dahin, mein armer Freund.«

Der Arzt eilte hinaus, um in seiner Droschke, die unten vor der Gartenthür hielt, zu seinen anderen Patienten in der Stadt zu kommen.

Benedict blieb – gehorsam den Vorschriften seines Freundes. Doch wurde ihm der Tag recht lang; weder zu Mittag noch zum Abendessen ließ Clotilde sich blicken; sie hatte sich auf ihrem Zimmer eingeschlossen und wollte Niemand sehen, zur großen Beunruhigung der Ihrigen, welche solche einsiedlerische Neigungen früher nie an ihr wahrgenommen hatten. – Aber – gehen nicht oft noch ganz andere Veränderungen in dem Herzen eines Weibes vor, als dieß Suchen der Einsamkeit, worin die lebenslustige Clotilde sich einspinnt? Welche Veränderung geht mit der Aloe vor, die Ihr nur einmal blühen seht, wie das Gemüth eines Weibes? Wo ist die grüne, stille Knospe geblieben, wenn der rothe, flammende Kelch ausgeschlagen?

Wer weiß, welche Gedanken, welche neue, plötzlich aufgeblühte, sinneberauschende Gedanken unter der hohen Stirne Clotilden's glühen?

Niemand hat sie beobachten können an jenem Tage, den sie einsam auf ihrem Zimmer zubrachte.


VII.

Benedict blieb den Tag über in Dolenstein, und als er nach dem Nachtessen mit dem Ministerialrath in ein lang sich ausspinnendes Gespräch gerathen, ließ ihn der Hausherr, der eine ganz besondere Vorliebe für ihn gefaßt zu haben schien, nicht mehr in die Stadt heimkehren, sondern geleitete ihn auf sein Zimmer, das ein für allemal für ihn in Bereitschaft stand.

Benedict fühlte, als er sich zur Ruhe gelegt hatte, zum ersten Mal in seiner ganzen Gewalt und Macht den Einfluß, den Clotilde auf ihn übte: der Umstand, daß er sie den Tag über nicht gesehen, hatte ihm eine wahrhaft peinigende Sehnsucht nach ihrem Anblick verursacht; jetzt aber ergriff ihn zudem eine so quälende Sorge und Unruhe um sie und über die Gründe ihrer Zurückgezogenheit, es stachelten ihn so sehr die lebhaftesten Gewissensbisse, daß er wahrscheinlich durch seine Klagen, die er in diesem Augenblick fast mit derselben Heftigkeit wie seinen Dämon vermaledeite, ihre Ruhe und Harmlosigkeit erschüttert – daß es ihm klar wurde, er habe seine ganze Seele an sie dahin gegeben. Ein seltsames Gefühl! eine Art Grimm, sich mit jedem Gedanken und mit jeder Fiber des Herzens in der Gewalt eines fremden Wesens zu wissen: und wieder ein Schwelgen in einer Entzückung, ein Gefühl von der Poesie der Unendlichkeit! Benedict kannte sich nicht mehr.

Er hörte nach der Reihe die Stunden der Nacht von einer großen Wanduhr unten im Corridor schlagen, deren Klang hell durch das ganze, todtenstille Landhaus hallte.

»Drei Viertel auf Ein's«, sagte er: »nun kommt auch noch der Mond, der mich immer wach hält; ich hoffe, ich schlafe die Nacht nicht und bleibe einmal wieder verschont!«

Vor seiner Thür ließ sich ein Geräusch hören. Es faßte leise den Drücker am Schlosse an und öffnete. Benedict erbebte; ein Todeserkalten legte sich über ihn, machte seine Glieder schwer wie Blei, schnürte ihm mit den Fesseln der Angst den Athem fest – das Phantom, das scheußliche Vampyrwesen, dem sein Leben verfallen schien, schwebte in seine Schlafkammer, es stand zögernd einige Augenblicke in der geöffneten Thür und kam, von einigen spärlichen Mondstrahlen beleuchtet, näher – ganz wie er es kannte und fürchtete!

Aber nein, Benedict riß weit die Augen auf; er fühlte, wie seine Wimper sich bewegte, er erkaltete nicht, seine Glieder waren nicht schwer wie Blei, er war ihrer völlig Herr, er fühlte die Fesseln der Angst nicht die Bewegung seiner Brust hemmen, – kurz, er fühlte, daß er wachte. Wie ein Blitz schoß es durch seine Seele, eine unendlich selige Ueberzeugung: er hatte doch geträumt in seinen Schreckensnächten; er fühlte jetzt, daß es ein anderer Zustand gewesen, ein krankhaftes Schwanken zwischen Traum und Wachen: ja, sein Spuk war eine Einbildung!

Diese Ueberzeugung stieg in wenig Secunden in ihm auf; im nächsten Augenblick hörte er einen unterdrückten Schrei der verschleierten Gestalt, der ihr entfuhr, als er eine Bewegung machte, sich auf zurichten. Sie wandte sich, sie erfaßte wieder das Schloß der Thür, und dann sank sie auf den Boden wie aller Kraft beraubt nieder.

Benedict sprang auf, schlug seinen Mantel um sich und stand im nächsten Augenblick neben der Erscheinung. Sie fuhr empor wie in äußerster krampfhafter Anstrengung. Benedict ergriff ihren Arm – das Mondlicht fiel in ihre todesbleichen Züge – es war Clotilde.

»Clotilde – Sie?!«

Sie hörte nicht, sie entwand sich ihm, sie floh mit athemloser Eile – ihre langen, weiten Gewänder flatterten ihr über den Corridor nach; sie war verschwunden, und in der Ferne schlug heftig eine Thür zu.

Benedict schloß während des Restes dieser Nacht die Wimper nicht mehr.

In stürmischer Aufregung trieb er sich während der Morgenstunden umher. Dann faßte er ein Herz und ohne sich abweisen zu lassen, drang er in die Zimmer Clotilden's. Sie sah blaß und leidend aus: wie gebrochen lag sie auf einer Ottomanne.

»O Gott, schonen Sie mich« – rief sie ihm entgegen – »stellen Sie keine Fragen an mich – ich habe nicht gehofft, daß ich nach dieser Scene leben würde: ich hoffte, Sie würden mich tödten!«

»Ich, Sie tödten!« rief Benedict mit dem Tone der äußersten Ueberraschung aus; »und weßhalb, Clotilde?«

»Um Ihrer Rettung, Ihrer Heilung willen!« versetzte sie, »ich hoffte, Sie würden mich für das Phantom halten, welches Ihr Leben bedroht, Sie tödten will, und von dem Sie nur befreit werden, wie sie mich versicherten, wenn Sie es wach ertappen und niederstoßen. Der Arzt sagte mir, nur durch Nachgeben und indem man vom Standpuncte Ihres – wie soll ich es nennen – Vorurtheils aus Sie behandle, seyen Sie davon zu heilen.«

Clotilde sagte dieß von dem Weinen der höchsten Scham und Verlegenheit vielfach unterbrochen. Ihr Gesicht verbarg sie mit beiden Händen.

»Und Sie wollten für mich sterben, Sie erwarteten den Tod von mir!«

»O Gott, ich sagte es ja, – ja, ja! ich wäre lieber gestorben, als vom Zagen so übermannt und von Ihnen so überrascht zu seyn! Aber,« fuhr Sie plötzlich auf, »ich bitte Sie, Benedict, ich bitte Sie um des Himmels willen und bei Allem, was Ihnen theuer ist, legen Sie meinen Schritt nicht unrecht aus! schieben Sie ihm keinen anderen, keinen thörichteren Beweggrund unter, als bloß und einzig verletzten Stolz. Sie hatten mich, Sie hatten mein Geschlecht beleidigt; ich sah es Ihnen an, daß Sie mich geringschätzten; ich wollte Ihnen zeigen, wessen ein Weib fähig ist, und auch ein geistig auf keiner größeren Höhe stehendes Weib! Ja, ich wollte Ihnen ein großartiges Beispiel von dem Heroismus, der Selbstopferung, der Entsagungskraft in uns geben: nur das wollte ich, Sie heilen und Sie beschämen und mich rächen auf eine Weise, die mich vor mir selber in einem edlen und glänzenden Lichte erscheinen ließ. Ich habe mich nach einer solchen heroischen That gesehnt; meine Gedanken hatten oft im Reiche der Möglichkeit ähnliche Situationen aufgesucht und mit ähnlichen todtverachtenden Lösungen sich beschäftigt. Ich faßte den Muth, nicht zu zaudern, als jetzt die Wirklichkeit mich zur That aufforderte. Ich wollte ein Leben retten, das, wenn es gesundet durch Geist, durch Eifer für Wahrheit und Recht, durch alle die Eigenschaften, womit der Mann nachhaltig in seine Zeit eingreift, unendlich wolthätig wirken konnte; das Mittel war ein anderes Leben, welches unbeachtet, spurlos und ohne Kraft und Gelegenheit, je bedeutsam und wolthätig zu werden, dahinfließt. Durfte ich da Anstand nehmen, durfte ich feig berücksichtigen, daß dieß letztere, werthlose Leben zufällig mein Leben war? – Nein! ich war entschlossen, nach einem heftigen, aber kurzen Kampfe; ich habe Ihrem Dolche trotzen wollen. Daß mir bevorstand, auch der Verkennung meines Schrittes von Ihrer Seite trotzen zu müssen, daran hab' ich nicht gedacht. O Gott, daß ich lebe, Ihnen dieß Alles zu gestehen! Ich bin tief gedemüthigt. Ich habe einen Anlauf zu einer Heldin genommen und nun steh' ich vor Ihnen wie ein unbesonnenes Kind. Ja, es ist eine Kinderei daraus geworden. Nur den einen Trost geben Sie mir, daß Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, mein Entschluß ging aus einem Verlangen nach einer That hervor, das ich hegte, lange bevor ich Sie kannte – und Ihnen gegenüber nur aus verletztem Stolze!«

Benedict's Situation hatte zu viel Vortheilhaftes für ihn, als daß er davon hätte Gebrauch machen können. Er versetzte deshalb:

»Sie nennen Ihr Beginnen kindisch, Clotilde? o, so lassen Sie mich Ihnen zuerst sagen, daß Sie in der That von meinem Phantom mich befreit haben, von dem wenigstens, was für mich das Schreckliche daran war, von einem Aberglauben, meiner fixen Idee, wenn Sie wollen. Ich war wach, als Sie kamen; ich sah allerdings zuerst in Ihnen meinen Quälgeist: aber nach wenigen Augenblicken fühlte ich auch den Unterschied zwischen wahrem, wirklichem Wachen und geträumtem. Ich weiß jetzt, daß ich erträumt habe, was mir früher wesenhafte Wirklichkeit schien. Aber auch in einem höheren Sinne haben Sie mir ein Leben, ein neues Leben gewährt. Ich weiß nicht, ob es zart und feinfühlend ist, in unserer heutigen Situation es Ihnen zu sagen; und doch sind meine Sinne in einem Aufruhr, daß ich eben so wenig weiß, ob ich noch lange das Schweigen werde beobachten können, welches ich mir auferlege. Clotilde, wenn ich nun wirklich in meiner abergläubischen Manie Sie getödtet hätte, haben Sie nicht bedacht, daß ich dann aus Gram über meine That entweder die Waffe, die von Ihrem Blute geröthet, sogleich nach der Entdeckung der Wahrheit hätte gegen mich richten müssen, oder daß ich gestorben wäre aus Schmerz?«

»Ich habe Ihnen schon gestehen müssen, daß ich kindisch war!«

»So kindisch und so unendlich groß, so erhaben, so herrlich, so anbetungswürdig! O hätte ich Worte, mit denen ich sagen könnte, wie groß Ihr Bild sich in meiner Seele spiegelt, mit welcher glühenden Leidenschaft, mit welcher Qual und welcher Seligkeit ich Sie liebe!«

»Sie werden keinen Mißbrauch von der Lage machen wollen, in welche meine Unbesonnenheit mich gebracht hat,« versetzte Clotilde entrüstet. »Ich bin genug gedemüthigt.«

Sie erhob sich und verließ das Zimmer.

Auch Benedict fühlte sich gedemüthigt und zwar bitter und tief. Wie groß und herrlich schien ihm dieß Mädchen mit ihrem Drang nach einer großen That der Selbstverleugnung, mit ihrer rücksichtslosen Opferfähigkeit, wie unendlich rührend bei solcher Seelengröße das Unüberlegte, Kindische ihrer unausführbaren Idee! Er dachte an die inneren Kämpfe, welche sie am verflossenen Tage zu bestehen gehabt haben mußte, während er schon selbst nicht mehr recht an seine nervensieche Laune geglaubt.

Wie klein erschien er sich selber, wie seine Innerlichkeit mit ihrem rathlosen Nichtfortkönnen über den Schmerz und die Thorheit der Welt, mit ihrer unverdaulichen Philanthropie so mattselig, einer solchen »Aeußerlichkeit« gegenüber, wie er sie früher gescholten hatte, die ohne langes Besinnen und ohne Rücksicht auf sich, das Rechte oder, wenn dieß nicht, das Unrechte doch mit einem unendlichen Heldenmuth ergreift!

Benedict wurde ein anderer Mensch nach dieser Nacht! –

Aber – war es denn bloßer, kindisch-heldenmüthiger Drang nach einer großen und edlen That, was Clotilde bewegt hatte? Sollte nicht ein anderer, für Benedict beglückenderer Beweggrund in ihrer Seele sich geltend gemacht haben? O gewiß! Ihre That hatte ja dadurch erst ihre wahre Bedeutung, sie bekam ja dadurch erst rechte Möglichkeit und Inhalt und eigentlichen Sinn.

Clotilde ließ sich an diesem und am anderen Tage nicht mehr vor Benedict sehen. Er schrieb an sie; einen Brief voll Leidenschaft und Glut, ein wahres Muster von einem hinreißenden Liebesbriefe.

Clotilde beantwortete ihn nicht, keine Sylbe.

Benedict schrieb noch einmal und zwar folgendes Billet:

»Wenn nichts in Ihrem Herzen gegen mich spricht, Clotilde! sagen Sie selbst, sollte es nicht am gescheidtesten seyn – damit wir nach der Situation jener Nacht nicht vor einander ewig wieder zu erröthen brauchen – wir heirathen uns?«

Nach einer Stunde kam eine Antwort. Benedict riß das kleine duftige, Blättchen auseinander und fand die Worte:

»Ich bin Ihrer Ansicht! Sprechen Sie mit meinem Vater.«

Der Ministerialrath machte keine Schwierigkeiten; denn er hatte lange schon ein Auge auf den reichen Sohn eines verstorbenen Freundes als eine Parthie für seine Tochter geworfen; und noch am Ende desselben Tages gestand Clotilde, ihr Gesicht an Benedict's Brust bergend, daß sie allerdings noch einen mächtigeren Beweggrund als bloßen »verletzten Stolz« zu ihrer kühnen That in sich gefühlt habe.

Die Freude allein schon hätte Benedict genesen lassen. Doch sandte Heinrich ihn erst in ein Seebad und packte während seiner Abwesenheit alle seine bunten Habseligkeiten zusammen, um sie in einer lichten und glänzend eingerichteten Wohnung in der Neustadt wieder aufzustellen, die Clotilde vorzog und in der Benedict sich nun plötzlich auch heimisch zu finden wußte. Er war ja genesen; er fühlte, daß für Charactere seiner Art das Glück das beste Heilmittel, der beste Vermittler zwischen Aeußerlichkeit und Innerlichkeit, der beste philosophische Standpunct ist, um über das Wehe dieser »schlechtesten« Welt fortzukommen: und bis an sein Lebensende wird er – hoffen wir – fühlen, daß das beste Glück ein Weib wie Clotilde ist.

Ueber die ganze Geschichte war Niemand mehr erstaunt als Fräulein Emma!

»Mein Gott,« sagte sie, »hat der endlich eine Frau gefunden, die ihm geantwortet hat: ich verlange einen Mann wie Sie sind! Und nun die stolze, königliche Clotilde gar; die beiden Extreme! – Mama, ich kann aber doch meinen alten Blondenbesatz nicht mehr bei der Hochzeit tragen!«

 

Ende.

 


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