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Wein- und Liebeshandel.


I.
Herr Sillsberg und sein Haus.

Der vornehmste und reichste Mann in dem Städtchen X. am Rhein ist der Weinhändler Sillsberg. Er bewohnt dort ein großes, aus einem ehemaligen Kloster umgebautes Haus, das nahe am Flusse liegt und nur durch einen geräumigen Platz mit Rasenstücken, Blumenparterres und marmornen Gartenstatuen davon getrennt ist. Ueber diesen Platz hinweg, durch die Stäbe eines Eisengitters, blickt man auf den breit und stolz dahinrollenden Strom und die rebenbedeckten Berghänge des jenseitigen Ufers.

Der Raum vor dem Hause ist mit eben so viel Geschmack angelegt, als mit Sorgfalt unterhalten. Rechts hebt sich aus einem künstlichen Hügel Gebüsch von Cyringen und Goldregen, das einen künstlichen Hügel bedeckt, ein chinesischer Pavillon mit roth und weiß gestreiftem Dach. Es ist eine Art Belvedere, welches auf- und abwärts eine Strecke des Stromes beherrscht und diesem nahe genug liegt, um die Gestalten der Reisenden auf den Dampfschiffen erkennen zu können. Unter dem Hügel umgiebt eine Rosenhecke das Bassin eines plätschernden Springquells, der so hoch steigt, daß er die untersten Zweige einer uralten Ulme neckend mit seinen Tropfenschauern bestäubt. Zur linken Seite des Hofes aber verlaufen sich die weißen Schlangenpfade aus den Rasenanlagen in ein Bosquet ausländischer Stauden, über welche im Hintergrunde an einer Seite die Glasfenster eines Treibhauses emporragen, während an der anderen, dem Gebäude zunächst, die vergoldeten Knäufe eines als Voliere dienenden Kioskes hindurchschimmern.

Wendet man sich nun, um das Haus des Herrn Sillsberg selbst anzusehen, so findet man ein langes, zweistöckiges Gebäude, dem weder der moderne, von Säulen getragene Balkon über dem Thorwege, noch die hellgelbe Tünche und die grünen Jalousien das Gepräge eines alten Bauwerks nehmen können. Um es als solches zu bezeichnen, genügt schon der wunderschöne Erker von der künstlichsten Steinhauerarbeit, der links, dem Springquell nahe, fast in den Aesten der großen Ulme hängt, wie das Nest irgend eines mittelalterlichen Wundervogels in dem Jahrhunderte alten Baume. Noch älter ist an der Ecke des Hauses rechts der geräumige, viereckige Thurm mit Spitzbogenfenstern, zu dessen zweytem Stockwerk eine von außen angebrachte, schmale Treppe von Gußeisen führt, während wilder Wein und Epheu den unteren Theil des rohen Mauerwerks verbirgt.

Im unteren Geschosse des Hauses, wo die Fenster runde Wölbungen und feste, eiserne Gitter zeigen, befinden sich die Comptoirs und Schreibstuben; darüber im zweiten Geschosse wohnt Herr Sillsberg; links die Zimmer, zu denen der Erker gehört, und durch deren Fensterscheiben die Vorhänge von grünem und purpurnem Seidendamast schimmern, werden von der Tochter des Hauses, Fräulein Helena Sillsberg, eingenommen, und ihnen gerade entgegengesetzt, in dem großen Thurme, haust Herr Wilibald Espe, der erste Buchhalter der Firma »Sillsberg und Richarz.«

Es ist wahrhaft wunderbar, in wie viele individuelle Geschicke ein einziger Mensch fast unmittelbar eingegriffen hat, wie viel persönliche Lebenslagen und Zustände noch jetzt nach dreißig Jahren ihm ihre Entstehung verdanken. Dieser Mann ist Napoleon. Auch Herr Sillsberg verdankte den Umstand, daß er ein reicher Weinhändler in X. war und dort ein altes Klostergebäude mit allem erdenklichen Luxus zu einer der bequemsten und schönsten Wohnungen sich hatte ausbauen können, Niemandem anders als ihm. Der Matador von X. war der Sohn eines ehemaligen kurkölnischen Hofkammerraths; die Besitznahme des linken Rheinufers durch die Franzosen hatte ihn der Aussicht beraubt, die Hofkammerrathschaft noch länger als eine Art Erbamt seiner Familie betrachten zu dürfen, das ihm als dem ältesten Sohne nach dem geregelten Laufe der Dinge unfehlbar zuzufallen habe. So war er gezwungen, sich einen anderen Weg durchs Leben anzubahnen, und nachdem dieß geschehen, verfolgte er den eingeschlagenen Weg mit derselben Entschlossenheit, womit er eines Tages mit der linken Hand sich den Daumen der Rechten abhieb, um der Ehre zu entgehen, unter den Fahnen des französischen Eroberers dienen zu müssen.

Seinem jüngeren Bruder Ignaz schien eine solche Scävola-Energie nicht angeboren; er ergriff den Ausweg, nach Amerika zu fliehen, und suchte dort sein Glück. Herr Adolph Sillsberg fand es unterdeß in der Heimath. Er war Weinhändler geworden. Napoleon hatte einem seiner Marschälle ein eingezogenes, bedeutendes Klostergut mit ausgedehnten Weinbergen zum Geschenk gemacht, und der Marschall verkaufte im Frühling des Jahres 1811 den ganzen zukünftigen Jahresertrag seiner Reben dem neu etablierten Weinhändler um die baare Summe von dreitausend Thalern, das ganze Vermögen des Ankäufers und etwas darüber. Während des Laufes des Frühlings von 1811 gab es nun in Europa schwerlich einen aufmerksameren Wetterbeobachter, als Herrn Adolph Sillsberg. Am politischen Horizont thürmten sich die ärgsten Wetterwolken auf; Sillsberg hatte nur Augen für die grauen Regenwolken, welche die ersten Lenzmonate jenes Jahres naß und kalt machten; in den Raum seines Zimmers theilten sich Barometer, Wetterhäuschen und Laubfrösche, und wol nie hat ein naturtrunkener Poet mit gleicher Spannung die Purpurgluten der auf gehenden Sonne und die farbigen Tinten ihres abendlichen Niedergangs beobachtet, wie er.

Die Sonne schien sich geschmeichelt zu fühlen durch die ängstliche Aufmerksamkeit, mit welcher das Auge des jungen Kaufmanns an ihr hing. Sie begann bald voll und klar zu scheinen; immer wärmer und glühender lagen ihre Strahlen auf den Schieferhängen, welche die Reben des französischen Marschalls trugen. Sillsberg rieb sich die Hände, aber er sagte nichts, er beobachtete das Wetter fort und fort bis zum Tage der Lese. Nur einmal ließ er seine innerlich triumphirenden Gedanken errathen, als er nämlich in der Zeitung las, die französische Regierung habe einen Preis von einer Million Franken für die beste Flachsspinnmaschine ausgesetzt. »Spinnt Ihr nur Flachs,« sagte Sillsberg vergnügt, »ich spinne Seide!« Und in der That, er hatte Seide gesponnen bei seinem Handel; er war mit Einem Schlag ein reicher Mann, Dank der Sonne von 1811.

Seinen reinen Gewinn berechnete er auf 17 300 Thaler. Damit waren die Fonds beschafft, seinem Gewerbszweige die weiteste Ausdehnung zu geben.

Der Bruder Ignaz übernahm, sobald der Friede eingetreten, die Vermittelung des Absatzes nach Nordamerika. Herr Sillsberg ward immer reicher. So verschmerzte er es denn leicht, als nach einigen Jahren der Absatz nach Amerika ein Ende nahm. Ignaz Sillsberg nämlich kam selbst herüber, um die Heimath wieder zu sehen, und während des Aufenthaltes bei seinem Bruder in F. begegnete ihm etwas Menschliches, dem er bis jetzt hundert schlanken und milchweißen Töchtern der andern Hemisphäre gegenüber glücklich entgangen war. Er faßte nämlich den unerklärlichen Whim, sich in Demoiselle Amalia Sapp, eine starkgebaute, rheinländische Schöne von einigem Embonpoint, sonnigen, dunklen Augen und sehr südlichem Teint, zu verlieben. Unglücklicher Weise war Demoiselle Amalie die Tochter des Bartscheerers unseres Herrn Sillsberg, und dieser glaubte seiner Geburt und seinem Reichthume schuldig zu seyn, sich bei dieser Gelegenheit vollständig mit seinem Bruder zu überwerfen, da die abtrünnigen, demokratischen Sympathien des Bürgers der großen Staatenrepublik hierdurch in den grimmigsten Zusammenstoß mit den Gesinnungen eines ursprünglich für die kurkölnische Hofkammerrathschaft geborenen Matadors einer kleinen, deutschen Stadt geriethen.

Ignaz Sillsberg führte, hiervon durchaus unbeirrt, als glücklicher Bräutigam Demoiselle Sapp zum Altar und dann über den atlantischen Ocean in seine neue Heimath; die Verbindung der beiden Brüder aber hörte von nun an auf. Die Firma schickte keine Weine mehr nach Amerika, und Herr Sillsberg rasierte sich selbst.

Seitdem waren viele Jahre verflossen. Sillsberg hatte sich verheirathet und nach kurzer Zeit seine Frau verloren, nachdem sie ihn zum Vater einer schönen und talentvollen Tochter gemacht hatte.

Das waren die äußeren Verhältnisse des Herrn Sillsberg; was aber seinen Charakter angeht, so hieß es allgemein, er sey ehemals ein so liebenswürdiger, guter Mensch gewesen, und jetzt ein harter, böser Mann. Jedoch – der reiche Weinhändler von X. fühlte nur, was wir Alle in uns fühlen, den Drang nach Glückseligkeit. Dieser Drang machte, als er jung war, ihn liebenswürdig und gut, und gab ihm jetzt die entgegengesetzten Eigenschaften. In seiner Jugend war er bescheiden und dienstfertig, freundlich und ehrlich, weil er so seyn mußte, gar nicht anders seyn konnte, wenn er seinem Drange nach Glück gehorchen wollte. Denn dieses letztere bestand für ihn darin, seine Umgebung auch freundlich und geneigt, wolwollend und hülfreich zu finden, zu wissen, er werde von den Menschen geachtet, gerühmt, geliebt, er könne auf ihren Beistand zählen. Ein unliebenswürdiger, schlechter Mensch wird weder geachtet und geliebt, noch in seinen Planen vom Wolwollen Anderer unterstützt. Deßhalb, und um den Forderungen der Eitelkeit und des Ehrgeizes genügen, d. h. um seinen Trieb nach Glück befriedigen zu können, muß man gut und liebenswürdig gegen Alle sein.

Der junge Sillsberg war es. Nicht aus geflissentlicher Berechnung; er war nichts weniger als ein Heuchler; es war eine unbewußte Ueberzeugung in ihm, ein Instinkt, daß Tugend und Liebenswürdigkeit, verbunden mit Thätigkeit und Klugheit, die beste Politik sey. Dieser folgte der junge Sillsberg, denn glücklicher Weise besaß er keine Leidenschaften, keine sinnlichen Bedürfnisse, welche ihn lasterhaft gemacht und in Versuchung gebracht hätten, seiner unbewußten Politik untreu zu werden.

Sillsberg ward sehr reich. Sein Drang nach Glück äußerte sich jetzt in ganz anderer Weise. Es lag ein Glück geschmeichelter Eitelkeit darin, Andere seine Geldmacht fühlen zu lassen. Wäre es früher unbequem und beunruhigend für ihn gewesen, Jemanden feindselig von sich scheiden zu sehen, so war es jetzt bequem, sich Hilfesuchende vom Halse zu halten. War ihm früher das Wolwollen. Anderer nöthig gewesen, so war ihm jetzt die Ueberzeugung: Der oder Jener haßt Dich und kann doch nichts gegen Deine Macht ausrichten, ein erheiternder Gedanke. Er war ja reich – also war er ohnehin geachtet, zuvorkommend aufgenommen, von Schmeicheleien umgeben, ohne sich die Anstrengung der Liebenswürdigkeit auferlegen zu müssen. Das Haupt seines Gewissens ruhte in süßem Schlummer auf dem weichsten aller Pfühle, dem Geldsack. Weßhalb sollte er nicht seinen Launen nachhangen und dem immer mehr verknöchernden Sinne des Alters folgen? Sein Drang nach Glück forderte es so, und diesem gehorchte er, wie er ihm sein ganzes Leben hindurch gehorcht hatte.

War nun der junge, gute Sillsberg, der seinem Triebe nach Glückseligkeit noch in einer für Andere vortheilhafteren und bequemeren Weise folgte, als der harte, alte Sillsberg, ein moralisch höher stehender Mensch? Haben seine früheren, liebenswürdigen Formen, deren eigentlicher Inhalt ein egoistischer Trieb ist, einen objektiven, moralischen Werth, welcher aus der Wagschaale des letzten Richters Anerkennung und Lohn fordern kann? Oder ist der alte Egoist, dessen eigentlicher Seeleninhalt sich in die ihm entsprechenden, abstoßenden Formen hüllt, eine im Auge des Weltschöpfers höher stehende Gestalt, weil sie jetzt eine ganze und unzwiespältige Erscheinung ist? –

Das ist gewiß, wir richten nicht allein die Handlungen zu sehr nach dem Erfolge, sondern auch die Charaktere der Menschen viel zu sehr nach ihren Handlungen.


II.
Eine Verlobung.

Herr Sillsberg also war ein egoistischer und harter Mann geworden. Er hatte diese Eigenschaften in ihrer ganzen, unglaublichen Ausdehnung bei Gelegenheit der Verlobung seiner Tochter gezeigt.

Helene Sillsberg stand eines Tages am Fenster ihres Erkers und schaute auf die jüngst erst in den grünen Schmuck des Maien gekleideten Gebüsche hinaus. Sie beobachtete das Niederfluten des Stromes und das Schwinden und Kommen der Schatten, die von den ziehenden Wolken bald über die Bergabhänge geworfen, bald wieder zurückgerissen wurden, gleich flatternden Schleiern. Sie konnte in dieses stumme Regen und Leben der Natur tief ihre Seele versenken. Es weckte in ihr Gedanken und Gefühle, die eben so unfaßbar und haltlos flatterten, wie das Schattenspiel auf den Berghalden vor ihr, und die Macht hatten, eben so trübe Schleier über ganze Regionen ihres Inneren zu breiten. Es hatte sich früh in ihr ein Anflug von Schwärmerei gezeigt, und der Freund ihrer Jugend, ihr Lehrer, der Niemand anders war, als Herr Wilibald Espe, der erste Buchhalter, hatte Alles gethan, um jenen Seelenhang zu nähren.

So stand sie, ihre hellen Blicke über die Ufer des Rheines aussendend, als zwey dunkle, magische Augen diese Blicke niederzogen. Im Hofe, unter ihrem Erker, stand ein Mann von einem auffallenden Aeußeren. Der Schnitt seiner dunklen Reisekleidung war modern und elegant; durch eines der Knopflöcher schimmerte, kaum sichtbar, ein rothes Bändchen; seine Züge waren nicht ohne einen gewissen Adel, aber dennoch lag etwas Mißtrauen Einflößendes in dem Ganzen dieser robusten, gewaltigen Gestalt und dieser blassen Züge.

Es war eine Figur, wie Schrödter die alten Cumpane von Schwert und Flasche malt, wie man handfeste Rottenmeister des dreißigjährigen Krieges sich denkt. Die gewölbte Stirn trat weit vor, eben so das Kinn, welches dichte Bartwaldung bedeckte. Die Augen, welche sich schräg nach der Nasenwurzel hin senkten, waren schmal geschnitten und blitzten einen eigenen Glanz aus – es lag etwas Mephistophelisches, höhnisch Uebermüthiges in ihrem Blick.

Helene fühlte sich von dem Blick dieser Augen wie gewaltsam angezogen, sie sah lange hinein, überrascht, ängstlich, und vergaß darüber, den Gruß des Fremden zu erwiedern. Erst nach einer Weile fühlte sie, daß dieß Anstarren unschicklich sey, und sie zog sich rasch von dem Fenster zurück.

Nach kaum einer halben Stunde trat der Fremde zu ihr in's Zimmer, eingeführt von ihrem Vater.

»Graf Villardin aus Genf,« sagte dieser, »früher Officier in französischen Diensten.«

Helene nahm ihn um so freundlicher auf, als sie eine kleine Verlegenheit zu verbergen hatte. Der Fremde hatte die gewandtesten Formen von der Welt, sprach viel und gut, und unterhielt besonders Herrn Sillsberg, wie dieser lange nicht unterhalten worden war.

Für Helene wurde die Aufmerksamkeit, die er für sie hatte, beängstigend. Fast fortwährend ruhte sein dämonisches Auge auf ihr. Als er sich zum Abschied erhob und ihre Hand ergriff, um sie zu küssen, fühlte sie einen leichten Schauder – sie wußte selbst nicht, weßhalb.

Am Nachmittage ließ der Vater sie herunterrufen zur Spazierfahrt. Als sie in den Hof trat, stand der Graf Villardin mit jenem neben dem Schlage und hob sie in den Wagen, um darauf bei ihr im Fond Platz zu nehmen. Die Gegend und die Lage des Ortes ziehe ihn so sehr an, sagte er, daß er einen längeren Aufenthalt in X. zu nehmen sich entschlossen habe. Neben dem Städtchen, auf einem Bergvorsprunge, der eine entzückende Aussicht bot, hatte Sillsberg eine kleine Villa gebaut und eingerichtet, deren helles Weiß freundlich durch das üppige Grün der Kastanien und Wallnußbäume schimmerte, hinter denen sie sich halb versteckte. Der Fremde hatte sich bei Sillsberg mit dem Gesuche eingeführt, sie ihm auf einen Monat zu vermiethen; Sillsberg hatte nichts dagegen einzuwenden gehabt, und noch diesen Abend wollte der Graf das kleine Landhaus mit seinem Bedienten beziehen. Helenen waren diese Eröffnungen nichts weniger als angenehm; es war ihr, als ob eine innere Ahnung ihr sage, von diesem Menschen müsse ihr ein Unheil kommen.

Der Fremde hatte am Ende der Spazierfahrt sich dagegen vollends in der Gunst des Weinhändlers festgesetzt. Er schien mit dem feinsten Takt für alle Eigenschaften und Eigenheiten des reichen Mannes begabt, um diese nirgends zu verletzen; schien Fühlhörner für alle seine innersten Sympathien und Ansichten zu besitzen, um ihnen fortwährend schmeicheln zu können. Herr Sillsberg lachte gern: Graf Villardin stak voll der zwerchfell-erschütterndsten Geschichtchen; jener war eitel auf den äußeren Glanz, mit dem er sich umgeben konnte: Graf Villardin hatte nie eine eleganter eingerichtete Wohnung, nie eine geschmackvollere Equipage gesehen, als die Sillsberg's war.

Das Herz des alten Herrn war vollständig erobert. Er lud nach der Spazierfahrt seinen Gast ein, am Abend wieder zu kommen, um seine ältesten und besten Jahrgänge zu versuchen. Als der Graf kam, wurde er in den Keller hinabgeführt. Er betrat ein nicht sehr geräumiges Gewölbe, in dem ein paar Reihen Fässer Platz fanden.

» Quel établissement!« sagte der Graf. »Grandios!«

Herr Sillsberg schmunzelte und gab einen Wink mit der Hand. Vor ihnen und zu ihrer Linken flogen im Hintergrunde des Gewölbes dunkle Flügelthüren auf, und nach beiden Seiten hin blickte man nun in eine weite Reihe in den Felsen ausgehauener Hallen, die illuminiert im reichsten Kerzenschimmer strahlten. Ungeheure Stückfässer lagen rechts wie links dicht an einander gerückt, ein ganzes Meer von Wein schien in diesen unterirdischen Räumen geborgen, die einen wahrhaft mährchenhaften Eindruck machten, so kämpften die grellen Licht- und Schatten-Effekte um Pfeiler, Bogen und Wölbung. Der Graf war verlegen, daß er seine Bewunderung zu früh hatte laut werden lassen. Er fand jetzt kaum Worte mehr, sein Staunen auszudrücken oder sein Entzücken über die Vortrefflichkeit der köstlichen Sorten zu bezeichnen, welche ihm von dem Kellermeister in geschliffenen Römern credenzt wurden.

Herrn Sillsberg wurden diese Lobesergießungen freilich am Ende zu ausschweifend, als daß nicht ein kleines, unbehagliches Mißtrauen über ihre Aufrichtigkeit in ihm hätte aufsteigen sollen. Doch blühte eine Zufriedenheit mit seinem Gaste wieder in rosigster Heiterkeit auf, als er ihn aus dem Keller zurück in die freie Luft führte. Unten hatte Graf Villardin getrost einen Jahrgang der köstlichen Gewächse nach dem anderen in starken Proben über die Lippen geführt, ohne eine betäubende Wirkung zu spüren. In der frischen Luft wurde dieß anders.

»Habe ich Ihre Weine bewundert, Herr Sillsberg,« sagte er mit etwas schwerer Zunge, »so müssen Sie doch auch die Festigkeit bewundern, womit ich die Geister Ihres Kyffhäusers da unten überwunden habe!«

»Allerdings,« sagte Sillsberg lachend, »auf das tapferste!«

»Lustiges Volk da unten, sie haben einen förmlichen Sturm auf mich gemacht! Aber abgeschlagen sind sie, abgeschlagen!« fuhr Villardin mit einer heftigen Bewegung des Armes fort, die ihn schwanken machte.

Sillsberg nickte mit dem Kopfe und schien seine eigenen Gedanken hierüber zu hegen.

»Darf ich Ihnen meinen Arm bieten, Herr Graf?« sagte Wilibald Espe, der Buchhalter, der jetzt die Kellertreppe heraufgestiegen kam: »Sie kennen das Terrain hier nicht, und deshalb …«

»O, mein lieber Herr, ich kenne bereits das Terrain hier – ja, ja, ich kenne es – Sie werden schon sehen, werden sehen – aber Ihr Arm könnte mir allerdings von Nutzen sein, extrêmement obligé

Herr Sillsberg entließ lachend seinen Gast mit einer Einladung zur Tafel für den folgenden Tag, und Wilibald Espe führte ihn die Höhe hinauf, zu der Villa oben, wo sein Bedienter ihn erwartete.

Unterwegs sprach der Graf Vieles, was seinen Führer stutzig machte, Anderes, was ihn ergötzte; ihm ward vergönnt, Blicke in eine Existenz zu werfen, wie ihm früher in seinem einfachen, an ernste Pflichterfüllung gebundenen Buchhalterleben keine vorgekommen war.

Nach dem, wie wir sahen, nicht mehr ganz nüchternen Sprechen des Grafen mußte dieser Mann die liebe Gotteswelt nur als einen großen Conversationssaal eines Badeorts oder etwas Derartiges betrachten. Für ihn war nichts darin, als eine große, geputzte Gesellschaft, die sich gegenseitig die Cour macht oder medisiert, die gegen Abend Bälle improvisiert und tanzt, in der Nacht spielt, am Morgen spazieren fährt und den Nachmittag mit der Toilette zubringt. Die Namen von Pflicht, von Arbeit, von Tugend, die Begriffe von Denken, Dürfen, Sollen kamen in dieser Welt nicht vor, desto mehr aber die von Ehre, Rang, Würde und Anstand.

Herr Wilibald Espe war von dieser Höhe der Weltanschauung vollständig verblüfft; es lag für eine harmlose Seele etwas durchaus Großartiges in diesem Erhabenseyn über alle Schwerfälligkeit des sonst so viel belasteten, irdischen Daseyns. Dieser Graf Villardin war ihm wie ein stolz durch die Fluten des Lebens dahinsegelndes Kriegsschiff, das allen Ballast hat von sich werfen können, die ganze Bürde von Pflicht, Schmerz und Fesseln jeder Art, mit denen die miserablen Kutter der anderen Sterblichen sich befrachten müssen, um auf dem stürmischen Ocean nicht umzuschlagen und unterzugehen.

Graf Villardin schien den folgenden Tag dazu anwenden zu wollen, in Helenens Gunst dieselben Fortschritte zu machen, die er am ersten Tage seiner Anwesenheit in der Freundschaft des Weinhändlers errungen. Als er sich gegen Abend entfernt hatte, setzte sie sich nachdenklich auf den Hügel draußen unter den Pavillon. Wilibald Espe saß da und blätterte in dem Bändchen eines politischen Dichters.

»Dieser demokratische Poet,« sagte er, als Helene sich nach seiner Lectüre erkundigte, »macht mir ganz denselben Eindruck, den mir heute der aristokratische Graf Villardin machte. Zwischen beiden besteht im Grunde nicht der geringste Unterschied; beide sind sie aus Einem Holz geschnitzt, beide haben keine Ahnung von der eigentlichen Lebensaufgabe, haben weder Pietät noch Glauben, und Keiner sieht aus, als ob er je daran gedacht, irgend eine Pflicht zu erfüllen. Ein Gefühl für den düsteren Ernst, der Grundton all dieses bunten Lebensspiels ist, besitzt weder der Aristokrat noch der Demokrat. Je innerlich nichtiger aber Jeder, desto größer ist sein Hochmuth.«

»Sie sind bitter in Ihrem Urtheil, lieber Freund!« sagte Helene.

»Ja, ich bin es, ich bin geärgert. Dieser Graf hat mich gestern verblüfft, überrumpelt, zu einer Art Bewunderung gebracht, und heute verdrießt mich diese Bewunderung, ich möchte sie zurück haben!«

Wilibald Espe hatte noch einen zweiten Grund, geärgert zu seyn, den er verschwieg. Er hatte des Grafen Aufmerksamkeiten für Helene beobachtet. Sie verdrossen ihn in tiefster Seele – wie er sich sagte, weil der Fremde ein Mensch von einer zu großen moralischen Nichtigkeit sey, als daß Helenen, seine Schülerin, deren Seelenleben er bewachen und bewahren wollte, wie seinen Augapfel, nur ein Hauch aus der verdorbenen Gedanken-Atmosphäre desselben anwehen dürfe. Ob noch ein anderes Gefühl in Wilibald Espe durch jene Aufmerksamkeiten verletzt worden, ist schwer zu sagen; nur das ging aus Allem hervor, daß er in seine geistige Führer-Eigenschaft und Lehrer-Stellung bei der Tochter seines Principals eine ungewöhnlich große Wärme und Innigkeit des Gefühls legte.

Wilibald war der schüchternste und harmloseste Mensch von der Welt; überall geneigt, Anderer Größe anzuerkennen, schien er fortwährend von einem lebhaften Bewußtseyn eigener Unwichtigkeit und Kleinheit erfüllt. Das Leben hatte ihn für keine Freude blasirt gemacht, und seine Bescheidenheit machte ihn immer zu augenblicklicher Rührung geneigt, wo sich ihm Wolwollen und Freundlichkeit zeigte. Wie konnte er anders, als Helenens Anhänglichkeit an ihn mit der innerlichsten Treue seiner ganzen Seele erwiedern? Sein Denken war ein fortwährendes stilles Gebet für sie. Er hatte auch nichts Anderes auf der Welt als sie. Denn er stand allein, ohne Freunde und ohne Familie. Er hatte nie gewagt, sich um die Hand eines Mädchens zu bewerben; wie sollte eines den Herrn Wilibald Espe genommen haben? Er konnte gar keinen ordentlichen Grund auffinden, warum nur! Er sah nichts, gar nichts in und an sich, wofür er den Namen irgend eines Vorzugs, einer glänzenden Eigenschaft zu entdecken gewußt hätte. Er war nicht schön, er war nie jung gewesen, denn er hatte von früh auf ernst und wehmüthig aus blassen Zügen in die Welt geschaut. Seine Gestalt war groß und schmächtig, sein braunes Haar dünn und früh geschwunden.

Nur nach Einem Ruhme oder vielmehr nach einer Befriedigung seines inneren Seelendranges hatte er gestrebt. Er hatte Jahre lang seine Mußestunden damit zugebracht, Verse zu machen. Sie waren mittelmäßig, sein kühnster dichterischer Schwung war nicht höher gekommen, als bis auf das Plateau des schönen und sonoren Gemeinplatzes. Wilibald Espe müßte nicht der bescheidene Mann gewesen seyn, der er war, wenn er hierüber hätte im Unklaren bleiben können. Er übte eine scharfe und ungetrübte Kritik gegen sich aus, obwol ihm diese Kritik Jahre des Ringens und Mühens doppelt vergällte. Er war eines jener vielen Gemüther, deren reicher Inhalt sich in eine edle Form drängt und diese Form nicht findet, deren innerer Zündstoff den Ausweg sucht und keinen freien Aether findet, um zu prächtigen Flammen auflodern zu können; die im Wiederschein der Vulkan-Ausbrüche des fremden Genies stehen und dieselbe Glut in sich fühlen, ohne selbst nur einen milden und wolthuenden Strahl des Lichtes von sich aussenden können. Und der Ehrgeiz in solch stillen, über innerem Gebären brütenden Gemüthern ist auch eine Pein! desto größer, je geringer ihre eigene Bescheidenheit ihr Gewicht und ihre Stellung unter den Menschen anschlägt. Diesen Stachel und die Beklemmung in sich, sitzen sie tastend, Anläufe nehmend, über ihre Versuche gebeugt; der Fluch der Halbheit hat die Flügel ihres Geistes gebrochen, daß sie wie der gelähmte Wandervogel sind und den fortziehenden Schaaren der Ihrigen nicht folgen können in das Land des Ideals.

Eine dieser wehmüthigen Erscheinungen war Herr Wilibald Espe; freilich jetzt seit einigen Jahren innerlich gesundet und von dem vergeblichen Ringen eines reichen, aber gelähmten Genius zurückgekommen. Seine Gedanken hatten eine andere Richtung genommen. Herr Sillsberg hatte ihn nämlich gebeten, aus dem ansehnlichen Schatze seiner Kenntnisse in Sprachen und anderen Gebieten des Wissens etwas für Helenens Weiterbildung zu thun, nachdem sie aus der Pension in das väterliche Haus zurückgekehrt war. Wilibald unterzog sich dieser Aufgabe mit einem Eifer, der nur in derartigen Charakteren begreiflich ist. Er suchte in dieser neuen Art von Thätigkeit einen Halt, um nicht wieder in den Strudel verzehrender Mühen zurückzufallen, vor dem ihm graute, und die ganze Innigkeit seines Gemüths, mit all ihrem Erfülltseyn von Poesie, drängte sich jetzt in ein Lehrer-Verhältniß zu der Tochter seines Principals. –

Die Gruppe unter dem Pavillon wurde durch Herrn Sillsberg vergrößert; er setzte sich zu ihnen und sagte, indem er die Asche seines Meerschaumkopfes ausschüttete:

»Charmanter Mensch, der Villardin!« (Es lag eine Art Renommirens darin, daß der Weinhändler den Grafentitel ausließ.) »Hat den Teufel im Leibe, der! He, Helene?«

»Wir sprechen eben über ihn,« versetzte diese; »er scheint viel gesehen und erlebt zu haben.«

»Ja, und scheint echt weltmännisch zu wissen, aus jedem Erlebniß irgend ein Resultat mit heimzubringen, das seine Bildung erweitert und seine Unterhaltung belehrender macht,« fiel Wilibald ein; »das muß man ihm lassen.«

»Der spricht immer wie ein Buch,« lächelte Herr Sillsberg, »ja, ja, ich meine Sie, Meister Espenlaub. Nun, es freut mich, daß er Euch gefällt. Es könnte seyn, daß er in nähere und längere Verbindung mit uns träte, der Villardin.«

Herr Sillsberg trommelte bei diesen Worten mit den vier Fingern seiner daumenlosen Hand auf der Armlehne des Garten-Canapees und blies eine große Wolke Rauches nach der andern aus dem neu entzündeten Meerschaum. Dieß bewog Helenen, nach einer Weile das Feld zu räumen, und Wilibald folgte ihr, so daß Herr Sillsberg allein blieb, allein mit seinen Betrachtungen über den Villardin und mit seiner eigenen Erhabenheit.

Die Betrachtungen, welche Sillsberg an diesem Abend anstellte, waren wichtig genug, um ihn noch zwei Tage lang unausgesetzt zu beschäftigen. Am Morgen des dritten Tages aber platzte er ohne lange Umschweife sehr rund damit heraus, indem er in Helenens Zimmer trat und ihr einen Besuch des Grafen ankündigte.

»Der Villardin freit um Dich, Kind,« sagte er. »Es ist mir recht; und Dir, denk' ich, auch, he, Comteßchen?«

»Um Gottes willen, das kann nicht Dein Ernst seyn, Vater!«

»Nun und weßhalb nicht? Das möcht' ich hören!«

»Lieber spräng' ich in den Rhein, als daß ich den Menschen heirathete!«

»Ueberspannte Person! Der Graf wirbt um Dich, ich habe Dich ihm zugesagt, und Du nimmst ihn. Was das Uebrige angeht, kannst Du ganz ruhig seyn; ich habe Alles für Dich untersucht und erwogen. Was hast Du wider ihn?«

»Nichts, als daß ich stürbe, Vater!« sagte Helene leichenblaß und ihre Hände faltend.

»Larifari!« versetzte Herr Sillsberg. »Du wirst Gräfin Villardin, lebst im Sommer hier oder am Genfer-See, und im Winter leben wir zusammen in Paris: das ist beschlossen und steht fest, und damit Basta! Das Winter-Casino hier langweilt mich schon lange. Ein sauberes Vergnügen, immer am unteren Ende des Tisches mir gegenüber den Herrn Sapp sitzen zu sehen, der mich mit seinen pfiffigen Diebsaugen anblinzelt! Sapp – Sapp – und das nennt der Kerl seinen Namen!«

Herr Sillsberg ging eine Weile im Zimmer auf und ab.

»Ja, Kind,« sagte er dann, »das ist abgemacht! Du weißt nun, was Du zu thun hast. Keinen Ungehorsam, willst Du keinen Verdruß! – Du kennst mich!«

Herr Sillsberg machte bei diesen Worten eine sehr düstere und drohende Miene und ging. Helene blieb in namenloser Angst zurück. Sie preßte ihre Hände aufs Herz, das zu zerspringen drohte, holte ein paar Mal tief, tief Athem, und dann brach sie in einen Strom von Thränen aus.

Nach einer Stunde etwa kam Graf Villardin. Bei seinen ersten Worten, obwol sie nichts enthielten als eine gleichgültige Phrase, drohte die Beklemmung sie zu ersticken. Dieser Mensch sollte Rechte über sie, sollte sie zum Eigenthum bekommen – o Gott, sie fühlte, daß es ihr Tod sein würde! Sie lief im Zimmer auf und ab, wie ein angstgepeinigter Vogel in seinem Käfig flattert. –

Der Graf nahm das Gespräch wieder auf. Helenens Blick fiel auf den geöffneten Flügel, sie warf sich in den Fauteuil, der davor stand, und stürmte alle härtesten und schreiendsten Töne des Instrumentes wach. Graf Villardin wartete eine Weile; als sie nicht aufhörte, näherte auch er sich dem Instrument, stützte sich mit beiden Armen darauf, und indem er sie lächelnd fixierte, sprach er viel und lange. Was – das hörte Helene nicht; sie sah nur das dämonische Gesicht dicht vor sich, das sie anstarrte wie eine Schlange ihre Beute – jetzt wieder ganz von dem Unheil kündenden Ausdrucke belebt, den es in den ersten Augenblicken für sie gehabt hatte; sie mußte immer tiefer und tiefer sich einwühlen in einen Wogenschwall von Tönen, um ihre Angst und Qual dadurch in eine Art Betäubung zu versetzen. –

Als eine Saite nach der anderen mit einem Weheschrei zersprang und sie noch immer nicht aufhörte, erhob sich Graf Villardin aus seiner gebeugten Stellung.

»Sie haben keine Antwort für Alles das, mein Fräulein?« sagte er laut genug, die Musik zu übertönen. –

Helene hörte ihn nicht.

»Nun wol, es ist ein altes Sprichwort: Wer schweigt, der willigt ein!« rief der Graf, verbeugte sich lächelnd und ging.

Als er die Thür schloß, fuhr Helene empor.

»O Gott, nein, nein, nimmermehr!« schrie sie und stürzte ihm nach.

Aber in der Mitte des Zimmers wurde sie ohnmächtig und sank zu Boden.

Graf Villardin machte unterdeß Herrn Sillsberg mit ironischem Lächeln die Eröffnung, daß er glaube, im Besitze der Einwilligung Helenens zu seyn.

Der erfreute Vater, welcher gar nichts dagegen hatte, daß alle Welt so bald wie möglich erfahre, wie das hofkammerräthlich sillsbergische Signet demnächst in den Stammbaum der sehr edlen und sehr mächtigen Grafen von Villardin aufgenommen werde, ließ ungesäumt Anstalten treffen zu einem Feste für sämmtliche Honoratioren von X., denen das verlobte Paar feierlich vorgestellt werden sollte.

Mit der Einladung zu diesem Feste, dessen Bestimmung sehr bald bekannt wurde, war der entscheidende Schritt geschehen. Herrn Sillsberg hätten nun die Götter selbst nicht mehr von seinem Vorhaben abgebracht, wie viel weniger die Bitten seines Kindes, die sich dazu noch auf keinen nur irgend plausiblen Grund stützen konnten, als allenfalls auf innere Stimmen, Neigungen und Antipathien, – Dinge, deren Ansprüche auf das Recht, zu existieren, bei ihm jedenfalls sehr viel Fragliches hatten.


III.
Ein Transatlantiker.

Herr Sillsberg bestrebte sich, der Verlobung seiner Tochter mit dem Grafen Villardin möglichst große Oeffentlichkeit zu geben. Für Helene waren die in alle Welt versandten Briefe mit den Karten darin, als ob man eben so viele Nachrichten ihres Todes absende. In den ersten Tagen war sie in einem wahrhaft jammervollen Zustande. Das Schwinden jeder Stunde war ein Zuwachs von Angst, denn jede brachte sie einer moralischen Vernichtung ihrer freien, unberührten Persönlichkeit näher.

Trost, Zuspruch hatte sie keinen. In dieser schweren Zeit wurde ihr einziger Freund ihr untreu. Er hat es sich freilich später nie verziehen. Wilibald blieb in seinen Thurmzimmern eingeschlossen; er gab an, er sey unwol. Und allerdings war sein Gesicht um ein Bedeutendes blässer, die blauen Züge unter seinen Augen waren merklich dunkler und tiefer geworden, als er am dritten Tage wieder sichtbar wurde. Er vermied es, Helenen allein zu sprechen. Sie suchte die Gelegenheit dazu. Als sie dieselbe endlich fand, hatten feine Worte Alles das, was sie von ihnen erwartet hatte.

Sie empfand zum ersten Male, daß es im Schmerze etwas gebe, das mit ihm versöhnen könne. Helenen's Gemüth hatte ja jene schwärmerische Richtung, der die Idee des Opfers zugänglich ist, jene Idee, welche so manchen Frauenschmerz schon in eine Resignation eingelullt hat. Wilibald wußte dieß zu benutzen, und so kam es, daß Helenens erste, schreiendste Seelennoth in ein stilles Entschlossenseyn, sich zu unterwerfen und wie ein Weib zu tragen, überging. Graf Villardin hatte zum Glück die Delicatesse, da er sah, daß seine Annäherungen nicht ersehnt wurden, diese auch nicht aufzudrängen.

So standen die Sachen, als eines Abends, noch sehr spät, das rheinabwärts fahrende Dampfboot drei Passagiere brachte, die in X. ausstiegen und ihr Gepäck in den ersten Gasthof des Ortes, der in gigantischen Lettern am Frontispice die Inschrift » Hôtel à la Rose« und klein darunter in deutscher Sprache »Gasthof zur Rose« zeigt, bringen ließen. Es waren ein Herr in mittleren Jahren und eine Dame, und ein zweiter, jüngerer Herr, der nicht zu jenen gehörte, sondern einen Platz an der Wirthstafel allein nahm. Der Oberkellner brachte das Fremdenbuch. Der junge Mann schrieb mit einer festen und schönen Hand die Worte: James Welworth, Ingenieur aus New-York – von Paris – nach New-York-hinein. Nicht so leicht zu entziffern wurde dem Oberkellner, was der andere Fremde einschrieb; doch glaubte er zu enträthseln: Mr. William de Tracy and Mrss. de Tracy, from Northampton – Switzerland – London.

»Kennen Sie Herrn Sillsberg hier?« fragte der junge Americaner, ein Mann von einer auffallend edlen Haltung und regelmäßigen, schönen Gesichtszügen, als ihm der Kellner das Buch abnahm.

»Ja, freilich,« sagte dieser lächelnd. »Jedes Kind kennt Herrn Sillsberg.«

»Wann ist er sichtbar?«

»O, den ganzen Morgen über – am Nachmittage fährt er gewöhnlich mit dem Grafen Villardin spazieren.«

Der ältere Herr, der drüben saß, sah auf und fragte den Kellner:

» Who is that count Villardin you speak of?«

»Der Graf Villardin aus Genf, früher Officier in französischen Diensten.«

»Der wohnt hier?«

»Seit Kurzem. Er ist verlobt mit der Tochter des Herrn Sillsberg.«

»Reich, der Herr Sillsberg?«

»Geht an; zwey- bis dreimalhunderttausend Thaler.«

»Und hat viele Kinder?«

»Nur die Eine Tochter.«

Der Fremde murmelte etwas zwischen den Zähnen, und seine Begleiterin lächelte darüber. Der Americaner betrachtete das Paar aufmerksamer; der Accent, womit der Mann Englisch gesprochen hatte, war ihm aufgefallen; das war kein echtes thorough bred Englisch. Auch das Aeußere des Fremden, der eine kleine, schmächtige Figur, krauses, grauschimmerndes Haar und einen lauernden Blick unter buschigen Braunen her hatte, schien ihm weit eher den Franzosen anzudeuten.

Wohin aber mit der Dame? Das war schwerer zu sagen; sie war starkknochig gebaut, ihr Blick hatte eine gewisse Unverschämtheit im Fixiren, und ihr Gang war, wie freilich nur Engländerinnen gehen können. Große Schönheit besaß sie nicht, ihr Teint war sonnverbrannt und etwas olivenfarb nüanciert. Das Resultat der Beobachtungen des Americaners war übrigens, daß es sich kaum der Mühe verlohnen werde, sie fortzusetzen. Er erhob sich deßhalb und suchte sein Lager in dem ihm angewiesenen Zimmer auf.

Nach einer Weile, als er eben im Begriff war, einzuschlafen, hörte er auch die Fremden kommen und das Zimmer neben dem seinen einnehmen. Erst jetzt bemerkte er, was den beiden anderen Gästen verborgen zu bleiben schien, daß die trennende Wand zwischen ihnen nur aus Brettern bestand, die, obendrein schlecht gefugt, jedes Wort, das im Nebenzimmer gesprochen wurde, im anderen vernehmbar werden ließen.

»Dieser vermaledeite Villardin!« sagte der Mann, der unten das sonderbar betonte Englisch gesprochen, jetzt im besten Französisch. »Dieser verrätherische Schuft, hier ein solches Glück zu machen!«

»Wenn Marc Serrier das wüßte!« versetzte die Dame; sie hatte eine auffallend tiefe und männliche Stimme.

»Serrier! diantre! woran erinnerst Du mich, Charles!«

Die Dame schien den Namen Charles zu führen.

»Er hat ihm den Tod geschworen,« sagte sie. »Man sollte ihm doch eine Nachricht zukommen lassen, wo er seinen Pylades findet. Schreiben wir ihm!«

»Leg Dich lieber zu Bett, Leon; es ist spät, und ich kann nicht einschlafen, so lange das Licht brennt. Was geht's uns an!«

» Ma foi,« sagte der ältere Fremde, »ich mißgönne diesem perfiden Menschen sein Glück. Leg Dich auf die andere Seite, wenn Du das Licht nicht sehen kannst.«

»Ich wette, das Dintenfaß ist trocken wie der Sand der Wüste, und die Feder macht eine Ferienreise!«

Beide Vermuthungen mußten sich nicht bestätigt haben, denn der Americaner hörte nach kurzer Zeit das Kritzeln einer schnell über das Papier bewegten Feder.

Der Americaner fiel während des Schreibens, ermüdet von der Reise, wie er war, in tiefen Schlummer. Als er am anderen Morgen erwachte, waren Mr. de Tracy und seine Gemahlin, die Dame mit der tiefen Stimme und dem Taufnamen Charles, schon abgereist. Er sah sie nie wieder, aber einige Zeit nachher hörte er erzählen, wie an demselben Tage ein Herr und eine Dame eine beträchtliche Summe von einem Banquierhause in Köln auf Wechsel erhoben hätten, die sich bald darauf als falsch erwiesen.


»Von meinem Taugenichts von Bruder!«, murmelte Herr Sillsberg, als er am Vormittage aus den Händen des New-Yorkers einen Brief entgegennahm. »Hat lange nichts von sich hören lassen, der Ignaz!«

Seine Züge erheiterten sich, während er las. Ignaz Sillsberg schrieb seinem Bruder, daß er die Gelegenheit, die Herr James Melworth ihm biete, nicht habe vorübergehen lassen können, ohne ihm einen Ausdruck unverminderter brüderlicher Gesinnungen in die Heimath mitzugeben. Was die bei seinem letzten Aufenthalt in Europa entstandene Meinungsverschiedenheit angehe … »Schöne Meinungsverschiedenheit ich habe ihn aus der Thür geworfen, den Narren!« sagte Sillsberg … so sey wol Alles jetzt zwischen ihnen geschlichtet, da es dem lieben Gott gefallen habe, Mistreß Sillsberg, geborne Sapp, zu sich in seine ewige Herrlichkeit abzurufen. Nachdem er unzählige Male bereut, den Rathschlägen seines lieben Bruders nicht gefolgt zu seyn, stehe er nun endlich als betrübter Wittwer am Grabe der verklärten Heimgegangenen … »Schreibt wie'n Quäker, der Bursch!« commentierte Herr Sillsberg. … Bei Gelegenheit dieses traurigen Hintritts könne er nicht unterlassen, einmal bei einem Bruder anzufragen, ob er nicht wieder Lust habe, ein Geschäftchen in guten Jahrgängen nach New-York hin zu machen. Besonders werde an dortigem Platz der 34r viel verlangt … »Glaub' schon, trinkt sich hier auch!« unterbrach sich der Lesende … und Herr James Melworth sey ganz erbötig, über alles Weitere Auskunft zu geben.

Herrn Sillsberg war dieser Brief sehr angenehm, schon allein deshalb, weil er ihm Gelegenheit bot, in einer Antwort an den Bruder die Nachricht von der Verlobung seiner Tochter mit einem Grafen loswerden zu können, die er dem »new-yorker Plebejer« schon längst gar zu gern unter die Nase gerieben hätte, wäre es nur bei ihrer bisherigen Stellung zu einander thunlich gewesen. Er nahm den Reisenden deshalb freundlich auf und lud ihn ein, einige Tage in seinem Hause zu wohnen, bis ein Geschäft zwischen ihnen abgeschlossen und die Sendung von Weinen, welche der Ingenieur unter seine Obhut zu nehmen sich bereit erklärte, vorbereitet sey.

Der an Gastlichkeit gewöhnte Americaner nahm diese Einladung ohne Bedenken an. Herr James Melworth hatte nun ein einleitendes Gespräch über den projektierten Handel mit Wilibald; bei Tisch, wo Helene fehlte, beschäftigte er sich mit der Beobachtung der anderen Hausgenossen und insbesondere des ebenfalls geladenen Grafen Villardin, der in vieler Hinsicht seine Aufmerksamkeit erregte, schlenderte dann am Rhein umher, und nachdem er eine pittoreske Burgruine in sein Album gezeichnet hatte, kehrte er in der Dämmerung in das Haus Sillsberg zurück.

Im Wohnzimmer war Niemand – doch ja, eine weibliche Gestalt erhob sich von einem Divan, in der Ecke, wo der Fremde beim Eintreten sie übersehen hatte, wandelte langsam an ihm vorüber, grüßte mit einer Kopfbewegung und einem mild freundlichen Lächeln und verließ das Zimmer. Es waren blasse Züge voll Leid, voll Stolz und Adel, seltsam vergeistigt durch einen unnennbaren Ausdruck von holder Schwärmerei – die Gestalt war sylphenhaft, die Dämmerung legte einen verklärenden Schleier um sie, ihr unerwartetes Auftauchen vor den Blicken des Fremden trug dazu bei, den Eindruck zu erhöhen, welchen ihre Erscheinung auf diesen machte, – kurz, in James Melworth hatte es wie ein Blitz eingeschlagen – ein überwältigendes Gefühl, ein vollständiges Hingerissenseyn ihn ergriffen.

Wilibald Espe kam nach einiger Zeit ins Zimmer und bestrebte sich, den Gast zu unterhalten. Dieser sah, zerstreute Antworten hinwerfend, durch das geöffnete Fenster in den Abend hinaus, in dessen sachtes Weben und Dämmern der Rhein drüben leise, mährchenhafte Stimmen rauschte. Die Johanniskäfer zogen dünne Lichtkreise um die Stauden, in der Ferne schlug eine Nachtigall, und blühende Linden im Hofe streuten ihre süßesten Düfte aus, als Opfer für die sternprangende Königin der Nacht. Dazwischen plätscherte der Springquell; zuweilen schnitt ein Schrei eines fremden Vogels aus der Voliere drüben heiser und scharf in die Stille; sonst ruhte Alles, man konnte die Schritte der Vorüberwandelnden im Uferkies des Stromes knirschen hören.

Melworth verließ das Fenster und ging, seiner inneren Bewegung nicht mehr mächtig, im Zimmer auf und ab.

»Der Rhein, der Rhein!« sagte er nach einer Weile, »es ist kein Aberglaube, was man von ihm spricht. Er hat einen Zauber, und dieser Zauber hat mich ergriffen. Ich möchte nie wieder seine Ufer verlassen. Was sind unsere schönen Gegenden! Ihr Anblick hat mir oft eine unermeßliche Schwermuth ins Herz geschüttet, aber keine hat mich gefesselt. Hier ist die Natur, die bei uns rohe Natur ist, geistig getränkt von der Erinnerung an den Gedanken, an dem sich wie an einem Faden die Geschichten der Menschheit aufreihen, und an diese Geschichten selbst. In den Thürmen dieser Ruinen hat der männliche Muth sich Denksäulen gebaut, in den Klostergewölben das Leid und der Schmerz seine stille Poesie gelebt, und in den Domen der Drang der Seele sich auferbaut. Welcher Strom ist dieß! Und wie grün und frisch flattern seine Reben und seine Zweige über den Trümmerhaufen einer verschollenen Zeit! Ich werde schwer mich losreißen aus diesem Lande! Ihr seyd glückliche Menschen hier!«

Wilibald stieß einen tiefen Seufzer aus und zerdrückte eine Thräne in seinem Auge, als er leise sagte: »Nicht Alle!« und dann sich abwandte.

James Melworth sah bei der Abendtafel Helenen wieder. Das Kerzenlicht that der Schönheit, welche ihn so milde und hold im Licht der Dämmerung angelächelt hatte, durchaus keinen Eintrag. Sie nahm wenig Notiz von dem Gaste. Nur einmal, schien es ihm, ruhte ihr großes Auge lange und träumerisch auf ihm. Dieser Blick elektrisirte ihn. Um ihn nicht zu verscheuchen, sah er vor sich hin, als ob er seine ganze Aufmerksamkeit auf die Malerei seines Desserttellers richte. Er fühlte es, als sie nach einer Weile das Auge wieder von ihm abwandte; er sah auf, sie blickte jetzt mit demselben träumerischen Auge, wie so eben ihn, eine Phaläne an, die um die Flamme der Wachskerze kreis'te. Er mußte sich gestehen, daß er wahrscheinlich ganz so, wie jetzt das Insect, nur ein Gegenstand theilnahmlosen Anstarrens für sie gewesen, während ihre Gedanken weit andere Richtungen verfolgt.

James Melworth wandelte nachher noch lange am Rheine auf und ab. Der Leinpfad zwischen dem üppig wuchernden Weidengebüsch und den rauschenden, rollenden Wassern, wo Zweig und Welle räthselhafte Stimmen mit der Nachtluft tauschten, war ganz der Art, wie seine Stimmung ihn wünschen ließ. Melworth war ein freier Sohn der großen Republiken der anderen Hemisphäre; er war stolz auf sein Vaterland und dessen freie Institutionen; er hätte keine bessere politische und socielle Ordnung der Dinge anzugeben gewußt. Sein eigener Wirkungskreis in dieser Ordnung der Dinge hatte etwas Poetisches für ihn. Die Bändigung der spröden und widerstrebenden Materie zu Sclavendiensten für den Menschen, das Umschaffen harten Metalls in eine Art wie lebender und wie vom Feuerdrang des Herrn der Schöpfung selbst erfüllter Wesen – bewirkt durch den unsichtbaren und doch so mächtigen Hebel, die Intelligenz, – das Alles hatte etwas Erhebendes für ihn. Niemand konnte einen stolzeren Rausch empfinden, als er, wenn er, vorn auf einem unter seiner Aufsicht gebauten Dampfroß stehend, mit Windesschnelle ganze Länderstrecken durchflog.

»Es ist nie eine großartigere und mehr poetische Schöpfung aus des Menschen Händen hervorgegangen, als die der Locomotive,« sagte er, »sie bringt ihn der Schnelle des Gedankenflugs nahe, schüttelt die Seele, die sich an ein schwerfälliges Wechseln der Vorstellungen gewöhnt hat, zur lebendigen Thätigkeit auf und gibt eine Ahnung von dem hemmnißlosen Bewegen des Geistes in der Ewigkeit.«

Aber Eines hatte ihm gefehlt in seinem Lande – doch was es war, wußte er mit Worten nicht zu nennen. Das Ziel, das Ende von allem Dichten und Trachten um ihn her konnte nicht auch sein eigentliches, ursprüngliches Ziel seyn. Er fühlte, daß es Aufgabe des Daseyns seyn müsse, sich eine Errungenschaft, einen großen und emporhaltenden, im Diesseits wie im Jenseits gleiche Gültigkeit habenden Gedanken zu sichern, der mit hinüber gehe und nach dem Tode sich als der hier gelegte Keim des neuen, zu erwartenden Lebens zeige. Was war dieser Gedanke? Er sah um sich her, er musterte die Welt, die ihn umgab, aber er fand in ihrem Treiben die Seele nicht, die er suchte.

»Vielleicht,« sagte er sich, »findet ein suchendes Auge jenseits des Weltmeers, im Osten, woher das Licht und der Mensch gekommen, die Blume, die aus unseren Stauden nicht aufblühen will. Das alte Europa ist groß durch seine Hegung des Geistes, durch seine Dichter und seine Denker. Es hat die Erfahrungen von Jahrtausenden für sich, und der politische Druck, der auf ihm lastet, drängt seinen Freiheitstrieb nach Befriedigungen in den Regionen des Geistes.«

James Melworth reiste nach Europa. Er kam nach Frankreich und nach Deutschland; was er suchte, fand er nicht. An dem Abend aber, als er einsam am Ufer des Rheines auf und ab ging, fühlte er es licht in seiner Seele werden.

»Es ist die Liebe!« sagte er. –

James Melworth hatte eine heftige Leidenschaft für Helene gefaßt, welche die Romantik ihrer Umgebung nur noch mehr steigerte. Freilich hatte er sie nur erst wenige Worte sprechen hören, noch keines mit ihr gewechselt, aber eine leidende Schönheit hat für einen ritterlichen Mann einen hinreißenden Zauber.

Als er heimkehrte, fand er Wilibald noch wach; aus seinem Thurmzimmer fielen helle Lichtstreifen auf die Epheuzweige, die das Fenster umrankten; in diesem selbst stand wie ein dunkler Schatten, an den Kreuzstock gelehnt, der Buchhalter und blies mit einer zweifelhaften Virtuosität schwermüthige Weisen auf der Flöte.

Melworth konnte unmöglich sein Lager aufsuchen. Er stieg die Thurmtreppe hinauf und pochte an Wilibald's Thür. Dieser öffnete, und der Americaner erschrak im ersten Augenblick über die Figur, die wie ein Bild den Rahmen der Thür einnahm und, mit einer Lampe hinausleuchtend, eine Art unheimlichen Nachtstücks bildete. Ein Schlafrock hing mit überflüssigem Faltenreichthum um die hagere Gestalt, die spärlichen Haare standen über der Stirn verwirrt in die Höhe, und der gelbrothe Lampenschein zeichnete mit dunkeln Schatten alle Züge des blassen Gesichtes blässer und schärfer, die Augen tiefer, und machte ihren etwas wirren Ausdruck von unstäter, mit sich zerfallener Grübelsucht noch auffallender.

Der Buchhalter nahm den späten Besuch, als er ihn erkannte, zuvorkommend auf; er fand sich ja so geehrt und geschmeichelt, daß der weitgereiste Fremde ihn aufsuche, und den Americaner zog die sanfte, bescheidene Gemüthsart Wilibald's an. Dazu lag Beiden ein Gedanke zu schwer auf dem Herzen, als daß er sie nicht zu Freunden hätte machen müssen.

Im Anfange war Wilibald für die ausforschenden Fragen des Americaners über Helene zurückhaltend und einsilbig, bald aber schüttete er voll Zutrauen sein ganzes Herz aus, und Melworth erzählte ihm darauf, was er in der vorigen Nacht unfreiwillig erlauscht hatte. Wilibald wurde davon tief betroffen.

»Ich ahnte nie viel Gutes,« sagte er, »und dieß bestätigt mir, daß der Graf in unwürdigen Verbindungen und Verhältnissen gestanden hat. Aber wozu nutzt es, als mir das Herz noch schwerer zu machen? Um Herrn Sillsberg von seinem Entschlusse abzubringen, reicht es nicht hin; es beweist nichts.«

Vielleicht hätte es hingereicht. Es war Herrn Sillsberg doch nicht ganz wol bei der Partie, die er seine Tochter machen ließ, und der Ausdruck tiefen Leidens in ihrem Wesen und in ihren Zügen beunruhigte ihn. Wenn er auch wenigstens dreimal an jedem Tage sich mit großer Zuversicht prophezeite: »Wird schon gehen, wird sich machen,« so ist doch nicht mit Sicherheit zu sagen, was er gethan hätte, falls ihm ein Anlaß gegeben worden wäre, mit dem Grafen Villardin zu brechen.

In Wilibald's Seele wagte aber eine solche Hoffnung nicht einzuziehen, und so sann er mit dem Fremden, den er so aufrichtig theilnehmend fand, über die Mittel nach, wie die gegebenen, unsicheren Spuren verfolgt werden könnten, um über Villardin's Vergangenheit Auskunft und Klarheit zu bekommen.

»Ich will selbst nach Genf reisen!« sagte Wilibald endlich.

»Und ich nach Paris!« versetzte Melworth.

»Nein, thun Sie das nicht; bleiben Sie hier, beobachten Sie; aber schreiben Sie nach Paris – haben Sie keine Freunde dort?« –

Melworth war dieß Auskunftsmittel freilich lieber, Verbindungen hatte er mehre in Paris, und so wurde beschlossen, daß er diese aus der Ferne benutzen, persönlich aber in X. bleiben solle, unter dem Vorwande, Behufs des projectirten Geschäfts nach New-York die Rückkunft Wilibald's abwarten zu müssen.

In später Nacht trennten sich die Freunde mit herzlichem Händedruck.

»Mein Gott, wie viel gute Menschen gibt es doch noch!« sagte der Buchhalter, als er hinter Melworth seine Thür abschloß, »welche rührende Theilnahme und aufopfernde Dienstfertigkeit zeigt dieser edle, junge Mann für die Interessen einer ihm völlig fremden Familie! Der gute Mensch! welch hochherzige Leute sind diese Americaner!«

Am anderen Morgen, in frühester Stunde, trat Wilibald Espe vor das Bett seines Principals und bat um die Erlaubniß, eine plötzlich erkrankte Schwester in Basel besuchen zu dürfen. Von Helenen nahm er keinen Abschied. Er konnte ihr gegenüber keine Lüge aussprechen. –

Das erste Dampfboot führte ihn rheinaufwärts.


IV.
Eine Katastrophe.

Am dritten Tage eines Aufenthalts in Sillsberg's Hause war Melworth so glücklich, mit Helenen ein Gespräch anknüpfen zu können; es war nach Tisch, während Sillsberg und Graf Villardin Billard spielten, wobei der letztere höflich genug war, den trotz seiner Gesellschaft in Hemdsärmeln um den Tisch keuchenden corpulenten Weinhändler eine Partie nach der anderen gewinnen zu lassen.

Helene hatte sich auf ein Tabouret zwischen die Hortensien und Oleander gesetzt, welche den Balcon vor dem anstoßenden Zimmer schmückten. Melworth trat zu ihr und sprach ein paar, mit einem gewissen Zagen leise geflüsterte Worte. Helene fragte ihn nach feinem Lande. Er ergriff mit großer Heftigkeit die Gelegenheit, es ihr rühmen zu können.

»Es ist durch und durch verschieden von Ihrer Heimath,« sagte er, »nicht allein ein Weltmeer liegt zwischen beiden, sondern mehr als das, ein anderes Leben, ein anderer Glaube und ein anderes Fühlen! Das alte Europa liegt noch immer wie unter einer Art klösterlichen Zwanges. Deutschland vor Allem, seine über den eigenen Vortheil so unklare Handels-Gesetzgebung, ein Mangel an Einheit, an einer Flotte, sein ewiges Wechseln der Principe und so vieles Andere hält es ja ewig unter dem Gelübde der Armuth. Unser Land hat die Gelübde hinter sich, wir sind irdische Menschen – wir sind frei. Aber indem bei uns Jeder seinen Neigungen, den inneren Stimmen seines Berufes folgen darf, ohne irgend einen Einspruch fürchten zu müssen, schlägt er die Bahn durchs Leben ein, welche die ihm gemäßeste ist, er schafft sich einen Kreis, in welchem er und sein innerstes Wesen in Harmonie mit seiner Umgebung und seiner Thätigkeit steht. So vermag er ein ganzer, ein harmonisch ausgebildeter Mensch zu seyn. So ist er geschützt vor Zerrissenheit und innerlicher Spaltung. Ein gesunder Mensch zu seyn – das ist unsere Moral. In der Anschauung der alten Welt hat der Schmerz und das abgedrungene Opfer seinen moralischen Werth. Bei uns ist der Schmerz gleich der Krankheit.«

»In Ihrer Lehre,« sagte Helene, »liegt etwas Lockendes, etwas, das reizt wie die Sünde.«

»Es ist keine Sünde, es ist Pflicht gegen das eigene Daseyn und das Göttliche im Menschen, die Freiheit für seine besten Gefühle zu suchen, und Niemandem einen Zwang über dieselben einzuräumen!«

Helene sah den heftig Sprechenden mit einem mißtrauischen Blicke an; dann stand sie rasch auf und ließ ihn allein. Hatte sie geahnet, welch letztes Ziel eine eifrige Argumentation gehabt hatte? War sie verletzt? – Diese Frage sagte sich Melworth mit steigender Unruhe vor, als Helene am nächsten Tage einer neuen Unterredung mit ihm ausweichen zu wollen schien.

Nach einigen mißlungenen Versuchen gelang es ihm endlich, von Neuem ein Gespräch anzuknüpfen; er hütete sich wol, auf den früheren Gegenstand zurück zu kommen, und Helene schenkte ihm von nun an eine Aufmerksamkeit, welche Villardin sehr bald unbehaglich zu werden anfing.

»Ich muß eine Veranlassung finden, diesen Menschen so bald wie möglich abreisen zu machen,« sagte er, als er eines Abends durch die Rebengärten den Fußsteig zu seiner Villa erklimmte. »Es liegt sichtlich etwas in seinem Geschwätz, das Helenen anzieht. O diese Weiber! Wär' jener Weinreisende, oder was er ist, nur früher gekommen als ich! wär' sie nur gar mit ihm gegen ihren Willen verlobt worden! in welchem Vortheil wär' ich dann! Ja, er muß fort, so schwer es auch halten wird, ihn zu vertreiben, denn dieser Gelbschnabel ist bis über die Ohren in sie verliebt. Voyons! Am Ende wird's doch irgend ein Mittel geben!«

Graf Villardin ließ sich, in seiner einsam gelegenen Wohnung angekommen, von seinem Bedienten entkleiden und setzte sich dann, nachdem er diesen aus dem Zimmer gewiesen und die Thür verriegelt hatte, an seinen Schreibtisch. Aus den Schubfächern desselben nahm er mehre Stempel und große Siegel, farbige Dinten und Tusche, Papiere verschiedener Arten, Stahl- und Rabenfedern, zog eine kleine Schraubenpresse aus einem seiner Koffer und beschäftigte sich mit diesen Gegenständen bis tief in die Nacht hinein. Dann warf er sich auf sein Lager und überließ sich einem ruhigen und tiefen Schlummer.

Seine Ruhe wäre wahrscheinlich nicht so ungestört gewesen, wenn er geahnt, daß in derselben Nacht, weit von ihm, unterdeß eine Gesellschaft versammelt sey, deren Gespräche und deren Thun theilweise auf Niemand anders denn ihn eine sehr nahe Beziehung hatten.

Es war in Paris, im Quartier Latin. Ein niedriges Zimmer mit geweißten, kahlen Wänden, von Tabakrauch erfüllt, durch eine trübe brennende Kerze, die im Halse einer Flasche steckte, erhellt. Eine Bowle Punsch stand neben dieser dürftigen Beleuchtungsanstalt, und umher saßen drei Männer, die Karten spielten, – eine Gruppe und eine Scene, wie Eugen Sue's kühne Crayon-Skizzen sie so meisterhaft dargestellt haben.

Der eine trug einen zerrissenen Schlafrock und eine Soldatenmütze; die beiden anderen waren in einer Kleidung, deren eleganter und modischer Schnitt seltsam mit ihren Verdacht einflößenden Physiognomien und der Dürftigkeit ihrer Umgebung contrastierte. Der Mann im Schlafrock hatte edlere Züge; sein Blick hatte ein gewisses Feuer und schien eine geistige Ueberlegenheit behaupten zu wollen; seine Nase war schön geschnitten, aber die Stirn sehr niedrig, und um den Mund lag ein Ausdruck von thierischer Gier und wie von blutigen Gelüsten, der Abscheu einflößen mußte. Er schien in heiterer Laune zu seyn, denn er schob, mit pfiffigen Blicken nach den Karten der Anderen schielend, die blaue Mütze bald auf die rechte, bald auf die linke Seite seiner pechschwarzen, krausen Locken, pfiff eine Vaudeville-Arie, lächelte und legte dann wieder die Züge seines Gesichts zum düstersten Ernst zusammen, während doch aus den Augen ein höhnisches Lachen blitzte.

»Merkst Du was, alter Tambour?« sagte sein Nachbar zur Linken zu dem dritten Spieler.

»Schon lange, mein Sergeant!« versetzte dieser, indem er einen so äußerst schlauen Blick anzunehmen sich bestrebte, daß man hätte darauf wetten sollen, er merke gar nichts.

»Er hat uns mit seiner Bowle heraufgelockt, um uns auszuplündern,« fuhr der Sergeant fort.

»Was laßt Ihr Euch plündern?« warf der Mann im Schlafrock ein.

»Zum Vergnügen, Marc, zu unserem Vergnügen; sey darüber ganz ruhig!« sagte der alte Tambour, der den schlauen Blick hatte. »Es dient uns zum Vergnügen und es gereicht uns zur … zur …« –

»Ehre« fiel der Sergeant ein.

»Nein, nicht zur Ehre, das Wort hätte ich selber gewußt; nun, Marc wird mich verstehen, was ich andeuten will.«

Marc warf einen wüthenden Blick auf ihn.

»Sacristie! ich verstehe nicht, was Du andeuten willst, betrunkener Schwätzer! Willst Du etwa andeuten, daß es ein Almosen für mich ist, wenn Ihr im Spiele gegen mich verliert? Verschabtes Kalbsfell Du!«

Marc warf die Karten auf den Tisch, der Tambour sprang auf.

»He, ruhig! Frieden! setz Dich, Antoine!« rief der Sergeant. »Und Du, Marc, wo ist Deine Philosophie? Antoine ist ein Esel, aber er hat Dich nicht beleidigen wollen.«

»Herr Sergeant, über den Esel sprechen wir uns morgen!« sagte Antoine.

»Ich bin gespannt auf Deinen naturhistorischen Vortrag, Tambour; vielleicht schließ' ich mich an mit einer Abhandlung über das Kameel; für jetzt aber nimm die Karten wieder. Allons! fortgefahren!«

Sie spielten weiter; nach einer Weile sagte der Sergeant:

»Ich habe einen Brief vom Grafen Villardin bekommen.«

»Er ist in X. am Rhein,« erwiederte Marc, indem er einen lauernden Blick über seine Karten weg auf den Sergeanten warf.

»Woher weißt Du das?« fragte der Sergeant verwundert.

»Woher? Nun, ich habe meine Quelle. Er macht ein großes Glück, der edle Graf!«

Der Sergeant fand für gut, das Gespräch nicht weiter fortzusetzen. Bei Marc hatte sich der Ton der Stimme verändert, seitdem die Rede auf Villardin gekommen. Es lag etwas Dumpfes, Verhaltenes darin.

» Mille tonnerres!« rief nach einer Pause der Sergeant aus, »ich bin zu Ende! Alles fort!«

Er schob die Karten von sich.

»Siebenundvierzig Franken!« zählte lachend der Gewinner. –

Der Sergeant stampfte auf den Boden und warf in seinem Grimme die erloschene Thonpfeife in den Winkel, daß sie in hundert Stücke auseinander stob.

»Sey mir nicht gram, Etienne,« sagte Marc; »und ehe Du gehst, laß mich Villardin's Brief lesen.«

»Dich, Marc Serrier? Nein!«

»Du willst nicht? So höre! sieh, dieses Geld, Deine siebenundvierzig Franken – ich setze sie noch einmal aufs Spiel; willst Du dagegen halten mit dem Briefe?«

Der Sergeant besann sich. Marc Serrier füllte ihm das Glas mit der Neige der Bowle.

»Nun, Etienne?«

»Es geht nicht. Ich bin sein Agent hier, seine rechte Hand, der Besorger einer menus plaisirs; die Stelle hat ihr Einträgliches. Er soll nicht sagen dürfen, daß sein alter Sergeant zum Verräther an ihm geworden! Nein, nein – geh zum Teufel, Schlange! Du willst mich versuchen!«

Marc Serrier schob das Geld in die Mitte des Tisches.

»Da ist die Summe,« sagte er, »und da sind die siebenundvierzig Franken, die Antoine verloren hat, ebenfalls. Vierundneunzig Franken. Verlierst Du, nun, so hast Du den Brief verloren, verstehst Du? oder er ist Dir gestohlen worden. He? Du willst doch nicht,« fuhr er fort, als der Sergeant noch immer unschlüssig blieb, »daß ich Dir das Geld als Kaufpreis für das Papier bieten soll? Wäre es schön, Etienne, einen alten Kameraden so zu prellen?«

»Nein, Marc, das fällt mir nicht ein! Mille tonnerres, das wäre unredlich gehandelt! das wäre gegen meine Ehre! Nein, nein, dann lieber ein ehrlich Spiel!« –

Er nahm die Karten und mischte.

» Coupez!«

»Den Brief auf den Tisch!«

»Da ist er!«

Sie spielten. Marc Serriers Gesicht war todtenblaß. Dann überflog eine helle Röthe dasselbe.

» Gagné!« sagte er leise, nahm den Brief und strich das Geld zum zweiten Male ein.

»Mögen neunundneunzig Teufel Dich holen!« fluchte der Sergeant, indem er aufstand und seinen Hut suchte. »Du lockt mich sobald nicht wieder in Deine Luchshöhle, mauvais Garnement

Er ging; Antoine folgte ihm mit einem mißmuthigen »Gute Nacht!« und Marc Serrier leuchtete ihnen die Stiegen hinunter. Als er in das Zimmer zurückkam, riß er mit zitternder Hast den Brief auf und las ihn.

»Es ist nicht, was ich erwartete,« sagte er, »aber es wird auch so etwas damit zu machen seyn.«

Er warf sich angekleidet auf sein dürftiges Bett, das aus nichts Anderem als einem Strohsack, einem mit Seegras gefüllten Kopfpfühl und einer Fuhrmannsdecke bestand. Der Schlaf floh ihn lange Zeit. Als er endlich die Augen geschlossen, murmelte er im Traume mit dem Zähneknirschen eines unbändigen Grimmes unarticulierte Laute. Nur das eine Wort wurde verständlich: » Il est mûr!«


V.

Wir brauchen einige Tage zur Rückreise von Paris an den Rhein. Melworth war es während derselben gelungen, der meist still in sich versunkenen Helene, über welche eine gewisse Apathie gekommen zu seyn schien, immer größere Theilnahme für sich und seine Gespräche abzugewinnen. Er sprach sie täglich, manchmal eine ganze Stunde lang, nach der Tafel – denn sie erschien jetzt regelmäßig zu Tisch, während sie früher sich oft hatte entschuldigen lassen. Es war, als ob etwas Erfrischendes, Stärkendes, Anregendes in seinen Worten für sie läge. Ihr Teint färbte sich höher, wenn sie seinen begeisterten Schilderungen der transatlantischen Natur lauschte. Vor Allem interessierte sie die Schifffahrt, die Einrichtung der Kriegsschiffe, das Leben auf ihnen. Es war ihr, als fühlte sie den frischen Seeduft oder den würzigen Waldgeruch der Urwälder bei seinen Beschreibungen.

Auf seine früheren Behauptungen von einem anderen Glauben, einem anderen Fühlen der transatlantischen Menschheit war er nur einmal zurückgekommen. Sie hatte ihn mit einigen treffenden Worten, gegen welche sich nichts sagen ließ, zu widerlegen gesucht.

»Sie sind praktisch tüchtiger, über ihre Zwecke und ihre Mittel klarer in America,« sagte sie, »als wir hier, ihre Staatseinrichtungen dem Gedeihen des Gemeinwesens vielleicht förderlicher, den Berechtigungen des Einzelnen vielleicht gemäßer, der Nation würdiger, als die unseren. Es mag auch eine größere Anzahl Glücklicher dort geben, als hier. Aber daß ein anderer Glaube, eine andere Moral sie gesunder mache, glaube ich nicht. Der Mensch ist überall derselbe, und der Mehrzahl Religion ist und bleibt hüben wie drüben der Cultus des Ich.«

»Eine Religion, die auch ihre Märtyrer hat!« fiel Graf Villardin ein, der hinzutrat.

»Sehr tief und geistreich,« sagte Helene mit einem bitteren Ausdruck, »aber ich verstehe es nicht.«

Melworth konnte ein Lächeln auf Kosten des Grafen nicht unterdrücken. Es lag für ihn eine große Genugthuung darin, daß Helene in seiner Gegenwart ihrem Verlobten diese Antwort gab. Er hatte sie sonst immer nur das Nöthigste mit einer gewissen sylbenkargen Unterwürfigkeit mit ihm reden hören.

Täglich um die Stunden, wo die Dampfschiffe ankamen, begab sich Melworth an den Landungsplatz, voll Erwartung nach Wilibald Espe ausschauend. Endlich brachte der »John Cockerill« den Ersehnten. Der Buchhalter stand am Bugspriet und winkte schon von Weitem seinen Gruß, indem er in freudiger Hast den Strohhut schwenkte. Melworth konnte kaum abwarten, bis das Boot angelegt hatte; endlich war die Planke hinüber geworfen, und zwischen kollernden Hutschachteln und über Barrieren von Nachtsäcken und Koffern kam Herr Wilibald Espe im grünen Paletot von Bord herüber geschossen. Er hing sich in großer Aufregung an Melworth's Arm.

»Was bringen Sie?« sagte dieser, als sie aus dem Gewühl waren.

»Etwas, das mich hoffen läßt, wenn es auch nicht so viel ist, als ich eigentlich erwartet habe. Und Ihre Nachrichten? was hören Sie aus Paris?

»Nichts! meine Freunde versichern mir, nichts über ihn in Erfahrung bringen zu können. Paris ist groß.«

»So hören Sie, was ich erkundschaftet habe.«

Wilibald erzählte dem Americaner, was er erfahren. Dieser hörte die Mittheilung schweigend an.

»Ist es nicht abscheulich,« hub Wilibald nach einer Pause wieder an, »daß wir uns grämen, von einem Menschen nichts Schlechteres in Erfahrung bringen zu können? Mich drückt dieß wie das Bewußtseyn eines Unrechts!

»Eines Unrechts! Mein Gott, gilt es denn nicht ihre Befreiung aus den Händen eines miserablen Menschen, der jedes unbescholtenen Mädchens, wie viel mehr dieses Engels, unwürdig ist?«

Die Heftigkeit, womit Melworth dieß ausrief, machte Wilibald stutzig. Es lag für ihn etwas Beunruhigendes darin.

Beide Freunde beschlossen nun, nach einander Herrn Sillsberg ihre Nachrichten vorzutragen. Zuerst ließ sich Melworth bei ihm melden. Der reiche Weinhändler hatte, um sich gegen die schwüle Nachmittagshitze, die draußen herrschte, zu schützen, die Jalousien vor seinen Fenstern geschlossen und sich in der Mitte seines Zimmers auf den Teppich einen Haufen Sophakissen zu einem Sitze zusammengetragen. Nachdem er seine schwere Figur darauf niedergelassen, brachte der Bediente den brennenden Meerschaum, und Herr Sillsberg thronte nun auf seinem Divan, mitten in dem dämmerigen, roth drapierten Gemach, wie ein indischer Nabob. Die inneren Kräfte seines Gemüths waren auf zwey verschiedene Bestrebungen gerichtet, nämlich darauf, durch Ruhe sich so kühl zu halten wie möglich, und zweitens, durch Abweisen jedes Gedankens sich so viel irgend thunlich vor innerem Lebendigwerden zu hüten. Seine äußere Thätigkeit beschränkte sich darauf, von Zeit zu Zeit einen Schlag mit seiner dicken Faust nach dem Individuum des Fliegengeschlechts zu führen, welches just den Frevel beging, sich summend seiner Nase zu nähern. Diese Manöver folgten regelmäßig von Zeit zu Zeit, obwol ihm die Erfahrung längst die vollständige Fruchtlosigkeit derselben dargethan haben mußte. So saß er da, eine wahre Personification des oti cum dignitate.

» Ah, Mister Yankee, how do you do?« sagte er, als Melworth zu ihm trat, und begleitete diese Worte mit einer Art Andeutung für ihn, in einem Fauteuil Platz zu nehmen. Wäre Melworth nicht so zu tiefem Ernste gestimmt und innerlich voll der ängstlichsten Spannung gewesen, es hätte ihm ein schadenfrohes Behagen gemacht, die Harpunen stachlichter Reden und beunruhigender Nachrichten nach diesem Wallfisch von Indolenz auszuwerfen. Aber auch so war er nicht geneigt, viel Umschweife zu machen, und deshalb lenkte er das Gespräch auf den eben bekannt gewordenen Betrug des Banquiers in Köln durch falsche Wechsel, und erzählte Sillsberg, wie er glaube, die beiden Betrüger im Wirthshaus »Zur Rose« kennen gelernt zu haben.

›Er halte sich nun verpflichtet,‹ fuhr er fort, ›Herrn Sillsberg nicht zu verschweigen, wie er alle Ursache habe, zu glauben, daß Graf Villardin in Beziehungen zu Menschen dieser Art stehe, die ein keineswegs günstiges Licht auf den zukünftigen Eidam würfen.‹ Er erzählte darauf Alles, was er von der oben mitgetheilten Unterhaltung der beiden Aventuriers erlauscht hatte.

Herr Sillsberg hörte dem Americaner mit immer gespannterer Aufmerksamkeit zu; er ließ die Pfeife ausgehen und lehnte sie an das Sophakissen neben sich, dann verschränkte er die Arme über der Brust und stieß ein tiefes und lang gedehntes: Oho! aus.

Plötzlich aber fuhr er mit der Hand übers Gesicht, lachte und setzte hinzu:

»Lieber Mister Yankee, meine Tochter, die Helene, ist ein hübsches Mädchen, nicht wahr?«

Er blinzte dabei so pfiffig aus seinen schmalgeschlitzten Aeuglein, daß Melworth blutroth wurde. In dieser Verlegenheit kam ihm ein Bundesgenosse zu Hilfe. Wilibald Espe trat ins Zimmer. Nach den ersten Begrüßungen sagte er:

»Herr Sillsberg, ich war auch in Genf.«

»Ei, der Tausend! ist Ihre alte Jungfer Mafoeur denn so bald curirt, oder ist sie requiescat in pace gegangen, daß Sie noch Zeit zu einer hübschen Vergnügungsreise übrig behielten, Espe?«

»Ich habe in Genf Allerlei von dem Grafen Villardin gehört, was ich für meine Schuldigkeit halte, Ihnen mitzutheilen, Herr Sillsberg,« fuhr Espe fort, ohne die theilnehmende Erkundigung nach seiner Schwester zu berücksichtigen.

»Nun, was ist denn das? angesehener Mann da im Lande, he?«

»Keineswegs, Herr Sillsberg. Die Familie steht in gar keinem Ansehen. Der alte Graf ist ein recht guter Herr gewesen, aber etwas schwach und hier« – Wilibald berührte die Stirn – »nicht so ganz recht. Er hat immer im alten Testamente gelesen und hat gesagt, er wollte eine neue Religion stiften. Gelebt hat er von einer kleinen Pension des Königs von Sardinien, und gewohnt in einem ärmlichen Dachstübchen. Er hat nämlich Alles seinen zwey Söhnen gegeben, die es flott durchgebracht, haben; von diesen ist einer in päpstliche Dienste gegangen und der andere in französische, hat aber nach einigen Jahren seinen Abschied genommen, man weiß nicht recht, weßhalb. Dieser letztere, unser Graf Villardin, hat ein sehr lockeres Leben in Paris geführt, sich mit allerlei lustigen Brüdern eingelassen und in der letzten Zeit dort ohne alles sichere Einkommen gelebt, Niemand weiß recht, wovon und wodurch!«

Herr Sillsberg hatte sich während dieser Mittheilungen immer höher aufgerichtet und stand jetzt nach einer letzten Anstrengung auf feinen Füßen.

»Herr Espe, ist das die Wahrheit?«

»Mir von glaubwürdigen Leuten, von Herren, die bei der Obrigkeit dort zu Lande sind, berichtet und bekräftigt.«

»Kein Vermögen?«

»Keinen Heller!«

»Der Lump, der nichtswürdige Mensch! Keinen Heller Vermögen! welche Niederträchtigkeit! Sagen Sie nur …«

Ein Bedienter trat in's Zimmer und überreichte Herrn Sillsberg einen Brief.

»Ein Franzose hat ihn abgegeben und sagte, es sey von großer Wichtigkeit, »meldete der Diener.

Herr Sillsberg stampfte mit dem Fuße und rief, während er das Couvert aufriß und den Brief herausnahm:

»Der Villardin soll zu mir kommen und meine Tochter, auf der Stelle, Niclas! Vielleicht,« fügte er hinzu, »ist die Sache doch nicht so schlimm: es wird viel getratscht und gelogen in der Welt. Aber was ist das – der Brief ist ja nicht an mich – ›Villardin‹ unterschrieben – was soll ich damit?«

Herr Sillsberg las:

»Mein guter, alter Etienne –

Geduld, Geduld, Geduld – sage diese drei Worte meinem Plagegeist. Nur zwei Monate noch Geduld, und die zehntausend Franken sind flüssig. Meine Heirath ist auf den 18. Juli festgesetzt. Meinen lieben Schwiegerpapa wird die Vergeltung ereilen: er hat lange genug gepreßt, gekeltert und angezapft. Aprésent ce sera son tour. Er ist mit dem Blut der Trauben reich geworden; ich denke, mit dem seinen, denn das ist sein Geld, solid zu werden. In der That, Etienne; lach' mich nicht aus, ich will solid werden. Meine Braut hat keine große Neigung zu mir; ich weiß das recht gut. Und doch liegt in dem stillen, klaren Wesen dieses Geschöpfes etwas, das über mich eine gewisse Gewalt bekommen wird. Aber das sind keine Sachen für Dich. Sende mir zu meiner Trauung einen vollständigen Anzug von meinem früheren Schneider. Das Geld mußt Du selbst auftreiben, zu fünfzig Procent, nach unserem alten Fuß.

Villardin.

N. S. Ist es wahr, daß Marc Serrier wieder in Paris aufgetaucht ist? Er muß aus dem Bagno entwichen seyn, denn von einer Begnädigung habe ich nichts gehört. Schreibe mir darüber umgehend.«

»Da ist ja Alles klar am Tage!« rief Herr Sillsberg, »klar am Tage! Also ich soll gepreßt, gekeltert, angezapft werden – Abschaum der Menschheit – Elender – Herr Espe, Sie müssen Sich schlagen mit dem Menschen!«

»Ich?« sagte Wilibald Espe stutzig, »Herr Sillsberg, das ist gegen meine Grundsätze!«

»Ich stehe zu Diensten,« fiel Melworth ein.

»Ja, Herr Melworth. Sie, Sie sollen es.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, und Helene und Villardin traten herein. Herrn Sillsberg's Zorn machte ihn sprachlos. Er konnte nichts thun, als die Rechte geballt dem Grafen entgegenstrecken.

»Herr Sillsberg,« sagte Villardin erblassend, »ist diese Art, mich zu bewillkommnen, ein Scherz?«

»Sie sind ein Lump!« donnerte der Weinhändler.

»Monsieur!« rief der Graf, indem er mit stolzer Haltung ihm einen Schritt näher trat.

»Ein Lump, der keinen Heller Vermögen hat, ein abgefeimter Bösewicht, der Geld zu fünfzig Procent leihen muß.«

»Vater, Vater!« rief Helene, ihre Hand auf feinen Arm legend, »mäßige Dich!«

Sillsberg schob sie von sich und ballte aufs Neue die Faust.

»Ein Abenteurer,« fuhr er fort, »von Haus aus ein Habenichts.«

»Vater,« sagte Helene, »Du beschimpft mich, indem Du so meinen Bräutigam beschimpft!«

»Deinen Bräutigam? dummer Schnack! Ein Mensch, der nichts hat, kann meine Tochter nicht bekommen!«

Ueber Helenens Gesicht flog eine hohe Röthe des Zornes. Sie war tief entrüstet über das Benehmen ihres Vaters.

»Ich bin keine Waare,« sagte sie, »die für Geld weggegeben wird. Du hast mich dem Grafen mein Wort und meine Treue geben lassen!«

»Daß Dich das Wetter … so höre doch nur – er ist ein Mensch, der mit Vagabunden in Verbindung steht, der …«

Wilibald Espe unterbrach ihn, indem er Helenen bei der Hand nahm, in eine Fensternische führte und mit raschen Worten über den Stand der Dinge unterrichtete; dann nahm er den eben eingelaufenen Brief vom Boden auf, wohin Herr Sillsberg ihn geworfen hatte, überblickte ihn und reichte ihn ihr. Helene überflog ihn mit todtenbleichem Gesicht, mit zuckenden Lippen.

»Ich sehe aus allem Diesem nur, daß der Graf Villardin eine Schuld in Paris, kein Vermögen hat, daß er gehaßt wird von Menschen, die augenscheinlich Betrüger sind, und daß er in unpassender Weise sich über meinen Vater ausgedrückt hat. Dieß Letztere schmerzt mich, doch es überrascht mich von ihm nicht,« fügte sie mit einem Blick voll stolzen Unwillens auf den Grafen hinzu, »das Andere aber wirft keinen Flecken auf ihn, und eben so wenig der Umstand, daß er arm ist. Ich bin meinem Rufe schuldig, nicht sagen zu lassen, ich habe mein Wort gebrochen, als ich gehört, mein Bräutigam sey arm.«

»Graf Villardin, wollen Sie selbst mir unter diesen Umständen mein Wort zurückgeben?« setzte sie, zu diesem gewandt, hinzu.

»Ich kann es nicht, ohne mein Leben wegzugeben,« erwiederte Villardin.

»So führen Sie mich in mein Zimmer zurück. Diese Scene bedauere ich, denn sie macht uns keine Ehre, mein Vater.«

Graf Villardin reichte ihr den Arm, und Helene entfernte sich mit ihm. Die drei Zurückbleibenden sahen erstaunt und schweigend einander an. Melworth schritt dann in heftiger Bewegung im Zimmer auf und ab, Wilibald warf sich auf das kissenberaubte Sopha und starrte auf den Boden, und nur Herr Sillsberg ermannte sich nach einer Pause zu einem gotteslästerlichen Fluchen.

Im nächsten Augenblick aber fühlte er sich von einem heftigen Schwindel ergriffen, und da er eine unaussprechliche Angst vor einem Schlaganfall hatte, wurde er plötzlich so zahm wie ein Lamm. Man mußte den Arzt holen, und der Arzt verordnete einen Aderlaß. Herr Sillsberg war der Verzweiflung nahe. Aber was war zu thun? – der Arzt befahl, der Bader, Herr Sapp, stand nach einer halben Stunde im Zimmer, und Herr Sillsberg mußte der scharfen Lanzette desselben herhalten, die nicht halb so scharf war, als die stechenden, moqueusen Blicke des verwünschten Alten.


VI.
Eine blutige That.

Melworth war nach der oben beschriebenen Scene innerlich vernichtet. Seine Hoffnung war geschwunden. Obendrein schien ihm seine eigene Stellung zu dem ganzen Verhältniß unedel; sie hatte etwas Demüthigendes für ihn, besonders der edlen Haltung Helenens gegenüber, die sich und ihr Glück so entschlossen ihrer Ehre und ihrem Rufe opferte. Ihr Betragen, ihr Heroismus hatte seine Leidenschaft bis auf's Höchste gesteigert. Zugleich aber stachelte es den Schmerz seiner Hoffnungslosigkeit, als er zu bemerken glaubte, daß Helene nach jener Scene mit ihrem Geschicke versöhnter als früher, daß der Graf Villardin ihr dadurch näher getreten scheine. Lag für sie eine Genugthuung darin, gewisser Maßen der einzige Halt und Schutz des Grafen geworden zu seyn? Oder hatte die Stelle seines, dem Herrn Sillsberg ausgelieferten Briefes, welche sich auf Helene bezog, für diese etwas gehabt, das sie, wenn auch nicht mit ihrem Bräutigam versöhnte, doch milder gegen ihn stimmte? Vielleicht! vielleicht täuschte sich Melworth nur über die Annäherung Beider. Gewiß war allein, daß Helene standhaft bei ihrem Entschlusse blieb und dem rauhen Ungetüm ihres Vaters einen entschiedenen Widerstand leistete.

Melworth entschloß sich, heimzureisen. Er bereute jetzt, die Heimath je verlassen zu haben; nachdem die alte Welt und ihr Aufenthalt darin ihm eine tiefe und unheilbare Wunde versetzt, drängte es ihn fort, weit fort von diesem Lande, als ob er nur Linderung und Balsam finden werde auf den Wogen des ewigen Weltmeers und jenseits desselben, in den Lüften der freien Welt des Westens. Aber je schwerer ihm wurde, sich aus dem Kreise loszureißen, dessen Mittelpunct für ihn Helene war, desto rascher und plötzlicher wollte er diesen Entschluß ausführen, um Herr über sich selbst bleiben zu können.

Melworth war ein Americaner; er konnte nicht die Rolle eines träumerischen, deutschen Werther spielen. Die Nothwendigkeit eines Schrittes erkennen und ihn ausführen, war für ihn Eins; so griff er zum Wanderstabe, voll Durst, sich in eine gedankenfesselnde Thätigkeit, wie sie daheim ihn erwartete, zu werfen. Die Höflichkeitsphrasen zum Abschiede für Herrn Sillsberg wurden ihm schwer, aber schwerer noch, das rechte Wort bei der Trennung von Helenen zu finden.

»Sie gehen?« sagte sie, indem ihr Auge mit einem Ausdruck von Staunen und Ueberraschung auf ihm ruhte.

»Ich muß!« versetzte er.

»Weßhalb müssen Sie? aber nein, nein, antworten Sie mir nicht! Reisen Sie unter Gottes Schutz. Ich glaube, Sie werden Ihre Heimath wieder betreten mit anderen Urtheilen über unseren Glauben und unsere Art, zu fühlen, als Sie herübergebracht haben. Es wird für mich ein Trost seyn, denken zu können, ich habe Theil an dieser Umstimmung Ihres Urtheils.«

Melworth sah sie fragend an.

Helene schien eine Art Schauder niederzukämpfen, der sie anwandelte.

»Ich mag nicht in die Zukunft sehen,« sagte sie, »sonst würde ich Ihnen etwas über die Hoffnung eines künftigen Wiedersehens, eines nochmaligen Begegnens im Leben sagen. Sie sind mein Freund geworden, ich weiß es. Ich danke es Ihnen, denn es hat ein großer Halt für mich darin gelegen. Ich habe empfunden, daß mein Benehmen sich in der Seele eines Freundes abspiegele, und deshalb habe ich es zu einem Ehrenpunkte gemacht, daß sich mein Bild würdig und edel in diesem Spiegel zeige.«

Melworth sagte einige Worte zur Erwiederung – er wußte in völliger Verwirrung selbst nicht recht, was, als Helene plötzlich das Gesicht in die Kissen ihres Sophas barg und heftig schluchzend ihm winkte, zu gehen. Er preßte einen Kuß auf ihre herabhangende Hand, nahm eine Bandschleife von ihrem Arbeitstisch und stürzte hinaus.

Im Vorzimmer küßte er die Schleife und nahm jetzt mitten darin eine Perle wahr, die, in eine Nadel gefaßt, das Band befestigt hatte. Er zog sie heraus, und da er Helenens Mädchen auf sich zukommen sah, gab er ihr die, steckte die Schleife in den Busen und eilte hinaus ins Freie.

Den Abend brachte er bei Wilibald Espe zu, der tief traurig war, den Freund, an dessen thatkräftigem Lebensmuthe er sich so oft aufgerichtet hatte, zu verlieren. Trotz Villardin's katzenhafter Freundlichkeit gegen ihn in der jüngsten Zeit war es Melworth unmöglich, diesen noch zu sehen. Aber noch lange schritt er am Abend den Leinpfad zwischen den Weiden und dem Flusse auf und ab, halt- und rathlos in seinem Inneren, und grübelnd über Helenens letzte Worte und ihren Schmerz beim Abschiede von ihm.

Also um in seinen Augen groß und vorwurfslos dazustehen, hatte sie die Befreiung von sich gewiesen, die ihr Vater, freilich in unedler Form, für sie gefordert hatte? In diesem Gedanken lag etwas, das ihn schwindeln machte.

Als am anderen Morgen über X. die Sonne aufging, stieg James Melworth in eine Postchaise, die vor dem Hotel hielt, wo er die letzte Nacht oder vielmehr die letzten Stunden derselben zugebracht hatte.

Etwa drei Stunden später kam ein junges Mädchen, welches alle Morgen nach Graf Villardin's einsam gelegener Villa hinaufstieg und dem Bedienten die Milch brachte, womit dieser seines Herrn Frühstück zubereitete, schreiend den Bergweg heruntergelaufen. Als sie an den ersten Häusern der Stadt angekommen war, sammelte sich ein Haufe Neugieriger um sie, und sie erzählte nun mit angstbleichem Gesichte und in athemloser Hast, wie sie oben vergeblich und immer wieder vergeblich an die Hausthür geklopft; da habe sie wie ein dumpfes Röcheln und Aechzen vernommen, sey auf die andere Seite des Hauses gegangen und habe hier ein Fenster, das in die Stube des Bedienten gehe, geöffnet gefunden. Ein Gartenstuhl, der unter dem Fenster gestanden, habe ihr möglich gemacht, hinein zu blicken, und da hatte sie den Bedienten vor seinem Bett auf dem Boden des Zimmers liegen gesehen, gebunden, ganz blau im Gesichte und mit den Füßen zuckend. In Todesangst war sie nun heruntergestürzt.

Nach wenigen Minuten war ein Haufe Menschen auf dem Wege nach dem Landhause. Man fand, was das Kind erzählt hatte. Als die vordersten Männer durch das offene Fenster in die Schlafkammer des Bedienten gesprungen waren, schien es die höchste Zeit, dem Aermsten zu Hilfe zu kommen; sie erhoben ihn vom Boden und lösten die Stricke, womit ihm die Hände und Füße gebunden waren, rissen den Knebel fort, der ihm die Stimme nahm, und brachten ihn so nach einer Weile wieder zu der Besinnung, um welche die Mißhandlung ihn gebracht hatte.

Fragen bestürmten ihn nun; aber er machte sich, ohne zu antworten, mit einigen Ellbogenstößen Platz durch die inzwischen hereingedrungene Menge und stürzte zum Schlafzimmer seines Herrn. Er riß die Thür auf und stieß dann einen heftigen Schrei aus. Die Menge drängte sich nach in dieß Gemach.

Der Graf Villardin lag todt auf feinem Bett. Die Hand eines Mörders hatte eine blutige That an ihm verübt.

Der Todesstoß mußte ihn im Schlafe getroffen haben. Wenigstens schien er ihn ohne Gegenwehr empfangen zu haben; er lag ausgestreckt in seinem Blute da; eine tiefe, klaffende Messerwunde befand sich in der Gegend des Herzens. Das Gesicht des Todten war schrecklich; der Todeskampf mochte rasch vorüber gegangen seyn, aber er hatte den verzerrten Zügen einen so scheußlichen Ausdruck aufgeprägt, einen Ausdruck von verzweifelndem Haß und Raserei gepeitschter Angst, daß die rohen Gemüther der Fergen und Tagelöhner, welche das Zimmer füllten, davon erschüttert sich abwandten.

Der offenstehende Schreibtisch des Grafen war ausgeraubt.

Erst nach geraumer Zeit war es möglich, den in starrem Schrecken wieder verstummten Diener des Getödteten zu einer zusammenhängenden Erzählung des Vorgefallenen zu bringen. Es sey nach Mitternacht oder etwas später gewesen, wie er annehmen müsse – sagte er und wiederholte es eben so später der Behörde; – sein Herr habe sich früh niedergelegt, und er sey diesem Beispiele gefolgt. Aus tiefem Schlummer sey er sodann durch einen Schmerz an den Armen erweckt worden – als er sich aufrichten wollen, habe er eine schwere Hand auf seinem Gesichte gefühlt, die scharfe Spitze irgend einer Waffe an seinem Halse.

» Tais-toi, ou meurs!« Diese Worte habe ein vor ihm stehender, er glaube, in eine Blouse gekleideter Mensch geflüstert. Die Nacht sey dämmerig-hell genug gewesen, um eine kräftig gebaute Gestalt zu erkennen, die Züge aber habe die Dunkelheit und auch der überwältigende und alle Geistesgegenwart raubende Schrecken ihn aufzufassen verhindert. Nur ein paar glühe Augen stehen ihm noch vor dem Gesichte. So habe er sich dann im nächsten Augenblick, ohne Versuche der Gegenwehr zu machen, geknebelt gefühlt und ebenfalls an den Füßen gebunden. Der Verbrecher sey darauf aus seinem Gesichtskreise verschwunden, aber er habe die Thür zum Schlafgemach seines Herrn sich öffnen gehört und nach einer ziemlich langen Pause ein Röcheln, einen leisen Schrei und wieder einen Schrei, schwächer als der erste; dann ein Aechzen – dieß sey in der stillen Einsamkeit der Nacht so grauenhaft und schrecklich gewesen, daß er die Besinnung verloren. Erweckt worden sey er aus diesem Zustande dadurch, daß er den schweren Fuß des Mörders auf seiner Brust gefühlt, und zwar habe er demselben als Schemel gedient zum Hinaussteigen aus dem Fenster, welches sich über seinem Bett befand. Das sey Alles, was er anzugeben wisse.

Der Bediente, ein schwacher, schüchterner Mensch, der in Folge seines Schreckens in eine wochenlange Krankheit verfiel, blieb sich bei diesen Aussagen auch später fortwährend treu. Herrn Sillsberg wurde nach kurzer Zeit die Kunde von der blutigen That hinterbracht. Sie erschütterte ihn, aber er blieb sich selbst treu genug, um hauptsächlich das für ihn Unangenehme derselben heraus zu fühlen, und so eilte er in großem Zorne über seine Tochter, deren Wille ja allein den Grafen in X. zurückgehalten hatte, in Helenens Zimmer.

Helene Sillsberg stand in der Mitte ihres Boudoirs, blaß, zitternd an allen Gliedern, einen Strom von Thränen vergießend und die Hände ringend. Als ihr Vater eintrat, rief sie:

»Um Gottes willen, es ist nicht möglich, es kann nicht seyn, es ist Lüge, Lüge, Lüge!«

»Kind, bist Du toll – der ganze Ort ist voll davon. Ich hab's Dir gesagt – Du hättest ihn laufen lassen sollen!«

»Nein, nein, es ist Verleumdung – o, es wäre zum Herzbrechen – er sollte das gethan haben!«

»Gethan haben? das Thun ist bei ihm aus, er ist todt!«

»Todt? Melworth todt? O Gott!« rief Helene und wankte mit brechenden Knien nach dem nächsten Sessel.

»Melworth? Wer spricht von dem Mister Yankee? Was hast Du denn – was ist Dir?«

»Da, da lesen Sie es –« versetzte Helene, indem sie ein Blatt vom Boden aufnahm, wohin sie es geworfen hatte. »Da, hier!«

Herr Sillsberg nahm das Blatt; es war eine Beilage zu der eben im Orte ausgegebenen Nummer der »Kölnischen Zeitung.« Als sein Blick auf die von Helenen angedeutete Stelle fiel, sagte er:

»Was? einen Steckbrief? den soll ich lesen? ei, zum Henker, was ist das?«

Er las:

Namen: James Melworth, Alter: 27 bis 29 Jahre; Statur: schlank; Gesichtsfarbe: gesund; Haare: hellbraun; Stirn: hoch; Augen: blau u. s. w. bis auf die »besonderen Kennzeichen,« die in einem Leberflecken unter der rechten Schläfe bestanden.

»Der Melworth!« rief Herr Sillsberg aus, »wer hätte das geglaubt? Was hat er denn gemacht – laß sehen –

– ›mehrer betrüglichen Handlungen und der Fälschung eines Creditbriefes im höchsten Grade verdächtig, sich aber der eingeleiteten Untersuchung durch die Flucht entzogen hat, so werden alle Behörden, Polizeimannschaften u. s. w. geziemend ersucht, auf gedachten J. Melworth vigiliren und ihn im Betretungsfalle wolverwahrt dahier abliefern lassen zu wollen. Br., den 27. August 183*. Großherzogliches Bezirksamt.‹

Gott im Himmel! gut, daß er mir nicht mit einer Ladung Wein durchgegangen ist!« rief Herr Sillsberg aus; aber so erstaunt er auch über das Gelesene war, so drängte sich bei ihm das wichtigere Ereigniß doch zu sehr vor, als daß er nicht gleich darauf mit der Nachricht herausgeplatzt seyn sollte. Helene war wie vom Donner gerührt.

»Und« – fuhr Sillsberg fort, als Helenens heftige Gemüthserschütterung sie hinderte, ihm auch nur eine Sylbe zu antworten – »weißt Du, was mir da durch den Kopf fährt? – Nun, ich will noch nichts sagen! aber ein Freund vom Villardin war Melworth nicht, und – aber wir wollen erst sehen, was weiter kommt!«

Dieß war der weiseste Entschluß, den Herr Sillsberg fassen konnte; denn hätte er auch noch Vieles gesagt, gehört hätte ihn seine Tochter doch nicht. Sie war innerlich so erschüttert und überwältigt, daß sie ihrer Sinne nicht mehr Herrin war. Die Schläge ihres Herzens drohten sie zu ersticken. Sie fühlte sich krank und mußte sich niederlegen.

Diese Stunde hatte ihr Alles entrissen, was sie besaß; sie hatte ihre Liebe verloren – ja, ihre Liebe, denn sie fühlte es jetzt, daß Melworth sie gehabt, – ihr Vertrauen zu den Menschen und ihren Schmerz; den Schmerz, der in ihrem Verhältnisse zu Villardin gelegen hatte und mit dem sie auch die tröstenden, großartigen Frauen-Ideen verlor, welche ebenfalls darin gelegen hatten. Dazu war die blutige That so dicht neben ihr, in ihrem nächsten Lebenskreise vorgefallen, daß ihr nicht allein das Grausen die tiefsten Seelenfasern erschüttern mußte, nein, daß sie auch auf eine gewisse Weise sich an jener That mitbetheiligt fühlte; als ob sie selbst als Mensch einen Theil der Verantwortlichkeit für eine Schuld zu tragen habe, die von Menschenhänden so dicht neben ihr begangen werden konnte und deren Frucht ihre Befreiung war, eine Schuld, worin der Keim eines Glückes für sie lag. Hierdurch war ihrer Seele der erste Anstoß zu heftigem Phantasiren gegeben, welches während eines mehrtägigen Fiebers ausbrach.

Aber sie war ja frei! In diesem Gedanken lag ihre Heilung, nachdem die Wirkungen des ersten, fürchterlichen Eindrucks vorüber gezogen waren. Sie war frei!

Woher kam es, daß Helenens Züge dennoch blaß blieben, daß die frühere, stille Schwermuth dennoch ihre dunklen Schwingen beschattend über sie breitete? Die Rosen kehrten nicht auf ihre Wangen zurück, und die Rosen, welche das Leben ihr bieten konnte, wurden nicht von ihr beachtet. Vergeblich fragte sich Wilibald Espe nach der Ursache, er saß grübelnd in seinem Thurm, manchen lauen Sommer-Abend, und fragte den Mond, der mit seinem milden Glanz ruhig über den strömenden, drängenden Wellen des Rheines stand und sich spiegelte, wie ein hoher und glänzender Gedanke über dem Drängen und Strömen einer bewegten Existenz. Aber Wilibald erhielt keine Antwort auf feine Fragen. Er begriff es nicht, weßhalb Helene nicht mehr in solchen Stunden ihm gegenüber in ihrem Erker stehe und die Klänge eines ihrer Lieder weithin in die duftigen Abendlüfte streue. Oder ahnte er es doch und scheute sich nur, sich die Antwort zu sagen?

Unterdessen wurden eifrige Untersuchungen angestellt, um den Urheber des Mordes zu entdecken. Im Anfang wußte man durchaus nicht, auf wen der Verdacht irgend gelenkt werden könne. Der Bediente vermochte in den fortgesetzten Verhören nichts weiter anzugeben, als was er gleich im Anfang ausgesagt hatte. Ueber des Ermordeten Vergangenheit wußte er keine Aufschlüsse zu gewähren; er war erst zwei Tage vor des Grafen Abreise von Paris von diesem in Dienst genommen, hatte ihn nach Straßburg, Frankfurt und den Rhein hinunter bis nach X. begleitet. Der Graf habe gelebt, sagte er, wie andere Herren seines Standes auch; besondere und auffallende Verhältnisse habe er nicht bemerkt, als allenfalls, daß sein Herr sehr hoch und gewöhnlich mit Glück gespielt habe. Doch sey ein Russe nachgekommen, der seinem Herrn, wie er glaube, das Meiste wieder abgenommen. Dieser habe ihm nun angekündigt, daß die Reise fortgesetzt werden solle und zwar nach Ems. Doch habe er plötzlich nach einer Unterredung mit dem Wirth in der Rose und einem Besuche, den er darauf beim Herrn Sillsberg gemacht, ihn hier in X. auspacken heißen.

Der Wirth gab im Verhöre an, daß er in jenem Gespräche auf die Erkundigungen des Fremden ihm von den Verhältnissen des Ortes und von Herrn Sillsberg, seinem Reichthum und seiner einzigen Tochter erzählt, wofür der Reisende großes Interesse bewiesen.

Der Bediente sagte nachträglich aus, daß er eines Abends im Zimmer seines Herrn gewesen, als dieser noch spät an seinem Schreibtisch gesessen. Auf einmal sey der Graf mit einem leisen Ausruf wie erschrocken in die Höhe gefahren. Er, der Bediente, habe gefragt, was ihm zugestoßen, worauf der Graf erwiedert: »Nichts, nichts, ich glaubte, es sehe Jemand durchs Fenster; es war eine Täuschung!« Doch sey er sehr unruhig im Zimmer hin- und hergefahren, endlich hinausgegangen und habe mit ihm die Runde um das Haus gemacht, wobei sie aber Niemanden zu Gesicht bekommen hätten.

Die öffentliche Meinung des Städtchens X. spaltete sich nun in zwey Parteien. Die eine suchte den Schlüssel zu der That in den früheren Lebensverhältnissen des Grafen, die andere entschied sich für Annahme eines Raubmordes durch ein Individuum, von dem man wußte, daß es sich in den öden Gegenden der Eifel und des Hundsrücks umtrieb und das sich dort einsamen Wanderern furchtbar gemacht hatte. Man wollte diesen Menschen einige Tage vorher in der Nachbarschaft von X. wahrgenommen haben, in einem Dorf, in welchem die Nacht darauf die Wäsche von der Bleiche verschwand.

Da entschloß sich Herr Sillsberg, an einem ländlichen Feste Theil zu nehmen, welches das Winter-Casino veranstaltete, und das, wie Herr Sillsberg sagte, darin bestand, daß man voll Staub und Schweiß eine benachbarte Burgruine erkletterte und dort Erfrischungen zu sich nahm, zu denen man unten auf weit kürzerem Wege und mit weit weniger Mühe, Hitze und Ermattung kommen könne. Herrn Sillsberg's Unmuth darüber versetzte ihn in eine gewisse, ironische Laune, die man in X. an dem Matador schon kannte, wenn man auch nicht immer Grund hatte, sich ihrer Liebenswürdigkeit zu berühmen.

Von da an datierten sich andere Hypothesen. Herr Sillsberg ließ gewisse, schlaue Winke fallen, welche sehr geheimnißvoll und verschleiert gehalten waren und die dennoch jedes Kind verstand. Er sprach vom Mister Yankee. Er fand es sehr auffallend, daß Herr James Melworth so urplötzlich davon gereist sey, ohne sich um den Weintransport zu bekümmern, um dessentwillen allein er sich doch mehre Wochen bei ihm aufgehalten. Er bedauerte diese Abreise für Herrn Melworth, da dieser sich gewiß nicht gern von seinem Hause getrennt habe, worin er einen so angenehmen Freund wie den Grafen Villardin gehabt, obwol es zuweilen freilich zwischen ihnen zu kleinen Stachelreden gekommen sey, wobei der Herr Melworth immer so bleich vor Wuth geworden wie das Tischtuch. Herr Melworth sey gewiß ein respectabler »guter Freund«, aber es sey doch etwas auffallend, wenn man gegen einen anständigen Herrn, den man bei sich im Hause bewirthet, plötzlich einen Steckbrief in die Hand bekomme. Uebrigens müsse er, da einmal die Rede vom Herrn Melworth, doch ein kleines, seltsames Stücklein von demselben erzählen. Das Mädchen seiner Tochter habe nämlich einmal gesehen, wie Mister Yankee eine schöne Perle Helenens vor lauter Zärtlichkeit und Hochschätzung derselben habe in seinen Busen stecken wollen, bis er, von dem Mädchen sich überrascht sehend, die Perle dieser wieder ausgeliefert habe.

Herr Sillsberg schloß eine sarkastische Rede, indem er sich von Herzen Glück wünschte, daß er seine beiden Gäste zumal losgeworden und zwar auf Nimmer-Wiedersehen.

Von nun an war in K. nur noch Eine Stimme, die sich nebenbei auch auf den Wirth »Zur Rose« stützte, welcher aussagte, Melworth sey in jener Nacht, worin das Verbrechen geschehen, der letzten vor seiner Abreise, erst spät nach Mitternacht heimgekommen, offenbar in sehr aufgeregtem Zustande; dann habe er sogleich seine Sachen gepackt und am frühesten Morgen des folgenden Tages mit der größten Unruhe seine Postpferde erwartet.

So wendete sich aller Verdacht einstimmig auf den Americaner. Auch die Behörden wurden dieser Meinung und betrieben darauf hin ihre Untersuchungen nur noch sehr lau, da sie doch nicht hoffen konnten, den Flüchtling, welchen jetzt längst andere Zonen aufgenommen, je zu erreichen.

Niemand aber war, der den armen »Mister Yankee« in Schutz genommen hätte; keine Hand erhob sich, um für seine Reinheit von der gräßlichsten Blutschuld zu zeugen. Wilibald Espe hatte wol seine eigenen Gedanken; er dachte immer an jene Unterredung, welche James Melworth in der ersten Nacht seines Aufenthalts in X. erlauscht hatte und welche auf ganz andere Thäter zu weisen schien. Aber Herr Sillsberg erklärte dieß ganze, erhorchte Gespräch jetzt für ersonnen und erlogen, von Anfang bis zu Ende, eine Geschichte, womit man ihm habe ein X. für ein U. vormachen wollen, um den Villardin bei ihm oder seiner Tochter zu ruinieren. Und Herr Sillsberg war ein Mann, dem sich nicht widersprechen ließ, wenn er einmal etwas erklärt hatte.


VII.
Zwey Passagiere.

Melworth hatte unterdeß ein gutes Stück seines Weges hinter sich. Er war rheinabwärts gereis't und hatte, in Holland angekommen, sich nach Antwerpen gewandt, um sich dort einzuschiffen.

Die ersten Tage seiner Reise war er in der verzweifeltsten Gemüthsstimmung gewesen. Oft hatte er sich an den Bord des Dampfschiffes, das ihn von Coblenz aus den Rhein hinunter trug, gestellt und hinabgeblickt in die weißgefranzten, grünen Wogen, welche von den Räderschaufeln aufgewühlt wurden.

Dann war es ihm, als ob es keine Fabel sey, daß dort unten ein Wesen und Treiben in der Tiefe, daß dort ein Reich von Geistern sey, die da Macht hätten über den sinnenden Menschen und ihn zu sich hinabzögen. Wie ein Roß, das sich selbst in das Messer drängt, dessen verwundende Schneide es fühlt, trieb es ihn immer tiefer in Gedanken hinein, die eine tödlich verwundende Schärfe für ihn hatten. Er dachte sich Helenen und Villardin zusammen; er malte sich ihre Häuslichkeit aus, er grübelte über Helenens Gefühle in solcher Situation, ihren Schmerz, ihre innere Vernichtung und – verhüllte sein Gesicht, um nicht länger in die Wogen zu blicken, die ihn niederzogen!

Eine gewisse, milde Linderung seiner schmerzlichsten Gefühle ward James Melworth, als er, in Holland angekommen, dieses Land durchreis'te. Er kannte es nicht, und trotz seiner Stimmung hatte es etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Was er sah, vermochte in ihm den Keim einer Art resignierter, beschaulicher Lebensphilosophie zu wecken, die, mit einer gewissen Ironie versetzt oder einen schmerzlichen Humor anregend, etwas Tröstliches für ihn hatte.

Dieses Holland, sagte er sich, ist ein vornehmes, ein durchaus philosophisches Land; es ist das Land, nach dem wir eigentlich Alle streben, das Land der Ruhe. Ein feuchtes Klima beruhigt die Nerven. Der gemäßigte Gang der Treckschuite, auf der man einherfährt, durch ein stilles Canalwasser plätschernd, lullt in ein behagliches Gedanken-Abspinnen ein, und die ruhenden Heerden auf dem unabsehbaren Einerlei saftgrüner Wiesen geben das beste Beispiel practischer Lebensweisheit. Da ist nichts Heftiges, Ueberschnelltes, Gewaltsames, nichts Forciertes. Wenn man durch die stillen Dörfer, die reinlichen Städtchen kommt, wie erinnert da Alles an ein gesegnetes Leben, das ohne Geistesaufwand und Denkmühsale, ohne Emotionen, ohne Lärm, ohne ängstliches Drängen, Stoßen und Treiben dahin fließt! Da steht Mynheer und raucht aus der langen Thonpfeife, ein Ideal der Gefaßtheit für Alles, was da kommen mag. Nur die plebejischesten Creaturen können Lärm machen in dieser Welt behäbigen Bestandes und aristokratisch abgeschlossener Ruhe – nur die Hunde, welche die Räder des Wagens anbellen, und die Sperlinge, welche schreiend aus den Hecken aufstäuben! Ueberall sonst die sichere Haltung, welche ein gutes Gewissen oder auch etliche Tonnen Goldes dem Menschen verleihen; überall Vernunft und der Ausdruck conservativer Gesinnungen. Denn über allem Seyn ruht hier der süße Genius des Phlegma, welcher der Bruder der Tugend ist.

Das große Dampfschiff » The british Queen« war damals von einer antwerpener Gesellschaft angekauft, um eine direkte und regelmäßige Verbindung zwischen Antwerpen und Nordamerika zu unterhalten. Melworth las Ankündigungen, daß es im Begriffe sey, die Anker zu lichten; deshalb beschloß er, mit ihm die Ueberfahrt zu machen. Wenige Stunden nachdem er an Bord angelangt, stach es in See. Dem Sohne der neuen Welt wurde wol und wehe, als er die Seeluft wieder athmete. Er richtete sich hoch und stolz auf und ließ vom Bord die Blicke über die blaurollende Unendlichkeit gleiten, über die er in seine freie Heimath zurückgetragen werden sollte. Aber feucht wurden seine Augen, als er am fernen Horizont die Küsten schwinden sah, hinter denen Deutschland lag.

»Wunderbares Land!« rief er aus, »mögen wir noch so stolz auf deine politische Unmündigkeit hinabsehen; du weißt uns doch eine Seite abzugewinnen, an der du uns verwundbar findest, und ein Zauber ist in deine Macht gegeben, der unsere Seele mit geheimnißvollen, aber unzerreißbaren Fäden umspinnt!«

Melworth war nicht in der Stimmung, in welcher man sich nach Gesellschaft sehnt. Unter denen, die mit ihm die Ueberfahrt machten, war Niemand, welcher ihn hätte eine Annäherung suchen lassen. Nur Eine Gestalt fiel ihm auf, es war ein Mann von etwas gebückter Haltung, aber von einer gedrungenen, breiten Figur, die auf herculische Kraft deutete. Er hatte schwarzes, krauses Haar, das hier und da einen Anflug von grauem Schimmer bekam; das Gesicht dieses gewöhnlich in einen grauen Paletot gekleideten und etwas unstät in den verschiedenen Schiffsräumen sich umtreibenden Individuums hatte etwas Auffallendes; der obere Theil war von der Natur in schöne und edle Züge ausgeprägt worden, während der untere Theil, besonders der Mund, etwas Thierisches, ja, mehr als das, etwas Dämonisches hatte. Das ganze Gesicht war wettergebräunt, wie es schien, von Leidenschaften durchfurcht, und außerordentlich beweglich. Der Mann sprach französisch; welchem Stande er angehörte, war nicht leicht zu sagen; zuweilen saß er zwischen einem Haufen der Matrosen, denen er eine Flasche Branntwein zum Besten gab und Lieder vorsang; dann mischte er sich mit der größten Gewandtheit und mit vielem Anstande in das Gespräch der gebildeteren Cajüten-Passagiere, und in anderen Stunden wieder schien er voll düsterster Laune jede Ansprache zu vermeiden und Gedanken der traurigsten Art nachzuhängen.

Melworth interessierte dieser Mensch deshalb schon, weil er auch ihn mit einer großen Aufmerksamkeit zu beobachten schien.

Einmal, als Melworth lange zerstreut an einen Mast gelehnt gestanden hatte, und darauf um sich blickte, sah er den Franzosen einige Schritte weit von sich entfernt auf einem Haufen Schiffstaue sitzen und ein Papier in den Händen halten, von dem er alle Augenblicke die Augen erhob, um ihn forschend anzusehen.

»Haben Sie vielleicht da ein Bild, dem ich ähnlich sehe?« fragte Melworth ihn. –

»Zufällig frappant,« antwortete der Mann mit verschmitztem Lächeln, indem er das Blatt zusammenschlug und in die Tasche steckte.

Melworth hatte Zeit, einen Blick hineinzuwerfen; es war kein Bild, sondern ein beschriebenes Stück Papier.

Der Franzose erhob sich.

»Sie kehren auch wol niemals dahin zurück?« sagte er mit demselben Lächeln wie vorher, indem er über die Schulter nach Osten wies, dahin, wo Europa lag.

»Ich? Ich weiß nicht; weßhalb nicht?«

»Nun, nun, nicht so böse! Es ist doch so, wie ich sage. Sehen Sie in mir einen Freund, mein Herr. Es gibt Lagen – man kann in Stellungen zur Gesellschaft gerathen, wo es räthlich ist, sich an einander anzuschließen!«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Begreiflich. Aber Sie werden es.«

Das Gespräch hatte hiermit ein Ende, indem der Franzose sich abwandte und auf dem Verdeck auf und ab schritt.

Melworth erneuerte die Unterredung am anderen Tage.

»Waren Sie je in America, Herr Boisy?« sagte er, als er am anderen Morgen das Verdeck betrat und den Franzosen dort auf- und abwandelnd fand. Als Hippolyte Boisy hatte er ihn in die Schiffsliste eingeschrieben gefunden.

»Nein, ich war nie dort; und, bei Gott! ich wollte, ich hätte nicht nöthig, es je aufzusuchen.«

»Sie schienen noch gestern keine Lust zu haben, je nach Europa heimzukehren?«

»Leider – ich kann es nicht – eben so wenig wie Sie, mein Herr. Nun, thun Sie nicht so, als verständen Sie das nicht. Ich bin in Ihrer Lage, Herr Melworth; das sollte uns zusammenführen.«

»In meiner Lage? und in welcher bin ich denn?«

»Nun, ich habe genug gesagt, und Sie wissen, was ich sagen will. Aber Sie vertrauen mir nicht. Ich wollte, Sie thäten es. Ich komme fremd und ohne Anknüpfungs-Punkte in dieß Land, das vor uns liegt. Ich weiß nicht, was darin beginnen.«

»Wünschen Sie meine Hilfe? Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, eine oder die andere Stelle bei industriellen Unternehmungen in meinem Vaterlande bieten, Herr Boisy.««

Boisy sah ihn mit großen Augen an; dann lachte er.

»Ich will Ihre Stellen nicht,« sagte er. »Ihr Vertrauen ist, was ich wünsche. Aber dazu muß ich mit dem eigenen vorangehen. Ich will damit den Beginn machen. Ich heiße nicht Boisy.«

»Und wie denn?«

»Marc Serrier.«

»So? der Name ist mir bekannt,« versetzte nachdenkend Melworth. »Ich habe ihn einmal nennen gehört und einmal geschrieben gesehen. Beide Male stand er in Verbindung mit einem Grafen Villardin.«

Der Franzose schrak zusammen, als Melworth diesen Namen aussprach. Er ward todtenbleich, seine Lippen zuckten, er schoß halb drohende, halb ängstliche Blicke auf Melworth unter den zusammengezogenen Brauen her. Der Americaner bemerkte zum ersten Mal, daß diese Blicke Serrier's schielten.

»Kennen Sie den?« fragte Marc sodann, indem er sich abwandte. Der Ton feiner Stimme war verändert, sie hatte etwas Klangloses und Hohles.

»Ja, ich habe ihn auf meiner Reise durch Deutschland kennen gelernt. Er wohnte in X. am Rheine.«

Marc Serrier beobachtete genau Melworth's Züge und den Ton, womit diese Worte gesprochen wurden, dann machte er einige gleichgültige Bemerkungen über andere Dinge und ließ Melworth endlich allein.

Schien Marc Serrier früher den Americaner gesucht zu haben, so hatte es jetzt den Anschein, als ob er ihn vermeiden wolle, so gut dieß in dem engen Raume, in dem Beide leben mußten, thunlich war. Aber Melworth's Neugierde war erregt, und er suchte nun seinerseits Unterhaltungen mit dem Manne im Paletot anzuknüpfen. Dieß wurde ihm nicht schwer, denn Marc Serrier mied ihn allerdings, sobald er ihm aber nicht mehr ausweichen konnte, so war er sehr gesprächig und schien nur bemüht, den Faden des Gespräches immer in der Hand zu halten.

So mußte Melworth, um auf das zu kommen, was ihm am Herzen lag, sich entschließen, eines Abends, als er ihn traf, geradezu die Frage zu stellen:

»Sie wurden neulich heftig erschüttert, als ich den Namen des Grafen Villardin nannte. Sie haben mir unlängst versprochen, mir Ihr Vertrauen schenken zu wollen. Thun Sie es jetzt – was wissen Sie von diesem Menschen? was macht, daß die Erwähnung seines Namens Sie electrisirt?«

»Ich will es,« sagte der Franzose, indem er die Arme über der Brust verschränkte. »Das Verdeck ist von den Passagieren rein, wir können ungehindert auf- und abgehen, und die milde Mondscheinnacht paßt vortrefflich zu einer sentimentalen Geschichte. Wenn wir Sturm hätten und hohe See, würde ich Ihnen kein Wort sagen, es wäre schreckhaft; so aber kann man schon etwas Wuth, etwas Leidenschaft und etwas Verzweiflung ertragen, man fühlt, daß dort oben, von woher dieß fahle, kalte Licht schimmert, nichts ist, an das man Fragen und Rufe richten kann; aber wenn es stürmt und wettert, sehen Sie, mein Herr, dann möchte man rasend werden, daß ein Dämon um uns tobt, von dessen Kraft man nichts an sich reißen kann, wenn man ihrer auch noch so sehr bedarf. Dann darf man die alten Geschichten nicht wecken, wobei man einen Teufel brauchte zum Dreinschlagen.«


VIII.

Ich habe, sagte Marc Serrier, »unter dem Manne, nach dem Sie fragen, gedient; ich war Unterofficier, und er war mein Capitän.«

»Er ist nicht mehr Militär; weßhalb nahm er den Abschied?« fragte Melworth.

»Seine Cameraden sollen ihn zum Austritt genöthigt haben,« versetzte Marc, »hinter den eigentlichen Grund bin ich nie gekommen; man sagte, er habe keine Ansprüche auf den Namen, den er führe, und sey nur der natürliche Sohn eines Grafen Villardin. Ein legitimer Halbbruder, hieß es, habe ihn, als er auch in französische Dienste getreten, aufgefordert, den Namen abzulegen, und daher sey der Streit zwischen Beiden entstanden, der mit seinem Austritt aus dem Regiment endete. Dem sey, wie ihm wolle. Wir standen auf gutem Fuße zusammen, mein Capitän und ich; war er streng im Dienste, so war ich pünctlich; war er zu tollen Streichen aufgelegt, so war ich handfest und zuverlässig, und er wußte das. Es ereignete sich oft, daß er einen gewandten Burschen brauchte; ein Mann wie mein Capitän kann in allerlei Lagen kommen; dann war es immer Marc Serrier, der aushalf und der den Teufel selbst nicht scheute. Was mich anging, so war ich jung und hatte noch Freude an Dingen, die mir jetzt sehr unnütze Späße scheinen. Nach und nach aber wurde dieß anders. Ich wurde solid. Ich will nicht mir das Verdienst zuschreiben; denn von Natur mochte ich sehr wenig Anlage dazu haben und diese konnte obendrein nicht sehr genährt worden seyn, seitdem ich, mit dreizehn Jahren meinem armen Teufel von Vater, einem Dorfapotheker, wegen einer Tracht Prügel entlaufen, mich in der Welt umtrieb und endlich die rechte Hand meines Capitäns wurde. Nein, wenn ich solid wurde, so hatte ein Mädchen, das ich kennen lernte, alles Verdienst, bei Gott, alles! Sie hieß Jeannette. Jeannette war meine Geliebte; sie war mir noch mehr, sie war Alles, was ich hatte, meine Liebe, meine Seele, und kam mir vor wie mein Antheil an dem besseren Leben einer anderen Welt, von der man uns vorsagt. Sie hätte einen Präfekten zum Geliebten haben können, so schön war sie. Aber sie wollte nicht; sie hielt sich eingezogen in dem Zimmer, das ich ihr gemiethet, und wenn sie merkte, daß ich mit meinem Capitän irgend ein schönes Wild einem Eifersüchtigen abjagen wollte, oder daß es eine tour de force galt, bei der Hals und Beine auf dem Spiele standen, so weinte sie und grämte sich. Daher kam es, daß ich nach und nach ernster wurde und daß ich in gleichem Grade in der Gunst meines Capitäns sank. Aber was kümmerte das mich! Wenn ich das etwas blasse Oval ihres blonden Köpfchens über die paar Reseda- und Geraniumtöcke vor ihrem Fenster weg mir zunicken sah, war alles Andere vergessen. – Meine Geschichte ist sehr sentimental, wie ich voraus gesagt habe, nicht wahr?«

»Ich bitte, fahren Sie fort!«

»Eines Tages nun hatte ich ein Dienstgeschäft bei meinem Capitän, Sie wissen, im Dienst dürfen wir nicht anklopfen, und so trat ich unangemeldet in fein Zimmer, mein Buch mit dem Rapport unterm Arm. In dem Augenblick, wo ich die Thür aufmachte, verschwand eine Gestalt hinter einem Vorhang, der zu einem Alcoven führte, und ich glaubte den Zipfel eines weiblichen Gewandes flattern gesehen zu haben. Nun weiß ich nicht, welcher Teufel der Versuchung in dem Augenblick in mich fuhr, aber es kitzelte mich, Villardin in Verlegenheit zu bringen, und so machte ich von der Freiheit Gebrauch, die ich ihm gegenüber mir allenfalls nehmen durfte. Ich bat mir die Erlaubniß aus, mich setzen zu dürfen, und begann dann das Gespräch auf unsere früheren, gemeinsamen Abenteuer zu lenken. Ich gefiel mir darin, die schlimmsten und unverantwortlichsten auszusuchen, und dieß konnte mir nicht schwer fallen, da ich eine große Auswahl hatte; ich vergrößerte sie nach Kräften, ich malte sie in's Schwarze, in's Teuflische aus. Mein Herr wurde schlimmer als Don Juan, was gebrochene und mit Füßen getretene Herzen oder mißhandelte und schändlich betrogene Väter und Männer anging; ja, da ich dachte, daß einer pariser Grisette die Farben ziemlich derb aufzutragen seyen, um sie einen moralischen Widerwillen fassen zu lassen, so setzte ich Sachen hinzu, von denen ich nur sage, daß man den Schmutz der pariser Gassen betreten haben muß, um Kenntniß zu erlangen von solchen ›kleinen Menschlichkeiten.‹ Mein Capitän wurde immer verlegener und barscher gegen mich, so daß ich endlich, um mich nicht der deutlichen Weisung, zu gehen, auszusetzen, aufstand und mich verabschiedete. Ich ging in der besten Laune von der Welt. An dem Grade von Verlegenheit, den mein Capitän bewies, hatte ich gesehen, daß seine Geliebte, die flüchtige Schöne, die sich vor mir hinter dem Alcoven verborgen, kein ganz niedriges Geschöpf sein konnte. Er mußte augenscheinlich befürchtet haben, daß meine Reden einen Eindruck auf sie machten, der ihn um eine vielleicht erst eben und mit Mühe errungene Eroberung brachte. Ich sah es ihm an und lachte innerlich.

Den Rest des Tages war ich im Dienste beschäftigt; ich konnte Jeannetten nicht sehen. Am anderen Tage, um die Abenddämmerung, ging ich zu ihr. Ihre Thür war verschlossen. Ich klopfte. Niemand öffnete – ich ging zur Portiersfrau hinab, die schlafnickend unten in ihrer Loge saß, schüttelte ihren Arm und fragte nach Jeannette.

›Ach, Sie sind's, mein Corporal! Hier ist etwas für Sie von Demoiselle Jeannette; Jeannette hat diesen Morgen decampirt; ein großer Auvergnat hat ihr den Koffer getragen, und hier das Papier hat sie zurückgelassen, damit Sie wissen, wo Sie sie finden können.‹ –

Jeannette fort? – ich brach den Brief auf, den das Weib mir reichte – ich las, und nachdem ich gelesen, war es mir, als müsse ich an irgend einem lebenden Wesen mich vergreifen, um Herr über eine unbändige und unsägliche Erbitterung zu werden.«

»Und was war es, das der Brief enthielt?«, fragte Melworth.

»Was es war? ein einfaches und trockenes Adieu:

›Suche mich nicht, Du wirst mich doch nicht finden; ich werde Alles aufbieten, um Dir nie wieder zu begegnen, Marc Serrier. Ich habe gehört, wie Du gestern mit einem anderen Manne Dich Eigenschaften und Thaten gerühmt hat, die eine ewige Scheidewand aufführen müssen zwischen Dir und Jeannette.‹

Das war der Inhalt des Briefes, den ich in meinen zitternden Händen zerknitterte. Ja, ich war niedergeschmettert, ich war rasend; aber ich blieb genug bei Sinnen, um Alles zu durchschauen oder doch um mir einbilden zu können, daß ich Alles durchschaute. Villardin hatte mir Jeannettens Liebe gestohlen, er hatte sie verführt, er hatte sie gegen mich heucheln gelehrt, wie es nur die durchtriebenste Creatur vermag; und nun hatte sie den ersten Anlaß ergriffen, um meiner sich entledigen zu können. Aber er mußte es wissen, wo sie war, er, hinter dessen Alcoven versteckt Niemand anders als sie gelauscht hatte. Ich stürmte zu ihm. Ich überschüttete ihn mit Vorwürfen, auf die er mit einem Hohngelächter antwortete.

›Wo ist sie?‹ rief ich aus – ›bei den Zähnen des Satans, ich will es wissen und will es von Ihnen erfahren!‹

›Rasender Thor, suche sie! was weiß ich von ihr? nicht mehr als von Lenore, von der ich heute auch den Laufpaß bekommen habe. Was schwatztest Du auch gestern, Unbesonnener!‹

›Also Sie gestehen – sie war hier – mein Capitän – ich rathe Ihnen, versuchen Sie nicht, mich zu belügen.‹

›Nein, mein Corporal, aber ich werde versuchen, Sie die Treppe hinunter zu werfen, was ich schon gethan hätte, wären nicht Gründe da, um derentwillen ich Sie bisher schonte. Jetzt marsch – zum Zimmer hinaus! Hören Sie!‹

Ich hörte in der That kaum mehr, ich sah nicht mehr, ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig. Das wollte dieser verworfene, elende Mensch mir bieten? Bei allen Flammen der Hölle – ich mußte Genugthuung haben – ich rief, ich schrie: Ziehen Sie, ziehen Sie – ich drang mit meiner Klinge auf ihn ein, um ihn zu zwingen, mir zu stehen. Der Graf zog nicht, er riß an der Klingel; sein Bedienter stürzte herein.«

»Und nun?« fragte Melworth gespannt.

»Nun wurde ich von hinten angefallen, und – um ein düsteres und schauerliches Drama von innerer Verzweiflung und unsäglicher Wuth in ein paar kurze Worte zu kleiden – ich wurde nach einem heißen Kampf überwältigt, zu Boden geschlagen, darauf verhaftet und wegen Mordangriffs auf meinen Officier vor ein Kriegsgericht gestellt. Ich hoffte, daß ich erschossen werden würde; aber nein, meine Strafe lautete fünfzehn Jahre Galeeren. Ich forderte die Füsillade. Sie war im Gesetz als meine Strafe ausgesprochen. Ich hatte ein Recht darauf; hatte ich nicht? Ja, ich hatte es, so gut, wie der Arme, der stiehlt, um im Arbeitshause ein Asyl zu finden, ein Recht auf dieß Asyl hat. Wozu ist das Gesetz, als Rechte und Pflichten zu geben? Aber für mich gab es kein Recht mehr – es blieb dabei, ich mußte mit dem T. F. auf der Schulter nach dem Hafen, um angeschmiedet zu werden. Ja, Herr, ich habe dieß Leben eines Hundes geführt, aber ich habe es veredelt durch einen menschlichen Gedanken.«

»Und dieser Gedanke war?«

»Die Rache!«

Es lag die Blutgier eines Tigers in dem Tone und dem Wesen Marc Serrier's, als er diese Antwort gab.

Melworth wandte sich unwillkürlich von ihm ab. Nach einer Pause sagte er:

»Sie sind begnadigt worden nach einer Anzahl von Jahren?«

»Nein, es gelang mir, mich zu befreien.«

»Waren Sie es vielleicht, der einen Brief Villardin's an den Kaufmann Sillsberg in X. ausliefern ließ? Waren Sie unterrichtet über die Verlobung Ihres Feindes?« –

Marc Serrier nickte mit dem Kopfe.

Es widerstand dem innersten Gefühle des Americaners, Marc Serrier zu sagen, daß sein beabsichtigter Racheplan nicht gelungen sei. Aber nach einer Weile sagte er, daß er durch Zufall erfahren, wie er, Serrier, bekannt seyn müsse mit einem Paar in reisende Engländer verkleideter Fälscher. Marc Serrier gestand ohne Hehl Beziehungen zu solchen Menschen und ihren Industriezweigen.

»Haben Sie nie wieder von Ihrer Jeannette gehört?«

»Sie ist todt.«

»Es könnte doch seyn, daß nicht sie, sondern eine Freundin, eine Bekannte von ihr die Horcherin im Alcoven Villardin's gewesen!«

»Pah! glauben Sie? Sie soll viel um mein Schicksal geweint haben. Man hat ihr später nichts vorwerfen können.«

Marc Serrier schien die Vermuthung, welche Melworth geäußert, zu scheuen, und doch schien sie wieder einen eigenen Reiz für ihn zu haben. Er kam oft darauf zurück und sträubte sich doch gegen die Annahme.

Dem Americaner war natürlich nach dieser Unterredung, die spät in der Nacht erst endete, jede weitere Berührung mit einem Menschen wie Serrier unangenehm. Er bedauerte ihn, aber er mied ihn auch. In dieser Existenz hatte das Schicksal und hatten die Leidenschaften zu düstere Abgründe ausgehöhlt, als daß man ohne Grauen hinabblicken konnte.

Marc Serrier bemerkte, daß er gemieden wurde. Er schien gereizt dadurch. Es war, als ob er glaube, durch seine Mittheilungen und sein Vertrauen auf ein ganz gleiches Vertrauen von Seiten Melworth's Ansprüche erworben zu haben; er begann, diesen zu verletzen, er nahm einen rauhen Ton gegen ihn an, oder erlaubte sich Vertraulichkeiten, die Melworth zurückweisen mußte. Beide traten immer weiter auseinander; in gleichem Maße schien aber Marc Serrier's Erbitterung zu wachsen; er maß Melworth zuweilen mit höhnischen Blicken; oft näherte er sich ihm auf eine so brüske Weise, als ob er Streit suche.

Melworth war eines Abends auf dem Verdeck; er hatte sich mit Barry Cornwall's Gedichten auf ein aufgewundenes Ankertau gesetzt und las. In einiger Entfernung hörte er eine Gruppe Zwischendeck-Passagiere ziemlich laut sich unterhalten, und unter ihnen Marc Serrier's tiefe Stimme. Er achtete nicht darauf. Nach einer Weile wurde ihm der Lärm zu laut und störend; er stand auf, um sich auf die andere Seite des Schiffs zurück zu ziehen. In dem Augenblick, wo er einige Schritte weit von Marc Serrier vorüber ging, bückte sich dieser und zog, gerade als Melworth darüber wegschreiten wollte, ein Seil an, welches langhin auf dem Verdeck lag. Melworth strauchelte, und die Gruppe um Marc Serrier schlug ein lautes Gelächter auf.

Melworth näherte sich zornig dem Letzteren.

»Was soll das?«

»Ein Spaß, Herr Beutelschneider!«

Der Franzose stammelte diese Worte mit schwerer Zunge. Aber Melworth's Zorn war zu heftig entbrannt, als daß er Rücksicht auf die offenbare Trunkenheit des Menschen genommen hätte. Er holte aus, um ihm eine kräftige Ohrfeige zu geben. Marc Serrier bückte sich und entging ihr so; dann aber stürzte er sich mit einer tigerartigen Wuth auf Melworth, während seine Augen, die jetzt wieder ihr Schielen annahmen, funkelten und glühten. Er schien feinen Feind erwürgen zu wollen.

Zum Glück erfaßten mehre kräftige Fäuste ihn an Arm und Schultern; es waren die zunächst Stehenden, vor Allen ein riesiger Untersteuermann, die ihn hinderten, Melworth anzufallen. Seine Zunge konnten sie freilich nicht halten. Dieser ließ der Wüthende freien Lauf und schüttete einen Strom von Verwünschungen über den Americaner aus.

»Elender!« rief er, »hochmüthiger Bettelprinz! ich habe etwas in der Tasche, um Dich zu demüthigen! Ich will Dir Deinen Stolz eintränken – zum Teufel, laßt mich, ihr Schufte – ich will Dir ein Blatt unter die Nase reiben, Dir, falscher Betrüger, das Dich mit einem Strick um den Hals an die oberste Raa bringt, wenn ich es zeige! Und Du willst stolz auf Deine Tugend sein! Du affectirst Verachtung von unser einem – Du –«

Melworth hörte das Ende nicht und wandte sich ab. Er suchte den Capitän auf; und indem er ihm auseinander setzte, wie er in diesem Augenblick, an Bord des Schiffes, außer Stande sey, die Rohheit des gefährlichen Menschen zu bestrafen, bat er ihn, von dem Rasenden in seinem Namen baldmöglichst Erklärungen zu fordern, was er mit den Beschuldigungen habe sagen wollen, die er in Gegenwart eines großen Haufens von Menschen ausgestoßen. Jedenfalls wünsche er Aufklärungen über das Papier zu erlangen, das Serrier in feinen Schimpfreden erwähnt habe.

Als der Capitän Marc Serrier in seiner Hängematte aufsuchte, wohin dieser unterdeß gebracht worden, fand er seinen Zorn verraucht, aber auch, wie es schien, seine Schlauheit zurückgekehrt. Er stellte dem Capitän die Sache wie einen Streit, der aus seiner Trunkenheit hervorgegangen, dar und läugnete hartnäckig, mit seinen Anschuldigungen irgend einen besonderen Sinn verbunden zu haben oder im Besitz irgend eines Melworth betreffenden Papieres zu seyn.

So mußte sich der Capitän damit begnügen, ihm für die Zukunft mit strengen Maßregeln zu drohen, wenn er sich wieder einfallen lasse, die Ordnung und Ruhe des Schiffes zu stören.

Dieß geschah denn auch nicht wieder. Ohne weitere Zwischenfälle erreichte Melworth nach einigen Tagen den americanischen Boden. Er segnete ihn von ganzem Herzen, als sein Fuß den festen Boden betrat. Der Aufenthalt auf der » british Oueen« war ihm unheimlich geworden. Es entging ihm nicht, daß die übrigen Passagiere seit der Scene mit Marc Serrier ihn mißtrauisch ansahen und ihn vermieden.

Sein erster Gang, als er den Boden seiner Heimath betreten, war zu einem vielbesuchten Bureau eines gelehrten Freundes, in welchem für die Summe von 1 bis 10 Dollars in jeder Angelegenheit der beste juristische Rath zu holen war.


IX.
Helene.

Ueber X. war unterdeß eine Reihe stiller und trüber Tage dahin gezogen. Wilibald Espe saß mit doppelter Geduld von Morgens früh bis Abends spät über seine Bücher gebückt, und mit einem wahrhaft leidenschaftlichen Fleiße beschrieb er die weißen Blätter darin mit Zahlen auf Zahlen. Er sah keinen Menschen, als diejenigen, womit ihn seine Geschäfte in Berührung brachten. Und wie sollte er auch? Er hatte keine Freunde. Das Wetter war zu schlecht, um auszugehen; es regnete Tag auf Tag, Woche auf Woche. Das enge Rheinthal ward so melancholisch, der dicht zusammengeschobene Ort mit den schwarzen Schieferdächern so düster – was hätte Wilibald aus seinem Thurme locken sollen, wo er nur das Fenster zu öffnen brauchte, um nebelfeuchte Luft und nasse Zweige aus der ersten Hand zu haben? Er spielte auch die Flöte nicht mehr, die er sonst in stillen und sommerlauen Nächten mit so viel schwärmerischer Begeisterung und so viel gutem Willen geblasen hatte. Das Leben hatte in ihm selbst melancholische Töne genug angeschlagen. Er brauchte keine schlechte Musik mehr, um sich zu poetischer und schwärmerischer Wehmuth zu begeistern.

Aber er stand noch oft an einem Fenster, wie er früher pflegte, und blickte nach Helenens Erker hinüber. Sie grüßte ihn jetzt nicht mehr wie früher: sie war ganz eigen und seltsam geworden, sie ließ ihn nie mehr zu sich rufen, wie sie sonst so oft gethan. Sie mied ihn, den treuesten Freund, den sie hatte, den eine fast mütterliche Sorgfalt für sie erfüllte, wie sie alle Anderen mied. Sie lebte fast ganz auf ihr Zimmer beschränkt. Wer sie aufsuchte, der fand sie dort, ohne sagen und errathen zu können, womit sie den Augenblick vorher sich beschäftigt haben müsse. Sie führte jenes Leben so manches tiefen und innerlich verletzten Gemüthes, das sich vor der Außenwelt zurückzieht in selbstgeschaffene Kreise, worin es sich selber überredet, sein Genügen zu finden, während es sich eigentlich doch im Innersten seiner Seele so weit über sie hinaus, so weit von ihnen fortgezogen fühlt.

Es sind die Wesen, die so vergnügt und zufrieden sind in ihrer Trauer, die ihre Gedanken so seltsam theilen zwischen den äußerlichsten, nichtigsten und den tiefinnerlichsten Dingen, während einfach ernste und uns Anderen wichtige Gegenstände für sie ohne Interesse bleiben; die sich am Morgen grämen, daß ein Epheusetzling im Scherben verdorrt ist, und am Abend in stillem Lauschen den Schwingungen ihrer Seele den Puls fühlen, um zu erfahren, ob er innere Kraft genug habe, auszudauern für die Aeonen einer künftigen Unsterblichkeit, aber am Mittag kaum aufhorchen, wenn ihnen erzählt wird, in Paris sey eine neue Revolution ausgebrochen.

So lebte Helene, sich immer tiefer in ihr stilles Gedankenreich einspinnend und innerlich ringend, den schreienden Mißklang zu überwinden, der den edlen Rhythmus ihres Lebens so schmerzlich erschüttert und verwirrt hatte.

Eine Reihe von Wochen war dahingeflossen. Wilibald Espe hielt es nicht länger aus, seine Freundin stets so allein sich und ihren Gedanken überlassen zu sehen. Jede Dämmerungsstunde ließ ihn Unsägliches leiden. Er wußte, daß sie diese Zeit in Träumereien zubrachte. Nie war Licht in ihrem Zimmer, bevor die völlige Nacht angebrochen. Er ahnte nicht, daß die Dämmerung das Element der Frauen ist, daß die verhüllenden Schleier des Abenddunkels sich weich und wolthuend um ihre Gedanken-Dämmerungen legen. Nur für den Licht und Bewußtseyn liebenden Mann bringt die Dämmerung Trauer.

So klopfte Wilibald eines Abends zu solcher Stunde schüchtern an ihre Thür. Er wurde freundlich aufgenommen, aber nicht froh wie einst. Das Herz war ihm zu voll, als daß er hätte schweigen sollen von dem, was ihn bewegte. Er machte Helenen Vorwürfe, daß sie ihn so ganz wie aus der Reihe der Lebendigen gestrichen betrachte.

»Ich fürchtete mich vor Ihnen, Wilibald,« sagte sie sanft.

Wilibald Espe konnte gar keinen erdenklichen Grund auffinden, weßhalb irgend ein Sterblicher sich vor ihm fürchten sollte.

»Das ist Spott!« versetzte er.

»Es ist, wie ich sagte; ich bin nicht unbefangen, wenn Sie bei mir sind. Ich fürchte, Sie verletzen mich.«

»Helene!«

»Ich weiß, ich muß dieß thörichte Gefühl überwinden, ich bin es Ihnen schuldig, und ich will es auch. Aber helfen Sie mir. Versprechen Sie mir, nie einen Namen auszusprechen, nie etwas zu berühren, was mich an ihn erinnern könnte.«

»Sie meinen den Namen Villa…«

»Pst!« sagte sie, Wilibald unterbrechend, der mit der größten Spannung sie forschend ansah – »auch den lassen wir ruhen – aber ihn meinte ich nicht, ich meinte einen Anderen!«

»Melworth!« flüsterte Wilibald leise für sich, indem er die Hand auf's Herz drückte, wo er einen heftigen Schmerz empfand, und setzte eben so leise hinzu: »Ja, es ist so, sie hat ihn geliebt! armer Wilibald!«

»Ich will thun, was Sie wollen, Helene,« sagte er nach einer Weile. »Aber zwei Worte müssen Sie mir frei geben, und dann will ich für immer schweigen. Jene Worte aber kann ich nicht unterdrücken, bei Gott, ich muß sie sagen: Melworth ist unschuldig!«

»Ha, weßhalb sagen Sie das – wissen Sie mehr als wir?« fuhr Helene wie elektrisch getroffen auf.

»Ich weiß nichts, als daß mein Gefühl mir sagt: er ist unschuldig.«

»Ihr Gefühl!« lächelte Helene bitter.

»Ja, und ich vertraue darauf. Vielleicht weiß er nichts von Allem dem, was hier hinter seinem Rücken ausgestreut worden. Ich habe ihm zwar das fatale Zeitungsblatt geschickt, aber wie leicht kann das auf dem weiten Wege verloren gegangen seyn! Wir sollten doch nicht ruhen, bis wir ein Wort von ihm vernähmen. Schon um unserer eigenen Ehre willen. Er ist ein Gastfreund dieses Hauses gewesen, und ich habe ihn Freund genannt; aber ich handle nicht als Freund gegen ihn!«

»O, lassen wir ihn!« sagte Helene, »Ihre Gedanken sind zu gut, um bei ihm zu weilen. Da, lesen Sie dieß, und dann lassen Sie uns suchen, zu vergessen.«

Helene nahm einen Brief von ihrem Schreibtisch und reichte ihn Wilibald. Es war ein Schreiben Ignaz Sillsberg's aus New-York an Helenens Vater. Er beklagte sich, auf sein letztes Schreiben keine Antwort bekommen zu haben. Er habe gehofft, von seinem Bruder durch den Ueberbringer des ersten Briefes, den Ingenieur Melworth, Nachrichten aus Deutschland zu erhalten, aber dieser habe bis jetzt seine Schwelle noch nicht betreten; übrigens sey ihm dieß auch halb lieb, da dieser Mensch, wie das Gerücht gehe, in einen fatalen Rechtshandel wegen Betrügerei, die er begangen habe solle, verwickelt sey. So mache er, der Schreibende, denn jetzt feine früher gestellten Anträge aufs Neue u. s. w.

Wilibald las den Brief nicht zu Ende, sondern legte ihn auf den Tisch und barg dann sein Gesicht in seinen Händen. Nach einer Weile erhob er sich und ließ Helenen allein.

Wilibald wurde am anderen Morgen durch eine heftige Bewegung seines Armes geweckt. Er fühlte eine Hand fast krampfhaft die seine drücken, die auf der Decke lag. Als er auffuhr, sah er Jemanden davorstehen – es war ein Mann im Arbeiterwamms, blaß, das Haar gesträubt, alle Zeichen des Entsetzens in seinen Zügen.

»Was gibt's, was ist's?« rief Wilibald.

»O lieber Herr, lieber Herr Espe, welch ein Unglück!«

»Unglück? was ist geschehen? was für ein Unglück?«

»O Herr Espe, wenn Sie's nicht gut machen …«

»So sprecht doch, Küfer, was ist's?«

»Der Wein ist verdorben, er ist hin, hin, hin!«

Der Küfer stieß diese Worte im Tone des trostlosesten Jammers aus.

Wilibald schöpfte Athem.

»Der Wein? nun, welcher Wein?«

»Das Stückfaß, das schöne, große Stückfaß, das der Prinz auf den Rheinstein haben sollte. Die Reifen sind gesprungen, es ist ausgelaufen, man kann mit dem Nachen im Keller herumfahren. O, ich bin ruiniert, ich bin verloren, o Herr Espe!«

Espe sprang auf, warf die Kleider um und stieg in den Keller hinab. Das große Faß, das Prachtstück, die wahre Perle der Sillsberg'schen Keller, war allerdings dahin und unrettbar verloren. Es war ein ganz ausgezeichneter Jahrgang, der noch das vorige Jahrhundert in seiner besten Blüte gesehen hatte, dabei Herrn Sillsberg's Stolz und Freude, unter den theuren Häuptern seiner Lieben das theuerste; man könnte sagen, ein Theil seiner Seele habe darin geweilt, wenn in der Seele des Herrn Sillsberg irgend ein Theil gewesen, der sich mit dem Feuergeiste eines alten und edlen Rüdesheimers vertragen hätte. Jetzt schwamm das flüssige Gold über dem dunklen Boden des Kellergewölbes und war wie ein schwarzer, schmutziger See geworden.

Wilibald begriff die Verzweiflung des Küfers; dieser war nicht ganz schuldlos an dem Unfalle, und jedenfalls hatte er jetzt einen schlimmen Stand seinem Brodherrn gegenüber, der seinen Schatz vor wenigen Tagen verkauft und zugleich damit die Aussicht erlangt hatte, durch dieses Gewächs sich einem fürstlichen Hause auf das allervortheilhafteste empfehlen zu können. In seiner Angst hatte sich deshalb der Küfer zu Espe geflüchtet. Herr Espe war ein so gutmüthiger Herr; wenn der nicht übernahm, es Herrn Sillsberg schonend und fürbittend beizubringen, so war der Mann mit Weib und Kind ruiniert.

Wilibald mußte es ja wol thun; was sollte er machen! Aber der Schweiß stand in schweren Tropfen auf einer Stirn, und seine Finger zitterten, als er an die Thür von seines Principals Schlafzimmer klopfte.

Stotternd begann er damit, aus den Grundsätzen einer männlichen Philosophie und aus den Trostgründen, welche die Religion für die Unfälle des menschlichen Lebens hat, eine passende Einleitung zu weben.

Herr Sillsberg aber unterbrach ihn.

»Nun, zum Teufel! was ist denn geschehen? ist ein Unglück da? hat sich einer von meinen Leuten erhängt? Nur heraus damit, heraus! ich bin ja ein vernünftiger Mensch und ein Christ und weiß mich zu fassen!«

»So schlimm ist's nicht, aber das Stückfaß, das auf den Rheinstein kommen sollte, ist die Nacht gesprungen und ausgelaufen.«

»Das Stückfaß Rüdesheimer!«

Herr Sillsberg verstummte nach diesem Ausrufe, das war zu viel, da hörte das Christenthum, da hörte die Fassung auf! Und als er nach einigen Augenblicken die Sprache wieder bekam, da – aber es wäre vergeblich, seine Zornausbrüche schildern zu wollen! Herr Sillsberg begann damit, daß er den Stiefelknecht nach Wilibald schleuderte, den dieser mit der ruhigen Bemerkung wieder an seinen Ort stellte, sein Principal würde auf ein Haar den Spiegel zertrümmert haben. Darauf gab er eine Reihe unarticulierter Töne von sich, und erhob sich dann vom Bett, als ob er nichts Geringeres vorhabe, denn einen Abgrund in die Erde zu stampfen und Alles, was ihm in den Weg komme, hineinzuschleudern.

Er sank endlich stöhnend, röchelnd in die Kissen zurück. Dann verstummte er ganz, und ein krampfhaftes Zucken lief über das todtenblasse Gesicht und spielte um die blauen Lippen. Herrn Sillsberg hatte der Schlag getroffen.

Wilibald stürzte hinaus und rief um Hilfe. Helene kam, der Arzt kam, man sprang mit allen Mitteln dem Unglücklichen bei; und endlich konnte der Arzt Helenen die beruhigende Versicherung geben, daß der Schlaganfall nicht lebensgefährlich sey, und daß ihr Vater sich nach einiger Zeit völlig davon erholen werde.

Diese Prophezeiung traf allerdings ein; jedoch sollte Sillsberg für immer ein Denkzeichen an diese Begebenheit und sein bestes Stückfaß behalten; er blieb nämlich an der rechten Seite seines Körpers gelähmt und konnte hier weder Hand noch Fuß regen.

Die erste Folge dieses Umstandes war, daß er seine Keller nicht mehr besuchen konnte und daß es dadurch möglich wurde, ihn über die eigentliche Ursache des tragischen Ereignisses im Unklaren zu lassen. Dieß machte es Wilibald thunlich, den Küfer zu retten, der sonst mit Weib und Kind von seinem Zorne vernichtet worden wäre.

Die zweite Folge aber war, daß Herr Sillsberg allen und jeden Theil, den er an der Arbeit in seinem Comptoir genommen hatte, an Wilibald abgeben mußte. Wilibald wurde dadurch sein Eins und Alles, sein dirigierender Minister, sein anderes Ich. Der steinreiche Mann, der Verbindungen in der Hälfte aller großen Städte des Continents, der Hunderte von Armen und Händen in seinen Diensten hatte, vor dem sich tief und demüthig bückte, was immer nur die souveraine und ideale Hoheit des Geldes in dieser Welt anbetet, d. h. zwey Dritttheile der Sterblichen – der Mann war hilflos wie ein Kind, wenn nicht der arme Wilibald Espe, der erste Buchhalter, neben ihm stand und für ihn schrieb, unterzeichnete, arbeitete und dachte!


X.
Das Ende.

Es war ein trüber, regnichter Tag im Spätherbst. Die Lese war vorüber und hatte ein kärgliches Resultat gegeben. Jetzt standen die Reben entblättert, oder mit gelbem und blutrothem Laube umhangen, in dem der kalte Abendwind raschelte. Die Fontaine unter Helenens Fenster plätscherte nicht mehr, sie war mit einem Bretterhause überbaut; andere Bretterhäuser standen im Hofe um die Gruppen von Feigenbäumen und die übrigen Pflanzen des Südens aufgeschlagen, das Gezwitscher der Vögel in der Voliere hatte aufgehört, denn sie waren in ihre wärmeren Winterquartiere im Hause gebracht worden; nur die große Ulme schaukelte wie früher ihre moosigen Aeste voll falber Blätter um Helenens Erker, als wolle sie dieser mit ihren vergilbten Laubgehängen stille Mahnungen an alle erstorbenen Lebensblüten und an die Vergänglichkeit jeder grünenden Hoffnung zuwinken.

Helene hatte während des Nachmittags ihren Vater unterhalten, indem sie ihm die »Rheinische Zeitung« vorgelesen, an deren unternehmenden Heerfahrten in alle möglichen Gebiete des Lebens und der Politiker er einen großen Antheil nahm; seit Herr Sillsberg nämlich in seinem Lehnstuhle gefesselt saß und sich nicht mehr rühren noch regen konnte, gab es keinen kriegerischeren, Kampf und Umsturz, Angriff und Zerstörung mehr liebenden, alten Herrn in der Welt, als ihn.

Als es Dämmerung geworden, verließ Helene ihn und ging durch den Corridor ihren Zimmern zu. Im Treppenhause sah sie einen Mann im Mantel die Stiegen heraufkommen und ihr folgen. Da sie glaubte, daß es Wilibald sey, der von einem Spaziergange heimkomme, ließ sie ihre Thür offen und ging in einen Winkel, wo der Schellenzug hing, um nach Licht zu klingeln, wandte sich dann und sah mitten im Zimmer eine fremde Männergestalt stehen.

»Zürnen Sie nicht, wenn ich so mich eindränge, ohne daß Jemand mich Ihnen angekündigt hat,« sagte eine leise Stimme.

Es war die Stimme Melworth's.

Helene konnte kein Wort hervorbringen.

»Sie sind ungehalten, Helene, Frau Gräfin, muß ich jetzt wol sagen? Ja, Sie sind ungehalten – ich gehe schon – aber zürnen Sie mir nicht; es war nicht meine Schuld, daß ich Niemanden traf – ich bin über das Weltmeer gekommen, nur um Ihnen ein paar Worte zu sagen – können Sie es nicht entschuldigen, daß ich endlich am Ziele meiner langen Fahrt so kühn war, zu vergessen, daß es gewisse Formen gibt, die man bei vornehmen Frauen beobachten muß, auch wenn man eine Centnerlast auf dem Herzen hat und jede Minute zur Höllenpein wird, bis man ein Wort von ihren Lippen hörte?«

Melworth wandte sich, nachdem er dieß in etwas bitterem Tone gesprochen hatte, zum Gehen. Das Mädchen Helenens trat mit der Lampe ein.

»Bleib!« sagte Helene zu dieser und fuhr dann, an Melworth sich wendend, fort: »Bleiben Sie auch, sagen Sie, was Sie mir sagen wollen, ich hätte nicht gern noch einmal einen Augenblick wie diesen zu erleben!«

Sie brachte nur mit großer Anstrengung, todtenbleich und stammelnd diese Worte hervor, indem sie den Arm auf die Ecke eines Tisches stützte.

»Ich bin verleumdet worden,« versetzte Melworth; »obwol ich mir gelobt hatte, nie den Boden Europa's wieder zu betreten, habe ich, als dieß in meinen Händen war, auf der Stelle noch einmal die Heimath verlassen und den Stürmen des Oceans getrotzt, weil ich nicht leben konnte mit dem Gedanken, es hafte ein Flecken, es ruhe eine Schuld auf mir in Ihren Augen, Helene.«

Er legte drei Papiere vor sie hin auf den Tisch. Sie nahm sie und überblickte sie rasch, obwol sie nur eine schwache Hoffnung hatte, daß sie etwas von dem Inhalte verstehen werde; die Buchstaben tanzten vor ihren Augen auf den Blättern, und eben so toll und wirr kreisten ihre Gedanken.

Das erste der Papiere war nichts Anderes, als der uns bekannte Steckbrief; das zweite war ein Schreiben des großherzoglich badischen Bezirksamtes mit Unterschrift und Dienstsiegel, worin erklärt wurde, daß jene in der »Kölnischen Zeitung« enthaltene Veröffentlichung niemals von genannter Behörde ausgegangen, daß aber nach Anfragen bei der Redaction nichts Anderes habe ermittelt werden können, als daß die Bekanntmachung des Steckbriefes auf boshafter Erfindung und geschickter Fälschung der Unterschriften und Siegel zu beruhen scheine. Die Nachforschungen nach dem Urheber, hieß es ferner darin, hätten bis jetzt kein Resultat ergeben. Helene ließ das Papier aus den Händen fallen; sie wagte nicht die Augen aufzuschlagen und Melworth anzusehen.

Da fiel ihr Blick auf das dritte Papier; es war das Concept jenes Steckbriefes.

»O Gott!« sagte sie, »das ist Villardin's Hand«

»Villardin's?!« rief Melworth aus, während eine dunkle Röthe des Zorns in seinen Zügen aufflammte, »so steh' ihm Gott bei, er wird mir Rede stehen!«

»Villardin? Villardin ist todt!« sagte erbebend Helene, indem sie die Augen aufschlug und in die Melworth's blickte.

In diesen Augen, die sich so mit ihren Blicken begegneten, lag in diesem Moment eine Welt von tiefer Empfindung, und in dieser Empfindung lag die Blüte seines Lebens, die nur einmal während eines Menschenalters so ihre duftigen Blätter auseinander schlägt und dann nicht wieder.

Helene fühlte, wie sehr sie Melworth Unrecht gethan, und zugleich, wie viel sie ihm entzogen, indem sie gerungen, ihre Liebe von ihm abzuwenden. Melworth sah aus ihren Blicken eine Psyche voll weicher und seliger Liebestrunkenheit leuchten, in welche sich ein Ausdruck tiefster Beschämung mischte. Es riefen tausend Stimmen des Entzückens in seinem Inneren dasselbe Wort aus, das damals wie Licht und Glanz durch seine Seele gewogt war, als er Abends am Gestade des Rheines wandelte.

Helene war überwältigt. Sie bedurfte des Anhalts, der Stütze. Sie fand sie an Melworth's Brust, in seinen Armen, die sie eng umschlossen, während seine Lippen auf ihrer weißen Stirn glühten.

* *
*

Eine Thräne fiel auf Melworth's Hand, als am anderen Tage Wilibald Espe sich darüber beugte und sie schüttelte. Er hatte schon Alles gehört. Helene hatte ihn in frühester Stunde zu sich rufen lassen, denn sie konnte es nicht mehr abwarten, ihrem lieben Freunde vor allen Menschen zuerst die Freude ihres Herzens auszuschütten. Sie war ihm um den Hals gefallen, als er in ihr Zimmer trat, mit dem Ausrufe:

»Er ist da, er ist unschuldig, o, nun ist Alles, Alles gut!«

Die Mißverständnisse waren leicht aufgeklärt, auch der Behörde gegenüber, bei welcher der Americaner ein Verhör zu bestehen hatte. Melworth erzählte von Marc Serrier. Er hatte, als er den Boden seiner Heimath betreten, Serrier vor Gericht gezogen. Dieser, dem gar nicht darum zu thun war, in Berührung mit der blinden Göttin zu gerathen, hatte sich gern dazu verstanden, Melworth ein Papier auszuliefern, das er in einer Brieftasche auf dem Wege zwischen Paris und Antwerpen gefunden haben wollte, und worauf allein sich seine Beschuldigungen gegen Melworth gestützt hätten, wie er gestand. Es war eben jenes Concept. Das Gerücht hatte in New-York die gerichtliche Verhandlung so ausgebeutet, wie der Brief Ignaz Sillsberg's es andeutete. Nun, da jenes Papier Villardin's Handschrift zeigte, und da Melworth Serrier's Beziehungen zu Villardin kannte, war nichts leichter, als sich Alles zu deuten. Villardin hatte in Eifersucht oder in böslicher Absicht den Steckbrief geschmiedet, Serrier aber war der Mörder, der mit dem anderen Geraubten auch Villardin's Brieftasche und das Letzteren verrathende Concept zum Steckbrief in seine Hände bekommen hatte.

Nachdem es Melworth gelungen war, das Gericht zu beschwichtigen, faßte er sich auch ein Herz Herrn Sillsberg gegenüber; er warb um Helenens Hand bei ihrem Vater. Herr Sillsberg hörte ihn gelassen an.

»Mister Yankee,« sagte er dann, mit den Augen blinzelnd, als Melworth geendet hatte, »es freut mich außerordentlich, zu erfahren, daß Sie ein rechtschaffener Mensch sind, der weder falsche Papiere macht, noch den Leuten Nachts die Kehle abschneidet, was ein gar schlechter Spaß ist, absonderlich für diejenigen, welche am anderen Tage die Bescherung im Hause haben und das Laufen und Verhören von den Gerichtspersonen, das Geschwätz der Leute, und die Trauerkosten obendrein. Es hat mich ein hübsch Stück Geld gekostet. Aber, was ich sagen wollte, meine Tochter bekommen Sie darum denn doch noch nicht.«

»Und darf ich Sie um die Gründe bitten, Herr Sillsberg?«

»Es thut mir sehr leid, aber es wird nichts draus.«

Das war das Resultat der Werbung, und bei diesem Ausspruche Sillsberg's blieb es; alle Vorstellungen und Bitten, alle Thränen Helenens halfen zu nichts weiter, als daß sie den Weinhändler bewogen, den Grund seiner Weigerung anzugeben:

»Ich will keinen Schwiegersohn haben, der einmal mit einem Steckbrief in der Zeitung gestanden hat. Und damit Basta und kein Wort mehr!«

»Herr Sillsberg,« sagte Wilibald Espe sehr schüchtern und sehr stotternd darauf, »so muß ich Sie bitten, mir den Abschied zu geben. Wenn Herr Melworth von hier fortgeht, so bin ich entschlossen, mit ihm zu reisen. Ich habe mich mit ihm sehr befreundet, und zudem hat er mir in America eine einträgliche Stelle verschafft. Ich möchte mich doch auch gern ein Bißchen in der Welt umsehen.«

»Herr Espe – das ist Ihr Ernst nicht!«

»Ist mein vollständiger Ernst, Herr Sillsberg.«

»Espenlaub, Sie wollen …«

»Ich will.«

»Fort? von mir fort?«

»Nach America.«

»Nun, dann gehen Sie in des Teufels Namen! ich werde auch schon ohne Sie fertig werden.«

Wilibald Espe wandte sich ab und ging, mehr verletzt von dieser Rohheit, als er zu werden sich vorgenommen hatte.

»Herr Espe!« rief ihn Sillsberg zurück, als er schon die Schwelle übertreten hatte.

Wilibald kam zurück.

»Wie viel meinen Sie denn, daß Sie in America bekommen werden, he? ich will Ihnen dasselbe und ein Dritttheil mehr geben; dann bleiben Sie bei mir!«

»Es ist nicht wegen des Geldes, Herr Sillsberg; meine Freundschaft für Herrn Melworth bestimmt mich, ihn zu begleiten. Nur wenn Sie ihn hier halten wollen – nur wenn ich hier die Ueberzeugung habe, Ihre Tochter durch ihn glücklich zu sehen …«

»Gehen Sie, gehen Sie!« sagte hastig Herr Sillsberg. »Aber ein erzdummer, ein recht von Gott mit Blindheit geschlagener Narr sind Sie, den Trost will ich Ihnen mitgeben auf die Reise!«

»Danke Ihnen für den Trost, Herr Sillsberg; ich will ihn die ersten Tage, wenn ich die Seekrankheit habe, gegen das Heimweh einnehmen, das dann kommen könnte.«

Herr Wilibald Espe begab sich nach diesem Zwiegespräch in das Comptoir und kündigte den Commis an, daß er von nun an aus dem Geschäft scheide, machte die letzte, halb vollendete Rechnung im Hauptbuche fertig und schlug dann den Deckel zu.

Unter den jungen Leuten entstand eine vollständige Revolution: einige schüttelten ihm mit Thränen in den Augen die Hand, ein paar versicherten, wenn Herr Espe gehe, würden sie auch keinen Tag mehr da bleiben, und ein großer, mit einem kräftigen Organ ausgestatteter, junger Herr, der es sehr liebte, bei Gelegenheit im Winter-Casino patriotische Toaste auszubringen, schlug sogleich einen Fackelzug vor, den man Herrn Espe am Abende vor seiner Abreise bringen solle, und wozu er sofort eine Subscriptionsliste zu entwerfen begann.

Auffallend war aber Allen, daß Herr Espe bei seinem Entschluß so gar wenig Gemüthsbewegung zeigte und mit so großem Gleichmuth die Heimath zu verlassen sich anschickte, an der er doch sonst so zu hangen geschienen hatte. Er ordnete seine kleinen Angelegenheiten wirklich mit einer Ruhe, Muße und Gemächlichkeit, die bei einem Manne von so weichem Herzen doppelt auffallend war. Den Morgen packte er ein oder machte Abschiedsbesuche, und nach Tisch wandelte er mit Melworth zu den nächsten Burgruinen und den schönsten Stellen der Gegend, wie um auch ihnen seine Abschiedsbesuche zu machen.

Dieß hatte drei Tage gedauert, als eines Abends beim Zuhausekommen Wilibald angekündigt wurde, Herr Sillsberg habe schon vor drei Stunden nach ihm geschickt. Er zögerte nicht, sich zu dem alten Herrn zu verfügen.

»Herr Espe,« sagte dieser, »es ist mir doch sehr schmerzlich, daß Sie gehen; es thut mir wirklich weh, mich von einem langjährigen und lieben Gehilfen in meinem Geschäft trennen zu sollen! in der Seele weh, ich sage es Ihnen!«

Herr Sillsberg blinzelte sehr pfiffig mit den Augen bei diesen Worten. Espe ließ seine Blicke über einen Haufen Briefe, Papiere und Bücher gleiten, welche die hilflosen Commis als eben so viele unerledigte Geschäfte auf den Tisch vor dem noch hilfloseren Herrn Sillsberg aufgeschichtet hatten, und hinter welchen dieser mit einem äußerst melancholischen Gesichte in seinem Lehnstuhl ruhte.

»Es geht meinem Herzen ebenfalls äußerst nahe, das kann ich Ihnen versichern, aber es geht nicht anders!«

»Wir sind Ihnen Alle recht gut, Herr Espe! meine Leute hangen sehr an Ihnen. Sie kennen das ganze Geschäft und Dinge und Verhältnisse, von denen ich selber nichts weiß!«

»Leicht möglich!« versetzte Wilibald.

»Der Mensch ist heute hart wie Stahl,« sagte Sillsberg für sich; »selbst mit der Freundschaft und Liebe ist er nicht mehr zu packen. Der Henker weiß, was in ihn gefahren ist!«

Er schwieg eine Weile.

»Das Wetter läßt sich gut an; ich denke übermorgen früh aufzubrechen; zuerst will ich nach Basel zu meiner Schwester,« hub Wilibald nach einer Pause wieder an.

»Aber das Geschäft, Herr Espe, das Geschäft!«

»Wird freilich etwas bunt durch einander gehen,« lächelte Wilibald mit großer Seelenruhe.

Der Weinhändler strich mit der flachen Hand übers Gesicht und seufzte tief auf. Dann sagte er:

»Muß ich denn wirklich, Herr Espe, he?«

»Ja, Sie müssen, Herr Sillsberg, wenn ich bleiben soll.«

»Dem M. Yankee, dem –« er vollendete nicht, sondern faltete mit einem kläglichen Gesicht die Hände über dem Magen zusammen.

Wilibald nickte.

»Nun, so sey's denn, in dreier Teufel Namen!«

* *
*

Mit diesem frommen Segen, den Herr Sillsberg über den Bund seiner Kinder aussprach, wollen wir diese Geschichte beschließen.

Wir wollen nicht das Glück Melworth's und Helenens schildern, noch die stille, resignierte Freudigkeit, die sich seitdem über das ganze Wesen, Thun und Leben des Herrn Wilibald Espe verbreitet hat. Das junge Paar beabsichtigt, den nächsten Winter in Italien zu verleben, wohin es besonders Herrn Sillsberg drängt, der es müde ist, sich in seinem Rollwagen Abends ins Winter-Casino schieben zu lassen. Herr Espe hat zu einem großen Vergnügen schon einmal Veranlassung gehabt, seine poetische Ader zu einem Gelegenheitsgedichte benutzen zu können, das ein sehr freudiges Familien-Ereigniß auf eine so sinnige Weise feierte, daß mindestens fünf von den dazu eingeladenen Gästen dem Verfasser die Versicherung gaben, es sey Jammerschade, daß er es nicht drucken lassen wolle.

Nur ein Wort noch über Marc Serrier. Dieses thätige Mitglied der menschlichen Genossenschaft befand sich in der Luft der jenseitigen Hemisphäre bald vortrefflich. Er füllte Anfangs den achtbaren Wirkungskreis eines Schulmeisters in einer Ansiedelung bei den Hinterwäldlern aus. Da es ihm aber bald gelungen war, sich die Schlagwörter der dortigen, sinnigen Locofoco-Politik bis zu einer wirklich wunderbaren Geläufigkeit anzueignen, und auf der anderen Seite sein etwas gar zu spartanisches pädagogisches System hier und da bei den Eltern seiner Buben auf hartnäckigen Widerspruch stieß, so zog er es nach einiger Zeit vor, in einer größeren Stadt ein Journal zu begründen, welches er »Blätter für Gemüth und Herz und sittliche Bildung« nannte und das sich eines bedeutenden Beifalls erfreute. Nebenbei zeichnete er sich als Redner bei Volksversammlungen aus, und so konnte es ihm nicht fehlen, nach und nach der freilich dort nicht seltenen Art von verdienten Staatsbürgern beigezählt zu werden, welche von den Americanern »einer der ausgezeichnetsten Männer dieses Landes« genannt werden.

Damit scheint er jedoch leider den Wechselfällen dieses trügerischen Lebens nichts weniger als für immer entzogen worden zu seyn. Denn nach einem noch unbestätigten Gerücht hat ihm eine glänzende und fulminante Rede, die er im Interesse eines Vereins von Abolitionisten gehalten, in einem sclavenhaltenden Staate den öffentlichen Unwillen in einem solchen Maße zugezogen, daß man, als man ihn einst friedlich seines Weges wandernd erblickte, bis zur Ausübung des Lynchgesetzes gegen ihn geschritten ist.



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