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Gespenster in den Ardennen.


In einem der Thäler der Ardennen, etwa sechs Stunden ostwärts von dem Städtchen Huy an der Maas, erhebt sich ein isolirter Felsenkegel, der nur durch einen schmalen Erdrücken mit den dahinter liegenden bewaldeten Höhen verbunden ist. Der Felsen selbst fällt nach allen Seiten so steil ab, daß er völlig unzugänglich erscheint, und diese Naturbildung ist früh schon zur Anlage einer Veste benützt worden, die dem alten Hochstifte Lüttich gehörte und, nach und nach erweitert, viele Jahre hindurch ihre guten Dienste leistete gegen »die Eber der Ardennen« und andere Feinde der Kirche des heiligen Lambert. Sie beherrschte namentlich die Straße, welche aus dem Maasthal, von Huy her, nach Luxemburg führte; dabei galt sie für uneinnehmbar, wie der Königsstein, wie manch' andere altberühmte Veste, denen jetzt ein Feind nicht mehr die Ehre anthut, sie zu beachten. Im vorigen Jahrhundert nur noch von einigen Invaliden besetzt, ist sie im Anfange des jetzigen ganz verlassen worden. Sie ist Ruine heute, die Dächer sind geraubt, die Mauern schleift Sturm und Wetter; der letzte Bewohner hat sie längst verlassen, ja sogar der Hausgeist, die »weiße Frau von Brasienne,« ist von ihr gewichen und seit mehr als sechzig Jahren nicht mehr erblickt worden. Denn seine weiße Frau hatte das alte Bergschloß so gut wie unzählige andere; und wie sie zum letzten Male in Brasienne sichtbar geworden, davon geht eine Sage, die mit einem Abenteuer, mit einer That von unglaublicher Kühnheit, Entschlossenheit und Geistesgegenwart, unterstützt von auffallendem Glück, zusammenhängt – eine That, die wir hier erzählen wollen, in der Hoffnung, daß es uns gelingt, dem Leser den ganzen Hergang klar zu machen, ohne der Hülfe eines Situationsplanes von dem alten Bauwerk zu bedürfen.


Erstes Capitel.
Die Erkerdame.

Es war Ende März des Jahres 1793. Die glorreichen Schlachten von Neerwinden und Löwen, wodurch der kaiserliche und des Reichs Feldmarschall Prinz Friedrich Josias von Sachsen-Koburg dem Feldzuge von 1793 die entscheidende Wendung gab, waren geschlagen. Das Heer der französischen Republik war innerlich tief zerrüttet, fast seiner Auflösung nahe. Sein Führer, der General Dumouriez, mußte jede Hoffnung aufgeben, die Niederlande gegen den siegreichen Feind zu behaupten; in Frankreich aber stand die Guillotine hinter ihm. Dumouriez wußte das  … die Gewalthaber kannten seine royalistischen Gesinnungen und haßten ihn. So entschloß er sich zu dem Schritte, der ihn später dennoch in's Verderben führte. Er unterhandelte mit dem Heerführer, der ihn besiegt hatte, und während dieser Unterhandlungen trat eine Art stillschweigenden Waffenstillstandes ein: die französischen Truppen zogen sich zurück … über Hal und Ath und Doornik; der rechte Flügel behauptete einstweilen noch Namur, doch schickte er sich an, sich auf Givet zurück zu ziehen, da der österreichische General Latour mit seinem Korps Huy eingenommen hatte, und ihn von dort aus bedrohte. –

Es war bei diesem Stande der Dinge, während dieses durch die Verhältnisse von selbst herbeigeführten Waffenstillstands, daß sich in einem alterthümlichen, im Style Louisquatorze gebauten Landhause, welches einsam in einem Seitenthal der Maas unweit Huy lag, eine heitere Gesellschaft zusammengefunden hatte. Sie hatte doppelten Anlaß, heiter zu sein, denn nicht allein war der Feind geschlagen, nicht allein gab man sich der vollen Hoffnung hin, daß er für's Erste nicht zurückkehren und daß der Friede heimisch bleiben werde in diesen stillen Thälern der Ardennen, wohin der Kriegslärm bis jetzt freilich nur sehr gedämpft und wie aus weiter Ferne gedrungen war – es war noch eine besondere Veranlassung da, sich einer festlich heitern Stimmung hinzugeben, denn die Gesellschaft gruppirte sich um ein seit zwei Tagen neuvermähltes Paar.

Der junge Mann war ein österreichischer Rittmeister vom Regiment Latour-Dragoner, von jenen durch ihre stürmische Tapferkeit bekannten Blanc-becs, die seit dem Tage von Kollin Schlacht bei Kolin zwischen Preußen und Österreich am 18. Juni 1757 im böhmischen Kolín bezeichnet, bei der der preußische König Friedrich II. die erste Niederlage im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) erlitt. Die Schlacht forderte rund 22 000 Tote und Verwundete. – Anm.d.Hrsg. die Auszeichnung hatten, keine Schnurrbärte zu tragen. Er hieß Paul von Terwagne, war daheim aus eben diesem Wallonenlande, das seit je, seit den Tagen Johann von Werth's, den kaiserlichen Heeren die tapfersten Kavalleristen gegeben hat, und war früh in die österreichischen Dienste eingetreten, in denen er jetzt, im siebenundzwanzigsten Jahre, bereits eine Schwadron führte.

Es war eine männlich kräftige Gestalt, unser Rittmeister; fest gebaut, breit in den Schultern, die keck aufrecht den aus starkem Nacken sich entwickelnden Hals und ein schönes, stolzes, offenes Männerhaupt trugen, das aus den feurigen Augen wie in eine Welt blickte, die keine Schranken für seinen Muth und seinen Unternehmungsgeist habe.

Paul von Terwagne war in bürgerlichen Kleidern. Er saß an einem kleinen Tische im Rücken der übrigen Gesellschaft, die sich im Halbkreis auf niedern Tabourets um ein flammendes Kaminfeuer gruppirt hatte. Paul hatte seinen Platz zwischen ihnen verlassen, draußen herrschte eine milde Lenztemperatur, und es war seinem jungen heißen Blut in der Nähe des Feuers zu warm geworden. Am Ende der Reihe, der marmornen Kamineinfassung zunächst, saß die junge Frau, eine reizende schlanke Blondine, mit feinen und ausdrucksvollen Zügen, die ihre blauen Augen mit einer gewissen Schüchternheit von Zeit zu Zeit nach der Richtung hin aufschlug, wo der junge kaiserliche Offizier, das Haupt nachlässig auf den Arm gestützt, sich an den Tisch lehnte, und wo sie dann jedesmal sicher war, seinem zärtlich auf ihr ruhenden Blick zu begegnen.

Neben ihr saß ein würdiger Herr von etwa fünfzig Jahren, der Marquis de Nossagnac, ihr Vater; daneben ein Herr von Maldagham, ein großer, dürrer Kriegsknecht der kaiserlichen Heere; diesem zur Seite der Chevalier de Nossagnac, ein dem Anschein nach ziemlich schwächliches Muttersöhnchen, einige zwanzig Jahre alt und der Neuvermählten Bruder; den Beschluß des Kreises machte ein junger, kaum achtzehn Jahre alter Mann, der bis jetzt in der Armee bis zum Cornet vorgedrungen war; er hieß Baron Helrath, und er wie Maldagham waren Kameraden Paul Terwagne's, die ihm bei der Ceremonie am vorgestrigen Tage als Führer und Zeugen gedient hatten.

Paul Terwagne, sagten wir, war aus diesem Wallonenlande daheim. Er kannte ein gut Stück des Ardennenwaldes und alle Schluchten und Wälder des schönen Maaslandes; er hatte als junger Mensch darin gebirscht, den Auerhahn gebeizt und den Eber gejagt; dann war er in den kaiserlichen Dienst getreten, hatte unter dem Oberbefehl des Prinzen von Koburg sich in Ungarn mit den Türken gerauft, und war im vorigen Jahre, während des Feldzuge von 1792, in seine Heimat zurückgekommen. Als er damals einen längeren Urlaub genommen und die Stätte seiner Geburt wieder zu sehen gegangen war, die ein paar Stunden weiter aufwärts in den rauhesten Theilen unseren Thales lag, hatte er auf Beauraing, unserem Landhause, vorgesprochen und die Bekanntschaft mit der Familie des Marquis von Nossagnac erneuert, deren er sich aus seinen Knabenjahren so gut erinnerte, mit der die heitersten und angenehmsten Bilder seiner ersten Jugendzeit verwebt waren. Der Marquis von Nossagnac hatte vor Jahren mit seiner Gattin und seinen zwei Kindern, den jüngeren Spielgenossen Paul Terwagne's auf Beauraing gewohnt. Später hatte er durch Erbschaft einen bedeutenden Besitz in Frankreich überkommen. Er war dahin übergesiedelt, hatte lange Jahre dort zugebracht, hatte die ersten Stürme der Revolution dort erlebt, und war dann, vor diesen entweichend, mit dem größten Theile des alten französischen Adels emigrirt – leichteren Herzens als dieser, weil er eine neue Heimatstätte, ganz bereit zu seiner Aufnahme, in Beauraing, seinem ehemaligen Wohnsitz, fand. Aber er sah sie wieder diese Heimatstätte, ohne seine treue Gattin in sie zurückzuführen: die Mutter seiner Kinder hatte er in Frankreich verloren.

Paul Terwagne hatte im Kreise dieser Familie im vorigen Jahre den größten Theil seiner Urlaubszeit zugebracht, denn die Seinigen waren in der Welt zerstreut, sein Vaterhaus stand verödet und der Obsorge eines Pachters anvertraut; er hatte Dorette von Nossagnac, mit der er einst als Kind gespielt, mit der er Blumen gesucht und um ein entdecktes Vogelnest sich gezankt, als ein reizendes, sanftes und doch lebhaftes und geistig reich entwickeltes Mädchen wieder gefunden; aus den alten Jugendgespielin war sehr bald ein verbündetes Paar geworden; Herr von Nossagnac hatte mit Freuden seinen Segen dazu gegeben, und jetzt hatte Paul Terwagne einen vierwöchentlichen Urlaub erhalten, um mit zwei Freunden nach Beauraing zu reiten und sich seine Braut antrauen lassen zu können.

Eine Hochzeitreise war damals nicht wie heute Sitte; auch durfte sich der junge Offizier nicht entfernen, damit ihn eine etwaige Zurückberufungsordre von seinem Regiment sofort erreichen konnte. So war das junge Paar an Beauraing gefesselt und die einzige Reise, die es am Abend nach der Trauung angetreten, war die durch den Garten nach der »Gloriette« gewesen, einem Pavillon, an den ein Gewächshaus stieß – diesen Pavillon hatte schon früher Dorette für sich in Besitz genommen und sich darin häuslich eingerichtet – jetzt, seit zwei Tagen wohnte das junge Ehepaar darin. –

Unsere Gesellschaft unterhielt sich von einem Gegenstande, der am besten an seinem Platze ist in solch einem alterthümlich eingerichteten Salon eines stillen Landhauses, wenn der Abend dunkelt und eine kleine Kaminflamme die einzige Erleuchtung des Raumes bildet, eines Raumes mit hohen braungebeizten Flügelthüren, mit verblichenen Vergoldungen an den Tapetenleisten und düsteren alten Familienbildern. Dazu die wunderlich verrenkten Gestalten des Deckengemäldes, welche ein buntes Durcheinander bilden von halb und ganz nackten Götterfiguren, blumenbestreuenden Horen und unbekleideten kleinen Buben, die sich mit Füllhörnern, Schalmeien und Hirtenstäben schleppen – das Alles vom hin- und herspielenden Schein der brennenden Scheiter bald in Dämmerung begraben, bald so licht hervortretend, als ob es sich augenblicklich auf die Köpfe derer, die darunter sitzen, stürzen wolle. Man unterhielt sich von seltsamen Geschichten, von nicht zu erklärenden Thatsachen, und der Baron Maldagham, der lange, dürre Kriegsknecht, mit einem wahren Leichenbittergesicht, wechselte im Erzählen mit dem in seiner gepuderten Perrücke stattlich dasitzenden Familienhaupt, dem Marquis, ab; beide schienen die sonderbarsten Dinge in ihrem Leben erfahren zu haben. Freilich an den verschiedensten Orten; der Marquis in Frankreich und in Paris, wo er die Zeit des magnetischen Baquets und des mesmerischen Schwindels Der »animalische Magnetismus,« auch ›Mesmerismus‹, bezeichnet eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft im Menschen, die von Franz Anton Mesmer (1734-1815) propagiert wurde und die er als Heilmittel anzuwenden behauptete; bei der gruppentherapeutischen Anwendung benutzte er geschlossene, mit Sand oder Eisenspänen gefüllte Bottiche (frz. baquets), die er magnetisierte und als Speicher der magnetischen Energie einsetzte. - Die bereits unter den Zeitgenossen umstrittene Methode erfuhr seit der Mitte des 19. Jh. überwiegend Ablehnung, wie dies auch Schückings Urtheil bekundet. – Anm.d.Hrsg. mit erlebt hatte, und der Offizier in seinen hundert Standorten und Quartieren in Ungarn, in Böhmen, im Banat und in den Grenzlanden. Der Marquis brachte den größten Effekt auf seine Zuhörer hervor durch die Geschichte von der französischen alten Dame, welche sich am Abend wie gewöhnlich in ihr Schlafgemach zurückzieht, wie gewöhnlich den einzigen Zugang zu demselben von ihrer Kammerjungfer schließen läßt und am andern Morgen verschwunden ist – vollständig und spurlos verschwunden, mit Zurücklassung eines kleinen Häufleins grauer Asche im Kamin!

Als der Marquis diese wunderliche Geschichte beendet hatte, und die Gesellschaft sich den angenehm schauerlichen Empfindungen hingab, welche die gut vorgetragene Erzählung einer so merkwürdigen und vom gewöhnlichen Lauf der Dinge so unglaublich weit abwärtsliegenden Begebenheit auch in sonst ganz kühl urtheilenden Leuten zu erregen pflegt, sagte der Baron Maldagham:

»Ich weiß nicht, durch welche Ideenverbindung dies mich an ein höchst wunderbares Ereigniß erinnert, das …«

»Ich meine, Maldagham,« fiel hier der junge Ehemann seinem Kameraden in's Wort, »es würde wohlgethan sein, wenn Du jetzt mit Deinen schaurigen und aberwitzigen Erinnerungen aufhörtest … ich sehe es meiner lieben kleinen Frau an, daß sie den Schrecken über die entsetzlichen serbischen Vampyrgeschichten, die Du vorhin zum Besten gabst, noch nicht überwunden hat … sie sieht ganz blaß davon aus, meine liebe, süße Dorette …«

Die junge Frau lächelte dankbar für seine zärtliche Fürsorge den jungen Mann an, aber sie sagte:

» Eine Geschichte soll Baron Maldagham noch vergönnt sein, vorausgesetzt, daß sie nicht gar zu schlimm ist, – ich fürchte, daß er sehr unglücklich sein würde, wenn er sie bei sich behalten müßte. Und wer weiß, was eine verhaltene Gespenstergeschichte für üble Folgen für seine Nachtruhe haben könnte!«

Die Andern lächelten, und der Chevalier von Nossagnac bemerkte:

»Du siehst, mein trefflicher Schwager Paul, Deine Dorette ist noch sehr weit davon entfernt, sich zu fürchten und zu grauen – sie ist noch lange nicht da, wohin wir sie bringen möchten …«

»Wohin ihr sie bringen möchtet,« fiel Paul Terwagne lebhaft ein … »und wohin möchtet ihr sie bringen?«

»Nun, wohin anders,« entgegnete der Bruder Dorettens, »als daß sie die Wirkungen eines recht gläubigen Grauens auf ihrem Gesichte verriethe …«

Während der Chevalier dies antwortete, glaubte Paul Terwagne zu bemerken, daß er einen Blick schelmischen Einverständnisses dem Cornet von Hellrath zuwarf, und daß ein heimliches Lächeln dabei um die Lippen des jungen Offiziers zuckte. Paul zog leise die Falten zwischen seinen Brauen zusammen und unterließ während des Folgenden nicht, die beiden jungen Leute von Zeit zu Zeit zu beobachten.

»Fürchten Sie nichts, Madame, meine Geschichte,« hatte unterdeß Baron Maldagham angehoben, »ist nicht schlimmer als andere auch; sie ist nur merkwürdig dadurch, daß darin ein Verstorbener einem Gefährdeten nicht etwa einen rettenden Gedanken im Traume eingibt, ein Warnungszeichen ertheilt, oder auf irgend eine schon oft vorgekommene Weise eine Mittheilung an die Lebenden macht, sondern daß er im Augenblicke der höchsten Gefahr selbst erscheint und die Rettung ausführt. Der Held meiner Geschichte ist ein Regimentsarzt, mit dem ich in Temeswar befreundet wurde, und der Retter desselben aus einer entsetzlichen Situation wurde ein Oheim, der damals schon vor vielen Jahren nach Ostindien gegangen und vollständig verschollen war. Der Schauplatz meiner Geschichte aber ist die alte Moldaustadt Prag.

Der Arzt, von dem ich rede, studirte auf der Universität der alten Czechenhauptstadt, und wohnte in dem von wirren, engen Gassen durchzogenen, an den Fluß sich hinabziehenden Stadttheil, den man die Josephstadt nennt. Er hatte sein Quartier bei einer ehrlichen Judenfamilie, welche ihm zwei kleine, auf die Moldau hinausblickende Stübchen eingeräumt hatte. Es war an einem schönen Sommerabende, als unser Mediziner, Stefaneck war sein Name, an seinem Fenster saß und sehnsüchtig über den Fluß hinüber auf die malerische Kleinseite und den Hradschin blickte – auf so viel davon nämlich, wie er über die vor ihm und dicht am Strande liegenden verfallenen alten Häuschen mit eingesunkenen Dächern weg überschauen konnte.

Seine Sehnsucht aber richtete sich nicht etwa auf irgend einen bestimmten Punkt, irgend einen geliebten Gegenstand, der da drüben in den Häusern der Kleinseite oder wohl gar in den stolzen Schloßbauten des hochragenden Hradschin geweilt hätte … nein, sie war viel allgemeinerer und unbestimmterer Natur; sie richtete sich lediglich auf irgend einem Vergnügen, eine Unterhaltung für den Abend, denn Stefaneck hatte sich müde in seinen Büchern studirt, hatte die Kollegienhefte fortgeworfen, und fand es sehr drückend, daß es ihm nun an Geld fehlte, sich einen lustigen Abend nach einem so solide zugebrachten Tage zu machen. Er dachte dabei mit einer sehr vorwurfsvollen Stimmung an den todten Oheim in Ostindien, der da am Indus oder Ganges irgendwo in die Verschollenheit gerathen, statt wie es einem richtigen Onkel in Ostindien zukommt, entweder rechtzeitig mit Schätzen beladen zu den Verwandten in die Heimat zurückzukehren oder in einem passenden Augenblick am gelben Fieber zu sterben und seinem Neffen die übliche Million zu hinterlassen.

Während Stefaneck so über die Entartung des einst so achtungswerthen Geschlechts ostindischer Onkel brütete, öffnet sich seine Thüre und sein Studiengenoß – Rohacek tritt ein, … Rohacek ist in der heitersten Stimmung; er hat einen Wechsel erhalten und macht dem Freunde den Vorschlag, den Abend im Theater zuzubringen. Dieser Vorschlag findet eine bereitwillige Aufnahme, wie man sich denken kann. Die beiden jungen Männer machen sich sofort auf den Weg.

Dieser Weg führt sie in der Richtung nach dem großen Ring durch allerlei krumme und enge Gassen; sie erreichen den Ziegenplatz, der um diese Tagesstunde, gegen den dunkelnden Abend hin, verlassen und menschenleer ist. An der Südseite des Platzes erhebt sich ein düsterer, grauer, alterthümlicher Bau, dessen massive Quadermauern von wenigen, immer verschlossen gehaltenen Fenstern durchbrochen sind. In der Mitte der Vorderfront tritt ein breiter Erker vor, mit verwitterten, alten, in Blei gefaßten runden Glasscheiben, mit alter Steinhauerarbeit, die Regen und Stürme halb zernagt haben … es ist ein düsteres, unheimliches, dem Leben und dem Tageslicht verschlossenes Gebäude, dem Anschein nach seit vielen, vielen Jahren von keines Menschen Fuß mehr betreten.

Stefaneck, unser Lebenslustiger Student, hat sich um das alte, vielleicht von irgend einer seit der Schlacht am weißen Berge Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag am 8. November 1620 war die erste große militärische Auseinandersetzung im Dreißigjährigen Krieg; sie endete mit einem Sieg der katholischen Liga über die böhmischen Stände. – Anm.d.Hrsg. untergegangenen böhmischen Magnatenfamilie herrührende Kastell, an welchem er so oft vorübergekommen, nie viel gekümmert, und weßhalb es so leer und verödet dasteht, ist ihm ein Räthsel gewesen, das ihm nie so viel Interesse eingeflößt hat, um je den Versuch zu machen, es zu lösen.

Heute aber, auf dem stillen Platze dem Gebäude gegenüber angekommen, hemmt er seine Schritte, und die Hand auf die Schulter seines Begleiters legend, deutet er zu dem Erker empor.

»Sieh' einmal da hinauf, Rohacek!«

»Das ist seltsam!« sagt dieser, ebenfalls emporblickend. »Wer mag denn da eingezogen sein?«

In dem alten Bau steht nämlich heute das Erkerfenster mit beiden Flügeln weit auf. Unter demselben zu beiden Seiten zeigen sich ein halbes Dutzend geräumiger Käfige aufgehängt, in denen mächtig große Raben sich befinden, die Federn sträuben, träge mit den Flügeln schlagen und heisere Rufe ausstoßen. Im Innern des Gebäudes aber, hinter den offenen Erkerfenstern, taucht eine langsam vorüberwandelnde Gestalt auf, eine junge Dame in einer goldgestickten eigenthümlichen Sammethaube; sie wendet den jungen Männern ein Gesicht von einer ganz überraschenden Schönheit zu – sie lächelt freundlich auf dieselben herab – und geht vorüber.

Ueberrascht blicken diese jungen Männer noch immer hinauf – da, von der andern Seite her zurückkommend, erscheint das verführerisch aussehende junge Mädchen wieder, freundlich lächelnd wie eben, und wie leis mit dem Kopfe winkend, grüßend … ihre Hände scheinen dabei wie mechanisch mit einer Filet- oder Häkelarbeit beschäftigt … sie sind in fortwährender Thätigkeit. So geht sie abermals vorüber, um abermals zurückzukommen, und diesesmal ganz unverkennbar den leisen freundlichen wink zu wiederholen.

»Sie winkt und hinauf,« ruft Stefaneck aus, »wo ist der Eingang in das alte Haus?«

»Du wirst doch nicht hinein wollen?« versetzte sein Begleiter erschrocken. »Weißt Du nicht, daß dieser alte Bau berüchtigter ist, als der Palast Czernin?«

»Ah bah, Du denkst doch nicht an Gespenster?« …

»Hast Du nicht gehört, daß Mellschütz und Sandsky nie wiedergekehrt und verschollen sind …«

»Mellschütz und Sandsky – die mit uns Anatomie hörten? Daß sie verschwunden oder wenigstens aus den Ferien nicht heimgekommen sind, weiß ich … aber was haben sie mit diesem merkwürdig schönen Geschöpf in diesem alten Hause zu thun?«

»Man sagt eben, daß sie es versuchten in das Haus zu dringen, und daß sie niemals daraus zurückkehrten!«

»Das sagt man? Wie einfältig! Komm mit!«

»Ich würde um keinen Preis der Welt gehen!« versetzte Rohacek.

»Und ich werde mich durch nichts in der Welt abhalten lassen zu gehen!«

»So geh allein!«

»Nicht ohne Dich. Aber da Du keinen Muth hast, muß ich ihn Dir einflößen – laß uns zu Koritz in die Pinkasgasse gehen … wenn wir eine oder zwei Flaschen von seinem vortrefflichen Melniker geleert haben, wirst Du auf der Höhe der Situation sein.«

Die Weinschenke von Kokoritz in der Pinkasgasse hatte für Rohacek keine gespenstische Schrecken. Dahin war er bereit, dem Freund zu folgen, in der Hoffnung, daß dieser hinter der Flasche seinen verwegenen Entschluß vergessen würde.

Aber dem war nicht also; Stefaneck fühlte mit jedem Glase Melniker ein stürmischeres Verlangen, zu dem schönen Fräulein in der koketten goldgestickten Sammethaube zu gelangen, und Rohacek fühlte mit jedem Glase, das ihm sein Freund einschenkte, sein Widerstreben gegen diese gefährliche Unternehmung schwächer werden.

Als sie zwei Flaschen geleert hatten, stand Stefaneck auf.

»Es wird bereits ganz dunkel,« sagte er, »es ist hohe Zeit, daß wir geben. Komm' jetzt, ohne Widerrede.

Rohacek versuchte keine Widerrede mehr.

»Nun denn, in Gottes Namen,« sagte er, und bezahlte den Wein.

Sie gingen.

Nach dem Ziegenplatz hin hatte das alte Haus keinen Eingang. Dieser lag zur Seite, in der Gasse, die von dem Platze nach dem großen Ring hinauf führt. Hier zeigte sich ein alterthümliches, schwer sich aufbauendes Portal, über dem eine wuchtige breite Steinarbeit, große Wappenschilde darstellend, lastete. Als die beiden jungen Leute ihren Fuß auf die Schwelle dieses Portals setzten, und Stefaneck eben den alten rostigen Thürklopfer ergreifen wollte, öffnete sich geräuschlos und langsam, wie von einer unsichtbaren Hand aufgeschlossen, einer der Thürflügel, Sie traten ein, – die Thüre hatte sich unmittelbar hinter ihnen wieder geschlossen – und sie befanden sich in einem, wie es schien sehr weiten, aber völlig dunklen Flur. Nur am Ende desselben schimmerte Licht; es zeigte sich da eine breite, bequem aufgebaute Stiege, über deren steinerne Stufen von oben her der Lichtschimmer niederdämmerte.

Stefaneck wandte sich dieser Treppe zu und begann keck empor zu steigen – Rohacek folgte ihm, furchtsam und beklommenen Athems.

»Es kommt mir vor,« sagte Rohacek gedämpft, als sie so aufsteigend in eine hellere Lichtregion gelangten, »als ob der Staub fingerdick auf diesen Stufen läge! Scheint das Dir nicht auch?«

Stefaneck wollte antworten, als seine Aufmerksamkeit von einem andern Gegenstande angezogen wurde. Er sah vor sich auf den obersten Stufen der Treppe ein gelbseidenes Frauengewand, eine Robe oder einen Schlender liegen – darauf einen weißen Schäferhut von Atlas, mit einem vertrockneten, alten Blumenstrauß daran – das Alles, so viel sich erkennen ließ, eigenthümlich verschossen und verblichen aussehend und ebenfalls mit einer dichten Schicht Staub bedeckt.

»Die Kammerkatze unserer Dame,« flüsterte Stefaneck, »muß nicht besonders zur Ordnung angehalten werden, daß sie die Toilette ihrer Gebieterin an so eigenthümlichen Aufbewahrungsorten umherfahren läßt …«

»Komm zurück, laß uns nicht weiter dringen,« flüsterte Rohacek, das altmodische Zeug anstarrend, »mir ist ganz elend vor Beklommenheit zu Muthe.«

»Sind wir so weit, so wollen wir auch weiter,« versetzte Stefaneck – und schritt in den langen, von einer Ampel erhellten Gang hinein, der sich über der Treppe vor ihnen öffnete.

Zur linken Seite zeigte sich eine Reihe hoher, dunkler Thüren. Stefaneck trat der ersten nahe – sie öffnete sich vor ihm, still und geräuschlos, wie die Hausthüre es gethan; die beiden jungen Leute blickten in ein leeres Gemach, das mit gelbseidenen Tapeten bekleidet war; mit demselben Stoff überzogene Möbel, Divan, Stühle, standen an den Wänden gereiht; auf einem Tisch mit gewundenen Füßen, der die Mitte einnahm, mit einer Decke von gelbem Damast belegt, stand eine Vase von chinesischem Porzellan; Ueberreste eines Straußes, der hineingesetzt worden, lagen auf der Decke umher und verbreiteten einen eigenthümlichen Modergeruch. Erhellt war das Gemach durch eine von dem Plafond niederhängende matt brennende Ampel.

»Niemand ist darin,« sagte Stefaneck sich wendend, und verließ die Schwelle des gelben Gemaches, um tiefer in den Gang hinein zu schreiten. In der Mitte desselben zeigte sich, höher als die andern, eine große Flügelthüre.

»Wenden wir uns gleich dahin,« fuhr der unerschrockene Student fort, auf diese Thüre deutend, »sie muß in den Saal mit dem Erker führen.«

Beide schritten darauf zu. Auch hier war es wie bei den andern Thüren. Ohne daß eine Hand sich auf das Schloß legte, öffnete die Thüre sich.

Sie traten, wie der erste Blick ihnen zeigte, in den Saal mit dem Erker.

Es war ein außerordentlich großer Raum, fast wie ein Festsaal.

Er war mäßig hell erleuchtet, durch einen von der Decke niederhängenden Krystalllüstre, auf dem eine Anzahl Wachskerzen flammten; nur zwei Ecken des Gemachs lagen in einer Art Dämmerung; es befanden sich nämlich rechts und links auf vorspringenden Säulen ruhende Söller oder Bühnen, wie für die Musikanten bei etwaigen Festlichkeiten eingerichtet; unter denselben und zwischen den Säulen führten Flügelthüren, die in tiefem Schatten lagen, in die anstoßenden Gemächer.

In der Mitte des Raumes stand ein großer runder Tisch, bedeckt mit einer Anzahl pyramidenartig aufgebauter Käfige von Messing- oder Golddraht – denn sie glänzten im Scheine der Krystallüstres wie Gold, und in diesen Käfigen bewegte sich stumm und schweigend ein ganzes Volk von merkwürdig schönen, großen Vögeln vom prachtvollsten Gefieder – es waren die glänzendsten, buntesten Exemplare von fremdartig gestalteten Bewohnern der Palmen- und Bananenwälder ferner sonniger Zonen, welche man sich denken kann. Es war ein Anblick von ganz überraschender Pracht.

Unsere Studenten schauen erstaunt darauf hin, aber über die Thatsache, daß alle diese sonst so lärmenden, unruhigen Geschöpfe in eigenthümlicher Stille verharren, und eben so eigenthümlich sacht und wie hinfällig und langsam in ihren Bewegungen sind, über diese Thatsachen zu grübeln, bleibt ihnen nicht Muße, weil ihre Blicke hinüberfliegen zu der Dame, welche sie von der Straße aus vorher erblickt haben.

Diese Dame wandelt ganz so, wie sie sie vor einer Stunde sahen, an derselben Stelle, in dem Saal auf und ab. Doch ist jetzt das Erkerfenster im Hintergrunde geschlossen, denn es ist ja fast Nacht draußen geworden. Die Dame aber scheint jetzt, im Lichte der Kerze, wo möglich noch schöner, rosiger, strahlender; sie trägt das dunkle Haar ganz aus der Stirne gestrichen und nach hinten zusammengerollt, wo die kleine, kokette Goldhaube auf dem Scheitel prangt. Ein Mieder von schwarzem Sammt mit weitem viereckigem Ausschnitt, der die lilienweiße Haut der Büste sehen läßt, ist vorn durch feine Goldkettchen zusammengeschnürt; darunter trägt sie eine Robe von brauner broschirter Seide, deren schwere Falten lang und malerisch an ihrer schlanken Gestalt niederfließen.

Sie ist noch fortwährend, wie sie es früher war, mit einer kleinen Häkelarbeit beschäftigt. Doch blickt sie nicht darauf, sondern den beiden jungen Leuten wendet sich ihr Gesicht mit einer holdseligen Freundlichkeit zu, daß Stefaneck an dem Tisch mit den farbigen Vögeln vorüber ihr näher tritt, um mit möglichst wohlgesetzten Worten die Freiheit zu entschuldigen, die er und sein Freund sich genommen, der Dame aufzuwarten.

In diesem Augenblick aber öffnet sich eine Seitenthüre, ein alter, grauer Mann in einer seltsam altfränkischen Bediententracht tritt ein, auf einer silbernen Platte eine Flasche und zwei hohe Spitzgläser tragend, und wandelt mit einem eigenthümlich steifen, schwerschlürfenden Schritt an den Studenten vorüber, setzt die Platte auf einen neben ihnen rechts sich befindenden Tisch und entkorkt die mit Spinngeweben bedeckte Flasche, während die Dame mit einer graziösen Handbewegung den beiden jungen Männern winkt, auf der hinter dem Tische an der Wand stehenden Ruhebank Platz zu nehmen. Der Bediente füllt die Spitzgläser mit einer goldglänzenden, ein verlockendes Arom verbreitenden Flüssigkeit – Stefaneck streckt bereits die Hand aus, um eines dieser Spitzgläser zu ergreifen, und mit einer höflichen Verbeugung gegen die Dame des Hauses zu leeren – als ihm plötzlich Rohacek, der hinter ihm steht, einen Rippenstoß gibt und dabei einen leisen Schrei entsetzlicher Angst ausstößt.

»Da … da … schau' in die Ecke!« flüstert er dabei seinem Begleiter zu und dieser, der Richtung der weit offen starrenden Augen Rohacek's folgend, erblickt in dem, unter dem einen Söller und zwischen den Säulen herrschenden Schatten ein scheußliches Etwas, ein Gerippe, das ihm jetzt mit dem Kopfe wie drohend langsam zuwinkt – mit einem Schädel, in welchem Stefaneck doch in einer Weise, die er später nicht zu erklären wußte, seinen ehemaligen Bekannten Mellschütz, den verschollenen Hörer der Anatomie, erkennt!

Schaudernd über den gräßlichen Anblick, läßt Stefaneck das Glas zu Boden fallen; in diesem Augenblick stößt ihn Rohacek noch einmal an und wiederholt sein: »Da  … schau' her!« – dießmal nach der andern Seite des Saales, nach der andern Säulengruppe deutend – und Stefaneck erblickt nun dort, im Schatten unter dem vorspringenden Söller, ganz so wie eben den Einen, den Andern der zwei Verschwundenen, Sandsky stehen.

»Teufel!« ruft Stefaneck jetzt aus, einen Schritt zurückprallend.

Aber es ist, als ob die Dame durch verdoppelte Holdseligkeit den Eindruck der schrecklichen Erscheinungen wieder auslöschen wolle. Sie ist herangetreten, sie blickt Stefaneck mit einem bezaubernden Lächeln an  … sie streckt die Hand aus, ihm entgegen – Stefaneck nimmt sie, er ergreift sie, diese Hand, aber in seiner Aufregung mit einem heftigen, vielleicht unwillkürlich krampfhaften Druck – und im nächsten Augenblick fühlt er, daß er die Finger dieser Hand, vier kalte, knöcherne, fleischlose Finger in seiner Hand hält!

Entsetzt schleudert er diese Finger von sich.

Die Dame aber verzieht, wie einen Schmerz verbeißend, das rosige Antlitz; sie hält die Hand empor, gegen das Licht … aus den Wundhöhlen sickern anfangs schwache Tröpfchen Blut … dann zeigen sich die Spitzen anderer Finger, die erst langsam heraus wachsen, dann immer rascher und rascher vortreten – nach kurzer Zeit ist die Hand wieder hergestellt, so vollständig, so unverletzt, so weich und so weiß wie sie war.

Unsere zwei Studenten hatten diesem Schauspiel mit einem Entsetzen und Grausen zugesehen, welches leichter zu begreifen als zu schildern ist. Jetzt hat Stefaneck nicht zwar den Muth, aber er hat über allemdem den Kopf verloren. Seiner nicht mehr mächtig, ganz außer sich ruft er aus:

»Das ist ja des Teufels Küche, in die wir gerathen sind, das ist ein Spuk der Hölle, das ist eine Hexe!« und bei diesen Worten ergriff er den Hals der auf den kleinen Tisch gestellten Flasche, zielt damit auf den Kopf der jungen Dame, die er solche Zaubereien ausführen sieht, und schleudert die Flasche gerade gegen ihre Stirn.

In diesem Augenblick öffnet sich der Kopf des entsetzlichen Geschöpfs; es ist, als würde er in der Mitte auseinandergespalten; die Flasche fährt hindurch, um hinten im Raume auf den Boden zu stürzen; die beiden Hälften des Kopfes aber schließen sich langsam wieder zusammen; das eben noch so rosige lächelnde Antlitz jedoch ist in wunderbarer Weise verändert; mit einem Ausdruck entsetzlicher Wuth, wie eine Furie, starrt sie Stefaneck an; die Augen flammen, sie erhebt die Hand und tritt ihm rasch einen Schritt näher, als ob sie ihn erwürgen wolle.

Stefaneck aber fühlt sich wie an allen Gliedern gelähmt, er denkt an Flucht, und hat doch nicht die Kraft den Fuß zu heben.

Da, im Augenblick der Gefahr … das entsetzliche Weib hat schon den Studenten am Halse erfaßt – da tritt plötzlich eine dritte, ganz neue Gestalt auf. Es ist ein hochgewachsener, kräftiger Mann, in einen langen, grauen, fast bis auf die Erde reichenden Ueberrock zugeknöpft, einen Hut mit breitem Rande in die Stirne gedrückt – Stefaneck hat nicht wahrgenommen, wie er eingetreten, wie er so nahe gekommen – aber er ist da, er tritt zwischen das zürnende Weib und den Studenten, er erfaßt diesen unter den Arm und rasch führt er ihn, wie willenlos, fort – Rohacek folgt an seiner andern Seite; die Thüre, durch welche die beiden Studenten gekommen, klafft vor ihnen auf, sie retten sich hindurch, sie schließt sich hinter ihnen – es ist wie das Werk eines Augenblicks – sie stehen wieder auf dem Korridor!

Stefaneck will hier stehen bleiben, um aufzuathmen, um Luft zu schöpfen … aber es ist, als ob der Fremde, der ihn unter den Arm gefaßt hat, eine unwiderstehliche Gewalt über ihn übe – er zieht ihn weiter, vorwärts.

Sie kommen unter der Hängelampe her, die den Gang erhellt – das Licht fällt hier auf das Antlitz des Fremden und nun, noch einmal den Schritt hemmend, schreit Stefaneck auf:

»Gott sei mir gnädig … Du bist's, Du, Onkel Octavio?  … Onkel, woher kommst Du, wie kommst Du hierher …«

Aber der Onkel hört nicht auf ihn, er zieht ihn weiter der Treppe zu – er sagt nichts als die Worte:

»Komm', komm' fort von hier – Du wirst Alles erfahren!«

Und so geht es die Treppe hinab, durch den dunklen Flur, durch das sich willig öffnende Eingangsportal, auf die nächtlich dunkle, verödete Straße.

Hier läßt der Fremde den Arm Stefaneck's fahren. Der Student macht zwei Schritte, blickt sich dann um – und … Wo ist der Onkel?

Der Onkel Octavio ist fort! Nur Rohacek steht an Stefaneck's Seite.

»Wo ist der lange Fremde?« fragt Rohacek.

Wo ist er? Sie blicken nach allen Seiten. Er ist verschwunden! Er ist fort wie ein Schatten, wenn das Licht, das ihn warf, erlöscht!

Die jungen Leute suchen, zitternd vor Aufregung. wie gebrochen an allen Gliedern, wankenden Schrittes Stefaneck's Wohnung auf. Hier erzählt der Letztere seinem Freunde von seinem Oheim, was er eben von ihm wußte. Beide haben dann viel nachgeforscht nach der Geschichte des alten Hauses, aber sie haben Niemanden gefunden, welcher ihnen etwas darüber berichten konnte, das auch nur entfernt in Verbindung zu bringen gewesen wäre mit dem, was sie erlebten. Niemanden auch, der etwas davon bemerkt hätte, daß an diesem Tage das alte Haus bewohnt gewesen sei. Der Oheim Octavio aber ist verschollen geblieben bis auf diesen Tag!

Das ist,« schloß Baron Maldagham seine Erzählung, »die Geschichte meines Freundes, des Regimentsarztes in Temesvar.«

»Die Geschichte ist ja ganz gräßlich, ganz schauerlich,« sagte die junge Frau mit einer Bewegung ihrer zarten Schultern, als ob sie das Grauen abschütteln wolle.

»Sie ist höchst merkwürdig, in der That,« meinte der Marquis de Nossagnac.

»Ich,« fiel Paul Terwagne ein, »finde sie nicht so besonders merkwürdig, mein lieber Maldagham … es spielen mir die Flaschen in dieser Studentengeschichte eine viel zu große Rolle. Wahrscheinlich sind die beiden Studio bei Kokoritz in der Pinkasgasse so lange bei dem schweren Melniker sitzen geblieben, bis sie trunken eingeschlafen sind, und Dein trefflicher Freund Stefaneck die ganze Geschichte geträumt hat!«

»O, wir wissen, Paul ist ein starker Geist!« rief hier der junge Chevalier spöttisch aus, »er muß erst noch durch eigenes Erlebniß bekehrt werden!«

»Vielleicht,« bemerkte der Cornet lächelnd, »steht ihm das früher bevor, als er denkt – sagten Sie mir nicht, Herr von Nossagnac, es sei nicht ganz geheuer in der Gloriette?«

»Ich,« versetzte der Chevalier achselzuckend, »habe wenigstens immer den Muth meiner Schwester Dorette bewundert, die so lange ihre Tage darin zugebracht hat …«

»Und was sagt man denn von der Gloriette?« fragte Paul Terwagne mit einem forschenden Blick in das ihm zugewendete Gesicht des Chevaliers.

»Ich habe nie das Geringste darin erlebt, das mich beunruhigt hätte,« schaltete die junge Frau ein.

»Es wird albernes Geschwätz der Domestiken sein,« bemerkte der alte Marquis … »aber da ist Pierre, der uns anzukündigen kommt, daß das Souper uns erwartet.«

» Monsieur est servi!« meldete in der That Pierre, der Bediente, der eben eintrat.

Während Paul Terwagne seine junge Frau in das Speisezimmer führte, flüsterte er ihr zu:

»Ich bin überzeugt, daß man vor hat, uns diesen Abend in der Gloriette einen Streich zu spielen!«

»Glaubst Du?«

»Irgend eine Neckerei,« fuhr er fort. »Man hat offenbar die Gespenstergeschichten geflissentlich aufs Tapet gebracht, um uns in die rechte Stimmung zu versetzen. Aber sorge nicht – ich will, bevor wir zur Ruhe gehen, schon rekognosziren.«


Zweites Capitel.
Die Gloriette.

Es war zehn Uhr. Der Marquis von Nossagnac hatte sich bereits zur Ruhe begeben; die jungen Leute vertrieben sich die Zeit mit dem Brettspiel; Maldagham, die junge Frau und Paul Terwagne hatten unterdeß zusammen geplaudert; Maldagham setzte der still lächelnd zuhörenden Dame eben auseinander, daß es keine glücklicheren Ehen geben könne, als die der Soldatenfrauen, deren Männer immer voll Zärtlichkeit und Sehnsucht blieben, weil sie die Hälfte ihrer Zeit, in den Jahren, wo das Mannesherz überhaupt der Zärtlichkeit und Sehnsucht fähig sei, fern von ihren Frauen zubringen müßten, was ein vortreffliches Mittel sei, diese Zärtlichkeit und Sehnsucht immer lebendig und wach zu erhalten.

Paul Terwagne nahm diesen Augenblick wahr, um unbemerkt die Gesellschaft zu verlassen. Draußen auf dem Vorplatz wandte er sich der Treppe zu; eilte die Stufen hinab, schritt unten quer durch die Eingangshalle und trat in den großen Garten, der sich hinter dem Landhause leise ansteigend bis an ein Gehölz erstreckte, welches eine etwas steiler sich erhebende Bergwand bedeckte. Es war rings umher Alles still, man hörte von drüben, von der Tiefe des Thales herüber, das Rauschen des geschwellten Berggewässers, das über Steingerölle und Wehren der Maas zuströmte; helles Mondlicht lag auf den Gängen, den Taxushecken, den in zierlichen Schnörkelnformen angelegten, mit Buchsbaum umsäumten Beeten; aus dem Hintergrunde des Gartens leuchtete weißlich schimmernd die Gloriette herüber.

Die Gloriette bestand aus einer ziemlich großen, nach vorn offenen, und hier von vier runden Sandsteinsäulen getragenen Halle. Darüber erhob sich ein zweites Stockwerk, zu dem in der linken Ecke der Halle eine Thüre, dahinter eine schmale Treppe führte. Oben trat man zuerst in ein kleines Vorzimmer, von diesem in einen kleinen Salon, dann in ein Schlafgemach; an dieß Schlafgemach stieß nach der Rückseite des Gebäudes hin, ein als Ankleidezimmer zu benützender Raum, aus dem eine Thüre und ein schmaler Gang wieder in das zuerst erwähnte Vorzimmer führten.

Alles war sehr klein, aber sehr hübsch, sehr behaglich und wohnlich eingerichtet – und: »Raum ist in der kleinsten Hütte für ein glücklich liebend Paar« Schlusszeilen aus dem Gedicht »Der Jüngling am Bache« von Friedrich Schiller. – Anm.d.Hrsg. – für ein junges Ehepaar konnte kein hübscherer Taubenschlag erdacht werden.

Paul Terwagne untersuchte, bevor er in diese Gemächer hinaufstieg, sehr aufmerksam das Schloß der Thüre, die aus der unteren Halle zur Treppe führte. Es that vollständig seine Dienste, und nach innen hin steckte der Schlüssel, wie er sollte. Oben, in dem Salon angekommen, zündete der junge Offizier die beiden auf dem Kaminsims stehenden Wachskerzen an, nahm einen der Leuchter und machte damit die Runde durch das ganze kleine Gebäude; er untersuchte alle Thüren und Schlösser, alle Fenster, leuchtete in jeden Winkel … er fand nichts, nicht das leiseste Anzeichen, das auf irgend eine Absicht, eine Vorbereitung deutete, wie er sie argwöhnisch besorgte.

In dem Salon zurückgekommen, stellte er das Licht zu dem andern auf den Trumeautisch zwischen den beiden Fenstern; dann blickte er durch eines dieser Fenster in den Garten hinab, dessen geschorene Zwerg- und Pyramidenbäume, dessen abenteuerliche Taxusfiguren und mythologische Steingestalten in dem hellen Mondlicht zusammen ein eigenthümlich anziehendes Bild darstellten … drei, vier Minuten mochte er so, nach und nach in Gedanken versinkend, gestanden haben, als er plötzlich unwillkürlich zusammenschreckte.

Er hörte dicht hinter sich ein heftiges Niesen.

Er wandte sich im selben Augenblick um; aber es war Niemand in dem Raum, nichts Lebendes außer ihm und den langsam flackernden Kerzen.

Paul Terwagne eilte fast blitzschnell hinaus; es hatte den Anschein, als ergriff er vor Schrecken augenblicklich die Flucht. Aber er kehrte auch eben so rasch wieder zurück … er hatte die Thüre des Vorzimmers, die auf die Treppe führte, abgeschlossen.

»Jetzt,« sagte er mit lauter Stimme, »wünsche ich die Bekanntschaft des Geistes, der da eben nieste, zu machen … haben Sie die Güte, sich zu offenbaren, denn ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, wenn ich gezwungen bin, Sie erst zu suchen, so werde ich Sie nachher ein klein wenig durchbläuen.«

Alles blieb still.

»Ei, zum Teufel,« sagte der Offizier zornig, »ich werde aus dem Schlafzimmer meine Pistolen holen.«

Er ging geräuschvoll in das Seitenzimmer; aber statt darin zu verschwinden, blieb er auf der Schwelle stehen und wandte den Kopf zurück.

Was er erwartet hatte, geschah. Der Geist wollte den Augenblick benützen, um nach der Möglichkeit einer Flucht zu spähen und verrieth sich.

Ein großes, über dem Kamin angebrachtes, irgend einen alten Fürstbischof von Lüttich, den ehemaligen Souverän dieser Gegend, darstellendes Gemälde, hatte sich in seinem Rahmen bewegt; es klaffte einen halben Schuh weit von der Mauer ab, und durch diesen klaffenden Spalt blickte ein braunes, dunkles Männergesicht.

»Aha – Du bist es, Pierre,« sagte Paul Terwagne, das regsamste, verschmitzteste und anstelligste Individuum unter der ganzen Dienerschaft, einen kleinen, untersetzten Burschen von etwa fünfundzwanzig Jahren erkennend. »Was zum Teufel machst Du da, mein Freund? Komm' heraus aus Deinem Versteck, damit ich Dir bequemer die Prügel appliciren kann, die Du von mir erhalten wirst.«

»O mein gnädiger Herr,« sagte Pierre, das Gemälde von der Wand so weit abschiebend, daß er ganz dahinter hervorkommen und auf den Boden des Salons niederspringen konnte … »mein gnädiger Herr – verzeihen Sie mir – die Herren wollten es – sie haben mich gezwungen dazu … wahrhaftig, sie haben mich mit Gewalt –«

»Welche Herren?«

»Nun, der Chevalier und der junge Baron Hellrath …«

»Dach ich's doch … und was solltest Du in dem Kaminloch da hinten machen? Etwa geräuchert werden?«

»Ach, gnädiger Herr – ich sollte nichts Uebles thun  … ganz gewiß nicht …«

Das heißt. Du solltest nicht stehlen, oder etwa die Gloriette uns über dem Kopf anzünden – das weiß ich – aber was solltest Du thun? Heraus damit!«

»Ich sollte weiter nichts thun, als an diesem Bindfaden ziehen  … später, wenn der gnädige Herr und die junge gnädige Frau zu Bett gegangen …«

Pierre zeigte hier in die Ecke zur Rechten des Kamins, und Paul Terwagne, der einen der Leuchter nahm und hineinleuchtete, fand jetzt in der That eine dünne Schnur da niederhangend, die oben durch ein altes Schellenloch gezogen war, und so mit dem Schlafzimmer in Verbindung stand.

»Und wenn Du an dem Bindfaden gezogen hättest, was dann?«

»Dann hätte ein alter Musikkasten, der drinnen in einem verborgenen Wandschrank steht, angefangen, Ihnen ein Musikstück vorzuspielen … wären Sie aufgestanden, um Untersuchungen anzustellen, so hätte ich mich hinter dem Bilde verborgen, und Sie hätten nichts gefunden; und dann, wenn Sie sich wieder gelegt, hätte der alte unsichtbare Musikkasten von neuem begonnen, Ihnen sein schönstes Stück vorzuspielen … der Uhrmacher unten im Dorf, der so geschickt in allen solchen Dingen ist, hat ihn dazu auf's Beste wieder in Stand gesetzt.«

»Also das war die ganze Teufelei?« rief Paul Terwagne lachend aus … »wahrhaftig, es ist eigentlich Schade darum, denn merkwürdig wäre es in der That gewesen, wenn wir die Nacht hindurch solch eine räthselhafte Musik aus der Wand hervorklingen gehört hätten …«

»Der Baron Hellrath hat mir einen Kronenthaler dafür versprochen, wenn …«

»Nun, wenn?«

Wenn ich meine Sache geschickt mache … aber hören Sie nichts, gnädiger Herr?« unterbrach sich Pierre horchend.

»Hören – was soll ich hören?«

»Ich habe den ganzen Abend, seit ich hier in der Gloriette steckte, etwas gehört, als ob es nicht richtig hier innen oder draußen in den nächsten Gebüschen sei!«

»Aha,« fiel Paul Terwagne lächelnd ein, »das spukende Gespenst hat selbst Angst!«

»Horchen Sie doch einmal!« Paul horchte.

»Du hast Recht – ich höre gehen und flüsternde Stimmen unten – was kann das sein?«

Er trat zum Fenster und blickte hindurch.

»Da unten seh ich Niemand!« sagte er.

»Er muß in der Halle unten sein!«

Paul wandte sich vom Fenster ab, und machte zwei Schritte der Thüre in das Vorzimmer zu, als Pierre ausrief:

»Es kommt die Treppe herauf – mein Gott – das ist ja wie eine ganze Armee!«

In der That, es war wie eine ganze Armee, wenn eine solche eine enge Treppe hinauf hätte marschiren können … es waren die schweren Schritte mehrerer Männer, und dazwischen wurde lautes Waffengeklirr vernehmbar.

Paul glaubte im ersten Augenblick, daß auch das zu der Attrape gehöre, die man ihm vorbereitet hatte – im nächsten Moment jedoch war er mit einer raschen Bewegung in das Schlafzimmer getreten und langte sich die über seinem Bette hängenden Pistolen herab. Eben hatte er sie gefaßt und spannte die Hähne, als ein heftiges Geräusch von dem Vorzimmer drüben her ihm ankündigte, daß man die wenige Minuten vorher von ihm abgeschlossene Thüre eintrat oder aufsprengte.

»Alle Wetter,« sagte er betroffen, »mit Gespenstern haben wir es hier in der That nicht zu thun …«

Er stürzte in den Salon zurück – ihm gegenüber flog die entgegengesetzte Thüre desselben auf, und Paul starrte einen Augenblick auf eine ebenso unerwartete, überraschende als unangenehme Erscheinung – einen langen, rothbärtigen Menschen in französischer Offiziersuniform, der mit erhitztem Gesicht, mit gezogenem Degen über die Schwelle trat, umgeben von einer Gruppe Soldaten, die sich mit ihm durch die Thüre drängten.

Die Soldaten schlugen sofort ihre Musketen auf Paul Terwagne an.

» A das les armes!« schrie der Offizier, » ou je fais tirer … à bas vos pistolets! Vous êtez mon prisonnier!«

Statt zu gehorchen, schoß Paul seine Pistolen sofort zu gleicher Zeit in den Haufen ab, wandte sich dann blitzschnell und war, durch das Schlafzimmer flüchtend, im nächsten Augenblick in dem kleinen, nach hinten hinausliegenden Ankleidezimmer, am Fenster desselben … er riß dieß auf, schwang sich hinein, ließ sich dann über das Stück Mansardendach, welches sich draußen unter dem Fenster befand, niedergleiten, und wagte nun den kühnen Sprung in die Tiefe hinab, in das dichte Gebüsch, welches sich hier bis an die Rückseite der Gloriette erstreckte.

Er kam glücklich – während er sich losließ und sprang, hörte er ein paar Schüsse hinter sich drein knattern – er kam glücklich auf seinen Füßen unten auf dem Boden an; aber die Gewalt des Sturzes war zu groß, er fiel der Länge nach in das Strauchwerk hinein, und schlug dabei mit dem Kopf an einen alten, hier in die Nesseln geworfenen Gesimsstein. Zuerst fühlte er einen heftigen Schmerz und einen Schwindel; ein graues Dunkel umhüllte seine Augen; der Schwindel war im nächsten Augenblick so stark, daß er ihm die Sehkraft, die Sinne, das ganze Bewußtsein raubte; in einer dem Tod ähnlichen Besinnungslosigkeit krümmte sich Paul Terwagne's Körper zusammen.

Wie lange lag er so? Er hatte keine Ahnung davon, als er die Augen wieder aufschlug und um sich her blickte. Die ganze Scene war verändert. Er sah vor sich einen Tisch, auf welchem eine Laterne brannte, und über sich gebeugt das Gesicht Pierre's, während ein Mann in einem Kittel zu seinen Füßen stand; jenseits des Tisches erblickte er die im Schatten liegenden, nur bruchstückweise von dem Licht der Laterne röthlich erhellten Schäfte der Sandsteinsäulen, welche die Hallen der Gloriette trugen.

»Was ist geschehen? Wo bin ich?« rief er auffahrend aus.

Pierre hatte einen großen, mit kaltem Wasser gefüllten Pferdeschwamm in der Hand, den er noch einmal auf den Kopf Terwagne's drückte. Dann sagte er:

»Gott sei gedankt … der Lambert schwor schon darauf, der gnädige Herr sei todt … der Lambert und ich haben Sie hinten im Gebüsch gefunden, wir hörten Sie stöhnen … da haben wir Sie hierher auf die Bank unter der Halle getragen, und seit einer Viertelstunde drück' ich Ihnen nun schon kaltes Wasser auf die Kopfwunde. Gott sei gedankt, daß Sie nicht todt sind …«

»Aber was ist geschehen, Pierre – was ist geschehen?« wiederholte Paul in höchster Unruhe … »wo ist meine Frau?«

»Ja, sehen Sie, gnädiger Herr, ich weiß nichts davon, was geschehen ist, denn als ich die vermaledeiten Franzosen, diesen Champmorin, den der Teufel zerreißen möge … ich habe ihn wieder erkannt, den Schuft, bloß an der Sprache, und ich bin meiner Sache gewiß, ganz gewiß, daß es Champmorin war … als ich diese Franzosen da oben die Thüre eintreten hörte, da bin ich behende wieder in das Kaminloch hinter dem alten Bilde gekrochen, und da habe ich wohl eine Viertelstunde gesteckt, bis Alles ganz still war; und dann erst bin ich ganz vorsichtig herausgekommen und zum Hause gegangen, und da hab' ich denn das ganze Unglück gehört …«

»Nun, was, was?« schrie Paul Terwagne entsetzt auf, »was für ein Unglück, heraus mit der Sprache, oder ich erdroßle Dich!«

Pierre fuhr erschrocken von dieser Heftigkeit einen Schritt zurück.

»Um Gotteswillen, beruhigen Sie sich, gnädiger Herr – ich will Ihnen ja alles sagen, was ich weiß, oder vielmehr was Lambert weiß, denn ich habe doch mit Niemand anders gesprochen, als mit Lambert, wir sind gleich gelaufen Sie aufzusuchen, Lambert begegnete mir ganz allein im Hause, denn die andern Domestiken waren alle davon gelaufen oder hielten sich noch in Angst und Schrecken versteckt!«

»Das Unglück, das Unglück will ich hören; Mensch, Du bringst mich in Verzweiflung!«

»Das Unglück besteht darin,« rückte jetzt Pierre endlich mit der Sache heraus, »daß die Franzosen, ohne sich lange damit aufzuhalten, Sie zu verfolgen oder zu suchen, von der Gloriette, in der sie Niemanden mehr fanden, nach dem Hause geeilt sind, welches sie schon vorher umstellt hatten, wie es scheint; daß sie hineingedrungen sind, daß sie die ganze gnädige Herrschaft arretirt und aufgehoben haben, und mit ihr fort und davon gezogen sind.«

»Gott sei mir gnädig!« stammelte Paul Terwagne  … »Alle – Alle – auch Doretten – auch mein Weib?!«

»Alle, gnädiger Herr – auch den Chevalier und Ihre Kameraden!«

»Das ist ja entsetzlich,« rief Paul aus, »und das habt Ihr, Ihr, Lambert, gesehen?«

Der Mensch im Kittel nickte mit dem Kopfe und gab eine Antwort in wallonischem Dialekt, die Paul nur noch zum Theil verstand.

»Ihr habt sie davon ziehen sehen, die Gefangenen in ihrer Mitte? Und wohin sind Sie gezogen?«

»Den Bergweg, den Fluß aufwärts, Herr,« versetzte Lambert.

»Nach der französischen Grenze zu, wahrscheinlich nach Givet,« erläuterte Pierre.

»Und wie viel waren ihrer?«

Eine halbe Compagnie – achtzig bis hundert Mann gewiß!«

»Und ich, ich stehe hier allein, ganz, ganz allein, und kann sie nicht retten!« rief Paul Terwagne verzweiflungsvoll die Hände ringend aus.

»Beruhigen Sie sich, Herr,« sagte Pierre, »indem er wieder nach dem Schwamm griff, »Ihre Wunde beginnt auf's Neue zu bluten!«

Paul stand eine Weile sprachlos. Dann wie mit einem plötzlichen Entschlusse rief er:

»Pierre, verbinde mir die Wunde, so gut Du kannst – Du, Lambert, lauf und sattle mein Pferd und das Maldagham's für Pierre – auf der Stelle – Du wirst mich begleiten, Pierre!«

»Wohin, Herr?«

»Wohin? Ihnen nach! Ich will vor allen Dingen zuerst sehen, wo sie bleiben!«

»Wo sie bleiben? Ich fürchte, Herr, daß ich Ihnen das sagen kann, ohne es mit eigenen Augen zu sehen,« antwortete Pierre. »Man hat heute unten im Dorf erzählt, daß die französischen Truppen aus Namur abzögen, auf Givet zu. Bei diesem Abzug muß dieser Teufel von Champmorin sich das Vergnügen gemacht haben, durch eine kleine Seitenexpedition die Herrschaft zu überfallen; und die Gefangenen werden gewiß ebenfalls nach Givet gebracht – und dann –«

»Dann?«

»Nun, hoffen wir, daß es nicht Paris ist, wohin sie dann als aufgehobene Emigranten gebracht werden … Sie wissen Herr, dann ist es um ihr Leben geschehen …«

»Emigranten? Der Marquis de Nossagnac ist Lütticher und kein Franzose …«

»Hoffen wir, daß er es ihnen beweisen kann und daß sie es ihm gelten lassen,« sagte Pierre kopfschüttelnd. »Aber ich habe mir unlängst in der Cantine sagen lassen, daß es unvorsichtig von ihm sei, hier im Lande zu bleiben, während die Franzosen uns so nah' gekommen. Meine Hoffnung ist, daß der Champmorin nicht ein so eingefleischter Teufel sein wird …«

»Champmorin, Champmorin – wer ist dieser Schuft, von dem Du in einem fort redest?«

»Champmorin? Das ist einer von den Patrioten. Als der Marquis noch drüben in Frankreich wohnte, hat er viel in unserem Hause verkehrt. Er hat ein kleines verschuldetes Gut in der Nachbarschaft. Man sagte, er mache Mademoiselle Dorette den Hof … man sagte auch schon, sie feien verlobt, obwohl ich, der es doch wissen müßte, nie ein Wort darüber von der Herrschaft vernommen; und dann wäre er auch sicherlich nicht, als die Revolution ausbrach, unter die Patrioten gegangen und hätte sich nicht enrolliren lassen, und darum denke ich mir, sie hat ihm einen Korb gegeben.«

»Teufel,« rief Paul aus – »das sind Geschichten, von denen ich nie eine Silbe gehört habe! Und in dem Anführer der Bande hast Du diesen Champmorin erkannt? Bist Du fertig mit dem Verbande?«

Pierre hatte noch einmal mit dem Schwamme operirt und dann ein weißes Taschentuch, das Paul ihm gegeben, um die Stirn des Verwundeten gebunden.

»Komm', komm',« sagte dieser jetzt hastig – »wir haben schon zu viel Zeit verloren. Spring' hinauf, und hole meinen Mantel, meinen Degen, meine Pistolen herunter.«

Mit diesen Worten eilte er davon, es Pierre überlassend, seinen Befehl auszuführen. –

Zehn Minuten später verließen Paul Terwagne und Pierre, beide in Mäntel gewickelt, beide bewaffnet und mit tüchtigen Pferden beritten, den Hof des Landhauses, dessen Thore noch von dem Ueberfall her weit offen standen. Sonst deutete nichts auf das stattgefundene Ereigniß; die Franzosen hatten nichts geraubt, nichts beschädigt – sie hatten sich mit der Aufhebung der Bewohner begnügt und sich danach rasch wieder auf den Weg gemacht. Wahrscheinlich hatte der Ueberfall ursprünglich nur der Gloriette und ihren zwei Bewohnern gegolten … Paul schloß dieß wenigstens aus der Art des Auftretens der Feinde.

Hatte dieser Champmorin, dessen Stimme Pierre von seinem Versteck aus so bestimmt erkannt zu haben behauptete, eine verschmähte Neigung rächen wollen? Was ließ sich anders annehmen? Und welcher feile Bösewicht hatte ihm verrathen, daß das junge Paar in der Gloriette schlief? Pierre war es nicht, so viel als Paul Terwagne in dem Gesicht des ehrlichen, in der Familie aufgewachsenen Dieners Hier fehlt in der Vorlage ein Wort: »las«, »sah«, »erkannte« o.ä. – Anm.d.Hrsg.. Aber es war wahrscheinlich, daß er sich unter dem übrigen Gesinde, welches ja zum Theil mit aus Frankreich herübergekommen, und das diesem Champmorin bekannt sein mochte, gefunden. Es ließ sich auch annehmen, daß die von Paul vorgenommene Erleuchtung der Gloriette den Ueberfall der Feinde verfrüht hatte – die erleuchteten Fenster hatten ihnen vielleicht das Zeichen geschienen, daß die beiden jungen Gatten sich zur Ruhe begeben und daß der Augenblick zu handeln gekommen. Als sie dann die junge Frau nicht in der Gloriette gefunden, hatten sie den Ueberfall des Hauses ausgeführt … so konstruirte sich Paul den Hergang.


Drittes Capitel.
Die Verfolgung.

Der Weg, den die abziehende Schaar genommen, war nicht schwer zu verfolgen. Es war ein zu bedeutender Trupp, als daß die Bewohner der einzelnen, zerstreut im Gebirge liegenden Hütten, der kleinen Meiereien und der Blockhäuser von Holzfällern und Köhlern, nicht darauf aufmerksam geworden wären. Pierre ritt bald rechts, bald links von dem über mäßige Höhen und durch Schluchten führenden Wege ab und an einzelne dieser Siedelungen heran, um bei den aus dem Schlafe aufgeklopften Leuten Erkundigungen einzuziehen, und die Auskunft, die sie gaben, reichte hin, um über die Richtung, welche der Feind genommen, keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Auch erfuhren unsere Reiter auf diese Art, daß sie, Dank dem raschen Schritt, und, wo es der Weg, und die Helligkeit der Nacht erlaubten, dem gestreckten Trabe ihrer Pferde immer näher den von ihnen Verfolgten kamen.

Paul Terwagne hatte, wenn sie wegen der Beschaffenheit des Weges Schritt reiten mußten, und neben einander waren, mehr als einmal den Namen Champmorin's auf den Lippen gehabt, und hatte dann immer wieder dem inneren Widerstreben, ihn auszusprechen, nachgegeben. Endlich, wie mit einer Anstrengung gegen sich selbst, sagte er:

»Was hast Du mir erzählt, Pierre, von diesem … Champmorin? Er ist fortgelaufen unter die Patrioten, ist Soldat geworden …?«

»So sagt' ich, Herr,« versetzte Pierre, »und wahrhaftig, es war das Beste, was er thun konnte; denn sein kleines Gut hatte mehr Schulden als Ziegel auf dem Dache waren, und da ihm nun die Spekulation auf die Hand von Mademoiselle, das heißt von Madame Dorette fehlschlug …«

»Glaubst Du denn, er habe eine solche Spekulation wirklich gemacht?«

»Das wohl ohne Zweifel!«

»Aber Du sagst, er sei häßlich, boshaft …«

»Boshaft – Gott weiß es – man sagte ihm als Schulbuben schon die abscheulichsten Streiche nach – und schön ist er auch nicht, mit seinem rothen Pockennarbengesicht, das aussieht, als hätte jemand einen Sack mit Nüssen darauf zerschlagen …«

»Und ein solcher Mensch,« fiel Paul wie empört ein.

»Ein solcher Mensch,« unterbrach ihn Pierre, »braucht deshalb nicht ohne Hoffnungen zu sein, mein' ich; die Frauen haben einen seltsamen Geschmack mitunter und …«

»Du willst nicht sagen, daß dieser Champmorin auf einen solchen seltsamen Geschmack, der ihn ermuthigt habe, gestoßen sei!«

»Nein, Herr, das will ich in der That nicht sagen, aber …«

»Nun aber?«

»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – es braucht nur etwas von einem rechten Teufel in einem Manne zu sein, und er bemächtigt sich am Ende doch einer Frau; nicht ihres Herzens, ihrer Neigung, das meine ich nicht … aber, wie soll ich es bezeichnen? Lassen Sie mich sagen ihrer Seele …«

»Mag sein,« versetzte Paul halblaut und wie für sich  … »nicht gerade ihrer Seele, sondern ihres instinktiven, unbewußten Lebens …«

»So wie die Schlange kleine Vögel mit Blicken fängt,« fuhr Pierre fort.

»Und Du glaubst, dieser Champmorin sei eine solche Schlange?«

Pierre zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht weiter davon,« entgegnete er, »als daß ich Mademoiselle Dorette ihn oft habe so anblicken sehen, wie solch ein armer Vogel. Und es kehrten ihre Augen mit diesem Ausdrucke der Aengstlichkeit immer wieder zu seinem häßlichen Kopfe zurück  … am Ende war es gut, daß der Marquis eines Tages, nachdem er Briefe von Paris erhalten, dem ganzen Hause ankündigte: wir reisen schon Ende der Woche!«

»Und Mademoiselle Dorette, wie Du sie noch immer nennst?«

»Und Mademoiselle Dorette war durchaus nicht niedergeschlagen über diese Nachricht. Sie bestärkte den Herrn mit ihrer ganzen Beredsamkeit in seinem Entschluß, und war darüber im Krieg mit dem Chevalier, ihrem Bruder, der die Gefahr nicht für so dringend hielt!«

Paul hatte genug gehört, und was ihm Pierre zuletzt gesagt, schien ihm ein so befriedigender Abschluß dieses Gespräches, daß er es nicht fortsetzte. Er drückte sein Pferd vorwärts, und setzte es wieder in Trab.

Der Weg, den Paul Terwagne und sein Begleiter verfolgte, wand sich durch ein schwieriges und für Wägen gar nicht zu passirendes Bergterrain; nach einigen Stunden mündete er jedoch in ein breiteres langes Defilé Engpass, Schlucht. – Anm.d.Hrsg., durch welches eine befahrene und ziemlich im Stande gehaltene Landstraße sich zog. Paul war diese Straße nicht unbekannt. Sie kam rechts von Namur her, und lief etwa eine halbe Stunde von der Stelle, wo Paul und Pierre sie erreichten, linkshin, gerade westlich weiter, um sich dann in zwei Aeste zu spalten; einer dieser Aeste führte rechts nach Givet zu, der andere zog sich mehr links hin nach Luxemburg.

Der Morgen begann zu grauen. Da es helles, trockenes Wetter war, so erweiterte sich mit der schwindenden Dämmerung sehr bald der Horizont, und Paul's scharfes Auge sah nach einiger Zeit sowohl den Ausgang des Defilés, wo die beiden Straßen, wie gesagt, auseinanderliefen, als auch die letzten Glieder der, wie es schien, ziemlich läßig und ermüdet weiter marschirenden Feinde in der Ferne vor sich.

Er hemmte jetzt den Schritt seines Pferdes; dieser blieb jedoch noch immer rasch genug, um ihn näher und näher an diejenigen, welche er verfolgte, zu bringen. Er sorgte deßhalb nicht – einer etwaigen Gefahr waren die Beine seines starken Thieres jeden Augenblick im Stande, ihn zu entreißen.

Es lag etwa nur die Weite eines guten Büchsenschusses zwischen ihm und dem vorausziehenden Trupp, als dieser plötzlich Halt machte und augenscheinlich in in große Bewegung gerieth. Die Franzosen drängten sich zusammen, es war als ob sich vor ihnen ein unerwartetes Hinderniß aufthürme … endlich setzte der ganze Haufe sich wieder in Bewegung; aber er zog sich mit einer Richtung nach rechts bergaufwärts, um dann um eine Bergecke herum zu verschwinden.

Paul war bei diesem Anblick seitwärts, eine sacht ansteigende Hügelwand hinauf geritten, um eine bessere und weitere Ueberschau zu haben; und hier, die Straße weithin überschauend, sollte ihm nicht lange ein Räthsel bleiben, was die Franzosen veranlaßt hatte, ihren Weg zu verlassen und sich so unvermuthet rechts ab in die Berge zu schwenken, gerade wo das Defilé aufhörte und man die vergleichungsweise ebenere Straße vor sich hatte.

Das Hemmniß des Weitermarsches der Feinde tauchte eben in der Ferne in Gestalt einiger österreichischer Husaren-Tschakos über einer Erhöhung der links nach Luxemburg hinlaufenden Landstraße empor.

Paul täuschte sich nicht – es waren ungarische Husaren, die bald in voller Gestalt auf dem Hügelrücken sichtbar wurden, wie Eclaireurs einer ihnen folgenden Heeresmacht.

»Pierre,« rief Paul Terwagne aus, indem er hastig von seinem erhöhten Standpunkt niedergeritten kam, »wir sind gerettet – es kommen uns Truppen von den Unsrigen entgegen.«

»Nun, so wollen wir hoffen, daß wir mit ihrer Hülfe diesen Champmorin seine Beute abjagen – obwohl ich eine Sorge habe!«

»Welche Sorge?«

»Daß dieser Spitzbube sich in die alte Veste von Brasienne wirft, in die man ihm schwer folgen könnte.«

»Brasienne? Du hast Recht, Pierre, er hat die Zeit dazu; aber dann muß man Brasienne stürmen!«

Damit gab er seinem Pferde die Sporen, und Pierre hatte Mühe, ihm zur Seite zu bleiben.

Die Husaren hatten die Höhe, über welcher sie in der Ferne aufgetaucht, verlassen, und kamen näher; an ihrer Stelle erschienen die verhüllten Standarten, die Tschakos, die Pferdeköpfe einer dichtgedrängten Truppenmasse auf der Höhe. Und als Paul Terwagne die Eclaireurs fast erreicht hatte, nahmen ihre Stelle da oben schon die Fahnen und Feldzeichen eines Infanterieregiments in weißer Uniform ein.

Paul mußte, da nach kurzer Zeit der ganze Menschenstrom jetzt auf ihn eindrang, zur Seite weichen; er kannte diese Feldzeichen, diese Regimenter hinlänglich um zu sehen, daß er Truppen vom Armeecorps des Fürsten Hohenlohe, welche im Luxemburg gestanden, vor sich hatte.

Während er mit frohen, stolzen Blicken auf die an ihm vorüberziehenden Glieder schaute, um das Heranreiten der Befehlshaber abzuwarten, rief ihn Pierre zu:

»Schauen Sie sich einmal um, gnädiger Herr – die Spitzbuben flüchten sich wahrhaftig in das alte Krähennest von Brasienne!«

Paul wandte sich und murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen.

Da, wo das Gebirgsdefilé, das er jetzt schon eine Strecke weit hinter sich hatte, endete und rechts und links die höheren Berge zurücktraten, im Rücken Paul's schob sich ein steiler konisch abgeschnittener, vielleicht dreihundert Fuß hoher Felsen aus dem Zuge der übrigen Gebirgsmasse vor, dem Anschein nach von allen Seiten unzugänglich; und diesen Punkt, der die Verzweigung der beiden Landstraßen und den Ausgang des Defilés beherrschte, mußte man schon in grauen Zeiten zur Anlegung einer Befestigung benutzt haben, denn das düstere Schloß Brasienne, welches da oben seine Mauern, seine mächtigen, aus dunklen Basaltquadern aufgebauten Eckthürme und darüber seine eingesunkenen Spitzdächer erhob, sah mehr wie ein barockes Stück Mittelalter, denn wie eine Veste nach unsern Begriffen aus. Doch gab ihm seine Lage ohne allen Zweifel eine gewisse Festigkeit. Und in dieß Schloß Brasienne flüchteten sich eben die vordersten Glieder des französischen Trupps.

Paul Terwagne sah sie in langgedehntem Zuge an der hinterliegenden Bergwand entlang eilen, und dann hinter dem Schloß verschwinden – irgend ein Berggrat oder eine künstlich hergestellte Verbindung zwischen der Bergwand und dem davor liegenden Felsenkastell mußte ihnen als Uebergang in dieß letztere dienen, doch sah man es von Pauls Standpunkt aus nicht.

»Du hast Recht gehabt, Pierre,« sagte Paul bei diesem Anblick … »doch denk' ich, wir bekommen schon das Mittel, sie wieder da herauszutreiben, aus dieser Burg Malepartus In der Tierfabel die Wohnung des Fuchses. – Anm.d.Hrsg.

Er wandte sich wieder dem Schauspiel der vorüberziehenden Truppen zu.

Das Regiment Infanterie war zu Ende; ein langer Train Artillerie folgte – ungeduldig ritt Paul neben der Landstraße durch gepflügtes Aderfeld an den Geschützen, Pulverkarren, Munitionswägen entlang; endlich bekam er diejenigen zu Gesicht, die er suchte.

Es war eine Gruppe von Offizieren in grauen Mänteln; zwei von ihnen ritten voraus – die andern in einer respectvollen Entfernung hinter ihnen.

Paul erkannte in dem zur Rechten den Feldzeugmeister Prinzen Hohenlohe-Kirchberg.

Paul Terwagne kannte den Prinzen, und er vertraute auf ihn. Hohenlohe war ein geistreicher und jovialer Mann, er war trotz seiner einundsechzig Jahre vielleicht noch heute der beste Reiter in der Armee, der leidenschaftlichste Weidmann in der Armee war er jedenfalls, und dagegen wieder einer der wissenschaftlich gebildetsten Offiziere in den Heeren des Kaisers.

Als der junge Rittmeister von Latour-Dragoner auf ihn zu sprengte, hielt der Feldzeugmeister sein Pferd an, und sah mit einem Blicke, als ob er sich seiner zu erinnern suche, und seiner Sache nicht gewiß sei, den ihm Entgegenkommenden an. Als Paul meldend Namen und Charge genannt hatte, sagte er lächelnd:

»Ach ja, wir kennen uns von Maubeuge her. Aber wie kommen Sie denn hierher, mein lieber Rittmeister? Sie sind verzweifelt weit von Ihrer Truppe verschlagen.«

»Durchlaucht,« versetzte Paul, »das bin ich leider, und durch eine seltsame Verkettung von Umständen,« … er erzählte nun rasch den Grund, weßhalb er Urlaub erhalten und dann das Abenteuer, welches ihn an diese Stelle geführt.

»Reiten wir zur Seite, um den Leuten Platz zum Weitermarsch zu machen,« entgegnete der Fürst, da er wahrnahm, daß er mit seinem Gefolge die nachrückenden Bataillone aufstaute – und dann, als er neben der Landstraße auf's Neue hielt, fuhr er fort:

»Daß sich ein kleiner Trupp Feinde gezeigt und vor uns flüchtig in die Berge geschlagen habe, ist mir von der Tête Militärisch: Vorhut. – Anm.d.Hrsg. her bereits gemeldet worden.«

»Durchlaucht,« sprach Paul eifrig weiter, »sie haben sich dort in die alte Burg Brasienne geworfen, und wenn der Herr Feldzeugmeister die Gnade haben wollte, eines der Bataillone zum Sturm auf das alte Nest zu kommandiren, so könnten in einer Stunde die Gefangenen befreit sein …«

Der Fürst lächelte.

»Mein lieber Freund,« sagte er, »es ist das zwar ein altes Nest, aber wenn eine französische Kompagnie es besetzt hat, so nimmt sich so etwas doch nicht so en passant und wie zum Frühstück … so viel ich weiß, ist Brasienne eine lüttich'sche Staatsfestung und von einer Abtheilung Invaliden besetzt gewesen – es ist anzunehmen, daß es also tant bien que mal im Stande gehalten, daß es Geschütze und Munition hat, und daß wir es nicht ohne bedeutenden Menschenverlust nehmen könnten, wenn wir nicht vorher mit einer verzweifelten Anstrengung Artillerie auf die rückwärts gelegenen Höhenpunkte brächten, die es beherrschen. Dazu, mein lieber Freund, habe ich aber weder Befehl noch Zeit. Mir sind Eilmärsche vorgeschrieben …«

»Aber, Durchlaucht,« fiel Paul Terwagne, bei dieser Antwort des Fürsten leicht erblassend, ein – »es sind kaiserliche Offiziere bei den Gefangenen – man wird sie, sobald Euer Durchlaucht Corps vorüber ist, nach Frankreich abführen, man wird die Familie des Marquis als Emigranten behandeln …«

»Die Gefangenen wird man uns bei der nächsten Auswechslung schon zurücksenden,« versetzte kaltblütig der Fürst – »haben Sie darum keine Sorge. Es thut mir leid, daß ich nichts für Sie thun kann, mein Lieber – aber Sie müssen selber begreifen, daß ich mich nicht aufhalten darf, um eine kleine Bergfestung zu erobern, die für uns gar keine Bedeutung hat, und die von selbst geräumt werden wird, sobald wir das französische Hauptcorps aus Namur vertrieben und über die Grenze geworfen haben. Das ist eben der Zweck meines Marsches; ich werde mich unter den Mauern von Namur mit Latour vereinigen und das Corps von Sarville zum Rückzuge zwingen …«

»Durchlaucht,« wagte Paul ihn zu unterbrechen, »das Corps von Harville soll bereits aus Namur abgezogen sein – der Trupp Franzosen, mit dem wir es zu thun haben, muß sich von diesem Corps abgezweigt haben, um eben den Coup auszuführen …«

»Mag sein,« versetzte der Feldzeugmeister, »und desto besser, wenn wir nicht erst um Namur mit ihnen zu raufen brauchen. Das ändert aber meine Befehle nicht. Ich muß heute Nachmittag im Angesicht von Namur eintreffen mit allen meinen Leuten, und kann deßhalb nichts für Sie thun …«

»Aber um Gottes willen, Durchlaucht,« rief Paul mit wahrer Seelenangst aus … »wollen Sie denn diesen Franzosen verstatten …«

»Lieber Herr von Terwagne, wir sind hier nicht, um chevalereske Abentheuer auszuführen, und junge Damen aus der Bedrängniß zu erretten – das wissen Sie selbst …«

»Aber Durchlaucht, doch flehe ich Sie an, bei Allem was von Ritterlichkeit in Ihnen ist, an das furchtbare Schicksal zu denken, welches die Familie des Marquis erwartet, wenn es dem Feinde gelingt, sie mit sich nach Frankreich zu schleppen, wenn …«

Der Feldzeugmeister unterbrach ihn, indem er sich an den neben ihm haltenden Oberoffizier wendete und halblaut mit ihm sprach. Nach einer Weile sagte er zu Paul Terwagne gewendet:

»Nun wohl, mein junger Freund von den blanc-becs blanc-bec : Grünschnabel. – Anm.d.Hrsg. – so hören Sie, was wir thun wollen. Ich will Ihnen eine Kompagnie hier lassen, mit der Sie das Schloß nicht stürmen werden, verstehen Sie mich wohl? Ich verbiete Ihnen das auf das Strengste. Wenn aber die Franzosen aus Brasienne abziehen, was wahrscheinlich nach weniger als vierundzwanzig Stunden geschehen muß, denn sie werden keinen Proviant da oben haben, so mögen Sie mit den Ihnen gelassenen Leuten denselben die Gefangenen abnehmen.«

»Durchlaucht, ich danke von ganzer Seele. Aber wenn sie nicht abziehen, um sich einem solchen Ueberfall nicht auszusetzen?«

Der Fürst zuckte wieder die Achseln.

»Es ist Alles, was ich thun kann,« sagte er. »Achtundvierzig Stunden kann die Kompagnie hier zu Ihrer Disposition bleiben. Länger nicht. Und Sie haben meinen Befehl gehört, die Leute nicht bei einem vermessenen Unternehmen zu exponiren!«

Der Feldzeugmeister winkte einen Adjutanten aus dem Gefolge herbei und gab diesem seine Befehle. Dann Paul Terwagne mit dem Kopf zum Abschiede nickend, rief er aus:

»Weidmanns Heil bei Ihrer Jagd, mein Lieber! – Vorwärts meine Herren!«

Und das ganze Geschwader von Offizieren setzte sich wieder in Bewegung.

Paul Terwagne warf ihm einen finstern zornigen Blick nach.

»Achtundvierzig Stunden,« murmelte er dabei – »nicht acht lasse ich Dorette in der Gewalt dieses Champmorin! – Und so bleibt mir nichts übrig, als dieß Felsennest Brasienne ganz allein selber zu stürmen oder zu nehmen!«


Viertes Capitel.
Brasienne.

Die Truppen zogen weiter. Nur ein kleiner Theil, etwa dreihundert Mann stark, löste sich von ihnen ab und sah, Gewehr am Fuß, die andern vorüberziehen. Zu ihrer Verpflegung blieben ein paar Wagen aus der langen Proviantkolonne, welche dem Korps folgte, ebenfalls zurück. Die Offiziere der Kompagnie kamen an Paul Terwagne heran, um mit ihm über die Aufstellung der kleinen Truppe zu berathen. Man beschloß, um die Aufmerksamkeit der Franzosen in der Veste Brasienne nicht zu erregen, die Leute vorgehen zu lassen, bis sie in dem Defilé, von den Bergen gedeckt, sich aufstellen könnten, und dann von dort aus heimlich Posten auszustellen, welche die Zugänge zu der alten Burg bewachten. So schlossen die Leute sich dem Zuge der Andern wieder an und verschwanden endlich mit ihnen in dem Bergpaß, um dort auf's Neue Halt zu machen.

Jetzt war es Pierre's erste Sorge, den Kompagnie-Feldscheer auf die Wunde Paul Terwagne's aufmerksam zu machen. Der Mann des Pflasterkastens untersuchte sie – er fand nur eine Verletzung der Kopfdecke an der Schläfengegend: nachdem er sie auf's Neue ausgewaschen, legte er ein Pflaster darauf; weiterer Operationen bedurfte es nicht – auch war der Schmerz nicht bedeutend, Paul fühlte ihn wenigstens in seiner Aufregung kaum.

Als er von dem Feldscheer mit einem frischen Tuche um den Kopf entlassen worden, wandte er sich zu den Offizieren der Kompagnie zurück, die unterdeß zur Linken des Defilés auf einer ansteigenden Halde einen Platz zum Lager gefunden und ihre Leute in Thätigkeit gesetzt hatten; es wurden Feuer angezündet, Moos und Baumzweige herbeigeschleppt, Löcher in die Erde gegraben und alle Vorbereitungen getroffen, um aus Mooshütten ein kleines Bivouaklager zu improvisiren.

Unser Rittmeister schickte sich unterdeß dazu an, mit den Offizieren der Kompagnie eine Rekognoszirung von Brasienne vorzunehmen; sie schlugen dazu anfangs denselben Weg ein, den vorher die Franzosen gefunden und genommen hatten, um sich in das alte Kastell zu werfen.

Als sie auf halber Höhe der Bergwand langsam ansteigend und von Gebüsch gedeckt dahin schritten, stießen sie plötzlich auf zwei Männer, die sehr seltsam aussahen. Sie trugen spitze Blechmützen auf dem Kopf, staken in veralteten blaugelben Uniformen, und hatten große Faschinenmesser an den Seiten, sonst aber, trotz der martialischen Ausstaffirung, lag ein höchst harmloses Gepräge auf ihrer ganzen Haltung – es waren zwei graue, alte Friedenssoldaten, die bei dem Anblick der Fremden sofort erschrocken Halt machten.

Paul Terwagne trat auf sie zu.

»Wer seid Ihr?« fragte er.

»Wir sind von der Besatzung von Brasienne,« antwortete der eine von ihnen … »wir haben draußen auf den Bergen ein wenig umhergeschlendert, und als wir zurückkehren wollten, finden wir das Thor verschlossen und oben auf der Plattform eine französische Schildwache!«

»War't ihr Beide die einzige Besatzung von Brasienne?«

»Nein, es sind unserer noch ein Dutzend da von der lütticher Invaliden-Kompagnie …«

»Und die Anderen?«

»Die müssen noch drin sein –«

»Als Kriegsgefangene der Franzosen?«

»Nun ja, Herr,« antwortete der Mann; »wir verlangten, mit unsern Kameraden gefangen genommen zu werden, aber die Franzosen riefen uns zu, um ein Paar alter Kerle willen machten sie das Thor nicht auf, und an denen, die drinn seien, hätten sie Hausknechte genug, ihnen Wasser zu holen und die Kochtöpfe auszuscheuern!«

»Wie ist das Schloß verproviantirt?« fragte der Hauptmann der Kompagnie.

»An Proviant fehlt es nicht!«

»Auch für mehrere hundert Mann?«

»Auch für die nicht auf Wochen!«

»Pest!« sagte Paul Terwagne … das ist übel! An Wasser?«

»Wasser ist auch, da … eine große Cisterne, die von den Bergen her gefüllt wird.«

»Die könnte man trocken legen lassen!« meinte der Hauptmann.

»Aber erst nach mehreren Tagen, falls jetzt die Behälter gefüllt sind!« versetzte Paul.

»Und Geschütze?« fragte er dann, wieder zu dem Invaliden gewendet … »und Munition?«

»An Geschützen haben wir ein Dutzend Feldschlangen und einige alte Drehbassen, viele alte Wallbüchsen – Pulver ist im Lambertsthurm, und was die Stückkugeln angeht, so liegen sie bei den Geschützen aufgeschichtet.«

»Euer Fürstbischof hat seine Festungen verzweifelt regelrecht armirt gehalten, scheint es!« fiel Paul ein.

»Brasienne war auch die Hauptfestung vom ganzen Lütticherland,« sagte der alte Friedenssoldat mit einer gewissen Genugthuung … »es ist ganz unzugänglich und niemals erobert worden!«

»Bis es Euch zur Hut anvertraut wurde!« versetzte der Hauptmann spöttisch.

»Bleibt hier und erwartet uns,« befahl Paul, ihn unterbrechend, »vielleicht bedürfen wir Eurer noch.«

Die Offiziere schritten weiter, so weit sie, ohne von dem Schloß aus beobachtet zu werden, es thun konnten; dann stiegen sie auf den von Gebüsch bedeckten Berghängen in die Tiefe nieder, umschritten den Schloßfelsen und verständigten sich über die Stellen, wo sie zur geheimen Bewachung der Burg ihre Posten ausstellen wollten.

Auf dem Rückweg zum Lagerplatz nahmen sie ihre Invaliden mit, und Paul begann jetzt, sich von diesen das Innere der Festung genau beschreiben zu lassen. Was er hörte, schlug seinen Muth nicht nieder. Das alte Kastell mußte für einen unerschrockenen Mann nicht unzugänglich sein  … und konnte man hinein, so mußte es auch möglich sein, heraus zu kommen – auch für eine unerschrockene Frau, wenn sie von herzhaften Männern begleitet war – es kam nur darauf an, erst im Innern noch die Lokalitäten zu rekognosziren und zu erfahren, wo die Gefangenen untergebracht waren.

»Der Gamskogelseppi kommt schon hinein, in das alte Nest!« bemerkte der jüngste Lieutenant der Kompagnie.

»Wer ist der Gamskogelseppi?« fragte Paul aufhorchend.

»Der Gamskogelseppi? Das ist ein assentirter Wildschütz vom radstädter Tauern daheim,« antwortete der Offizier, »ein Bursch, der einen Steinbock todtklettert!«

»Den könnten wir verwenden! Und wo ist der Gamskogelseppi?«

Der assentirte Wildschütz wurde gerufen, sobald man auf dem Lagerplatz zurück war.

Es war ein stämmiger Bursch, dessen Schultern sich durch die knappe, graue Montur hindurch drängen zu wollen schienen, ein brauner, verwegener Alpensohn, ein Mensch, bei dessen Anblick Paul Terwagne das Herz aufging.

»Seppi,« sagte er, »ich muß heute Nacht in die alte Burg hinein … willst Du mir helfen? Gelingt mir mit Deiner Hülfe, was ich vorhabe, so mach' ich Dich vom Militär frei!«

Seppi's Züge überflog ein ganz eigenthümliches Zucken  … lag Freude, Hoffnung oder Unglaube an diese Verheißung darin? – es war nicht zu sagen.

»Schon gut, Gnod'n,« versetzte er; »muß halt erst mir's anschau'n!«

»Geh' und thu' das, Du hast Zeit dazu!«

Die Offiziere beschäftigten sich jetzt mit dem Zusehen beim Aufbauen der größeren Mooshütte, die für sie bestimmt und bald soweit hergestellt war, daß sie bezogen werden konnte. Das Frühmal mußte dann freilich auf dem bloßen Boden genommen werden. Während dann die Kameraden Paul's sich der Ruhe hingaben, suchte dieser die Invaliden wieder auf, welche von den Soldaten beim Frühstück zu Gast gebeten worden waren, und jetzt inmitten eines Kreises fröhlicher Kinder Oberösterreichs saßen, die unter lauten Ausbrüchen von Heiterkeit ihnen das Detail ihres Dienstes da oben in der Festung abfragten, dessen harmlose Gemüthlichkeit sie auf's Höchste ergötzte. Den intelligenteren von beiden nahm Paul zur Seite und zeichnete dann mit seiner Degenspitze den Plan des ganzen Schlosses, wie der Friedenssoldat ihn ihm beschrieb, auf den Boden.

Der Zugang zu dem Schlosse war nach dieser Beschreibung sehr gut vertheidigt. Ein tiefer in den Felsen gehauener Graben schied es von den rückwärts liegenden Bergen; über diesen Graben führte eine Brücke, die aufgezogen werden konnte. Dann kam ein Thor mit einer Plattform darüber, dann eine Poterne Überbauter Gang in einer Festung zum gedeckten Übergang von Bereichen innerhalb des Werkes zu Anlagen vor dem Wall oder zum Zweck eines Ausfalls. – Anm.d.Hrsg., dann ein zweites Thor. Gelangte man nun in den Hof, so kam man an einem rechts liegenden Gebäude vorüber, welches Stallungen enthielt; daran reihte sich eine kleine Kirche, die Burgkapelle. Linke lag eine große Kaserne, von der invaliden Besatzung bewohnt, aber groß genug, um ein halbes Bataillon aufzunehmen, wie der Friedenssoldat versicherte. Die dritte dem Eingang gegenüber liegende Seite, nahm das ein, was der Invalide das »Palais« nannte – es schien diese Benennung aus Zeiten zu stammen, wo die landesfürstlichen Prälaten hier eine zeitweilige Residenz genommen, um in den Ardennen zu jagen. In diesem Gebäude, dem besten und ansehnlichsten der Veste jedenfalls, mußten die französischen Offiziere, wenn ihrer außer Champmorin noch bei der Truppe waren, sich einquartirt haben – höchst wahrscheinlich hatten sie auch dort ihre Gefangenen untergebracht. Paul Terwagne ließ sich daher auch das Innere dieses Baues genau beschreiben. Zwischen diesem Palais und der Kaserne, im Winkel des Hofes, lag das Wachthaus, daneben, oder vielmehr hinter ihm, seitwärts, in einem besondern kleinen Gebäude, die Cisterne; die Wachtstube hatte eine Hinterthüre, um zu der Cisterne oder auch an dieser entlang zu der nur stellenweise mit einer Brustwehr versehenen äußeren Mauer gelangen zu können.

Die vierte, die der Kaserne gegenüberliegende Seite des Hofes war offen, das heißt, sie war nur von der Festungsmauer geschlossen, aus welcher sich hier, noch halb hinter dem »Palais« liegend, ein runder, nicht sehr hoher, mit Zinnen gekrönter Thurm erhob.

Kurze Zeit, nachdem Paul mit diesen Studien zu Ende war, und als er sich eben anschickte, nach Pierre und der Verpflegung seiner Pferde zu sehen, kam Seppi zurück.

»Ist halt kein Hexenwerk!« sagte Seppi lakonisch – »i komm' schon hinein!«

»In der That …? und Du meinst, ich auch …?«

»Es braucht halt nur Stricke dabei!« versetzte Seppi.

»Und Du glaubst, dann …«

»Dann steigt sich's ganz lustig und kommod da hinauf … an der Ecke herwärts, Gnod'n!«

Paul hätte ihn umarmen mögen für diese Meldung. In seiner Aufregung ließ er sich von Seppi sogleich so weit in die Nähe des Schlosses führen, daß er die Stelle wahrnehmen konnte, wo Seppi, wie er sagte, »ganz lustig und kommod« hinaufsteigen zu können sich vermaß.

Als sie so weit gekommen waren und Paul hinaufblickte, schwindelte ihm.

Seppi lächelte.

»Wird schon gehen, Gnod'n,« sagte er. »'S ist Mondschein die Nacht … Mondschein gibt Courage!«

»Nun freilich, und es ist nicht meinethalb, wenn ich ein bedenkliches Gesicht gemacht habe, Gamskogelseppi,« versetzte Paul Terwagne. »Es ist nur deßhalb, weil da oben fünf Personen gefangen sitzen, die ich herunter holen werde, es koste was es wolle, auf eine oder die andere Art, und weil unter diesen fünf Personen eine Dame ist!«

Gamskogelseppi wiegte bedächtig den Kopf, dann sagte er mit einem Seufzer:

»Gnod'n, dann braucht's halt Stricke!«

»Und damit lassen wir an dieser Stelle auch eine Dame herunter?«

»Warum nicht! es ist nit so schlimm. Wenn der Gamskogelseppi dabei ist, wird's schon gehen. Bis da oben, wo das Buscherl da auffi gewachs'n ist, bin i schon aufgestieg'n, und von da geht's wie über a Leitern, so kommod!«

»Nun, wir wollens hoffen ..

»Aber schaun's, was der Gamskogelseppi dann da oben thun soll, das müssen Euer Gnod'n ihm schon sagen,« fuhr Seppi fort.

»Ich sag' Dir's schon,« antwortete Paul Terwagne – »sobald ich's nur erst selber weiß, wie es anzugreifen,« setzte er für sich im Stillen hinzu.

Beide kehrten zum Lager zurück. Sie hörten hier, daß eine kleine französische Patrouille oben an der Bergwand, weit oberhalb des Lagerplatzes, erschienen sei, und sich sofort, ehe man Feindseligkeiten gegen sie eröffnen konnte, eilig zurückgezogen habe. Die Franzosen waren also inne geworden, daß sie blockirt wurden, und mußten geschickt einen der ausgestellten Beobachtungsposten zu umschleichen gewußt haben. Paul Terwagne fühlte sich jetzt doppelt zum Handeln gedrängt – an einen baldigen Abzug der Franzosen, so lange sie sich von einer überlegenen Macht, die sie zu überfallen drohte, bewacht wußten, war jetzt nicht zu denken – und Paul war der Gedanke unerträglich, sein junges Weib in der Gewalt eines Menschen zu wissen, wie dieser Champmorin war. Es wurde ihm schon ganz unerträglich, überhaupt nur unthätig zu bleiben, so lange er das, was ihm das Theuerste auf Erden, in Gefahr wußte. Die Stunden bis zum Abend schlichen ihm deßhalb mit entsetzlicher Langsamkeit dahin; er kehrte ein Dutzend mal während des Restes des langen Tages zum Gamskogelseppi zurück, um mit ihm die Chancen des Abenteuers, das vor ihnen lag, zu besprechen.


Fünftes Capitel.
Die Gefangenen.

Sehen wir uns unterdeß nach den Gefangenen um. Sie waren, als sie harmlos und ruhig im Speisezimmer zu Beauraing zusammen saßen, von den Franzosen auf eine Weise überfallen worden, daß die Männer an eine Gegenwehr nicht denken konnten. Der Anführer der Feinde mußte – das wurde auch ihnen sofort klar – Verständnisse in dem Hause des Marquis von Nossagnac angeknüpft haben, die ihn völlig orientirt hatten über die beste Art, seinen bösen Vorsatz auszuführen. Als der Einfall in die Gloriette geschah, war auch das Wohnhaus schon umstellt gewesen. Nachdem jener fruchtlos geblieben, drang Champmorin ohne Zeitverlust in das Haus ein von der Seite des Gartens her; er stürmte in den Raum, wo er die Hausbewohner zusammen traf, wo sie sich schon umringt sahen, als die Diener erschrocken hereinstürzten; wo die beiden Offiziere nicht einmal ihre Waffen in der Nähe hatten, wo Champmorin plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor dem zu Tode erschrockenen Marquis de Nossagnac stand und den Degen ihm vorhaltend die Worte zuschrie:

» Vous êtez mes prisonniers – vous, votre fille, votre fils – tous ici!«

Die beiden österreichischen Offiziere hatten mit den Soldaten, die sich ihrer bemächtigten, gerungen, aber sehr bald den unnützen Widerstand aufgegeben; sie ergaben sich in ihr Schicksal, um so mehr, da sie im Augenblick die schreckliche Bedeutung, welche diese Verhaftung für die Familie hatte, deren Gäste sie waren, nicht übersahen.

Champmorin ließ die Gefangenen von seinen Leuten in die Mitte nehmen und fortführen. Er ließ ihnen kaum Zeit, sich mit dem nöthigsten Schutz gegen die Witterung zu versehen. Als man auf dem Hofe angekommen war, wandte er sich an den Marquis mit den Worten:

»Sie gehen zu Fuße, wie wir. Ich werde Sie zur Armee bringen auf Wegen, die kein Gefährt erlauben. Aber Ihre Tochter kann reiten, wenn sie das vorzieht.«

»Ich kann gehen, wie mein Vater!« rief hier Dorette aus – »aber wo ist Paul, wo ist Paul, wo ist mein Mann?!« setzte sie mit einem Aufschrei der entsetzlichsten Angst hinzu.

Champmorin ließ sein funkelndes, graues Auge auf ihr ruhen; dann mit den Worten: »Hoffentlich ist er erschossen!« wandte er sich von ihr ab.

»Erschossen – o mein Sott!« Sie wankte und fiel in die Arme ihres Vaters, an dessen Brust sie in einen Thränenstrom ausbrach.

»Wollen Sie ein Pferd oder nicht?« wandte sich Champmorin noch einmal an den Marquis.

»Ja, ja,« stammelte dieser – »lassen Sie meiner Tochter ihr Pferd geben.«

»So kommen Sie mit mir und bezeichnen es mir; die Dienerschaft hat sich geflüchtet,« sagte der Franzose.

Der Marquis übergab seine Tochter dem Rittmeister von Maldagham, der sie in seinem Arm aufrecht erhielt; er selbst ging unterdeß von Champmorin begleitet in die Ställe und bezeichnete diesem hier ein Pferd, welches Champmorin zäumen und satteln ließ; dann wurde es herbeigeführt, Dorette darauf gesetzt und der Zug setzte sich in Bewegung.

Nossagnac schritt an der einen Seite seiner Tochter, Maldagham an der andern. Beide stellten ihr vor, wie wahrscheinlich es sei, daß der Franzose sie mit seiner Versicherung, Paul sei erschossen, nur habe erschrecken wollen – daß Paul sich sicherlich gerettet habe, daß er Versuche machen werde, auch sie zu retten.

Dorette gab sich diesen Trostgründen hin. Sie wußte ja, daß Paul sich nach der Gloriette begeben hatte – sie konnte nicht annehmen, daß auch die Gloriette überfallen worden. So faßte sie sich und wußte sich aufrecht zu erhalten.

Wir wissen, welcher Weg mit den Gefangenen genommen wurde. Auch welches Hinderniß der Marsch der kleinen Truppe fand und wo diese sich und ihre Gefangenen barg.

Die letztern waren, wie es Paul vermuthet hatte, in dem »Palais« untergebracht. – Es fanden sich da wohleingerichtete Zimmer vor, mit alterthümlichen Möbeln und Betten aus der Zeit der Residenz der Fürstbischöfe her. Einige von diesen Räumen, die nach hinten hinaus lagen und über die Schloßmauer hinweg die Aussicht in's Freie boten, wurden den Gefangenen eingeräumt, Champmorin ließ sie da hinein führen, nachdem er sich über das Ganze orientirt hatte. Er selbst hatte vermieden, seit Beauraing mit ihnen zu reden. Er nahm eines der Zimmer ein, welches, durch einen breiten Gang von jenen getrennt, ihnen gegenüber lag, ebenfalls auf der Rückseite des »Palais.«

Er ging dann das Schloß näher in Augenschein zu nehmen und für die Sicherung desselben zu sorgen. Mit großer Befriedigung sah er, daß es ebenso unzugänglich für einen Angriff und gesichert gegen jeden Handstreich sei, wie es ihm seine Gefangenen sicherte, denn an ein Entweichen über diese schroffen Felsklippen hinab war nicht zu denken. Er stellte deßhalb nur ein paar Schildwachen auf der Thorplattform und im Hof vor dem Wachthaus auf. Diese hatten zugleich den Eingang in das Palais, das Portal desselben im Auge und überwachten es. Später, nachdem seine Leute sich erholt, ordnete Champmorin eine Streifpatrouille an, die zugleich rekognosziren sollte, ob die ganze feindliche Truppenmacht vorübergezogen.

Diese Patrouille kam mit der Nachricht heim, daß letzteres nicht der Fall, daß eine Abtheilung der Oesterreicher zurück geblieben, und sich anschicke in dem Defilé zu bivouakiren – Champmorin fluchte und wetterte über diese Nachricht, die ihn zwang, für's Erste seinen Weitermarsch aufzugeben, während doch seine Sicherheit davon abhing, daß er früh genug bei seinem Korps, bei den Truppen des Generale Harville, wieder eintraf.

Harville hatte sich zum Rückzuge aus Namur schon gestern angeschickt; er hatte Champmorin auf dessen Ansuchen erlaubt, unterdeß einen Streifzug auszuführen, um eine in der Nachbarschaft wohnende Emigrantenfamilie aufzuheben; aber er hatte ihm den gemessenen Befehl gegeben, am morgigen Tage an einem bestimmten Punkte wieder zu ihm zu stoßen – und Champmorin mußte sich jetzt sagen, daß die feindlichen Truppen, welchen er begegnet war, sicherlich dazu dienen würden, Harville's Marsch zu beschleunigen – vielleicht hatten sie die Absicht, diesen auf dem Rückzuge anzugreifen, ihn von seinem Wege abzudrängen, ihm die Rückzugslinie auf Givet abzuschneiden – Champmorin konnte, wenn er lange in Brasienne zögerte, mit seiner ganzen Kleinen Truppe in die Hände des Feindes fallen. Und doch durfte er dieß Brasienne mit seinen Gefangenen nicht verlassen; der Bericht seiner Streifpatrouille zeigte ihm, daß er blockirt sei, daß man Beobachtungsposten gegen ihn ausgestellt, daß man ihn nicht abziehen lassen werde, ohne ihn anzugreifen … anzugreifen mit einer überlegenen Macht, mit der er nicht handgemein werden durfte, ohne auf vollständige Zersprengung und Niederlage gefaßt zu sein.

Champmorin fühlte sich in diesem alten Felsennest Brasienne jetzt so unbehaglich wie ein Fuchs in der Falle.

Er ging eine Weile unruhig in dem alten Kastell umher … Dann warf er sich in dem Zimmer, welches er sich ausgesucht hatte, auf's Lager, um zu ruhen. Aber die Ruhe kam ihm nicht; er sprang wieder auf, und wollte eben wieder hinaus, als seine Thüre sich öffnete und der Sergeant seiner Kompagnie eintrat; hinter ihm einer der im Schlosse überrumpelten Invaliden, der ein dampfendes Frühstück auf einer großen Platte hereintrug.

» Voilà, mon Capitaine,« sagte der Sergeant, »eine Probe von der Proviantirung von Brasienne, wie diese alten Vogelscheuchen ihr Nest nennen – unsere Leute sind in voller Thätigkeit, ein tüchtiges Loch in diese Verproviantirung zu essen, möge es Ihnen so gut schmecken, wie dem jüngsten Conscript aus der Picardie, und der fräße seinen eigenen Großvater, wenn er ihm in der richtigen Sauce aufgetragen würde. Wollen Sie nicht eine Ordonnanz hier vor Ihre Thüre auf dem Gange, mon Capitaine

»Laß die Leute sich ausruhen, Flippetot,« versetzte Champmorin, »und ermüde sie nicht durch Postenstehen mehr als nöthig ist. Nur für die Nacht sollen zwei Posten auf die Thorplattform, und gegen Abend ein paar Leute ausgesandt werden, um die Oesterreicher zu beobachten, um mir sofort zu melden, wenn der Feind abzieht oder verdächtige Bewegungen macht.«

»Wohl, mein Kapitän!«

»Wir dürfen in diesem Neste nicht stecken bleiben, Flippetot … es ist ein verfluchter Querstrich, daß diese Hunde von Deutschen uns hineingetrieben haben – wir müssen morgen früh weiter …«

»Das heißt, wenn sie uns passiren lassen; sie scheinen nicht Lust dazu zu haben; ihre Posten sind auf der Hut, und sie sind uns überlegen, mon Capitaine, das steht einmal fest, und daran kann selbst der Teufel nichts ändern!«

»Es muß doch ein Mittel geben, ihnen zu entwischen. Wir können uns auflösen und vereinzelt durch die Berge und die Wälder da hinten hinaus die Straße nach Givet wiedergewinnen.«

»Richtig, das können wir,« versetzte der Sergeant, »aber die Gefangenen, mon Capitaine

»Die Gefangenen, freilich … die können wir nicht transportiren alsdann.«

»Man könnte, sie laufen lassen!«

»Dummkopf – nachdem wir uns die Mühe um sie gegeben haben?!«

Der Sergeant zuckte die Achseln.

»Weißt Du, welches Schicksal ihrer wartet, wenn sie abgeliefert und nach Paris transportirt sein werden?« fuhr Champmorin fort.

Der Sergeant nickte mit dem Kopfe.

»Es sind Emigranten,« sagte er.

»Emigranten,« wiederholte Champmorin: »der Marquis, der Chevalier und die Tochter; in Paris wird man sie guillotiniren.«

»Man wird sie guillotiniren,« sagte der Sergeant. »Aber da die Guillotine in Paris ohnehin schon Blut genug getrunken hat, so mein' ich, es wäre kein Unglück …«

»Da hast Du recht, Flippetot,« fiel Champmorin ein; »es ist kein Unglück, wenn wir sie um dieß Blut verkürzen und es dem ersten besten Grasanger hier oben zuwenden, dieß Aristokratenblut!«

»Ah …« sagte Flippetot, der Sergeant.

»Was sollen wir lange Umstände mit ihnen machen,« fuhr Champmorin fort, während der Sergeant ein wenig verwundert in seine Züge blickte und sah, wie diese häßlichen, starkknochigen, vom Wetter gebräunten und mit Sommerflecken bedeckten Züge ein Gepräge von einer unbeschreiblichen Bosheit und Wildheit annahmen, und die schmalen Augen glühend auf ihm lagen.

»Ich weiß nicht, ob es in Ihrer Instruktion ist, mon Capitaine,« bemerkte der Sergeant. Die österreichischen Offiziere sind Kriegsgefangene und …«

»Nun, zum Teufel, die österreichischen Offiziere kann man laufen lassen, aber diese Nossagnac lasse ich morgen erschießen, so wahr ich Champmorin heiße – wenn dann der Feind noch nicht abgezogen ist!«

Damit setzte sich Champmorin zu seinem Male nieder, indem er noch einige Worte murmelte, welche der Sergeant nicht verstand.

Ein Weile nachher erhob er sich; er schritt nachdenklich auf und ab.

»Als wenn ich mich fürchtete vor den Augen dieses hochmüthigen Weibes,« flüsterte er dabei vor sich hin … »vor ihren Thränen, ihrem Gejammer … aber nein … ich will weiter nichts mit ihnen zu schaffen haben … was kommt dabei heraus daß wir uns einander böse Reden an den Kopf schleudern, oder daß ich mich Ihrem unnützen Gnadenflehen aussetze! Was der Schlag zu bedeuten hat, der sie getroffen, das wissen sie ja ohnehin! Sie haben mich jetzt kennen lernen!«

Er fühlte, daß er eben nicht den Muth hatte, den unglücklichen Opfern seiner bösen Rachsucht in's Auge zu schauen. Er überließ die Unglücklichen sich selber, ihrer Angst, ihrer Verzweiflung und dem Trost, den sie in ihrer gegenseitigen Liebe fanden.


Sechstes Capitel.
Eine Kletterpartie.

Kehren wir zu Paul zurück, der unterdeß in so entsetzlicher Spannung die Stunden des Tages dahinschleichen sah. Der Abend, die Nacht waren endlich gekommen. Der Seppi hatte die enge Uniform ausgezogen, und eine alte Leinwandjacke aus seinem Tornister hervorgeholt. Auch ein paar feste Bergstöcke, die er im Walde gesucht, hatte er beigeschafft; ein Paar langer Stricke hing lose um seinen Hals geschlungen. So schritt er, als die Stunde da, vorauf, Paul hinter ihm drein in Pierre's Schuhen; denn der Seppi hatte nicht geduldet, daß er in seinen Stiefeln die Kletterpartie unternahm. Die Offiziere begleiteten die Abenteurer eine Strecke, wünschten ihnen den besten Erfolg und zogen sich dann zurück.

Es war elf Uhr. Der Mond ward von Zeit zu Zeit von vorüberziehenden Wolken verdunkelt – periodenweise dann wieder hell und klar: gerade so, wie es zu wünschen war.

Man kam am Fuße der röthlichen Felsen an. Seppi fand die von ihm erkundete Stelle sogleich wieder, und stieg nun eine steile, wie von Regengüssen in das Gestein gewaschene Schlucht auf. Paul folgte ihm ohne Schwierigkeit. Den Bergstock zu handhaben hatte er schon früher gelernt. So gelangte man auf ein kleines Plateau von der Größe eines mäßigen Leichensteins. Jetzt kam die schwierigste Partie. Seppi zog die Schuhe aus, Paul mußte es auch thun, und der ehemalige Wildschütz befestigte dann das Ende seines Stricks unter den Achseln her um die Brust Paul Terwagne's.

»Alleweil gang'n ma auffi, mit der Hülf Gottes, Gnod'n  … sagte er. Wenn's mein Messer woll'n, sog'n's nur …«

»Dein Messer – und wozu?« flüsterte Paul zurück.

»Nun, wenn's ganz fest zu sitzen kommen, schneiden's Ihnen a Bissel durch die Handfläch'n und unter den Fußballen her, so daß 's a wen'g' blutet; dann faßt sich's sicherer.«

»Ich danke für den Rath, Seppi,« sagte Paul; »hoffentlich werden wir nicht so fest zu sitzen kommen, daß es nöthig wird!«

»Ach na!« versetzte Seppi, und stieg auf; Paul in seinen Fußstapfen ihm nach; das andere Ende des Seils hatte sich Seppi mitten um den Leib geschlungen.

Es ging in der That besser, als sich Paul gedacht hatte … die Felsen, die von weitem so glatt und wie abgeschnitten ausgesehen hatten, boten doch, in der Nähe betrachtet, eine Menge Kanten, Vorsprünge, Löcher und Zacken dar, über die ein kräftiger Mann empor kann, auch ohne etwas von der Natur des Steinbocks zu haben, wie der Gamskogelseppi. Paul, dessen elastische Kraft früh durch seine Jagdpassion sich gestärkt hatte, fühlte diese Kraft durch seine Aufregung verdoppelt, und je höher er sich aufschwang und an der Wand empor kam, desto mehr wuchs dieß Gefühl … er verschmähte jetzt schon die Hülfe, die er sich anfangs hatte gern gefallen lassen, das Heraufgezogenwerden mit dem Strick – und endlich hätte er laut aufjubeln mögen, als Seppi von droben her ihm zuraunte:

»Gnod'n, i bin oben.«

Auch Paul war es jetzt bald – oben an der Festungsmauer!

Es war ein schmaler Weg, auf dem die Männer jetzt Fuß faßten; zwischen der Mauer und dem Abgrund war ein Raum von etwa drei Fuß Breite gelassen, und dieser zu einem schmalen Pfade benützt, der sich rund um die Veste her zu ziehen schien. Paul und Seppi verfolgten ihn – leise auftretend, und, wenn die Wolken den Mond entblößten, sich dicht an die Mauer drückend. So gelangten sie an eine Ecke, wo die Mauer rechts hin weiter lief; der Fußweg wurde hier ganz unglaublich schmal – er verschwand förmlich. Dem Seppi schien das jedoch kein Umstand, der ihn aufhielt. Er kam um die Ecke herum, ehe noch Paul gesehen, wie er's eigentlich gemacht hatte; dann streckte er, sich um die Kante vorbeugend, den Arm aus, erfaßte Paul's Hand und zog ihn sich nach.

»Um die Ecke bringen wir Dorette nicht, das ist sicher!« flüsterte Paul kleinlaut, und folgte wieder dem Seppi.

Sie hatten jetzt vor sich einen großen, vorspringenden aber niedern runden Thurm, denselben, von dem der Invalide gesprochen. Der Weg lief auf ein kleines Thor, das in diesem Thurm angebracht war, zu, und dieß Thor war so verfallen, so alt und morsch, daß eine der Planken fehlte – nur die langen Eisenbeschläge, die von den Angeln ausliefen, waren noch da. Im Innern erblickte man Stufen, auf deren untersten das Mondlicht lag, schmale, steinerne Stufen, welche in die Höhe führten.

Unsere Abenteurer stiegen durch den Raum, welcher die verschwundene Planke gelassen, in den Thurm und dann vorsichtig die Stiege hinauf. Rechts war eine Thüre … nach einer Weile kam eine zweite. Sie kamen höher und höher – endlich an die Decke, die ihnen den Weg versperrte, den schmale Schießscharten beleuchteten. In der Decke über der Stiege war eine Klappe. Der Gamskogelseppi drückte daran – dann setzte er seine mächtigen Schultern unter, und die Klappe hob sich, in rostigen Angeln knirschend. Beide Männer, erschrocken über dieß Geräusch, hielten eine Weile den Athem an und bewegten sich nicht. Aber Alles rings um sie her blieb todtenstill.

Sie stiegen nun weiter auf und befanden sich im nächsten Augenblick auf der Plattform des Thurmes; vor sich sahen sie ein altes Geschütz auf einer eigenthümlich konstruirten Lafette stehen, eine Art von »Drehbasse,« und rings um sich her eine Brüstung bis zu halber Mannshöhe; darüber höher aufragende Zinnen, ganz wie es bei mittelalterigen Thurm- und Thorbauten der Fall ist. An diese Zinnen sich heranschleichend und von ihnen geborgen, hatten Paul Terwagne und sein Begleiter nun bald den freiesten Ueberblick, den sie sich wünschen konnten, über den ganzen Hof der alten Veste.

Paul war nach den Angaben des Invaliden sehr bald orientirt. Zu seiner Rechten lag dunkel und wie ausgestorben das, »Palais;« zwischen diesem und der Kaserne, Paul gegenüber, das Wachtgebäude, und vor diesem Wachtgebäude ging langsam und ruhig die Schildwache auf und ab.

Links lag die Kapelle, die Stallungen, dahinter der Thorbau, von dem nur ein Stück sichtbar war.

Eine Schildwache im Hof! Auf diesen Anblick hatte sich Paul in einer belagerten oder wenigstens blockirten Veste gefaßt machen können  … und doch war sie ihm ein sehr unangenehm überraschender Anblick – um so mehr, als aus dem Wachtlokal hinter ihr Licht schimmerte, und durch die erleuchteten Scheiben desselben deutlich wahrnehmbar war, daß eine starke Wache, wenigstens ein Dutzend der Franzosen, dieß Lokal anfüllten!

Eine Gruppe von ihnen saß um ein flackerndes Talglicht und spielte Karten. Seitwärts lagen andere auf einer Pritsche. Mitten zwischen beiden stand einer der Invaliden von der früheren Besatzung – Paul erkannte die Uniform feines Friedenssoldaten – und wusch aus einem vor ihm stehenden Eimer ein Paar Stiefel mit großem Aufwande von Wassergüssen rein – die Franzosen schienen den harmlosen Alten als Kalfactor bei sich auf Wache behalten zu haben, und ihn mit »für seine Fassungskräfte angemessenen« Aufgaben zu beschäftigen.

Das Gebäude rechts, »das Palais,« sprang so weit vor, daß es einen Theil des runden Thurms, auf welchem sich Paul Terwagne und der Wildschütz befanden, verdeckte; zwischen dem Thurm und der Seitenfronte des Palais war auch eine Art Verbindung hergestellt; denn eine Art Thorbogen war zwischen beiden geschlagen, über dem auf dessen Kamm der Verbindungsweg, rechts und links von eisernem Geländer geschützt, herlief; er führte auf eine Glasthüre im zweiten Stock des »Palais« zu.

Obwohl dieser Verbindungsweg ganz tief im Schatten lag – vom Hofe aus unsichtbar heftete sich doch sogleich Paul's Auge darauf; er stieg sehr bald die nach unten führenden Stufen der Wendelstiege im Thurm wieder hinab, um den Zugang zu demselben zu finden; es mußte die obere der beiden Thüren sein, welche er beim Aufsteigen wahrgenommen hatte. Die erste, unterste dieser Thüren mußte in den Hof führen. Als er etwa zwanzig Stufen hinuntergeschritten war, fand er das in die dicke Thurmmauer tief eingelassene Pförtchen, welches er suchte; ein schwerer Eisenriegel, der in der Dunkelheit durch Tasten entdeckt werden mußte, ließ sich zurückschieben, ohne zu viel Geräusch zu machen, da Paul ihn behutsam und sacht durch Hin- und Herrütteln in Bewegung setzte. Als das Thürchen sich öffnete, befand sich Paul auf einer Art Söller; vor ihm lag der Verbindungsweg nach dem »Palais,« rechts der Kamm der das Ganze umschließenden Festungsmauer.

Paul schritt, während er Seppi bedeutete zurückzubleiben, an eine Fensterthüre, die am andern Ende des schmalen Weges in das »Palais« führte. Er legte dort die Stirn an die Glasscheiben, um in das Innere des Gebäudes zu sehen; es schien da ein langer, langer Gang zu sein; denn in der Ferne fiel durch ein unsichtbares Fenster heller Mondschein in den Raum, und hinter dieser erleuchteten Stelle begann der Korridor auf's Neue und verlor sich ins Dunkel.

Paul kehrte dann zurück und flüsterte Seppi zu:

»Wir wollen jetzt sehen, wie weit wir oben auf dem Mauerrand kommen – folge mir, Seppi! Nimm Dich in Acht, daß von den Mauersteinen keiner unter Deinen Füßen losbröckelt und niederstürzt und uns verräth.«

»Geb' schon Obacht, Gnod'n!« sagte Seppi.

Der Weg da oben über den Kamm der Festungsmauer war schmal genug, und bei hellem Tage und in ruhiger Gemüthsstimmung hätte unsern Helden ganz ohne allen Zweifel bei dieser Wanderung der Schwindel ergriffen und er wäre rettungslos verloren gewesen. Er schritt nämlich ganz in derselben Richtung, in welcher er kurz vorher gekommen war; nur daß er dießmal den Weg oben über den Rand der Mauer zurück machte, den er vorher am Fuße derselben gemacht hatte; nur daß er noch um etwa 12 oder 14 Fuß höher in den tiefen, jähen, im Mondlicht noch viel bodenloser und grandioser aussehenden Abgrund hinunterblickte, der zu seiner Rechten aufgähnte.

Zu seiner Linken hatte er zuerst ein schmales Stück Hofraum, begrenzt von der Seitenfronte des Palais; dann einen kleinen ganz schmalen gepflasterten Raum, über welchem die hintere Fronte des Palais aufstieg. Paul befand sich auf gleicher Höhe mit dem zweiten Stockwerk dieses Gebäudes.

Die Reihe von Fenstern, welche dieß zweite Stockwerk bezeichnete, war dunkel … nichts deutete darauf hin, daß es bewohnt sei … umsonst suchte Paul mit seinem Blicke in Räume zu dringen, worin er die Seinigen untergebracht vermuthen mußte; das Mondlicht reichte nicht hin, innerhalb der Gemächer da drinnen irgend einen Gegenstand wahrzunehmen, der ihm die Anwesenheit derer, welche er suchte, verrieth.

»Geb'ns a Obacht, Gnod'n!« flüsterte der Gamskogelseppi – »es kommt a böse Stell'n!«

»Ich seh's schon,« versetzte Paul weiter wandernd und glücklich die böse Stelle überschreitend. Es war eine Lücke in dem Mauerrand, den »der Zahn der Zeit« hineingerissen hatte.

Sie gingen weiter. Das Palais war zu Ende. Die Mauer warf sich im rechten Winkel nach links. Unten erbreiterte sich der Raum; es war da ein Gärtchen angelegt; jenseits desselben zeigte sich die Hinterfronte des Wachthauses, dessen Vorderseite unsere Abenteurer vorhin von dem Thurm aus wahrgenommen hatten. Ein nach hinten hinausgehendes Fenster ließ sie die Wachtmannschaft da drinnen in denselben Situationen wie früher erblicken.

Die Mauer machte wieder einen Winkel, dießmal einen abgestumpften; erst jenseits des Wachthauses lief sie wieder schnurgerade weiter hinter dem Kasernengebäude her und auf den Thorbau zu.

Hier aber zeigte sich ein Hemmniß für die weitere Rekognoszirung des Platzes … da, wo die Mauer abgestumpft war, zur Seite eines starken, sie haltenden Strebepfeilers war eine tiefe, fast bis an den Grund reichende Bresche hinein gerissen. Diese Lücke lag neben dem Häuschen, welches die Zisterne enthalten mußte – und statt sie auszubessern, mochte man, auf die natürliche Vertheidigung, die Unzugänglichkeit der Felswände an dieser Stelle, sich verlassend, vorgezogen haben, die Bresche eher noch zu erweitern; denn so viel sich erkennen ließ, war die ganze Stelle etwas wie ein Abzugsthor für allen Unrath der Burg, den man hier durch diese Lücke zu werfen und so den Felsen hinab in die Tiefe zu schütten sich angewöhnt haben mußte. Paul hatte schon am Tage aus der Ferne hier einen breiten, braunschwarzen Streifen sich die Felsen hinabziehen sehen.

»Da geht's halt nit weiter!« sagte der Gamskogelseppi.

»Wir müssen zurück,« gab Paul flüsternd zur Antwort, »und sehen, ob wir auf der andern Seite, jenseits des Thurms …!

Er stockte … dann wandte er sich und winkte Seppi mit der Hand, zu schweigen. Zugleich fiel er in die Knie und legte sich darauf der Länge nach flach auf den Mauerrand hin.

Seppi bedurfte der Aufforderung nicht, ihm nachzuahmen; beide Männer lagen im nächsten Augenblick der Länge nach ausgestreckt auf dem Kamm der Mauer, den Kopf nur so weit gehoben, um beobachten zu können, was unter ihnen vorging.

Die hintere Thüre des Wachtlokals hatte sich geöffnet; ein Mann kam heraus, der einen Wassereimer trug.

Paul erkannte auf der Stelle den Friedenssoldaten, den Invaliden.

Dieser ging mit seinem Eimer an dem Gärtchen her in das Cisternenhaus; dort drinnen hörte man dann ein Rasseln wie von einer Kurbel und Ketten – kurz darauf kehrte er zurück, und schritt mit dem gefüllten Eimer wieder durch die Hinterthüre in das Wachtlokal.

Paul erhob sich und begann nun langsam auf dem Mauerkamm zurückzuschreiten; der Seppi schritt dießmal vor ihm her. Paul fühlte einen Theil seiner Hoffnungen sich verflüchtigen … so lange er nicht wußte, in welchem Raume er die Seinigen suchen mußte, konnte auch nicht der Schatten einer Idee in ihm aufsteigen, wie er sie retten könne … und wie sollte er sie ausfindig machen? Alles, was er vornehmen konnte, um die Aufmerksamkeit der Gefangenen zu erregen, um ihnen seine Anwesenheit kund zu thun, konnte eben so gut die Aufmerksamkeit seiner Feinde erwecken.

Wer wohnte, wer schlief hinter dieser dunkeln Fensterreihe in dem alten Gebäude, diesem mondbeglänzten »Palais,« das so schweigend, so starr seine Räthsel verhüllend, neben ihm lag? Warf durch dieses erste große Fenster der Mond sein mildes Licht auf das Lager der schlaflos, in tiefer Herzensangst da liegenden Dorette, seines theuren Weibes – oder auf die dämonischen Züge dieses Teufels von Champmorin, dem Paul zehntausend Tode wünschte?!

Während er so sich rathlos fühlend und mit klopfendem Herzen langsamer zurückging, sah er Seppi, der vorauf ging, plötzlich stehen bleiben und heftig mit der Hand hinter sich winken. Zugleich traf ein Lichtschimmer sein Auge; er kam aus demselben ersten Fenster, zu dem Paul eben noch so fragend aufgeblickt hatte. Der Raum hinter demselben, im Innern des Palais, war plötzlich erhellt … man blickte in ein Stiegenhaus, und die breite Stiege herauf, ein brennendes Talglicht in der Hand, kam derselbe Friedenssoldat, wie man jetzt deutlich sehen konnte, ein alter Mann mit einem dicken Zopf im Nacken, in gebückter Haltung, und langsam emporsteigend.

Er ging gebückt – und doch konnte ihn die Last, welche er trug, nicht niederdrücken; denn diese Last bestand aus weiter nichts als aus einem Paar Stiefel – denselben Stiefeln, welche er eben in der Wachtstube gereinigt hatte.

Es mußte also zwischen dem Wachtlokal und dem Palais eine unmittelbare Verbindung existiren.

Oben verschwand er in einem Gange, wie es schien. Es dauerte vielleicht ein paar Minuten – dann glänzte auf einmal das sechste oder siebente Fenster der Reihe auf.

Unsere beiden Späher eilten rasch dahin. Als sie auf gleicher Linie mit diesem letzteren Fenster ankamen, blickten sie in einen breiten Flur, der quer durch die Mitte des Gebäudes laufen mochte. Sie sahen den Invaliden wieder, wie er vor eine Flügelthür zur linken Seite die Stiefel niederlegte, dann mit den Fingern den langen Docht seiner Talgkerze schneuzte, und sich dann wieder auf den Rückweg begab. Kurz darauf glänzte wieder das erste Fenster der Reihe auf, um bald wieder so schwarz und dunkel zu werden wie früher!

Das, sagte sich Paul, ist wenigstens ein Fingerzeig! Wo der alte Mann die Stiefel niedergesetzt hat, schläft der Anführer der Räuberbande, schläft Champmorin!

»Und dann,« setzte er wie mit einem plötzlich muthigen Entschluß hinzu: »Gamskogelseppi, es muß gewagt sein  … wir müssen wissen, wo die Gefangenen sind … um es herauszubringen, müssen wir Kalkstaub von der Mauer an die Fensterscheiben werfen – sacht und vorsichtig … die Gefangenen werden einen leichten Schlaf haben, wenn ihnen überhaupt der Schlaf genaht ist …«

Und damit begann er eine Handvoll Staub und kleiner Kalkbrocken von dem Mauerkamm aufzuraffen und sie gegen eines der Fenster, die zwischen dem Flur und dem Treppenhause lagen, zu werfen.

Alles blieb still.

An einem zweiten Fenster wurde der Versuch wiederholt. Paul wartete mit heftigem Herzklopfen auf den Erfolg. Abermals blieb Alles still.

Der Seppi hatte an einem dritten Fenster experimentirt; aber er mußte ein zu dickes Stück Kalk oder einen Stein wider die Scheiben geschleudert haben – das Geräusch war so laut, daß Paul zusammenschrak und im ersten Augenblick glaubte, die getroffene Scheibe sei zertrümmert.

»Gott steh' uns bei, das muß ja die Wache drüben im Hofe hören können …«

»Ah nah!« flüsterte Seppi phlegmatisch.

Eine abermalige lange Pause verfloß … dann wurde ein leises Geräusch hörbar … es kam vom Fenster her … dann öffnete sich langsam das Fenster, und – ein Kopf schob sich hindurch, ein bärtiger Männerkopf, in den das Mondlicht nicht hätte zu fallen brauchen, um Paul sofort seinen Freund Maldagham erkennen zu lassen – an seiner hohlen, heisern Stimme hätte er ihn schon erkannt!

»Wer ist da?« raunte Maldagham den beiden auf der Mauer stehenden Männern zu.

Diese hatten das Mondlicht im Rücken und waren deßhalb für den gefangenen Offizier nicht zu erkennen.

»Ich bin's, Maldagham!«

»Du, Terwagne? Alle Teufel, wie ist's möglich?!«

»Ich bin gekommen, um Euch zu befreien! Wo ist Dorette?«

»Mit dem Marquis hier im Nebenzimmer!«

»Und die Andern?«

»Hier im selben Zimmer …«

»Hier,« flüsterte in diesem Augenblick der Chevalier von Nossagnac, der neben Maldagham sich in's Fenster legte – Du bist's, Paul?!«

»Seid still, und beantwortet mir meinen Fragen … seid ihr eingeschlossen?«

»Ja, das heißt die große Portalthüre, die unten in den Hof führt, ist abgeschlossen.«

»Eure Zimmer nicht?«

»Unsere Zimmer nicht … es ist ja keine Möglichkeit, zum Schloßthor hinaus zu kommen, und weiter hat Brasienne keinen Zugang …«

»Wo wohnt Champmorin?«

»Drüben, mit uns in demselben Stock.«

»So weiß ich genug Maldagham, ich bring' Euch heraus, werft Euch in Eure Kleider, wenn Ihr sie abgelegt habt, und haltet Euch ganz still, bis ich komme … sagt auch Dorette und dem Marquis, sie sollen sich bereit halten – könnt Ihr in Euren Zimmern irgend einen Gegenstand finden, mit dem ihr Euch bewaffnen könnt, desto besser! – Und, Maldagham, schleich Dich an die Fensterthüre, die am Ende dieses Gebäudes nach dem Thurm hinausführt, und suche sie sacht zu öffnen – ich muß da hinein, es koste, was es wolle, im Nothfall indem wir die Scheiben ausnehmen. Vorwärts, Seppi, zurück zum Thurm …«

»Aber Gnod'n,« sagte Seppi, der mit großer Verwunderung die Verheißung angehört hatte, welche Paul Terwagne gegeben, »wie soll'n ma's denn machen?«

»Wie wir's machen sollen, Seppi?« sagte Paul – »wir führen sie heraus, über die Treppe, auf welcher der Invalide herauf kam, dann durch das Wachtlokal, durch die Hinterthüre des Wachthauses, an dem Cisternenhäuschen vorüber, durch die große Maueröffnung, dann draußen an der Mauer entlang bis zu der Stelle, wo wir hinauf geklettert sind, und dort werden sie mit Gottes Hülfe eben so glücklich hinunter kommen, wie wir herauf gekommen sind!«

»Das schon, Gnod'n … aber wir kommen ma durch's Wachthaus, das voll Franzosen ist?«

»Das ist allerdings der schwierige Theil der Aufgabe, Seppi  … und da kostet's eine List! Wir müssen zu Stande bringen, daß die Franzosen lange genug die Wachtstube verlassen, um uns Zeit zu gönnen hindurch zu schreiten!

»Sie werden uns halt nit den Gefallen thun, Gnod'n!«

»Und deßhalb werden wir sie hinaustreiben müssen, um uns den Weg frei zu machen!«

Seppi sah fragend, als ob er an dem richtigen Verstande seines Begleiters zweifelte, in dessen Gesicht.

»Nur vorwärts, es wird schon gehen – nur vorwärts. Auf dem Wege, auf welchem wir zuerst hereinkamen, um die heillose Ecke, bringen wir Dorette nicht hinaus, und oben über die schmale Mauer auch nicht! Also vorwärts!«

Sie hatten jetzt schon beinahe den Thurm, von dem aus sie auf die Mauer gelangt waren, erreicht.

An demselben und auf dem Söller, von dem wir sprachen, angekommen, wandte Paul sich rechts und ging über den Verbindungsweg auf die Glasthüre zu, welche in das Palais führte.

Die Thüre war verschlossen … nach kurzem Harren aber tauchte jenseits derselben in Innern die Gestalt Maldagham's auf; tastete und arbeitete eine Zeitlang daran, und dann wich langsam einer der Flügel.

»Sacht, sacht,« flüsterte Paul ihm zu, »daß die Schildwache im Hof nichts hört!«

Als die Thüre sich weit genug geöffnet hatte, schoben sich die beiden Männer in das Innere des Gebäudes.

»Sind Dorette und der Marquis aufmerksam gemacht?« fragte Paul jetzt.

»Sie sind es … Sie machen sich fertig!«

»Nun wohl – dann zuerst zu Champmorin!«

»Um Gotteswillen … was willst Du bei dem?« rief Maldagham mit gedämpfter Stimme aus.

»Mich an ihm rächen!«

»Nein, nein, das ist ja bare Tollheit! Ich glaubte, uns zu befreien …«

»Sei ich gekommen? das bin ich auch, zu nichts Anderem – aber erst habe ich mit diesem Schuft zu reden. Folge mir, Maldagham, überlaß Alles mir, und thu', was ich Dir sage. Mein Plan steht fest!«

»Aber um's Himmels und aller Heiligen willen, so laß doch diesen Champmorin in Ruhe und freue Dich, daß er schläft …«

»Du mußt mir schweigend folgen, Maldagham, wenn's gelingen soll,« raunte Paul zurück, »hörst Du? und Du, Seppi, zieh' Dein großes Messer heraus, ich werd' es brauchen.«

Damit ging er leise auftretend, aber sehr rasch in den dunklen Gang hinein, der durch den ganzen Stock des Gebäudes lief.

Bald war der quer hindurchgehende breitere Flur erreicht. Hier war es heller, weil der Mond hinein scheinen konnte durch das Fenster, durch welches man früher den Invaliden mit seinem Stiefelpaar bemerkt hatte. Die Stiefel standen am Boden, vor der Flügelthüre, die Paul jetzt zur Rechten hatte. Eine ihr links gegenüber liegende Thüre war halb geöffnet, auf der Schwelle standen der Chevalier von Nossagnac und der Cornet von Hellrath.

Paul machte ihnen einen Wink, zurückzubleiben, er selbst schritt auf die Thüre zu, hinter welcher er Champmorin vermuthete. Das Schloß gab dem ersten Drucke nach und Paul trat über die Schwelle.

Er blickte in ein geräumiges Zimmer, an dessen Ende ein großes, hohes Himmelbett mit zugezogenen Vorhängen stand. Aber ein kräftiges Schnarchen zeigte, daß hinter diesen Vorhängen ein lebendes Wesen sich barg.

»Gib mir Dein Messer, Seppi!« flüsterte Paul.

Seppi schien ein wenig erschrocken über die Forderung; er hielt das Messer in der Hand, aber er zauderte.

»Her mit dem Messer,« befahl Paul heftig; »Du, Maldagham, reiß links, Du, Seppi, rechts den Bettvorhang weg – hört ihr?«

Er hatte sich des Messers, das Seppi schon auf dem Gang geöffnet hatte, bemächtigt, jetzt trat er dicht an das Bett hinan – seine beiden Begleiter thaten, wie er befohlen, die Vorhänge flogen zurück und das Mondlicht schien auf einen langen, häßlichen, mit einem roth und blau gewürfelten Tuche umwundenen Männerkopf.

Dieser Kopf schlug in diesem Momente die Augen auf und fuhr in die Höhe.

Aber bevor er einen Laut ausstoßen konnte, hatte Paul Terwagne's kräftige Rechte sich um seine Kehle gekrallt.

»Schweigen Sie,« flüsterte er in französischer Sprache, »oder ich stoße Ihnen dieß Messer in die Gurgel!«

Das Messer blitzte unmittelbar vor dem Gesichte des Ueberfallenen, das in dem fahlen, matten Lichte jetzt wie das eines Todten aussah!

»Sie sehen,« fuhr Paul fort, »Sie sind völlig in unserer Gewalt. Wenn Sie den allergeringsten Widerstand leisten, wenn Sie einen Laut ausstoßen, so tödte ich Sie!«

Der Ueberfallene ächzte jetzt schwer auf; dann mit einem plötzlichen Ruck machte er einen Versuch, sich zu befreien; die beiden Hände fuhren nach Paul's Armen, um sie zu fassen und ihrer Herr zu werden.

»Maldagham, halt ihm die Hände fest,« sagte Paul, »und Du, Seppi, wirf das Kissen, die Decke fort; dann wickele ihn fest in das Bettladen ein, ganz fest!«

Seppi erfreut, daß die Sache ohne Blutvergießen schien abgehen zu sollen, gehorchte augenblicklich – der Franzose war bald in das Lacken eingeschlagen; dann ergriff Seppi das auf den Boden geworfene obere Betttuch und zerriß es in einzelne Stränge, um Bänder zum Befestigen zu gewinnen.

Schnür' ihn fest ein,« sagte Paul dabei; dann nahm er das Tuch von dem Kopfe Champmorin's und zwang es diesem wie einen Knebel in den Mund.

»Jetzt bind' ihm die Arme, Seppi und das Lacken über dem Kopf zusammen!«

Seppi arbeitete aus Leibeskräften, um schnell fertig zu werden: Champmorin fühlte sich von Paul und Maldagham so fest gehalten, daß er wehrlos wie ein todter Körper war; er mußte Alles mit sich geschehen lassen.

Als man den Ueberwältigten endlich wie eine Mumie eingewickelt hatte, sagte Paul, die Festigkeit der Bänder und Knoten untersuchend:

»Es ist gut so … jetzt nehmt ihn auf; ihr zwei an den Beinen, ich an den Schultern, und dann rasch fort mit ihm auf den Thurm.«

»Auf den Thurm? Auf welchen Thurm? Du wirst ihn doch nicht von da den Felsen hinunter stürzen wollen?«

»Wenn er uns widersteht, oder sich loszuringen sucht, ja!« versetzte Paul mit harter Stimme. »Vorwärts!«

Die drei Männer hoben den leise ächzenden Körper des mit der Todesangst kämpfenden Franzosen auf. Sie trugen ihn zum Zimmer hinaus, über den Flur, den Korridor entlang, dann durch die Fensterthüre, über den Verbindungsweg, bis sie das Thürchen erreicht hatten, welches von diesem in den Thurm führte. Hier mußte, weil die Passage zu schmal wurde, um zweien Männern neben einander das Eindringen und Besteigen der Wendelstiege zu erlauben, Maldagham zurückbleiben. Seppi nahm allein die Last in seinen Arm und schritt vorauf; Paul mit dem Oberkörper des Gefesselten ihm nach, und so gelangten sie glücklich durch die noch offen stehende Klappe oben auf die Plattform des Thurmes.

Hier legten sie ihre Last auf den Boden nieder.

»Hör', Seppi,« flüsterte Paul jetzt, nachdem er einen Augenblick Athem geschöpft, »jetzt gilt's Vorsicht. Ich werde den Burschen sogleich, mit einem Strick unter den Armen durch, an eine Thurmzinne hängen, und das wird für die Franzosen ein Schauspiel sein, welches sie schon aus der Wachtstube lockt. Maldagham, komm' hierhin und hilf mir ihn festhalten,« unterbrach er sich, zu dem Kameraden gewendet, der durch die Lucke hinter ihnen auftauchte. »Dann, Seppi, eile ich zurück, um die Gefangenen fortzuführen – durch das Wachtlokal, weißt Du. Damit aber nicht zu bald Hülfe für diesen hier kommt, und er nicht noch Zeit gewinnt, uns verfolgen zu lassen, müssen wir diese Luckenklappe hier befestigen … wie wär's, wenn Du, sobald wir, mein Kamerad und ich, hinunter sind, die Klappe zumachtest, und dann leise die alte Kanone hier darauf schöbest? Würdest Du nachher dort, wo die Schildwache Dich nicht sehen kann, im Schatten des Palaisbaues Dich bis auf den Verbindungsweg herunter lassen können?«

»Woll'n halt schau'n, ob's geht, Gnod'n!« flüsterte Seppi zurück, und schlich sich an den Zinnenrand, an die bezeichnete Stelle, wo er durch eine der Lucken hinunterblickte.

Der Söller, von dem der Verbindungsweg ablief, und man zugleich auf den Mauerkamm gelangte, lag etwa fünfzehn Fuß unter ihm.

»Das kann 'ne Katze,« sagte er zurückkommend, »geschweig' denn der Gamskogelseppi, wenn er Stricke hat!«

»Vortrefflich … dann vorwärts,« antwortete Paul, »gib einen von Deinen Stricken her.«

Seppi löste einen seiner Stricke vom Halse los, um den er sie geschlagen trug.

Der Strick wurde dem armen geknebelten, regungslos daliegenden Sünder unter den Armen hergezogen und auf dem Rücken festgeknotet.

»Jetzt,« flüsterte Paul Terwagne, »kommt das schwerste Stück Arbeit. Du, Seppi, bist der Stärkste; Du nimmst ihn bei den Schultern, wir zwei die Füße. So schieben wir ihn dort zwischen die Zinnen durch … dabei hältst Du die Enden des Stricks, knotest diese, sobald Du nicht mehr zu halten brauchst, fest um die Zinne herum, und das Uebrige thu' ich – hast Du mich verstanden?«

Seppi nickte und faßte an. Paul und Maldagham erhoben die weiße Gestalt an den Füßen und trugen sie so zu dem Zinnenrand der Plattform. Hier schoben sie sie in die bezeichnete Lucke zwischen zwei Zinnen, und als sie auf den Steinen ruhte, vollführte Seppi so rasch wie ihm möglich war den zweiten Theil seiner Aufgabe.

»Wenn aber das alte Steinwerk nicht mehr hält und die Last nicht trägt?« flüsterte Maldagham.

»Nun, so stürzt er in den Hof und bricht den Hals,« gab Paul zur Antwort, »und das ist dann solch' großer Schade nicht! Bist Du fertig mit dem Knoten, Seppi?«

»Ich denk', er soll halten, Gnod'n!«

»Nun, dann an die Luft mit ihm!« sagte Paul und gab dem Körper einen Stoß, daß dieser an der Thurmmauer niederglitt, und nun zwei bis drei Fuß tief unter dem Rand des Thurmes frei in der Luft hing, wo er sofort begann, heftige Bewegungen mit den Füßen zu machen.

»Jetzt fort!« sagte Paul Terwagne. »Seppi, mach' Deine Sache gut – Du hast nur wenige Minuten, bis die Schildwache aufmerksam wird. Bist Du unten, so kommst Du uns nach … wir warten auf Dich.«

»Ich komm' schon!« flüsterte Seppi, der eben die Kante der Luckenklappe faßte, um sie zu schließen, sobald Paul und Maldagham hindurch waren.

Die beiden letzteren flogen die Stufen hinab, über den Verbindungsweg, in die Fensterthüre, die in's Palais führte, hinein; an der Thüre standen der Chevalier und der Cornet, die ihnen so weit nachgeschlichen waren.

»Wo ist Dorette?« rief Paul aus, »wo ist der Marquis?«

Paul fühlte statt der Antwort die beiden Arme seines jungen Weibes um seinen Nacken; sie war aus dem Schatten des Korridors hervor ihm entgegengeflogen und hing schluchzend an seinem Halse.

»Meine Dorette mein armes, armes Weib,« sagte er von Rührung überwältigt, »aber kommt, kommt – noch sind wir nicht frei – eilen wir – folgt mir … und leise, leise … ohne Schuhe  … auch Du, Dorette!«

Sie gingen vorwärts, in den dunklen Korridor hinein, dann über den quer durch das Stockwerk laufenden Flur – dann weiter bis an's Ende des Gebäudes, wo die Treppe hinabführte, und Hellung durch das Fenster über der Treppe hereinschimmerte – hier hieß Paul alle Andern sacht die Stufen niederschleichen, bis zum Treppenabsatz, nicht weiter, damit man in der Wachtstube sie nicht höre, er selbst blieb oben stehen, gespannt den Blick nach dem oberen Ende des Ganges richtend, mit stürmischem Herzklopfen die Minuten zählend … da … plötzlich … unterbrach ein donnernder Ruf die Todtenstille der Nacht.


Siebentes Capitel.
Die weiße Frau.

» Aux armes!« rief die Schildwache im Hof vor der Wachtstube. » Aux armes!« daß es bis in den fernsten Winkel der Veste hallte.

»Pest! … jetzt wird's Zeit!« flüsterte Paul zusammenfahrend, »wenn der Seppi jetzt nicht bald kommt … aber da ist er!«

Der Rahmen der Fensterthüre oben am Ende des langen Ganges verdunkelte sich – Seppi war da, mit heiler Haut den Thurm herunter gekommen – flog jetzt den Korridor herab und stand, nach Athem ringend, kurz darauf neben Paul, den Strick, mit dem er sich an dem Thurme niedergelassen, in der Hand.

»Wie ist's gegangen, Seppi?«

»Die Kanone steht schon drauf!« versetzte Seppi lakonisch.

»Vortrefflich, dann fort! Du wirst sehen, daß ich zu Stande gebracht habe, was ich wollte und was Dir unmöglich schien – die Franzosen aus der Wachtstube zu bringen!«

Paul eilte die Treppenstufe herab, zu denen, die seiner harrten.

»Nur weiter,« sagte er hier, »Alles geht gut!«

Sie kamen am Fuße der Treppe an. Links lag ein weiter, dunkler Raum, rechts eine tief in die Mauer gelassene Thüre.

Paul legte sein Ohr an diese Thüre. Er vernahm keinen Laut. Er öffnete sie behutsam und sachte, es war die Wachtstube, in die sie führte, er sah das brennende Talglicht auf dem Tische, an dem die Franzosen gesessen, schmutzige Karten lagen umher – eine Strecke weiter stand der Wassereimer des Invaliden – aber eine menschliche Seele war nicht in dem Raum!

» Aux armes!« hatte die Schildwache gerufen, als sie durch ein seltsames Geräusch – es war der an der Drehbasse arbeitende Seppi gewesen, der es gemacht – aufmerksam geworden, die Augen nach der Gegend des Thurmes gewendet, und dort nun eine höchst seltsame und unerklärliche Gestalt wahrgenommen hatte.

Es war – die Wache rieb sich die Augen, ob sie nicht schlafe und träume – es war eine weiße Gestalt, die da oben aus dem Thurme hervorgetreten; die, an die Thurmmauer gelehnt, doch in der Luft zu stehen schien, wie, auf welchem Boden unter den Füßen, das war nicht wahrzunehmen; der Mond stand der Wache gegenüber am Himmel, und während er den Hof, die Fronte des Wachthauses, weiterhin das lange Kasernengebäude hell beleuchtete, lag doch die der Wache zugewendete Seite des Thurmes im dunklen Schatten.

Der Franzose, ein Rekrut aus der Normandie, schlug ein Kreuz, murmelte erschrocken ein Stoßgebet zu allen Heiligen, und schrie dann, immer mit großen Augen nach dem Thurm emporstarrend, sein: » Aux Armes!«

Daß die Wachmannschaft mit einer gewissen Erregung, von dem Gedanken an einen Ueberfall oder irgend ein anderes, ganz absonderliches Ereigniß, das im Hofe vorgehe, beflügelt, hastig herbeistürzte, war natürlich. Sie hatten nicht lange zu fragen, weßhalb sie herausgerufen worden – der Rekrut stand, die Muskete am Fuß, mit beiden ausgestreckten Händen nach der wunderlichen Erscheinung deutend.

Der Thurm mochte in einer Entfernung von hundert Schritten von dem Wachthause liegen; bei dem ungewissen Licht des Mondes erschien die Gestalt da oben doppelt räthselhaft, unheimlich, unerklärlich!

Es war ganz offenbar eine menschliche Gestalt. Sie war vom Kopf bis zu den Füßen in weiße Gewänder gehüllt … sie bewegte sich hin und her – sie schwebte in der Luft … wovon wurde sie getragen? worauf stand sie? wie war sie da oben aus der Thurmmauer heraus gekommen?

Unsere französischen Soldaten, die sich als echte Kinder der Revolution sehr wenig um den lieben Gott und noch weniger um den Teufel kümmerten, fühlten doch sammt und sonders ein gewisses Grauen bei dem Anblick, und fühlten es doppelt, als der alte Friedenssoldat, der zum Kalfaktor gepreßte Invalide, der mit herausgestürzt war, ausrief: » Ma foi … que la Sainte vierge nous sauve tous, c'est la Dame blanche! Es ist die weiße Frau! Die weiße Frau von Brasienne!« La dame blanche (»Die weiße Dame«, 1825) war eine seinerzeit sehr beliebte Oper von François-Adrien Boieldieu, deren Handlung durch fünf Romane des schottischen Schriftstellers Walter Scott, besonders »Das Kloster«, inspiriert war. – Anm.d.Hrsg.

Ein Theil der Mannschaft versuchte zu lachen.

» Vieux grognard – va au diable avec ta Dame blanche!« rief ein alter Troupier aus. Aber der Invalide fuhr fort in heftigster Aufregung die Worte hervorzustoßen:

»Aber wenn ich Euch sage, daß die weiße Frau nicht zum ersten Male heut in Brasienne erscheint … daß ich sie selbst gesehen habe … es war damals, al …«

»Zurück da,« rief hier der Sergeant Flippetot, welcher herbeigestürzt kam, dazwischen, indem er den Invaliden bei Seite schob, »gib mir meine Muskete her, Jacques, wir wollen sehen, ob wir die weiße Frau da oben nicht bald herunter holen oder in die Flucht treiben!«

Eine Muskete wurde ihm gereicht; er nahm sie schlug an, zielte – und ein Schuß weckte die von zwei drei Seiten aufhallenden Echos des alten Schlosses. Zugleich hörte man das Anprallen der Kugel oben an den Steinen des Thurmes. Der Rauch verzog sich die weiße Frau da oben stand wie vorher am Thurm – nur stiller, sie bewegte sich nicht mehr hin und her.

»Die macht sich viel aus Eurem Schusse!« murmelte der Invalide.

» C'est singulier,« sagte der Sergeant, »wenn man ein Kind wäre, könnte man wahrhaftig Angst bekommen vor dieser weißen Vogelscheuche. Eh, Henri, Giles, suivez moi … wir wollen in den Thurm und die Sache untersuchen. Du hast Furcht, Henri, nun jetzt gerade! en avant!«

Flippetot ging mit den zwei Aufgerufenen vorwärts, quer über den Hof; aber nicht allein die zwei gingen, sondern fast der ganze Haufe folgte ihm.

Als man am Fuße des Thurmes war und emporblickte, waren zwei frei gewordene Männerfüße, wie sie jetzt wieder heftig hin und her zu zappeln begannen, zu erkennen.

»Wenn die Gespenster anfangen, sich aus Lebensüberdruß, weil Niemand mehr an sie glaubt, zu erhängen, so will ich glauben, daß dieß die weiße Frau ist!« sagte der Sergeant jetzt, und damit eilte er dem untern Eingang des Thurmes zu und die Stufen der Wendeltreppe empor. Ein Theil der Leute folgte ihm; der Rest, ein halbes Dutzend, blieb unten, zu der Erscheinung hinaufstarrend.

Es war wenige Augenblicke vorher, daß Paul die Thüre der Wachtstube geöffnet hatte. Sein Anschlag war ihm völlig gelungen. Niemand war natürlich bei solch einem seltsamen Ereigniß in der Stube zurückgeblieben – alles war draußen, und der Durchgang durch das Lokal völlig frei; Paul winkte den ihm Folgenden, schritt behende durch den von der Talgkerze erhellten Raum und fand ohne Mühe die Hinterthüre, die nach dem Cisternenhäuschen führte. Auch hier gab eine lose Klinke sofort dem Druck seiner Hand nach und die ganze Reihe der Flüchtigen, Dorette zunächst hinter Paul, schlich auf den Zehen zwischen den Pritschbänken hin, durch die Stube. Maldagham hatte, als er, hinter Dorette herschreitend, an dem Tisch vorüberkam, die Geistesgegenwart, die Kerze auszublasen.

Der Gamskogelseppi war der lebte; er bildete den Nachtrab und schloß vorsichtig die Hinterthüre wieder, als alle hinaus waren. Paul Terwagne hatte die Vordersten der Reihe schon an dem Brunnenhäuschen her in die große Mauerlucke geführt – es galt hier große Vorsicht, um jenseits der Mauer den sich zur Felsenwand hinabsenkenden Kehrichthaufen nicht niederzugleiten und dann unrettbar verloren zu sein. Dann ging es, dicht an die Mauer gedrückt, nach rechts über den schmalen Pfad zu der Stelle, wo Paul und Seppi emporgekommen waren. Dorette hielt mit beiden Händen die Rechte ihres vor ihr schreitenden jungen Gatten gefaßt. Seppi hatte den alten Herrn, den Marquis, in seine besondere Obhut genommen.

Als man an der Stelle angekommen war, wo nach Paul's ermuthigenden Versicherungen das Niedersteigen für Alle ganz wohl möglich sein sollte, da fühlte Dorette sich vom Schwindel erfaßt. Sie lehnte sich, in ihr Schicksal ergeben, an ihren muthigen Gatten, das Haupt auf seiner Schulter, und schloß die Augen. Man beschloß sie zuerst hinunter zu führen. Der Seppi reichte seine Stricke her, Paul schlang ihr einen derselben um den Leib, dann stieg Seppi als Pfadfinder zuerst hinab, Dorette folgte, Paul blieb dicht hinter ihr, die Andern folgten Paul, zuerst der Marquis, dann die zwei jungen Leute, zuletzt Maldagham.

Man kam langsam, aber ohne Unfall weiter. Dorette bewies eine bewundernswerthe Tapferkeit. Nur auf halber Höhe etwa gelangte man an eine gefährliche Stelle, wo der Marquis nicht weiter zu können erklärte. Seppi hieß ihn deßhalb zurückbleiben mit den Andern, welche hinter ihm waren. Er brachte nun erst Dorette und Paul in Sicherheit. Als sie glücklich unten angekommen waren und Dorette auf ihre Arme fiel, um ihrem Schöpfer für ihre Rettung zu danken, stieg der wackere Wildschütz noch einmal empor, nahm nun den alten Herrn an seinen Strick und brachte auch ihn glücklich herab.

Wenige Augenblicke nachher stand die ganze Gesellschaft auf sicherem Boden fest auf ihren Füßen. Der Marquis von Nossagnac umarmte vor Freude weinend seinen Schwiegersohn und seine Tochter.

»Du hast drei Menschenleben gerettet,« sagte er, »unser Aller Leben, Paul … Dieser Champmorin hätte kein Erbarmen gekannt – keine Gnade! Man hätte uns nach Paris auf's Blutgerüst geschleppt … wie können wir Dir je danken, was Du an und gethan hast!«

»Brauchen Sie mir zu danken, mein Vater,« versetzte Paul gerührt und sein theures wiedergefundenes Weib an sich drückend, »brauchen Sie mir zu danken? Nur Einer ist unter uns, dem wir Alle gleichen Dank schuldig sind, und das ist dieser wackere, unerschrockene, prächtige Bursche hier, dieser Gamskogelseppi!«

Dabei ließ er mit der vollen Rührung eines von enthusiastischem Dank geschwellten Herzens seine Rechte schwer auf Seppi's Schulter fallen.

»Ist schon Recht, Gnod'n, aber machen ma, daß ma weiter kommen – noch ist's nit geheu'r, die weiß Frau da oben könnt uns sonst noch an Spuk machen!«

»Du hast Recht, Seppi, fort, zu den Unserigen!«

Paul erzählte jetzt den Befreiten, welche Schutzmacht sich in ihrer Nähe befinde, und dann ging es querfeldein, trotz der zurückgelassenen Schuhe und Stiefel über Stock und Stein, dem Lagerplatze, der Kompagnie zu.

Und doch hätten unsere Flüchtlinge nichts zu befürchten gehabt. La Dame blanche da oben an dem runden Thurm war in diesem Augenblick nicht in der Verfassung, irgend Jemanden in der Welt »einen Spuk zu machen,« wie Seppi sich ausdrückte. Als die Leute, welche unter Anführung des Sergeanten in den Thurm drangen, bis unter die Plattform gekommen waren, fanden sie es auch mit den größten Kraftanstrengungen nicht möglich, die Luckenklappe, die den einzigen Zugang zu der Plattform bildete, zu lüften. Die alte Drehbasse, die Seppi darauf geschoben hatte, lastete zu schwer. Man mußte sich entschließen, mit Leitern von außen her die Plattform zu erreichen. Die Leitern mußten hinter den Stallgebäuden her geholt werden, wo der alte Invalide ihren Aufbewahrungsort zeigte. Als man die längste dann mit vieler Anstrengung aufrichtete – es war unterdeß, von dem Lärm und dem Schuß geweckt, der ganze in der Kaserne einquartirte Franzosentrupp herbei gekommen – als man die Leiter aufgerichtet hatte, fand sich, daß sie zu kurz war; doch reichte sie hin, um den emporsteigenden Sergeanten entdecken zu lassen, welcher Natur die weiße Dame war, die jetzt ganz bewegungslos da oben von der Zinne niederhing.

» Mille tonnerres,« schrie er herunter, » c'est quelqu'un, qui s'est pendu!«

Die Sache wurde immer räthselhafter. Wer konnte sich erhängt und sich dabei das Vergnügen gemacht haben, sich in weiße Lacken zu hüllen?!

Während der Haufe da unten nun durch einander schrie und die aus der Kaserne herbei laufenden Nachzügler sich erklären ließen, was vorgefallen, stieg der Sergeant eilig die Leiter hinab.

»Schnell, schnell,« befahl er, »eine kürzere Leiter her und dann damit auf den Söller dort – wir müssen durch's Palais auf den Söller und von da aus hinauf!«

Eine kürzere Leiter wurde gesucht und aufgepackt, und damit stürmte man vor das »Palais,« zu dessen Hauptportal einer der Invaliden die Schlüssel, die in der Wachtstube aufgehängt waren, herbeiholte. Als die beiden Flügel sich geöffnet hatten, ging es die Treppe hinauf, über den langen Korridor, über den Verbindungsweg – bis man auf dem Ende dieses Verbindungsweges, auf dem Söller vor der oberen Thurmthür, die Leiter aufstellte.

»Aber wo bleibt denn der Kapitän? Wo ist denn unser Kommandant?« rief jetzt Einer aus der nachdringenden Truppe.

»Lauf Einer und wecke ihn!« schrie der Sergeant zurück und stieg die Leiter hinauf. Mehrere Andere folgten ihm und verschwanden dann oben zwischen zwei Zinnen hindurch hinter der Krönung des Thurmes.

Ihre Köpfe erschienen bald wieder über der Brustwehr, und dann sah man von unten aus die weiße niederhängende Gestalt sich langsam heben – immer höher, bis sie von einigen Armen an Kopf und Schultern gefaßt und seitwärts in die nächste Zinnenlucke gezogen wurde – bald ragten nur noch die Beine über die Thurmkrönung fort – dann wurden auch diese unsichtbar.

Oben aber auf der Plattform kniete der Sergeant jetzt neben dem regungslosen, auf den Boden gelegten Körper nieder … er riß das weiße Lacken, das ihn verhüllte, auseinander, er zog ihm den Tuchknebel aus dem Mund, er stieß den Schreckensruf aus:

» C'est notre Commandant! C'est le Citoyen Champmorin!«

» Le Citoyen Champmorin!« riefen die Andern zum Tode verwundert.

Wir wissen nicht, wie lange man brauchte, um den Unglücklichen wieder in's Leben zu rufen; er hatte in seiner entsetzlichen Lage da oben das Bewußtsein verloren, der schreckliche Knebel hatte ihm den Athem genommen, er wäre gewiß nicht mit dem Leben davon gekommen, wenn ihm nicht bald die Hülfe gebracht worden wäre.

Was wir wissen ist nur, daß er am andern Tage in der Frühe, sehr blaß und gebrochen und kleinlaut, aus der alten Veste abzog und heiler Haut Givet zu erreichen suchte, wo sein General Sarville mit seinem Korps längst angekommen war, nachdem er den kaiserlichen Truppen friedlich Namur eingeräumt hatte.

Die Gefangenen, deren Verschwinden man bald inne geworden war, zu verfolgen, hatte Champmorin keinen Versuch machen lassen; er wußte, welchen Schutz sie im Rückhalt hatten und mußte froh sein, als ihm am Morgen seine Streifpatrouillen berichteten, daß die feindlichen Truppen abgezogen seien.

Sie hatten in der That beim ersten Grauen des Morgens ihr Bivouak verlassen und hatten die Geretteten nach Namur mit sich genommen. Der Marquis wagte sich nach Beauraing erst zurück, als kein Franzose mehr auf belgischem Boden stand.

Bei der ersten ungünstigen Wendung jedoch, die das Kriegsschicksal noch im Laufe des Jahres nahm, verließ er die Heimat und siedelte nach Oesterreich über, zur Freude des Gamskogelseppi, dem man die Freiheit vom Dienst erwirkte, sobald der Feldzug zu Ende war, und der dort als Waldmeister in den Dienst des Marquis trat und später in dem seines Sohnes, des Chevaliers, gestorben ist.

Paul Terwagne hat in den nächsten Jahren eine glänzende Carrière gemacht. Von seinen Waffenthaten als Oberst eines Reiterregiments in den Feldzügen von 1805 und 1809, wo er zum General befördert wurde, ist in den Kriegsgeschichten der Zeit zu lesen. Die muthigste jener Thaten wußte aber später doch nur der alte Oberstlieutenant von Maldagham, der 1821 in Prag starb, zu erzählen, wenn man ihn auf Gespenstergeschichten brachte, und er dann einem Kreise gespannt aufhorchender alter Kriegsgurgeln die famose Geschichte berichtete, wie zum letzten Male die weiße Dame auf dem alten Schlosse von Brasienne im Lütticherlande erschienen sei.



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