Ossip Schubin
Toter Frühling
Ossip Schubin

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Gegen Ende Januar war's. Draußen auf dem Gärtchen von Ivylodge lag der Schnee weiß und rein, wie man ihn selten in London zu sehen bekommt. Jacks Zimmer blickte auf den Garten hinaus. Er richtete den Blick auf das grelle Weiß – es tat ihm wohl, wie alles, was kalt war und rein. Die Flocken fielen noch durch die Luft, weiß und still, mehr, immer mehr. Der große Friede war über die Erde hereingebrochen.

Endlich kehrte sich Jack von dem Fenster ab; er war noch nicht ganz angekleidet. Er stellte sich vor den Spiegel und fing an, sich zu rasieren. Er rasierte sich jetzt wieder alle Tage – endlich – und verwandte von neuem auf seinen Anzug jene akkurate Sorgfalt, die zu den täglichen Gewohnheiten jedes wohlerzogenen Menschen gehört. Während er vor dem Spiegel stand, machte er eine Entdeckung, nämlich, daß er graue Haare bekommen hatte – ja, eine ganze Anzahl grauer Haare um die Schläfen herum und Runzeln im Gesicht. Er rückte den Spiegel näher an das Fenster heran und lächelte. Er sah wie ein Mensch von vierzig Jahren aus. Ja, da war es, was er sich gewünscht hatte, er war alt geworden, die Jugend lag hinter ihm. Er streckte seine langen Glieder, er hätte Lust gehabt, zu pfeifen. Man muß sechsundzwanzig Jahre zählen, um sich über seine ersten weißen Haare zu freuen.

Zugleich regte sich in ihm zum erstenmal seit seiner Krankheit die Arbeitslust. Als er zum Frühstück herunterkam, fragte er Mary, wo man denn sein Malerwerkzeug hingeräumt habe. Sie erwiderte, es läge alles im großen Saal, der sonst Sarah dazu gedient, die Kinder-Mäßigkeits-Meetings abzuhalten. Er habe eine große Glaswand gegen Norden, die übrigen Fenster seien durch Jalousien und Vorhänge gänzlich verdunkelt. Sie benütze ihn momentan als Atelier. Es würde sie freuen, ihn »als dem hervorragenderen Künstler«, wie sie sich lächelnd ausdrückte, das beste Licht und den besten Platz einzuräumen.

Nach dem Frühstück begab sich Jack wirklich in die von seiner Kusine improvisierte Werkstatt. Das Podium, auf welchem der langhaarige Zimmerdekorateur, Jacks jetziger Vetter Bray, seine einschüchternden musikalischen Vorträge zum besten gegeben und der Reverend Jessiah Juniper den armen Wichten mit seinen Auseinandersetzungen die Hölle heiß gemacht, war weggeräumt.

Jack suchte nach den schauerlichen Inschriften auf den Wänden. Aber der größte Teil davon war mit Studien bedeckt.

Zu seinem Erstaunen bemerkte er, daß von den Studien die meisten aus »seiner Fabrik« stammten, wie er sich ausdrückte.

»Wer hat denn meine Meisterwerke hierher übersiedelt?« fragte er angenehm überrascht.

Mary errötete. »Ich dachte, es würde dir Vergnügen machen, ein paar alte Bekannte wiederzusehen,« sagte sie.

»Also auf deine Veranlassung sind die Bilder hierhergeschickt worden?« fragte Jack gerührt.

»Was ist da weiter dabei,« murmelte Mary.

»Was da weiter dabei ist – was da weiter dabei ist? ... daß du ein Schatz bist, Molly.« Dabei legte er ihr herzlich beide Hände auf die Schultern, und sie plötzlich an sich ziehend, küßte er sie auf die Stirn.

Sie zuckte zusammen und verließ das Zimmer.

Erst wollte er sie zurückhalten, dann tat er's nicht, blieb wie festgenagelt stehen und blickte auf den Boden. Zum erstenmal seit seiner Krankheit fühlte er ein Bedürfnis, zu rauchen. Wie viele Männer, hatte er so eine Art Empfindung, als ob das Rauchen ihn beim Nachdenken unterstütze, und sobald ihn ein irgendwie verwickeltes Problem beschäftigte, griff er nach seiner Zigarette. Er lachte über sich – in diesem Hause würden wohl kaum Zigaretten oder Zigarren zu finden sein. Bereits im Begriff, den Saal zu verlassen, fiel sein Auge auf ein kleines Rauchtischchen. Das war ja wieder ein guter Bekannter aus Paris – sein Rauchtischchen. Da stand der japanische Leuchter, eine rote Wachskerze war hineingesteckt, aus dem weit aufgerissenen Maule eines bronzenen Frosches ragte ein Wald von Zündhölzern, und aus einem niedrigen korbartigen Behältnis starrten Jack die begehrten Zigaretten entgegen, dieselben russischen Zigaretten, wie er sie liebte. Er nahm eine davon, zündete sie an, legte sie wieder weg; dann nahm er eine zweite, rauchte sie zerstreut zu Ende, dann noch eine und noch eine.

»Sonderbar!« murmelte er vor sich hin, »sonderbar!«

Beim Lunch zeigte sich Mary nicht. Sie war ausgegangen, um eine kranke Freundin zu besuchen, teilte Mrs. Winter ihrem Neffen mit, als dieser sich nach dem jungen Mädchen erkundigte.

Mrs. Winter schien sehr versonnen.

Nach dem Lunch verfügte er sich in das improvisierte Atelier und schmierte an irgend etwas herum. Aber er war doch viel zu sehr Künstler, trotz seiner kurzen Lehrlingschaft, um ein Interesse daran zu finden, längere Zeit hindurch so aus dem Stegreif auf der Leinwand herumzuphantasieren. Diese Beschäftigung langweilte ihn, seine Gedanken und seine Blicke glitten von der Skizze ab. Eine große grünliche Studie, die den besten Platz an der Wand einnahm, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er erkannte die Studie, die er im Park Monceau gemalt. Zugleich erinnerte er sich einer Schuld, deren er im totalen Zusammenbruch seiner Geschäfte gänzlich vergessen – der Schuld an seinen amerikanischen Kunsthändler. Wirklich seltsam, daß derselbe noch keine dringende Mahnung hatte vernehmen lassen.

Jack wurde plötzlich sehr unruhig. Hastig spachtelte er seine Palette ab, rückte die von ihm verursachte Unordnung zurecht, dann verfügte er sich in das Wohnzimmer.

Mrs. Winter saß neben dem Kamin, ein Buch, das sie nicht las, im Schoß. Neben ihr brodelte die Teemaschine.

»Aber Tante, der Kessel kocht über!« rief Jack ihr zu.

Sie sah verwirrt zu ihm auf; offenbar mußten ihre Gedanken einen sehr weiten Weg nehmen, ehe sie wieder zur Teemaschine zurückkehrten.

»Soll ich den Tee machen?« fragte einschmeichelnd Jack.

»Wie du willst,« erwiderte Mrs. Winter, ohne die weiche Betonung, welche er von ihr gewohnt war.

Er machte den Tee. Wie viele Junggesellen, war er ein Künstler in der Teebereitung. »Nun, Tante?« sagte er, indem er ihr eine Tasse einschenkte, wobei er sich nach allen ihren kleinen Liebhabereien richtete: so viele Stücke Zucker, so viele Tropfen Sahne. Aber sie antwortete auf diese Liebenswürdigkeiten nichts als: »Stell' die Tasse nur hin und schenk' dir selber ein, wenn du Lust hat.«

Jack hatte keine Lust. Er war eine derartige Behandlung nicht gewohnt, er nahm sie übel. Er wartete noch ein Weilchen, ob die Tante das Wort an ihn richten werde. Da sie es nicht tat, erhob er sich, um das Zimmer zu verlassen. Ehe er die Tür erreicht, rief Mrs. Winter ihn zurück. »Warum willst du keinen Tee, Jack?« fragte sie.

»Warum läßt du den deinen stehen?« fragte er zurück.

»Ich habe Sorgen, Jack, schwere Sorgen!«

Er kehrte um, kauerte sich auf einen Puff zu ihren Füßen zusammen, und ihre runzeligen alten Hände in die seinen nehmend, sagte er: »Willst du mir nicht beichten, was dich drückt?« »Nein,« erwiderte sie kurz.

Und da er, empfindlich über ihren Ton, fragte: »Hast du etwas gegen mich, Tante?« erwiderte sie ihm: »Nein, nein, Jack, ich habe nichts gegen dich. Aber mich selbst ärgere ich mich. Ich war ein wenig kurzsichtig – töricht.«

»Inwiefern?« fragte Jack, dem eine unheimliche Ahnung aufzudämmern begann, leise.

»Ach, du brauchst nicht alles zu wissen!« entgegnete sie ihm wieder in dem unwirschen Ton, den er an ihr noch nie gekannt.

Seine Ahnung bestätigte sich. Zugleich hatte er aufgehört, ihr verändertes Wesen übelzunehmen. Er hatte den Grund ihrer Sorgen erraten.

»Hast du die Absicht, deine weitere künstlerische Ausbildung in London fortzusetzen oder in Paris?« fragte Mrs. Winter nach einem Weilchen ziemlich abrupt.

»In Paris, Tante, natürlich,« erwiderte Jack, »darüber kann doch kein Zweifel sein. Erstens wäre es mir unangenehm, mich in London einschränken zu müssen ...« Er stockte, er hatte einen wunden Punkt berührt; vom Einschränken zu sprechen, kam ihm fast vor wie ein Schmälern der rührenden Großmut, die seine Tante ihm bewiesen. Hastig fuhr er fort: »Einschränken werde ich mich natürlich, soviel ich kann; du begreifst, Tante, daß ich dich nicht gern einen Pfennig mehr kosten möchte als nötig.«

»Ja, ja, ja!« entgegnete ihm seine Tante, »aber solang ich lebe, ist die Knauserei vom Übel. Wenn du mit deinen vierhundert Pfund nicht auskommst, ist's auch nicht das Ende von allem. Freilich ist's besser, du gewöhnst dir beizeiten eine bescheidene Lebensweise an, denn, wie gesagt, nach meinem Tod...«

»Aber rede doch nicht von so widerwärtigen Dingen!« unterbrach sie Jack. »Ich hoffe, daß ich lange vor deinem Ableben imstande sein werde, auf deine Großmut zu verzichten. Schließlich sollte meine Kunst doch bald ertragsfähig sein.«

»Wir wollen's hoffen!« Die alte Frau griff endlich nach ihrem Tee.

»Hm! ... hm! ...!« Sie räusperte sich ein paarmal. Dann sagte sie: »Nun, Jack, wann hast du die Absicht, dich ernstlich an die Arbeit zu machen, dich nach Paris zu begeben?«

Das Blut schlug Jack ins Gesicht. »Morgen!« rief er, indem er sofort aufspringen wollte.

Die alte Frau hielt ihn bei beiden Schultern fest.

»Unsinn! Sei doch nicht so jähzornig, so übelnehmerisch. Hast gar keine Veranlassung dazu! Du weißt, wie sehr ich dir zugetan bin! Du wirst mir schrecklich abgehen. So über Hals und Kopf brauchst du wahrlich nicht fortzusausen, aber gar zu lange noch hier weitertrödeln sollst du auch nicht. Es ist nichts für dich, so deine Tage am Ufer des Lebens zwischen zwei weltfremden Frauenzimmern zu versitzen, während der breite Strom vorüberfließt. Weißt du, wie ich dir gepredigt habe damals im Herbst? Damals steckte die Krankheit in dir, das hat mir später deinen apathischen Zustand erklärt. Jetzt aber hast du dieses abscheuliche Siechtum überstanden – ich habe dir Zeit genug gegönnt zu deiner Genesung. Jetzt rüttel dich auf, je eher desto besser! Spring in den Strom des Lebens hinein und schau, wie weit er dich vorwärtsträgt!«

Nach einem Weilchen sagte Jack aus tiefem Sinnen heraus: »Du hast recht, Tante, ich gehe; noch diese Woche schnür' ich mein Ränzel!« dann nach einer Pause fragte er: »Sind keine Briefe eingelaufen während meiner Krankheit?«

»Ja, Geschäftsbriefe. Mary hat sie in Verwahrung, sie wird sie dir geben, wir haben sie dir vorenthalten, um dich nicht aufzuregen.«

»Weil ihr wußtet, daß sie nichts Angenehmes enthielten,« meinte Jack lachend und bitter zugleich. »Rechnungen, nur Rechnungen!«

Nach einer Weile hub er von neuem an: »Hat mein Pariser Wirt nicht gemahnt? Ich bin ihm für das letzte halbe Jahr den Zins schuldig. Es versteht sich von selbst, daß ich dieses luxuriöse Atelier loszuwerden trachten muß. Leider bin ich für drei Jahre kontraktlich gebunden.«

Mrs. Winter griff nach dem Schürhaken und begann in der Feuerstätte herumzurumoren.

»Ja, darüber haben wir bereits gesprochen,« sagte sie, »aber da ist leicht abgeholfen – Mary will das Atelier mieten, sie sagt, es käme ihr wie gerufen! Ich glaube sogar, sie war bereits mit deinem Wirt diesbezüglich in Korrespondenz »So!« sagte Jack gedehnt – »hm! – und hat mein amerikanischer Kunsthändler nichts von sich vernehmen lassen?«

»Dein Kunsthändler?« bemerkte die Tante. »Bist du dem etwas schuldig?«

»Zehntausend Franken,« murmelte Jack.

»Der muß das wohl vergessen haben,« meinte die Tante; dann, nachdenklich, setzte sie hinzu: »Übrigens hat sich während deiner Krankheit ein Amerikaner hier gemeldet, ich erinnere mich, ich fand seine Karte hier, als ich von dir herunterkam. Es war gerade um die Zeit, wo dir's am schlimmsten ging. Ich hatte den guten Mann wie den Tod vergessen. Mary hat ihn empfangen.«

»So!... Mary!« wiederholte Jack, »Mary! Wie es scheint, hat Mary alle Unebenheiten in meinen Geschäften niedergehobelt,« murmelte er, und dann fügte er hinzu: »Es ist ein prächtiges Mädchen, wenn ich ... wenn ich mich ihr nur dankbar erweisen könnte!«

Eine unbeholfene Pause folgte. Mrs. Winter nahm ihre Brille ab und putzte an den Gläsern derselben herum. Jack räusperte sich, fing drei- oder viermal an zu sprechen und brachte keinen Satz zustande.

Mrs. Winter schien die Situation unbehaglich zu finden. Nach einer kurzen Weile erhob sie sich und verließ mit den Worten: »Ich kann meine Zeit nicht so vertrödeln neben dir – ich ... ich muß Briefe schreiben,« das Zimmer. Jack blieb allein. Erst zerstöberte er mit dem Schürhaken das Feuer, dann fing er an auf und ab zu gehen, endlich setzte er sich ans Klavier und begann die Melodie von »Auld Robin Grey« mit einem Finger auf den Tasten zu suchen. Ein Geruch von Kampfer, ein Hauch scharfer Winterluft schlug plötzlich an seine Wangen angenehm kühl. Er sah sich um – in der Tür stand Mary im Hut und Sealskinpelz. Sie hatte den frischen Lufthauch von der Straße mitgebracht.

»Wie geht's, Mary? Wie spät du kommst, endlich, endlich!« rief er hastig, verlegen, übermäßig herzlich. Er hatte die Zügel verloren und suchte sie.

»Die Mutter nicht hier?« fragte Mary, etwas weiter vortretend.

»Nein,« erwiderte Jack, »den Augenblick ist sie gegangen – Briefe schreiben.«

»Ich will nach ihr sehen,« meinte Mary.

Ehe Jack schlüssig wurde darüber, ob er sie zurückhalten solle oder nicht, hatte sie selbst ihre Absicht geändert, und an den Kamin herantretend, sagte sie: »Vorerst möchte ich aber eine Tasse Tee trinken!«

»Der Tee ist kalt, ich will dir frischen machen,« entgegnete Jack.

»Kannst du das wirklich?« fragte fast mutwillig Mary.

»O, und wie!« erklärte er ihr. Er war froh, sich etwas zu tun zu machen, er fühlte es, daß die entscheidende Stunde in seinem Leben nahte. Man hat immer den Wunsch, dieselbe hinauszuschieben. Der Tee war fertig, Jack hatte ihn seiner Kusine kredenzt. Sie machte ihm scherzhafte Komplimente über die Vortrefflichkeit seines Gebräues. Jack hörte nicht. Er wußte, daß er ihr etwas Dankbares sagen müsse über die große Güte und Vorsorglichkeit, welche sie ihm gegenüber bewiesen. Endlich hub er an: »Mary, weißt du, daß du mich – ach, wie soll ich's dir sagen – ich meine – daß ich – daß ich mich ein wenig beschämt fühle – tief beschämt! – Wie soll ich denn meine Schulden gegen dich je abtragen?«

Mary setzte ihre Teetasse nieder. Sie wurde sehr rot – sie sah hübsch aus, und die jetzt langsam hereinbrechende Dämmerung trug das ihrige dazu bei, sie zu verschönern. »Ich weiß gar nicht, wovon du reden willst,« versicherte sie.

»Ach, Mary!« Er rückte etwas näher an sie heran und nahm ihre Hand in die seine. »Deine Mutter hat mir mitgeteilt –«

»Meine Mutter hatte sehr unrecht, dir irgend etwas mitzuteilen!« rief Mary lebhafter als ihr Brauch.

»Nun, es war doch natürlich, daß ich mich nach dem Briefeinlauf während meiner Krankheit erkundigte – und danach, wer wohl die Zudringlichkeit der paar Gläubiger, die zu befriedigen meine Mittel bei dem Zusammenbruch meiner Verhältnisse nicht genügten, beschwichtigt haben mag!« bemerkte Jack.

Mary wurde noch röter. Sie wendete den Kopf ab. Mehr als eine Minute verrann, ehe sie ihr Gesicht dem Vetter von neuem zukehrte. »Laß uns diese dummen Sachen abmachen und damit zu Ende kommen ein für allemal!« erklärte sie. »Du weißt, wie ungerecht das Testament meines Vaters war! Es spricht für unsere Gesetzgebung, daß es Gültigkeit hatte in England! Er hat uns beiden Mädchen darin das ganze Geld meiner Stiefmutter vermacht. Ich habe mich nie als Eigentümerin dieses Geldes betrachtet – und, wenn ich ... dich jetzt aus gewissen Verlegenheiten befreit habe, so geschah's einfach mit den Mitteln meiner Stiefmutter, die ich verwalte – und für die sie selber keine Verwendung gewußt hätte, die ihr lieber gewesen wäre.«

Jack staunte über die zartfühlende Art, in welcher Mary die linkische Situation zurechtrückte. So etwas hatte er ihrer steifen Sprödigkeit gar nicht zugetraut. Er ahnte nicht, wie hoch die Liebe das trockenste Frauenzimmer momentan zum wenigsten über dessen gewöhnliches Gefühlsniveau emporzuheben vermag. Vielleicht war er sich überhaupt noch nicht klar geworden darüber, daß Mary in ihn verliebt sei – er hatte zum wenigsten sein möglichstes getan, sich darüber nicht klar zu werden.

Mit der Unvorsichtigkeit, zu welcher die Rührung jeden wirklich ritterlichen Mann einem Mädchen gegenüber verleitet, dem er zu tiefem Danke verpflichtet ist, rief Jack: »Mary! Gott gebe mir die Möglichkeit, meine brutale, materielle Schuld an dich abzutragen! Das, was du für mich getan hast, wird mir vielleicht gelingen, auszugleichen – aber das Wie – das – das kann ich dir nicht vergelten

– wenn du mir nicht erlaubst, dir mein ganzes Leben zu weihen!«

Er stockte plötzlich, als ob er vor seinen eigenen Worten erschrocken wäre, und hastig fügte er hinzu: »Davon kann natürlich unter meinen jetzigen Verhältnissen nicht die Rede sein.« Wieder blieb er stecken – er fühlte, wie lahm sein Rückzug gewesen war. Sein Atem war gehemmt. Er hätte Lust gehabt, davonzulaufen, und wußte doch, daß ihm jetzt nichts übrigblieb als standzuhalten, ihre Entscheidung abzuwarten. Ein Moment panischer Angst – der tröstliche Gedanke, sie wird doch nicht – sie kann meine Hand nicht annehmen als Abschlagszahlung für meine Verpflichtung gegen sie. Dann kam die alte, zu Boden ziehende Müdigkeit, Gleichgültigkeit – ein Gefühl von: Was liegt daran – so oder so, die Jugend ist tot, das Leben liegt hinter mir. Da hob Mary ihren gesenkten Kopf und reichte ihm mit verklärtem Blick beide Hände: »Und warum sollte davon nicht die Rede sein können?« fragte sie, »sollen meine paar Heller uns verhindern, glücklich zu sein? Ich schenke sie dir alle, damit du sie mir von heute ab nicht mehr vorwerfen kannst.«

Da tat er, was er unter den Umständen nicht unterlassen konnte, er nahm sie in die Arme und küßte sie. Aber selbst in diesem Moment gerührter Begeisterung fühlte er, wie hart und unschmiegsam ihr Körper war.

Die Tür öffnete sich – Mrs. Winter trat ein. Ein halblauter Schreckensschrei entfuhr ihren Lippen – es war zu spät.

 

Mitte April war die Hochzeit, eine sehr einfache Hochzeit, wie sowohl Braut als Bräutigam es gewünscht, in der kleinen protestantischen Kirche, in welcher Jack so viele Sonntagsstunden hindurch verträumt.

Mary war während der Zeremonie stark bewegt, er fühlte sich etwas schläfrig, im übrigen froh, daß sie endlich vorüber war. Er trug aus der Kirche die Überzeugung mit sich fort, daß er nun ein gesetzter Mann sei, dem es fürder im Leben erspart bleiben würde, Dummheiten zu machen. Er verspürte gar keine Lust mehr dazu. Alles war still in ihm. Mit phlegmatischerer Gleichgültigkeit war noch nie ein Bräutigam an der Seite seiner jungen Frau zur Kirche hinausgeschritten. Sein Blut rollte ihm eher langsamer in den Adern als gewöhnlich. Dabei war er von den edelsten Gefühlen und besten Absichten erfüllt. Er nahm sich vor, Mary recht glücklich zu machen, was ihm, wie er sich selber sagte, nicht schwerfallen könne, da er ja doch nichts mehr vom Leben verlangte.

Kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, so fiel es ihm ein, wie ungeheuerlich seine Schlußfolgerung eigentlich war. Ein warmes Mitleid für das junge Geschöpf, das sich mit ihm verbunden hatte, überwältigte ihn. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sein Atem kam langsamer. Warum mußte es ihm gerade jetzt einfallen, wie ganz anders ihm an seinem Hochzeitstage zumute gewesen wäre, wenn er anstatt Mary ...

Ihm schwindelte. Um seine Gedankensünde abzubüßen, langte er nach Marys Hand und zog sie an seine Lippen.

Nach Hause zurückgekehrt, in dem hübschen Wohnzimmer, das auf den Garten hinaussah, wurde die Rührszene abgespielt, die nach jeder Hochzeit abgespielt werden muß – alle Familienmitglieder küßten sich untereinander. Jack kam sich nicht recht zum Bewußtsein, ob er Mary oder Sarah küßte – aus Zerstreutheit küßte er sogar seinen Schwager, den musikalischen Zimmerdekorateur, was, da es in England gegen die Landessitte verstößt, daß Männer sich untereinander küssen, einiges Aufsehen erregte. Mary, die sich in gehobener Stimmung befand, lachte dazu, und Jack wurde verlegen. Den einzigen, wirklich herzlichen Kuß gab Jack an jenem denkwürdigen Vormittag seiner Tante Jane, welche sehr erregt von den allgemeinen Familienumarmungen etwas abseits stand, kerzengerade in ihrem perlgrauen Seidenkleid, das altmodisch, aber zum Brechen schwer, mit vergilbten Honeyton-Spitzen aufgeputzt war. Sie hielt ein weißes Spitzentuch in ihren krampfhaft und feierlich ineinander verschlungenen Händen. Auf ihren Gesichtszügen mischte sich Rührung mit mühsam niedergekämpfter Unruhe.

Nach dem Frühstück sollte das junge Paar abreisen – nach Folkstone, von Folkstone nach Ostende, von dort über Brüssel quer durch Deutschland nach Italien. Das war die von Mary nach den besten Mustern geplante Hochzeitsreise. Jack hatte sich ruhig in alle Vorschläge seiner Braut gefügt.

Man mußte auf das Frühstück warten – eine volle Stunde mußte man darauf warten. Jack wußte ebensowenig als die anderen Anwesenden, was er mit seiner Zeit anfangen solle. Ein paar glückwünschende Telegramme liefen ein. Mary öffnete sie mit zitternden Fingern und glühenden Wangen. Sie freute sich, daß selbst fernerstehende Bekannte so aufrichtige Teilnahme an ihrem Glück zeigten.

Jack war sehr gleichgültig. Er ließ sich in weitläufige Betrachtungen ein, daß Gratulationen immer nur offizielle Kunststückchen seien – das Herz sei nie mit dabei. Kondolenzbriefe hingegen seien zum größten Teil aufrichtig. Die edleren Triebe des menschlichen Gemüts seien nun einmal nicht so weit ausgebildet, sich an der Freude des Nächsten aufrichtig zu erfreuen – die Teilnahme an den Schicksalen des Nächsten träte eigentlich erst dort aufrichtig zutage, wo der Neid nicht zu Worte kommen könne – das Mitleid sei die einzige wirklich echte Form von Teilnahme, besonders weil es gewöhnlich mit der Schadenfreude Hand in Hand ginge.

Mitten in diese unerquickliche Spaßhaftigkeit hinein fiel eine Drahtgratulation Sir Bryans und Lady Klara Ferrars' aus Italien. Das Telegramm war sehr lang, es enthielt Phrasen von für kühle englische Verhältnisse geradezu überschwenglicher Herzlichkeit und schloß mit den Worten: »Wir hoffen, dem jungen Paar auf seiner Hochzeitsreise in Italien zu begegnen.«

»Da hast du's, Jack! Nun sage mir, ob es nicht edle Menschen gibt, die sich von Herzen mit an unserem Glücke freuen!« rief triumphierend Mary.

Jack schwieg. Diese verwandtschaftliche Demonstration behagte ihm wenig. Aus jedem Wort tönte es ihm entgegen: Wie sehr frohlockt mein Bruder darüber, der weiteren Verantwortung für meine Existenz ledig zu sein! Wie er sich freut, daß er keine Angst mehr zu haben braucht, meine Schulden zahlen oder vor meiner Schäbigkeit erröten zu müssen. Zugleich sah er es zum erstenmal klar vor sich, welchen Eindruck seine Heirat nicht nur auf seine nächsten Anverwandten, sondern auf die Welt im allgemeinen machen mußte. Er hatte sich rangiert und sich versorgt.

Das Blut stieg ihm unter die Augen, ein großer Zorn schnürte ihm die Kehle zu, Zorn gegen alle, welche sich erlauben würden, den von ihm getanen Schritt von diesem Standpunkt aus aufzufassen. Er selber, das konnte er beschwören, hatte, als er um Mary gefreit, nicht einen Augenblick an eine Verbesserung seiner Verhältnisse gedacht. Er hatte – ja, was hatte er denn eigentlich? Er hatte gar nichts Bestimmtes gewollt. Es war eben alles so gekommen.

Das Frühstück erschien immer noch nicht. Das Telegramm Sir Bryans wanderte aus den vor Wonne zitternden Händen Marys in die ihrer Schwester.

»Das ist schön!« murmelte Sarah, »wirklich verwandtschaftlich – hm! Und haben sie dir auch ein ordentliches Hochzeitsgeschenk geschickt, Mary?«

»O ja, einen sehr hübschen Smaragdschmuck!«

»Ah, so! Zeig ihn mir!« drang die Mäßigkeitsprophetin in ihre Schwester.

Mary ging den Schmuck holen. Als sie ihn brachte, versank Sarah in eine Art Andacht beim Anblick der auf weißem Sammetkissen ruhenden grünen Steine.

Der Schmuck war wirklich schön. Aus Freude über die Auslagen, welche ihm durch die Heirat seines Bruders erspart wurden, hatte es sich Sir Bryan zur Pflicht angerechnet, gegen die Braut seines Bruders großmütig zu sein.

Nach eingehender Betrachtung und Prüfung des Geschmeides bemerkte Sarah: »Ich nehme an, du wirst dies tragen, wenn du zu Hofe gehst.«

»Ich habe bisher noch nicht daran gedacht, zu Hof zu gehen,« meinte Mary mit einem Blick auf Jack, der abgespannt in einem Sessel lehnte.

»Aber Lady Klara wird dich gewiß vorstellen,« sagte Sarah, immer noch die Steine in den Händen, und seufzte.

»Meinst du, Jack?« fragte Mary, indem sie an ihren Mann herantrat und ihm die Wangen streichelte.

»Ah, natürlich, wenn dir darum zu tun ist,« erwiderte Jack.

»Du tätest mir unrecht, Jack, wenn du annehmen wolltest, ich strebe nach dem Hof – aus – aus Ehrgeiz,« beeilte sich Mary, ihm zu versichern. »Ich möchte natürlich so gut als möglich die Stellung ausfüllen, die mir als deiner Frau ziemt, aber nur deinethalben – was mich anbelangt, so finde ich den Himmel überall neben dir, Jackie. In irgendeinem weltvergessenen Cottage in Devonshire – dort ist die Gegend so schön –, oder in einem hübschen Haus in Parklane – mir gilt es gleich. Was schlägst du vor, das Land oder London?«

»Ich weiß nicht, bin darüber noch nicht schlüssig geworden; vorläufig wollen wir ja reisen,« meinte Jack.

»Aber man muß doch einen Plan entwerfen,« meinte Sarah sentenziös, indem sie endlich das Etui mit den Smaragden schloß. »Es ist zweierlei zu bedenken: den Versuchungen des Teufels bist du in der großen Welt stärker ausgesetzt als anderswo – ich meine damit den Versuchungen der Genußsucht und Eitelkeit. Hast du Angst, zu unterliegen, dann meide die Welt. Fühlst du dich aber stark genug, den Anfechtungen zu widerstehen, so suche die Welt auf. Es ist deine Pflicht. Suche sie, um den durch ihren Glanz Verblendeten das Licht der ewigen Wahrheit zuzuführen. Kein größeres Verdienst ist es, den Hottentotten oder dem Proletariat des Eastendes von London religiöse Begriffe beizubringen, als die wohlerzogenen Barbaren, in deren Kreisen du dich bewegen wirst, dem Ernst des Lebens und – des Sterbens entgegenzuführen!«

Sarah hatte mit erhobener Stimme und die Augen zum Himmel erhebend gesprochen; unwillkürlich war sie in den Ton und die Haltung verfallen, welche sie anzunehmen pflegte, um bei ihren öffentlichen Vorlesungen auf die Menge Eindruck zu machen.

Bray faltete die Hände vor Bewunderung und murmelte: »Gut gesagt, wirklich sehr gut gesagt!«

Sarah war im Zuge. »Geh in die Welt als Missionarin, um das alte Evangelium in neuer Form zu predigen, um die großen Ideen der Mäßigung, von welchen allein wir die Negenemtion der Welt erhoffen können, zu verbreiten.«

»Eine sehr schöne Redewendung!« murmelte Bray.

Sarah fuhr fort, von einem eingebildeten Podium aus zu predigen: »Ja, die große Idee der Mäßigung wird die Welt regenerieren, die Menschheit sozusagen ein zweites Mal aus der Taufe heben! Ich spreche von keiner einengenden Askese, einfach von der Mäßigung spreche ich! Die Askese ist eine sterilisierende Unnatürlichkeit, die Mäßigung ist von der Natur gegeben und fruchtbar! Die Wurzeln moderner Übelstände – glaubt es mir – sind der Alkoholismus und die Eitelkeit!« Sie machte eine Kunstpause und sah sich im Kreise um.

»Herrlich! Der Geist deiner Mission schwebt mächtig über dir!« rief Bray. »Ja, ja! Ich fühle es!« versicherte Sarah; dann sich nach Mary umwendend: »Wenn du bei Hofe vorgestellt bist, mußt du trachten, es einzurichten, daß ich einmal eine Vorlesung vor der Königin halten darf.«

Jack verbiß eine fürchterliche Grimasse; Mary streichelte ihm den Kopf.

»Was hast du, Jack?« fragte sie. »Du siehst so bleich aus – ich fürchte fast, du hast einen Rückfall.« Sie blickte besorgt zu ihm nieder.

»Ja,« murmelte er knirschend durch die festgeschlossenen Zähne, »ich glaube fast, ich habe einen Rückfall.«

»Ach, macht euch nicht gleich so schwarze Gedanken!« bemerkte Sarah weise. »Es ist vielleicht nur ein wenig Frühlingsfieber, das regt sich jetzt in der ganzen Natur, selbst in dem toten Holz – da hört ihr's, wie's in den Möbeln kracht! Die Nacht konnte ich kaum schlafen, mir war's, als gingen Pistolenschüsse los um mich herum.«

Jack senkte den Kopf, er faltete die Hände fest ineinander und schloß sie krampfhaft auf und zu. Frühlingsfieber! Frühlingsfieber! Das Wort traf ihn wie ein Schlag. »Frühstücken wir noch immer nicht?« wandte er sich in gereiztem Ton an seine junge Frau.

 

Vierundzwanzig Stunden waren vorüber, und noch einmal vierundzwanzig Stunden – eine ganze Woche war verstrichen, seit Jack Ferrars Mary Winter den Ehering an den Finger gesteckt.

Er hatte sich ehrlich bemüht, sich in seine Pflicht hineinzugewöhnen. Nicht ohne Vergnügen hatte er es an sich wahrgenommen, daß die momentane Aufregung, in die ihn seine Hochzeit versetzt, sehr bald von neuem jener dumpfen Gleichgültigkeit und Stumpfheit Platz gemacht hatte, die ihn – zu der Hochzeit geführt. Er ging auf alle Vorschläge seiner jungen Frau ein, kümmerte sich um ihre Bequemlichkeit, wie es Männer seiner Kategorie jeder Frau gegenüber gewohnt sind, mit der sie reisen, sorgte für ihre Unterhaltung, besuchte mit ihr bei Tage die Kunstsammlungen der Städte, in welchen sie sich aufhielten, und des Abends das Theater. Er duldete ihre Zärtlichkeiten, ja, trachtete dieselben zu erwidern. Er ließ sich mit ihr in den Läden herumschleppen und trug geduldig kleine Päckchen für sie nach Hause.

Und so zogen sie von Stadt zu Stadt in den Süden hinein. Und Mary schrieb entzückte Briefe von allen Herrlichkeiten, die sie mit Jack besehen, und erzählte ihrer Stiefmutter des langen und breiten von ihrer Flitterwochenseligkeit. Nur sei Jack noch immer leidend, setzte sie gegen Ende des Briefes hinzu, er sähe matt und blaß aus, habe auch keinen rechten Appetit, doch hoffe sie, das würde sich alles geben, sobald er einmal den Süden erreicht habe.

Sie hoffte so viel vom Süden! Dort würde er sicherlich gesund werden; sie wollten so hintrödeln von einem schönen Ort zum anderen, und wenn es einmal zu heiß geworden sein würde, sich an einen besonders malerischen Seestrand flüchten. Denn früher – das habe sie sich fest vorgenommen – wolle sie nicht nach Hause zurückkehren, ehe Jack nicht seine volle Gesundheit wiedererlangt habe.

Mrs. Winter las die Briefe nicht ohne Mißbehagen. Die andauernde Gedrücktheit des jungen Ehemannes bestätigte alle ihre Befürchtungen.

Indessen reisten die beiden weiter, immer weiter, tiefer in den Süden hinein, und nach und nach übte der beständige Wechsel seiner Umgebung, die Anregung, die ihm der Besuch der verschiedentlichen Kunstsammlungen, die Beobachtung der kleinen Schattierungen, welche in dieser nivellierenden Zeit die Sitten des einen von den Sitten des anderen Landes unterscheiden, einen belebenden Einfluß auf Jack aus. Seine Interessen erwärmten sich, er blickte – an seiner Frau vorüber in die weite Gotteswelt, er fing an, Pläne zu machen für die Zukunft.

Da hörte er plötzlich neben sich eine dünne, hohe Frauenstimme sagen: »Einen Penny für deine Gedanken, Jackie!«

Und um sich die Mühe einer Erfindung zu ersparen, antwortete er ihr mit dem durch sein hohes Altertum bereits geheiligten Scherz: »Sie sind keinen Farthing wert, meine Gedanken – denn ich dachte an dich!«

Sie war mit der Antwort zufrieden, umhalste und küßte ihn – und das Leben ging seinen Gang. Der Frühling ließ auf sich warten – anstatt wärmer wurde es kälter und kälter jeden Tag. Ringsum war die Erde braun und die Büsche waren kahl, der grüne Schimmer, der über ihnen schwebte, wollte sich nicht entfalten. Ein eiskalter Wind sauste über die Erde hin und erstickte das Leben im Keim. Quer durch Tirol waren sie gefahren in einem Wirbel von Schneeflocken, die stumm zur Erde niederfielen weiß und kalt. Die Eisenbahnen hatten an manchen Stellen Mühe gehabt, sich durch die vom Wind zusammengeballten Schneemassen einen Weg zu arbeiten. Zwischen zwei hohen, rauchgeschwärzten Schneemauern brauste der Zug dahin, dem Süden entgegen.

In ihre Pelze eingehüllt, saßen Mary und Jack jeder in einer Ecke. Von Zeit zu Zeit haschte die junge Frau nach den Händen des Mannes, oder trachtete durch irgendeine zärtliche Grimasse seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er beantwortete diese liebenswürdigen Veranstaltungen durch ein mechanisches Lippenverziehen, das er sich im Laufe der Flitterwochen angeeignet. Er fragte sie, ob es ihr unangenehm sei, wenn er das Fenster offen halte. Sie schüttelte lachend den Kopf. Wenn sie ihm gegenübersitze, fühle sie's immer, als scheine ihr die Sonne ins Gesicht, gab sie ihm zur Antwort.

Die Luft blies ihm entgegen, kalt und scharf – erstarrende Winterluft. Vom heiligen Land Tirol sah er nichts, sah überhaupt nichts als zwei rauchgeschwärzte Schneewände, zwischen denen der Zug weiterbrauste. Bis in die Dunkelheit hinein starrte er die eintönigen Schneemassen an und schlürfte die eisige Luft. Erst als er Mary hüsteln hörte, merkte er, daß es Zeit sei, das Fenster zu schließen.

Dann richtete er Mary ein Lager zurecht, küßte sie, klopfte sie auf die Schulter, glättete das seidene Polster unter ihrer Wange, kurz, benahm sich genau so, wie es von einem musterhaften jungen Ehemann zu erwarten stand, – worauf er sich neuerdings in seine Ecke zurücklehnte und sich wie gewöhnlich bemühte – an nichts zu denken. Das ging nur nicht so leicht, als man hätte annehmen können. Die Gedanken meldeten sich, ob er wollte oder nicht, und er begann sich seine zukünftige Existenz zurechtzulegen.

Natürlich wollte er sich in Paris festsetzen, der Boden dort war fruchtbar für einen Künstler. Was die Wohnung anbelangte, so wollte er sich in bezug auf Lage und Raumverhältnisse, Einrichtung und so weiter ganz Marys Wünschen fügen – nur auf eins wollte er fest bestehen: auf ein von der Wohnung gänzlich abgetrenntes Atelier. Er sagte jetzt nichts über diesen Punkt, denn, als er einmal erwähnt, daß er es für besser halte, die Werkstatt und das Nest zu trennen, war Mary aufgefahren und hatte ausgerufen: »Ah, Jackie! Mein Schatz! Wie gräßlich – ich würde es ja gar nicht aushalten, wenn ich nicht täglich jede Stunde zehnmal zu dir hineinstürzen könnte, dir um den Hals zu fallen!«

»Das wäre sehr reizend,« erwiderte Jack, »aber für meine Arbeit wäre es nicht fördernd. Um ein tüchtiger Künstler zu werden, muß man, solange man sich seiner Berufstätigkeit widmet, alle, auch die angenehmsten Zerstreuungen von sich fernhalten und seine ganzen Denk- und Empfindungsfähigkeiten auf seine Arbeit konzentrieren.«

»Aber was brauchst du ein tüchtiger Künstler zu werden, solange du nur ein glücklicher Mensch bist,« hatte ihm Mary schmollend entgegnet und dabei ihm beide Arme um den Hals gelegt und ihn abgeküßt. Er war erschrocken vor der Vehemenz ihrer Liebkosungen. Als er sich mit ihr verbunden, hatte er geglaubt, eine ruhige, vernünftige Lebensgefährtin an seine Seite zu fesseln, die, selbst nicht zu zärtlichen Überschwenglichkeiten geneigt, auch von ihm keine erwarten würde. Er hatte seine Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Die kleine Unterredung trat ihm jetzt ins Gedächtnis. Ihm schwindelte. Nein, so sehr er sich seiner Frau verpflichtet fühlte, in diesem Punkt konnte er sich ihr nicht fügen. Während der Arbeit mußte er ungestört bleiben. Aber wenn sie darauf besteht? Das Blut wogte in seiner Brust, stieg und fiel. Seine Hände wurden sehr kalt, und dabei brannte es ihm in den Fingerspitzen. Mein Gott! Was war denn das wieder, woher kam dieser Anfall von Verzweiflung? Er hatte ja bereits begonnen, sich an seine Frau zu gewöhnen – und heute ... Er seufzte. Solang sie seine Braut gewesen, solang ihn ihre Zurückhaltung ihm gegenüber gerührt, war alles gut – jetzt – jetzt ...

Aber sie würde sich beruhigen – und er mußte sie schätzen lernen, sie war schätzenswert. Er begann ihre guten Eigenschaften aufzuzählen, das Inventar ihrer Vorzüge festzustellen, als sich seine Gedanken zu verwirren begannen. Er schlief ein.

Er träumte häßliches, aufgeregtes Zeug, verstümmelte Reminiszenzen längst vergessener Erlebnisse mischten sich durcheinander in seiner Seele – da plötzlich glitt durch diese dumpfen beengenden Vorstellungen ein Hauch warmen Lebens. Vor ihm tauchte die herrliche Figur der Angiolina auf, undeutlich, wie durch einen weißlichen Nebel verschleiert. Er wollte auf sie zugehen und vermochte es nicht, er war wie festgewurzelt im Boden, er konnte die Füße nicht heben.

Lange währte das so. Mit einemmal verschwand der graue Nebelschleier, welcher sie von ihm trennte. Jetzt sah er sie deutlich in ihrer herrlichen, schwermutig sehnsüchtigen Schönheit. Sie fing an, sich zu bewegen – sie streckte die Arme nach ihm aus – er hielt sie in den seinen fest. Ihre Lippen schwebten über den seinen – ohne sie zu berühren. Ihm war's, als sollte er vor Sehnsucht vergehen nach diesen Lippen, die er nicht finden konnte. Jetzt – jetzt fühlte er ihren Kuß auf seinen geschlossenen Augen brennend heiß. Ein Schwindel überkam ihn. Er wollte sie festhalten – eng an sich, und zugleich die Augen öffnen und sich satt trinken an ihrem Anblick. – Sie war verschwunden, und vor seinen Augen war alles rot, feuerrot – blutrot.

Ein Ruck – schrilles Glockengeschwirr – er wachte auf – die Sonne hatte ihm auf den Augen gebrannt. Wo war er? – Was war geschehen? Wo waren die Eisblumen, welche die Fenster verschleiert hatten? – in Tränen zerflossen, die an den Scheiben niedergleitend auf den grünbraunen Teppich des Kupees niederfielen. Und die starren Eiswände? – Jack blickte hinaus. Was war das? Der Frühling, der wundervolle, jauchzende, sonnentrunkene Frühling breitete sich vor ihm aus. Ein italienisches Dorf, ringsum weiße Blütenbäume, und im Hintergrunde graufelsige Berge grün überschimmert. Der Frühling! Der Frühling!

Jack schaute halb trunken, halb erschrocken. Das Atmen fiel ihm schwer und das Blut in seinen Adern kochte.

Die Jugend war in ihm erwacht! Da fühlte er einen Arm um seinen Hals, einen Hauch auf seinen Wangen. »Wie schön! Wie schön, Jack! Die Natur hat sich geschmückt, um unsere Liebe zu feiern.« Mary stand neben ihm. Aber zum erstenmal seit seiner Vermählung konnte er es nicht über sich gewinnen, ihre Liebkosung zu erwidern. Etwas Gräßliches schnürte ihm die Kehle zu. Er wurde sich dessen bewußt, daß er gegen seine Frau einen Widerwillen fühlte, der nicht zu überwinden war. Warum hatte er geheiratet! Anstatt den glühenden Becher der Liebe an seine Lippen zu halten, hatte er mühsam einen Schlaftrunk hinuntergeschluckt. Aber der Schlaftrunk wirkte nicht! Und plötzlich klang's durch seine Seele, der klagende Refrain der Romanze, der ihm damals durch die laue Abendluft entgegengeschwebt in Meudon, er sah die Augen der Angiolina, er atmete den Duft der Glyzinen mit dem Geruch des geschälten Holzes vermischt, deutlich, immer deutlicher hörte er's: Qu'as-tu fait – qu'as-tu fait de ta jeunesse!

 

Immer mächtiger ist der Frühling ins Land gezogen – man erinnert sich keines solchen Blütenreichtums, selbst in Italien nicht – keines, der wie dieser durch überlange Winterkälte zurückgehalten hätte, jetzt mit einemmal sich der Sonne entgegendrängt! Von einer Station zur anderen immer reicher, immer duftiger – immer schwüler! Wie wundervoll das alles ist – diese italienischen Städte mit ihrer verwitterten graubraunen Großartigkeit, um die sich die kecke Jugend der neu erblühten Rosen schlingt – die alten Paläste und Kirchen ernst und vornehm – und zu ihren Füßen die bunte malerische Schönheit. Und überall Blüten – weiße Akazienbäume, die über oben grün angeschimmelten Klostermauern hinüberragen, Rosen, die sich um schlanke Marmorsäulen schlingen, Iris und dunkelroter Mohn zwischen Gras emporragend in weltvergessenen stillen Klosterhöfen, geschnittene Blumen, die in derben Körben von Weidenrutengeflecht, von Wasser triefend, den Fremden angeboten werden, welke Blumen, die zertreten auf dem Pflaster liegen. Und alles duftet – welcher Duft, welch unvergeßlicher Duft – der Duft der italienischen Städte im Mai, ein subtiler Geruch von altem Mauerwerk, glimmender Holzkohle, Wachskerzen, Weihrauch, Moder, Rosen, Akazien und Iris – alles vermischt mit dem schwülen Frühlingsdunst, der aus dem Boden dringt, und überwölbt von einem grauen Schirokkohimmel.

Wie wunderschön das alles ist, und wie man es genießen könnte! sagt sich Jack.

Aber er genießt nichts. Mitten im Paradies geht er einher, den Kopf gesenkt, und immer mit demselben Gedanken: »Wenn's nur schon ein Ende hätte!«

Aber es wird kein Ende haben! – bald wenigstens nicht – dreißig bis vierzig Jahre kann's noch dauern – immer weiter, weiter als Galeerensträfling der Ehe wird er hinleben und die schwere Bleikugel mitschleppen bis zum Schluß!

Beständig hätte Jack Lust zu laufen, sich zu bewegen, rasch, unbändig, etwas umzustürzen – zu zerstören – und dazwischen legt er die Hand an die Stirn und fragt sich: »Bin ich verrückt – oder werde ich's erst?« und nimmt sich zusammen, nimmt sich immer wieder zusammen, trachtet seine Pflicht zu tun, und hat Mary noch kein ungeduldiges Wort gesagt, seitdem er mit ihr die Kirche verlassen, in der seine Hinrichtung stattgefunden hat.

Auf Marys besorgte Fragen, was ihm fehle, warum er so blaß, so gedrückt aussehe, antwortet er unermüdlich:

»Es ist der Schirokko.«

Und freilich der Schirokko ist es auch – der Schirokko, der Dämon des Frühlings! Armer Jack!

 

Es ist in Bologna. Vor achtundvierzig Stunden sind sie angekommen im Hotel Brun, wo Herr Frank sie in der Einfahrt empfängt, eine lange Liste, auf der die Namen aller derjenigen verzeichnet stehen, welche durch ein Telegramm sich eine Wohnstätte gesichert haben, in den Händen – die Ferrars waren auf der Liste.

Herr Frank hat ihnen verbindlich mitgeteilt, daß er ihnen ein Zimmer reserviert hat, ein prachtvolles Zimmer im ersten Stock, und ein kleines für die Kammerjungfer. Auf Jacks übellaunige Frage, weshalb nur ein Zimmer, da er doch wie immer Schlafzimmer und Salon bestellt, erwidert Herr Frank, der Andrang sei zu groß gewesen, es sei momentan leider unmöglich, vielleicht ließe sich in den nächsten Tagen eine Änderung veranstalten – vorläufig ...

Mary legt sich ins Mittel, indem sie Jack sanft mit der Hand auf den Arm klopft und flüstert:

»Was schadet das, Bester?«

Und Jack wird sich dessen bewußt, daß er im Begriff war, wegen nichts und wieder nichts eine Szene zu machen – und so bleibt es dabei.

Seit achtundvierzig Stunden wohnen sie zusammen im Hotel Brun, in einem Zimmer. Noch nie hat Jack seiner Frau so gar nicht – so nicht eine Minute lang entrinnen können, noch nie ist ihm die zärtliche Zwangsarbeit, zu welcher ihn seine Lage verpflichtet, so schwer gefallen.

Solang sie über einen Salon verfügten, hatte er sich wenigstens halbe Stunden lang von Marys Gesellschaft ausruhen, erholen können, während sie ihre Briefe schrieb – Gott sei Lob! hatte sie die Gewohnheit, sehr lange Briefe zu schreiben – und während sie sich ankleidete und frisieren ließ. Aber jetzt keinen Augenblick sein eigen.

 

Nach der Table d'hote ist's, die sie natürlich von der langen Tafel abseits, an einem kleinen, mit nur zwei Gedecken versehenen Tischchen eingenommen haben – einem Tischchen, das der aufmerksame Wirt mit einem Rosenstrauß hat zieren lassen zu Ehren des jungen Paares, dessen Neuvermähltheit ihm von der Kammerjungfer verraten worden ist. Jetzt sitzen sie unter den Kolonnaden neben dem Einfahrtstor im Hof des alten Palazzo Malvasi, aus dem das Hotel Brun entstanden ist. Die blasse Maidämmerung – nur eine Spur weißlichen Graus schwebt durch die Luft – dämpft die Farbe der beiden Fahnen über dem Einfahrtsportal und wirft einen leichten Schleier über die Anmut der kleinen japanischen Kletterrosen, der dunkelroten und grellweißen zwischen leichtem, beständig zitterndem Laubwerk, die sich an die Säulen anklammern.

Mary hat sich mit einer blaßblauen Bluse, welche sie zu einem gewöhnlichen drabfarbenen Wollrock trägt, für die Mahlzeit geschmückt – eine seidene Bluse zu einem lebensmüden, reisemüden Wollrock! Es ist der Table-d'hote-Schick aller Engländerinnen. Jack sagt sich's, während er jetzt den Blick auf Mary heftet. Sie ist eben wie alle Engländerinnen einer gewissen Kategorie, wie alle Engländerinnen aus der englischen Welt, in der man sich langweilt – der Welt der gebildeten Mittelklasse. Reinlich, gut gepflegt, gebürstet, gebildet, wohlerzogen, belesen, beschränkt, physisch und geistig ein wenig verkümmert, prüde, kühl, gegen den Bräutigam musterhaft zurückhaltend, dem Mann gegenüber zärtlich bis zur Aufdringlichkeit – ja, und bis zu welchem Grad von Aufdringlichkeit!

Jack fragt sich, ob alle Frauen so zudringlich sind, ob nicht wenigstens einige unter ihnen lieblich schüchtern die Leidenschaft des Mannes an sich herankommen lassen, dem Geliebten selbst noch in der Ehe eine gewisse Zurückhaltung beweisen, teilweise aus züchtiger Bescheidenheit, teilweise – ja, meinetwegen teilweise aus Koketterie.

Mary weiß nichts von Koketterie Jack gegenüber, aber auch nichts von Bescheidenheit.

Er ist ihr Mann, ihre Sache, sie hat ein Recht auf ihn, auf seine Liebkosungen.

Schweigend in diese Betrachtungen versunken, trinkt Jack seinen Kaffee – Mary trinkt keinen. Sie blickt ihn nur verliebt an und lächelt, was sich, dank ihrer hervorstehenden Zahnbildung, nicht sehr gut ausnimmt.

Früher hatte er diese Zahnbildung nie störend gefunden – jetzt ... Er kann Marys Mund nicht sehen, ohne sich vor einem Kuß zu fürchten. Wie oft hat er diese Zähne auf seinen Lippen gefühlt!

»Wie stumm du bist, mein Bester,« bemerkt sie nach einem Weilchen scherzend und klopft ihm auf die Hand. »Seit einer Viertelstunde sitzen wir hier, und du hast noch nicht ein Wort gesagt.«

»Es ist mir nichts besonders Gescheites eingefallen, und mit etwas Dummem hab' ich dich nicht ärgern wollen,« erwidert Jack.

»O du Tor!« ruft Mary aus, und dann nach einer kleinen Pause setzt sie hinzu: »Hast du schon an unseren weiteren Reiseplan gedacht? Wohin sollen wir von hier?«

»Nach Florenz, natürlich! Von Bologna reist man nach Florenz,« erwidert Jack.

»Ja, aber wir wollen uns nicht in Florenz aufhalten,« entgegnet ihm Mary.

»Warum denn nicht?« fragt Jack gleichgültig.

»Erstens kennen wir ja Florenz bereits beide gründlich,« erklärt Mary mit Überzeugung.

»Sprich für dich, Mary,« entgegnet Jack, »ich könnte von mir dasselbe nicht behaupten. Ich war sechs Wochen lang in Florenz, aber ich kenne es nur gerade genug, um mich zu sehnen, es wiederzusehen.«

»Sechs Wochen,« wiederholt Mary erstaunt, »da hast du wohl sehr schlechtes Wetter gehabt, oder – oder – du bist viel in Gesellschaft gegangen. Wir haben uns nur sechs Tage in Florenz aufgehalten, und ich glaube, wir haben wirklich alles gesehen.« »Was im Murray verzeichnet steht,« murmelte Jack halblaut.

»O du böser, spöttischer Schelm!« verwies ihm Mary, indem sie ihm erst schalkhaft mit dem Finger drohte, dann ihn zärtlich am Arm packte und schüttelte. »Aber abgesehen davon, ob ich Florenz gründlich kenne oder nicht, wäre es jetzt wohl auf keinen Fall zweckmäßig, sich länger da aufzuhalten. Du weißt, eine schreckliche Typhusepidemie herrscht dort, alle Fremden meiden es.«

»Um so besser, da wird man wenigstens sich nicht mit einem Zimmer begnügen müssen, wenn man zwei bestellt hat,« entfährt es Jack. Dann vor seiner Bemerkung erschreckend, setzt er hinzu: »Fürchtest du dich denn vor der Epidemie, Mary?«

»Für mich nicht,« erwidert die junge Frau, »aber ich würde mich für dich fürchten und du für mich, das weiß ich ja, du böser Mann, trotz deiner schlechten Witze.«

»Ja, freilich, freilich!« Jack plappert das vor sich hin wie auswendig gelernt. Dann merkt er's Marys Blicken an, daß sie etwas von ihm erwartet. Er küßt ihr die Hand. »Du hast ganz recht, ganz recht,« versichert er ihr hastig, »ich würde es mir nie verzeihen – wenn du – wenn – das heißt – ich meine, ich käme nicht mehr darüber hinaus – nein, nein, man soll die Gefahr nicht herausfordern – wir halten uns nicht auf in Florenz, gewiß halten wir uns nicht auf in Florenz. Willst du direkt nach Rom? Ich denke, es wäre das beste.«

»Ja, aber – momentan – nun, aufrichtig gesagt, momentan – möchte ich mich lieber nicht nach Rom begeben.«

»Warum, die Fieberzeit fängt erst im Juni an,« sagt Jack.

»Nun ja – aber – die Brays sind dort.« Mary lacht verlegen.

»Die Brays? – Wer sind die?« Jack schiebt die Brauen in die Stirn.

»Sarah und ihr Mann. Hast du vergessen, daß der ehemalige Zimmerdekorateur« – Mary wirft das Wort recht hochmütig hin – »Bray heißt?«

»Ach so, richtig! Ist er jetzt nicht mehr Zimmerdekorateur?« fragt Jack.

»Nein.«

»Nur mehr der Mann seiner Frau?«

»Ich bitte dich, das macht ihm genug zu schaffen, er ist mit Leib und Seele bei der Sache«, versichert Mary.

»Bei was?« fragt Jack, die Lippen verkrümmend, »bei Sarah?«

»Nein, bei der Sache, bei Sarahs Mission. Sie fliegen beide zusammen von einem Mäßigkeitskongreß zum anderen, er schreibt ihre Reden ins reine, besorgt ihre Korrespondenz, pflegt ihre Gesundheit und so weiter.«

»Mit einem Wort, er ist der Impresario der Mäßigkeitsmuse,« sagt Jack, »und die gastiert momentan in Rom! So, so!«

»Ja, sie hält drei Vorlesungen dort.«

»Aber, liebe Mary,« versichert Jack, »ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum uns das hindern sollte, nach Rom zu gehen. Ich möchte mit großem Vergnügen einer dieser Mäßigkeitsvorlesungen beiwohnen. Impresario Bray reicht natürlich der Muse ein Glas Kognak, ehe sie aufs Podium tritt, um sie zu stärken.«

»Jack, du bist unmöglich!« rief Mary ganz beglückt von der Scherzhaftigkeit des Gatten, »aber siehst du – ich begreife, daß es kurzweilig wäre, diesen Vorlesungen beizuwohnen, wenn man nicht gerade zur nächsten Verwandtschaft der Vorleserin gehören würde.«

»Mich geniert die Verwandtschaft nicht,« behauptet Jack kalt, durch die vornehmen Velleitäten seiner Frau gereizt.

»Mich auch nicht,« beeilt sich Mary ihm zu versichern, »aber – aber Sarah hat leider so gar keinen Takt. Sie würde sich uns anschließen – sie würde gewiß verlangen, wir sollten sie bei der Botschaft einführen. In Rom wäre ich ja recht gern ein wenig ausgegangen – nun, da begreifst du ...« »Ja, ich fange an sehr vieles zu begreifen,« murmelt Jack, und etwas herb setzt er hinzu: »Also wohin willst du?«

»Nach Perugia, Bester,« girrt Mary.

»Nach Perugia! Was lockt dich denn nach diesem malerischen Nest – die Peruginos – oder das Hotel Bruffani?«

»Perugia bietet eine merkwürdige Vereinigung von künstlerischer und landschaftlicher Schönheit,« erwidert Mary.

Und wieder murmelt Jack halblaut: »Murray!«

Es ist das erstemal, daß er seine ungeduldigen Regungen Mary gegenüber nicht zu bemeistern weiß. Aber Mary hat nichts übelgenommen – mit der merkwürdigen Geschicklichkeit blind verliebter Frauen weiß sie sich sein Benehmen immer wieder zurechtzulegen. Sie wiederholt nur ihren Ausspruch von vordem: »O du böser, spöttischer Schelm! Neck' mich doch nicht beständig mit Murray – Murray ist sehr gut. Er enthält eine Menge nützlicher Kenntnisse. Aber, um ganz aufrichtig zu sein, es ist weder wegen des Perugino, noch wegen der schönen Landschaft, daß ich wünsche, wir möchten uns in Perugia aufhalten – nein, aber wie du weißt, ist dein Bruder dort mit seiner Frau.«

»Das ist für mich ein Grund mehr, Perugia zu meiden. Bryan verscheucht mich von dort wie dich Sarah von Rom,« brummt Jack.

»Ach, Jack, sei nicht so häßlich,« flüstert Mary und faltet die Hände um seinen Arm. »Laß mich Frieden stiften zwischen euch. Daß dein Bruder nicht ganz zufrieden mit dir war, ist ja teilweise begreiflich. Aber seit unserer Verheiratung hat er keine Gelegenheit vorübergehen lassen, ohne uns einen Beweis seiner Teilnahme zu geben. Lady Klara hat mir heute einen so liebenswürdigen Brief geschrieben, sie wünscht sehr, in Perugia mit uns zusammenzutreffen.«

»Ah, von daher bläst der Wind!« knirscht Jack zwischen den Zähnen. Er kann den Namen seines Bruders nicht mehr hören. »Also daher bläst der Wind! Nein, Mary, daraus wird nichts. Ich tue dir zulieb, was ich kann, aber mich nach Perugia begeben zu einem zärtlichen Familienrendezvous, das tu ich nicht. Ich bin nicht zum Heucheln gemacht.«

»Aber Jack!« murmelt Mary kleinlaut, »du – begreifst doch, daß es mir angenehm wäre, gut mit deinen nächsten Angehörigen zu stehen. Du sagst immer, Lady Klara sei so nett.«

»Klara ist reizend, aber ich glaube nicht, daß ihr einander viel zu sagen haben werdet,« erwidert Jack.

Eine Pause – dann fragt Mary: »Bist du fertig mit deinem Kaffee?«

»Längst,« erwidert er.

»Nun, dann könnten wir ja hinaufgehen, ich möchte noch ein paar Briefe schreiben.«

Jack seufzt. Sich wieder mit Mary in dasselbe Zimmer einsperren, das bringt er momentan nicht über sich. Ein wenig muß er allein sein – und sei's auch nur eine Viertelstunde lang. »Geh nur hinauf – ich ...«

»Und was tust du?« fragt Mary.

»Ich ... ich will einen kleinen Spaziergang machen.«

»Da geh ich mit!« ruft Mary bereitwillig.

Jack ist zumute, als streue man ihm eine Handvoll Hagelkörner über den Rücken. »Wenn du willst,« murmelt er gedehnt.

Diesmal kann sich selbst Mary über seine Unlust, ihre Begleitung anzunehmen, keiner Täuschung ergeben.

»Nun, zur Last fallen mag ich dir nicht,« sagt sie gekränkt, indem sie an ihm vorbei auf die Treppe zugeht.

Von Gewissensbissen gefoltert, eilt Jack ihr nach. »Aber Mary!« ruft er, sie an der Hand festhaltend, und weiß erst nicht, wie er sich entschuldigen soll. Dann kommt ihm ein glänzender Einfall. »Mary, hast du's denn nicht erraten, weshalb ich einmal allein ausgehen möchte? Nur einmal. Nächste Woche ist dein Geburtstag – und ich habe da – etwas gesehen – das ...«

»Ach, du guter, lieber Jack!« ruft Mary entzückt.

»Nun, ein andermal verdirb mir nicht den Spaß,« entgegnet Jack fast strafend, »ich freute mich bereits so sehr auf die kleine Überraschung.«

»Lebe wohl, Teurer, lebe wohl!« ruft Mary ihm zu. Sie küßt seinen Ärmel heimlich im Vorübergehen, dann fliegt sie an ihm vorbei die Treppe hinauf. Er ist allein.

 

Einen Augenblick steht er verdutzt da, steht wie angewurzelt, den kleinen braunen Filzhut in der Hand. Er fängt an, an diesem Filzhut herumzustreichen. »Was hab' ich da alles zusammengelogen,« fragt er sich, und zu gleicher Zeit klingt ihm durchs Ohr seine eigene Stimme, wie er Mary versicherte: ich bin nicht zum Heucheln gemacht!

Nun freilich ist er nicht zum Heucheln gemacht – wenn einer nicht dazu geboren war, so ist er's, wenn einer bis dahin selbst die kleinste konventionelle Lüge schwer über die Lippen gebracht hat, so ist er's. Aber – mein Gott – zum erstenmal wird er sich dessen vollständig klar – durch seine Heirat mit Mary hat er sein Recht auf Wahrheit, das heiligste Recht, das Recht, welches die Freiheit der Seele bedingt, eingebüßt. Wie könnte er Mary die Wahrheit bekennen – ihr bekennen, daß jede seiner Liebkosungen die Frucht einer rasenden, ihm täglich schwerer fallenden Überwindung ist. Hat er das Recht, Mary einen Einblick in sein Inneres tun zu lassen? Hat er das Recht, Mary zu sagen: Ich kann dich nicht lieben? Nein, er muß sie schonen, so wie die Sachen stehen, muß er sie schonen. Es bleibt ihm nichts übrig, als Mary durch alle Mittel, die ihm zu Gebote stehen, in ihrer Täuschung zu unterstützen.

Er wird sich durchs Leben durchheucheln müssen. Ob er dann die Heuchelei so oder so übertreibt, um sich einen Augenblick des Ausruhens damit zu erkaufen, kommt schließlich nicht darauf an, sagt er sich, und dann erschrickt er vor seinen Sophismen! Nein, es ist falsch, die Selbstbeherrschung, welche er sich Mary gegenüber auferlegen muß, mit Heuchelei zu verwechseln. Diese Selbstbeherrschung, die ihm sein Pflichtgefühl abgewinnt, ist etwas anderes als die Heuchelei, mit welcher er seinem unbefugten Freiheitsdrang Vorschub leistet. Er will seine Pflicht tun. Erst stampft er energisch mit dem Fuß, dann seufzt er und zuckt die Achseln. Was nützt der gute Wille in solch einem Fall! Kein Mann in seinem Alter kann sich mit dem Leben, wie er selber es sich vorgezeichnet hat, abfinden, den Druck, den er auf sich genommen hat, aushalten, ohne mit der Zeit moralisch krumm zu werden. Die Nervenüberreizung, welche daraus erwächst, vierundzwanzig Stunden täglich neben einem Wesen hinzubringen, das uns geistig nichts bietet und physisch unsympathisch ist, ist zu groß, als daß wir nicht trachten würden, den Druck zeitweilig von uns abzuwälzen. Und da das nicht möglich ist, ohne zu lügen, ohne zu heucheln, so wird er eben lügen und heucheln, alle Tage ein wenig mehr. Er wird seine Frau mit Aufmerksamkeiten überschütten, um sie in dem Glauben an seine Liebe zu bestärken, und den Glauben wird er benutzen, um ... um ...

 

Indessen ist er aus dem Hotel herausgetreten in die laue Frühlingsdämmerung. Rings um ihn Duft – Blumenduft mit etwas fauler Ausdünstung gemischt, wie in allen größeren Städten, wenn der Tag geht und ehe er kommt; und rings um ihn Musik. Ganz Bologna vibriert von Musik. Es könnte einen entsetzlichen Mißklang geben, wenn das alles durcheinandertönte, aber nein! Während Jack so dahinschreitet und sich gegen die Wand drückt, um nicht von dem Tramway gestreift zu werden, der mit modernster Indiskretion eilig selbst durch die engsten Gassen fährt, hört er nur immer irgendeine vereinzelte Melodie, die, sich süß an seinem Ohr vorüberschmeichelnd, die chaotischen Dissonanzen des fernen Klangdurcheinanders beherrscht, bald die liebeskranke Schwermut eines neapolitanischen Volksliedes von einer klagenden Frauenstimme zur Gitarrebegleitung gesungen, bald die verwegene Sinnlichkeit eines Straußschen Walzers, von einem reisenden österreichischen Streichquartett gespielt. Und dazwischen das Rauschen des großen Neptunbrunnens, das monotone Geräusch der menschlichen Tritte, die an Jack vorübergehen.

Ganz Bologna ist auf der Straße. Wunderschöne Italienerinnen, etwas zu kurz, etwas zu üppig, mit leise wiegendem Gang, mit Kleidern, deren Geschmacklosigkeit die Dämmerung verwischt, und mit phantastischen, um die Köpfe geschlungenen schwarzen Schleiern, die ihrer blassen, leidenschaftlichen Schönheit etwas Magisches verleihen. Arm in Arm, meist zu zweien wandern sie einher, von einem zigarettenrauchenden männlichen Anhang umschwärmt, der an Gewöhnlichkeit nichts zu wünschen übrigläßt. Der tiefe, wollüstige Klang ihrer Konteraltstimmen beunruhigt Jack eigentümlich, mehr als eine schlägt die schweren Augenlider auf und streift ihn mit einem Blick, der schwül und langsam an seinem Gesicht vorübergleitet wie der Hauch des Schirokko.

Er zuckt zusammen unter diesen Blicken, die ihn an Dinge erinnern, welche er vergessen haben möchte. Und mitten zwischen den üppigen Italienerinnen trifft sein Auge auf seine Landsmänninnen. Wie vielen von ihnen begegnet er heute! Lauter Engländerinnen aus der halb verkümmerten, verbildeten Lebenskategorie wie Mary, Marys Abbild in Gang und Haltung und Kleidung, schmal und flach, mit endlosen Taillen ohne Hüften, ohne eine einzige Kurve in der Figur. Wie gut kennt er diesen weiblichen Typus, den unelastischen, vorwärtsschiebenden Gang, die langen, platten, schlecht beschuhten Füße, die zurückgeworfenen Ellenbogen, alles kennt er, auch die dünnen, wohlerzogenen Stimmen. Ihre Sprache klingt wie lauter Zischlaute auf einen Hauch eingefädelt. Ihn schaudert!

Von den Kolonnaden mit ihren Café chantants, ihren diamantblitzenden Juwelierauslagen hinweg, wo er in aller Eile ein Geschenk für Mary gekauft hat, biegt er ab in den menschenleeren großen Platz, auf den Dom geht er zu, der mit seinem hohen Mittelschiff und seinen mächtig ausgebreiteten, sich der Erde zuneigenden Seitenflügeln aussieht wie ein ungeheurer Vogel, der, zeitweilig auf der Erde ausrastend, sich vorbereitet, von neuem zum Himmel emporzuschweben.

In die mystische Großartigkeit des Anblicks vertieft, steht Jack schweigend vor dem Gotteshaus, als ihm jemand zuruft: »Siehe da! Sie sind es, Ferrars, ich habe mir wohl gesagt, daß ich diese Schultern kenne.«

Jack sieht sich um, erblickt einen guten alten Bekannten, den kleinen Journalisten Rambert, hat ein Gefühl aufrichtiger Freude, in das sich die Empfindung eines Mißklangs mischt. An was erinnert ihn Rambert nicht alles! Die beiden Männer schütteln sich die Hände. »Sie hier, ein Franzose in Italien, und nicht prix de Rome!« ruft Jack.

»Ja, die Welt hat sich geändert in den letzten Jahren, und der Franzose auch,« ruft Rambert, »wir pilgern jetzt nach Baireuth und Neapel, lernen Deutsch und radebrechen Italienisch – hm – ich komme von einer Tour durch die kleinen italienischen Städte zurück, und Sie, mein Lieber, sind, wenn ich nicht irre, auf Ihrer Hochzeitsreise. Die Vermählungsanzeige habe ich noch in Paris richtig erhalten. Sie haben doch Ihre Kusine Miß Winter, glaube ich, geheiratet?«

»Ja,« murmelte Jack.

»Ein reizendes junges Wesen, allerliebst, mein Kompliment, Ferrars,« versichert Rambert. »Die Zeit der tollen Streiche ist vorüber.«

»Ja, offenbar,« murmelt Jack.

Im Laufe dieses Gespräches hat der Franzose Jack aus den dämpfenden Schatten des Domes von neuem in den Bereich des Lichtglanzes unter die Kolonnaden gezogen, in den Bereich der Café-chantant-Musik, in den Bereich der langsam einherwandelnden ausländischen und inländischen Frauen.

Vor dem Café X. steht ein Leierkasten in Form eines Pianinos, eines jener mechanischen Pianinos, wie sie ganz Bologna unsicher machen.

Im gleichmäßigen Tempo einer Nähmaschine sprudelt dieses unheimliche Instrument die halsbrecherischsten Virtuosenstückchen hervor, ohne je einen Augenblick Atem zu holen, hart, grell, mit schwindelerregender Geläufigkeit. Es klingt wie das Spiel eines wahnsinnig gewordenen Virtuosen, der das Gefühl für Nuancen mit seiner Seele verloren, während Kraft und Geläufigkeit sich bei ihm verdreifacht hätten. Jack möchte sich die Ohren zuhalten, aber da der Franzose ihn, unermüdlich von Paris und alten Bekannten plaudernd, auffordert, sich niederzusetzen und ein Gefrorenes mit ihm zu verzehren, so setzt er sich nieder und bestellt ein Eis.

»Unter anderem raten Sie, wem ich im Laufe meiner italienischen Studienreise begegnet bin,« bemerkt Rambert.

»Wie sollt' ich,« erwidert Jack zerstreut.

»Einer Ihrer alten Flammen.«

»Einer meiner alten Flammen?« murmelt Jack langsam.

»Haben Sie dieselben etwa alle vergessen, wie es die Pflicht eines braven Ehemannes ist?« neckt ihn der Franzose.

Jack zuckt die Achseln, das ist die einzige Antwort, deren er momentan fähig ist.

»Einen Augenblick müssen Sie doch trachten, sich dieser speziellen Flamme zu erinnern. Sie war es wert, nicht vergessen zu werden,« versichert Rambert.

»Von wem reden Sie eigentlich?« fragt Jack langsam. Er scheint ganz damit beschäftigt, die Flamme des Streichholzes, welches er soeben angezündet hat, um sich seine Zigarre damit anzustecken, in seiner hohlen Hand zu bergen.

»Von wem? Meiner Treue! Von der Angiolina. Arme Angiolina!« murmelt der Franzose.

»Von der Angiolina?« Jack zieht die Brauen in die Stirn. Welche Fortschritte er im Heucheln gemacht hat binnen der letzten zwei Stunden! »Ach richtig, Sie meinen die Italienerin, wegen deren ich mich – wann war es nur? – so gründlich lächerlich gemacht habe,« sagt er immer mit derselben schläfrigen Artikulation und dem unbeweglichen Gesicht.

»Ach, reden Sie nicht so wegwerfend von ihr,« entgegnet ihm Rambert, »wenn Sie sie wiedergesehen hätten wie ich, würde Ihnen der Spott auf den Lippen sterben.«

Jack streicht sich ein neues Zündholz an und bückt sich darüber. »Geht's ihr schlecht?« fragt er.

»Sie ist jedenfalls eines der unglücklichsten Geschöpfe, die es momentan auf der Welt gibt,« erklärt Rambert.

»Wieso?«

»Sie haben ja das Vergnügen gehabt, ihren liebenswürdigen Gatten kennenzulernen.«

Jack streift mit dem Nagel seines kleinen Fingers die Asche von seiner Zigarre herunter. »Ja, in der Tat,« gesteht er, »ich habe mich bei dieser Gelegenheit ein wenig über den guten Geschmack gewundert, mit welchem die poetische Angiolina sich ihren Lebensgefährten ausgesucht hat.«

»Sie waren entsetzlich hart gegen die Arme,« sagt Rambert, der offenbar seine eigenen zynischen Beleuchtungen der Situation längst vergessen hat; »ich glaube, wenn Sie ihre Lebensgeschichte kennten, würden Sie Ihre Grausamkeit bereuen.«

»Ihre Geschichte – ich kenne sie ja, ihre Geschichte!« ruft Jack. »Sylvains hat sie mir erzählt.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«

»Ach, so was Romantisches, Unsauberes. Nach dem, was er sagte, stammt die Angiolina aus sehr gutem Hause, ist die Tochter eines Marchese X,Y und an Minelli verheiratet worden, nachdem sie mit diesem verliederten Genie durchgegangen war.«

»Aber das ist ja alles nicht so, das hatte ich ihm selbst gesagt, der Minelli hatte mir's weisgemacht; aber es ist wirklich nicht so!« entrüstet sich Rambert.

»Also wie ist es?« fragt Jack schroff.

»Die Angiolina ist die Tochter des Principe Gandini – aber die illegitime Tochter nota bene. Ihre Mutter war eine russische Sängerin, die übrigens seit der Geburt des Mädchens sich vollkommen brav gehalten und beinahe die Achtung einer Frau genossen haben soll neben ihrem Geliebten, mit dem sie den Palazzo Gandini bewohnte. Sie erinnern sich doch des großen Palazzo im Trastevere? Der Hof war nach dem Tiber hinaus offen, in der rechten Ecke befand sich eine junge Bacchantin, die vor zwei Jahren an den Louvre verkauft worden ist. Eine Bacchantin mit einem zerrissenen ...«

»Ach ja, ich erinnere mich der Bacchantin,« unterbricht Jack unwirsch den weitschweifigen Franzosen; »erzählen Sie doch weiter von dieser merkwürdigen russischen Mätresse, welche fast die Achtung einer Frau genoß!«

»Die Achtung einer Frau! Sie wissen ja, was darunter gemeint ist. Daß die Dienerschaft ihren Befehlen gehorcht, ohne ihr ins Gesicht zu grinsen, und daß die paar jungen oder alten Männer, die in solchem Falle den Besuch des Hauses bilden – auf weiblichen Umgang muß eine anständige Frau in unanständigen Verhältnissen bekanntlich gänzlich verzichten –, höflich gegen sie sind, ohne zu versuchen, ihr die Cour zu machen.«

»Das ist für die Mätresse eines italienischen Principe schon sehr viel,« murmelt Jack.

»Nun, das geb' ich zu,« gestand der Franzose; »doch, wie gesagt, soll sie eine exzeptionelle Person gewesen sein, und der alte Gandini – er war nämlich alt – scheint viel von ihr gehalten zu haben. Die Kleine ließ er erziehen, wie es seiner legitimen Tochter gebührt hätte. Besonders mit ihrer musikalischen Ausbildung bemühte er sich sehr. Ihr Klavier- und Gesangslehrer war ein junger Komponist namens Philippo Minelli. Sie fahren zusammen, Ferrars. Sie haben erraten, ja, es ist derselbe. Hat sie sich als halbes Kind für ihn interessiert, hat sie sich nicht interessiert – was weiß ich! Jetzt weiß sie es wohl selber nicht mehr. Was nicht mehr existiert an Herzensempfindungen, ist bekanntlich nie gewesen bei den Frauen; jedenfalls hätte er sie nie zum Weibe bekommen, wenn nicht ganz unvorhergesehene Umstände eingetroffen wären! – Sapristi, Ferrars, da – sehen Sie einmal hin – dort, die Frau in dem grauen Kleide, das sie ein wenig hoch schürzt, haben Sie je ein Paar so kleine Füße gesehen? Es muß eine Russin sein oder eine Österreicherin – für eine Spanierin ist sie zu groß! Sehen Sie nur, ein wahres Wunder von einem Fuß, und wie gut chauffiert ...«

»Es ist eine Engländerin,« sagt Jack ruhig, »eine alte, gute Bekannte von mir,« und dann trommelt er ungeduldig auf der mit klebrigen Ringen und Klecksen von Limonadegläsern und Eisschalen reichlich gezierten Platte des kleinen Tisches, der zwischen ihm und dem Franzosen steht.

»Eine Engländerin – nicht möglich!« ruft Rambert, »eine Engländerin mit solchen Füßen!«

»Es geschehen Zeichen und Wunder!« spöttelt Jack, indem er fortfährt, in gesteigertem Tempo auf die Marmorplatte des Tischchens zu trommeln. Wird denn Rambert nie aufhören, der schönen Mrs. East nachzustarren? fragt er sich.

Etwas, was er noch mit Gewalt niedergehalten hat, ist auferstanden in seiner Brust. Was früher in ihm nur vages, beunruhigendes Empfinden gewesen, hat sich zu einer geradeaus auf ihr Ziel losstürzenden Sehnsucht gestaltet.

Rambert klimpert indessen gleichmütig mit dem Löffel auf seinem Eisschälchen, um die Aufmerksamkeit eines Kellners auf sich zu lenken; dann vertieft er sich in die Bestellung eines Masagran – er hat große Mühe, dem Kellner begreiflich zu machen, was ein Masagran ist.

Jack verzehrt sich vor Ungeduld. »Sie scheinen ganz zu vergessen, daß Sie in dem spannendsten Kapitel Ihres Sensationsromans steckengeblieben sind,« sagt er endlich.

»Meines Sensationsromans?« Rambert denkt nach. »Ja, die Antezedenzien der armen Angiolina war ich im Begriff Ihnen zu berichten, aber Sie zeigten so wenig Interesse an meiner Erzählung.«

»Sensationsromane haben es für sich, daß man sie zu Ende liest, wenn man sie einmal angefangen hat, mag man sie auch noch so abgeschmackt finden,« erwidert Jack.

»Sie sind sehr gütig!« Rambert verbeugt sich. »Wo waren wir stehengeblieben?« sinnt er vor sich hin. »Ja, richtig, bei der Erziehung der Angiolina; aber gehen wir darüber hinweg! Der alte Gandini war so vernarrt in seine Tochter, daß er beschloß, die Russin zu heiraten und die Kleine legitimieren zu lassen. Da stirbt er plötzlich an der Cholera, zwei Tage nachher stirbt ihm seine Geliebte nach. Die legitimen Erben stürzen sich auf die Hinterlassenschaft und werfen die Angiolina auf die Straße hinaus, das heißt, sie bringen sie bei einer Wäscherin in Trastevere unter für eine Pension von dreißig Lire monatlich, und kommen sich großmütig vor. Die Angiolina war damals noch nicht sechzehn Jahre alt, Sie können sich den Jammer vorstellen! Beständig entwischte die Arme ihrer Kerkermeisterin, und dann umschlich sie den Palazzo Gandini, und schließlich setzte sie sich auf die Türschwelle und schluchzte. Die Geschichte machte Aufsehen, man fing an, sich für die illegitime Tochter Gandinis zu interessieren, von ihrer Schönheit zu reden, von ihrer Verlassenheit und von der Grausamkeit der gesetzlichen Nachfolge ihres Vaters. Das sittliche Anstandsgefühl regte sich in dem neuen Principe, er schwang sich zu einem Akt unerhörter Großmut empor. Er ließ sich vernehmen, daß, wenn sich ein anständiger Mann fände, die Angiolina zu heiraten, er bereit wäre, ihr eine Aussteuer von 50000 Lire zu verabfolgen. Minelli meldete sich. Wundern Sie sich, daß die arme Angiolina ihn annahm?«

Rambert schöpft Atem. Der Kellner hat ihm sein Masagran gebracht; er kostet es mißtrauisch und trinkt es mit Resignation.

»Hm! Ist die Geschichte zu Ende?« fragt Jack.

»Zu Ende!« wiederholt Rambert achselzuckend. »Zu Ende! Minelli war der Sohn eines kleinen Grundbesitzers aus Umbrien, nebenbei Komponist. Man hielt viel von ihm, er war Hofnarr bei soundso viel Principi und Schoßkind bei soundso viel Principessi. Er stand immer im Begriff, etwas Großes zu leisten. Als er die Angiolina heiratete, ging es bereits mit ihm bergab. Was ist da viel zu erzählen – ein verbummeltes Genie, das sich dem Trunk ergibt – ein armes junges Ding, das sich erst bemüht, ihr Nest rein zu halten, das dem Mann in Kneipen nachläuft, um ihn aus dem Sumpf zu ziehen. Schließlich – von der einen Seite zynische Gleichgültigkeit, von der anderen unüberwindlicher Ekel! – Eines Tages entfloh die Angiolina nach dem plötzlichen Tode ihres einzigen Kindes nach Paris. Sie versuchte es erst, sich durch italienische Stunden zu ernähren. Aber ich bitte Sie, eine bildschöne Person, wie die – Die Not drängte, ein Zufall brachte sie dazu, es als Modell zu versuchen. Wie tadellos sie sich gehalten hat, das wissen wir alle. Wir alle haben es umsonst versucht, Eindruck auf sie zu machen, denn, daß sie nicht zu bestechen war, merkte man gleich. Sie waren glücklicher als wir. Seitdem ich die Geschichte der Angiolina kenne, begreife ich, daß ein Poet, ein Idealist, ein Kind wie Sie dazu gehörte, dieses arme, in den Sumpf getretene Frauenherz von neuem zu beleben. Zwischen Ihnen und der Vergangenheit war die Kluft groß genug ...«

»Ach weiter, weiter!« ruft aufgeregt Jack.

»Minelli hatte nicht allzu lange nach ihrer Flucht den Aufenthaltsort seiner Frau ausgekundschaftet. Da er sich aus ihr nichts mehr machte, so ließ er sie gewähren unter der Bedingung, daß sie ihm jährlich einen Tribut von soundso viel hundert Franken auszahlen müsse. Sie war nicht imstande, die ganze Summe aufzutreiben. Er Schuft, der er ist, bildete sich ein, sie lebe in Saus und Braus mit vornehmen Liebhabern und geize ihm gegenüber mit ihren Reichtümern. Er kam nach Paris, um nach dem Rechten zu sehen. Das übrige – wissen Sie besser als ich.« Jack hält den Kopf gesenkt. Er denkt nicht mehr daran, seine Gemütsstimmung vor dem Franzosen zu verbergen.

»Und wo haben Sie sie wiedergesehen, in Rom?« fragt er.

»Nein, in einem kleinen Nest zwischen Perugia und Assisi. Minelli, der vor Jahren jeden Versuch aufgab, etwas zu leisten, lebt jetzt auf der Vigna, die ihm sein Vater hinterlassen hat, in einem zerfallenden Haus ohne Glasscheiben in den Fensterlöchern und mit einer malerischen Steinbogen-Loggia, um die sich irgend etwas herumschlingt. Auf dieser Loggia habe ich sie sitzen sehen, die Hände im Schoß, den Blick auf die Straße geheftet. Sie hat mich erkannt und angerufen. Der Mann war im Wirtshaus. Er ist immer im Wirtshaus und treibt sich mit anderen Weibern herum. Ihr ist das lieber so. Er prügelt sie, aber er läßt sie in Ruh, teilweise, weil er sich nichts aus ihr macht, und teilweise, weil er sich vor ihr fürchtet.«

Rambert verstummt. Er hat nichts mehr zu sagen. Das neapolitanische Liebeslied ist verklungen, das mechanische Pianino spielt jetzt einen Walzer von Chopin mit schwindelnder Hast und lebloser Regelmäßigkeit.

»Sie sehen nun vielleicht ein, daß Sie zu grausam gegen die arme Angiolina waren!« bemerkt Rambert.

Jack hebt seinen gesenkten Kopf. Sein Gesicht ist weiß.

»Die – die Angiolina« – wie schwer es ihm fällt, ihren Namen auszusprechen! – »hat Ihnen diese Geschichte erzählt?« fragt er.

»Ja, aber sie ist mir von vielen Seiten bestätigt worden,« versichert Rambert.

»Ich zweifle nicht an der Wahrheit,« entgegnet Jack ungeduldig; »die Geschichte trägt den Stempel der Wahrheit so auffallend an sich, daß es dumm wäre, sie anzuzweifeln. Ich wollte nur wissen, ob Sie lange Zeit mit der Armen gesprochen haben?« – er hält inne – »ob sie – Mensch, muß ich Ihnen das erst aus dem Hals herauszerren? – ob sie nach mir gefragt hat.«

»Nach Ihnen gefragt? Natürlich hat sie nach Ihnen gefragt,« erwidert Rambert. »Die Angiolina interessiert sich überhaupt nicht mehr für irgend etwas außer Ihnen. Ich teilte ihr mit, daß Sie sich verheiratet hätten.«

»Und wie nahm Sie das auf?«

»Sehr ruhig, wie ein durch und durch müder, zerschlagener, wundgeschundener, dazu noch kranker Mensch alles hinnimmt.«

»Ist sie krank?« fragte Jack hastig.

»Ja, ein wenig Malaria und sehr viel Lebensmüdigkeit. Aber schön ist sie noch immer. Weiß Gott! – Noch blässer als früher und die Lippen dunkelrot und in ihren Augen eine Schwermut, eine Sehnsucht! Soll ich Ihnen ein Geständnis machen? Ich trachtete sie nach Paris zurückzulocken. Es war nichts anzufangen. Seit Sie die Arme verstoßen haben, ist ihr alles gleichgültig. Weit sei es von mir, sie Ihnen anzupreisen – Sie sind verheiratet, Sie sind auf der Hochzeitsreise – es kann ja gar nicht die Rede sein mehr von irgend etwas zwischen ihr und Ihnen, wenigstens – für den Augenblick. Ha ha ha! Verzeihen Sie einem alten Pariser den schlechten Witz. Aber rührend ist das arme Ding doch. Ich habe versprochen, ihr zu schreiben, falls ich Sie wiedersehe. Was soll ich ihr von Ihnen ausrichten? Nur einen Gruß, ein freundliches Wort. Ich bitte Sie, Ferrars, autorisieren Sie mich, stellen Sie mir einen Blankowechsel aus auf Liebenswürdigkeiten.«

Dumpfes Schweigen herrscht zwischen den beiden Männern. Endlich sagt Jack: »Lassen Sie's gut sein, mischen Sie sich nicht in die Geschichte hinein!«

»Vielleicht schreiben Sie ihr selbst – nur ein paar Worte! Sie wissen, nach Ponte San Giovanni – es liegt auf dem Wege zwischen Perugia und Assisi!« ruft Rambert.

»Das hieße versuchen Brücken zu schlagen über den Ozean!« erwidert ihm Jack. »Lassen wir die Sache ruhen!«

 

»Ponte San Giovanni – Ponte San Giovanni!« Immer wieder murmelt Jack den Namen vor sich hin, während er von dem Café X. nach Hause zurückwandert, nach Hause in das Hotel Brun – nach Hause in einer Welt, in der sich sein Herz überall fremd fühlt.

Er nimmt den Weg übrigens nicht direkt dahin, nein, er nimmt einen großen Umweg, den größten Umweg, den er in Bologna nehmen kann.

Zum erstenmal seit seiner Hochzeit war er ein paar Stunden frei. Mein Gott! –

Es ist beinah Mitternacht, als er über die breite Treppe des ehemaligen Palazzo Malvast hinaufschleicht, dann über den langen, mit Statuen und Büsten und allerhand Topfpflanzen besetzten Marmorgang bis an Nummer 25 hinan. Er legt die Hand auf die Klinke. »Jack, bist du das?« Marys Stimme säuselt's ihm zu. Er tritt ein. Mary ist noch auf, hat, mit ihrer Korrespondenz beschäftigt, der Rückkehr des Gatten entgegengeharrt.

»Wie spät du kommst, Liebster!« sagt sie leise vorwurfsvoll.

»Ich habe – ich habe einen Bekannten getroffen – wir haben ein wenig geplaudert,« murmelt Jack, sich entschuldigend. »Warst du besorgt, mein Engel?« Ist das wirklich seine Stimme, die da so geläufig diese zärtlichen Heucheleien vorbringt?

»Ach nein, es ist mir nicht eingefallen, besorgt zu sein,« erwidert Mary. Frauen von ihrem dürren Typ haben gewöhnlich sehr ruhige Nerven. »Was sollte dir denn geschehen in Bologna, wo noch alle Straßen beleuchtet sind und von Menschen wimmeln. Aber gesehnt habe ich mich nach dir, Jackie – sehr. Ich hab' dich entbehrt, ich war noch nie so lange ohne dich, seit wir verheiratet sind – die erste Trennung! Du weißt, das ist immer ein Ereignis in einer Ehe. Ach, wie lang mir die Zeit wurde!«

Sie schmiegt sich an ihn, und er legt den Arm um sie und küßt sie auf die Stirn.

Er hat Übung im Sekundieren dieses Zärtlichkeitsduetts. Aber du lieber Himmel, wie abgeschmackt ihm das alles erscheint! Wie abgeschmackt!

Es dauert eine ganze Weile, ehe Mary ihren Empfindungen gehörig Luft gemacht hat. Endlich gibt sie Jack frei.

»Ich wartete deine Rückkehr ab, um meinen Brief an Klara« – zum erstenmal spricht sie von ihrer Schwägerin einfach als Klara und nicht mehr als Lady Klara – »um meinen Brief an Klara zu beendigen. Sie und Bryan bleiben noch die nächste Woche in Perugia. Jack, sei lieb, tu mir's zu Gefallen, fahr mit mir nach Perugia!«

Alles dreht sich mit Jack – er weiß nicht mehr, wie ihm geschieht! Er schwankt, er will ein anständiger Mensch bleiben, um jeden Preis will er's! Da stützt sie ihm die gefalteten Hände auf seine Schulter: »Jack, sei lieb – ich freute mich schon so auf Perugia!«

»Nun, wie du willst, liebes Kind! – Wenn du dir's so sehr wünschest, fahren wir nach Perugia!«

Seine Zunge ist trocken – er kommt sich falsch wie Judas Ischariot vor. Und Mary wirft sich ihm an den Hals und ruft: »O du Lieber, du Bester!« »Ja, sie ist sehr nett, ich habe kein Bedenken, sie in der nächsten Saison vorzustellen.«

Es ist Lady Klara Ferrars, die spricht. Sie trägt ein helles Flanellkleid mit einer Bluse, die wie ein Marineurhemd gemacht ist, und lehnt träge in einem Schaukelstuhl zurück.

In Perugia ist es, im Hotel Bruffani, in einem sehr großen hellen Salon, aus dessen Fenstern man über die von dem Bahnhof heraufführende Straße auf die umbrische Landschaft herabsehen kann, auf eine große graue Kirche in gotischem Stil, die mitten aus einem Meer von verschiedenartig geformten Dächern hervorragt, auf die weite grüne Ebene, die von mit Weißdornhecken umsäumten Straßen und Maulbeeranpflanzungen unterbrochen ist.

Sir Bryan sitzt nicht sehr nah von seiner Frau in einem bequemen Lehnsessel und liest eine Zeitung – eine jener sehr klein gedruckten und unheimlich umfangreichen englischen Zeitungen, von denen man sich fragt, ob es einen Menschen gibt, der ihren Inhalt je gründlich erschöpft.

»Ja, Mary ist eine sehr nette kleine Person,« bestätigt er die gute Meinung, welche seine Frau über ihre Schwägerin geäußert hat. »Unter diesen Umständen hätte Jack keine passendere Verbindung schließen können.«

Die Sache ist für ihn erledigt, er versenkt sich von neuem in die Lektüre seiner Zeitung.

»Nun, er hätte allenfalls in eine bessere Familie hinein heiraten können,« bemerkt Lady Klara, und da Sir Bryan sie auf diese Bemerkung hin etwas übellaunig aus seinen grünen, undurchsichtigen Augen heraus anstarrt, setzt sie lachend hinzu: »Verzeihe, ich hatte ganz vergessen, daß Mary eine Verwandte von dir ist.«

»Jacks Verwandte ebenfalls,« bemerkt nicht ohne Gereiztheit Sir Bryan.

»Ja, richtig, Jacks Verwandte ebenfalls,« wiederholt Lady Klara.

»Das scheint dich in Erstaunen zu setzen,« brummt Sir Bryan, »ist dir die Tatsache etwa besonders neu?«

»Nein, aber seltsam bleibt sie mir immer,« sagt Lady Klara trocken. Ihren Mann zu ärgern ist außer Parforcejagden das größte Vergnügen, über das ihre Existenz verfügt. »Daß Mary mit dir verwandt ist, kommt mir nicht weiter befremdlich vor, daß sie aber mit Jack verwandt sein soll, ist geradezu komisch.«

»Warum komisch?« grunzt Sir Bryan.

»Jack ist ein so furchtbar netter Junge,« versichert Lady Klara gleichgültig, und dabei schielt sie unter ihren gesenkten Augenlidern nach ihrem Mann hinüber und lächelt besonders liebenswürdig.

»Danke bestens,« versichert Sir Bryan; die Times knistert unzufrieden zwischen seinen Händen. »Willst du mir übrigens mitteilen, warum du nicht lieber Jack geheiratet hast, anstatt mich?«

Lady Klara stützt ihre weißen Flanellellenbogen fester auf die Seitenlehnen ihres Stuhles, und ihre Fingerspitzen aneinanderschließend, meint sie mit dem ihr eigenen, langsamen, provozierenden Lächeln: »Wahrscheinlich, weil er nie in mich verliebt war.«

»Oder vielleicht, weil seine Vermögensverhältnisse deinen Ansprüchen nicht ganz entsprachen,« äußert plump Sir Bryan.

Lady Klara mustert ihn vom Kopf bis zu den Füßen.

»Wie ordinär du bist, Bryan,« sagt sie scharf.

In dem ganzen Umfang des umfangreichsten Wörterbuchs gibt es kein Adjektiv, was Sir Bryan ärger verdrießen könnte als das Wörtchen »ordinär«.

Die Adern an seiner Stirn schwellen dick wie Wäscheleinen an, er ballt die kurze Faust, er sieht aus, als ob er seiner Frau etwas an den Kopf schleudern wollte.

Sie kreuzt die Arme über der Brust und lächelt herausfordernd. Ein leises Klopfen an der Tür unterbricht diese überaus erquickliche Familienszene.

»Herein!« ruft Lady Klara.

Sir Bryan hat das Klopfen überhört. Herein tritt Jack, sehr blaß und mit schwarzen Ringen um die Augen.

»Wie schlecht du aussiehst!« sagt Lady Klara.

»Ich habe Kopfschmerzen,« erwidert Jack.

»Was du jetzt nicht alles hast!« meint Lady Klara mitleidig spöttelnd.

»Die Hitze greift mich an.«

»Die Hitze; es ist ja verhältnismäßig kühl, die Steine sind noch naß vom letzten Gewitterregen,« bemerkt Lady Klara.

»Nun, um dir die Wahrheit zu sagen,« ruft Jack in dem gereizten Ton, den letzterer Zeit seine Stimme bei den unwesentlichsten Anlässen annimmt, »ich vertrage die Stubenluft nicht, ich habe seit drei Tagen, seitdem meine Frau sich den Knöchel verstaucht hat, die Nase nicht vor die Tür gesteckt. Wenn das so fortgeht, so werde ich verrückt, ich halt's einfach nicht mehr aus.« Und dann, als schäme er sich dieses Ausbruches unverhohlener Aufrichtigkeit, setzt er hinzu: »Es ist ja lieb und nett von Mary, daß es ihr so schwer fällt, mich zu entbehren, aber – aber endlich – hm! Ich wollte dich nur bitten, Klara, ob du ihr nicht ein wenig Gesellschaft leisten möchtest, während ich ein Stündchen, nur ein kleines Stündchen spazierengehe.«

»Das versteht sich von selbst, Jack,« ruft die Schwägerin; »du weißt, wenn ich dir eine kleine Gefälligkeit erweisen kann, bin ich immer bereit.«

»Was du für eine famose Frau bist!« ruft Jack mit Begeisterung.

»Mitunter bewundere ich mich selbst,« erwidert sie, indem sie über ihre Schulter hinüber einen Blick auf ihren Gatten wirft.

Lady Klara verläßt mit Jack den Salon, durch den freundlichen, mit Palmen sowie bequemen Rohr- und Korbgeflechtmöbeln besetzten Lichthof geht sie mit ihm, dann über eine reinlich gehaltene helle Treppe. Inmitten der Treppe bleibt Jack stehen, und seine Schwägerin plötzlich ansehend, fragt er sie: »Klara, warum hast du eigentlich Bryan geheiratet?«

»Weil er dreimal um mich anhielt, und mein Vater, der nahe am Bankrott war, mir beibrachte, die Zukunft meiner jüngeren Geschwister hänge von meiner glänzenden Versorgung ab. Ich hatte nur die Wahl zwischen deinem liebenswerten Bruder, der mich einfach wegen meiner blaublütigen Herkunft heiraten wollte, und einem anderen reichen Mann, der rasend in mich verliebt war. Unter den Umständen ...« Sie stockt.

»Unter den Umständen ...« wiederholte Jack.

Lady Klara fängt an zu lachen, ein helles, ausgelassenes, nichts weniger als heiteres Lachen: »Unter den Umständen ...« sagt sie, »wählte ich deinen Bruder.«

»Wähltest du meinen Bruder,« wiederholt Jack wie geistesabwesend.

»Natürlich.« Lady Klara, die um zwei Stufen höher steht als ihr Schwager, wendet sich nach diesem um und legt ihm die Hand auf die Schulter. »Siehst du, mein Alter, mit einem Mann, dem man beinahe so gleichgültig ist, als er's einem ist, mit dem kann man's aushalten, da bleibt uns wenigstens ein Teil unserer Existenz zur freilich bedingten eigenen Disposition. Man kann aufatmen, kann sich erholen. Mit einem Mann, der einen liebt, ohne daß man imstande ist, seine Leidenschaft zu erwidern, mit dem hält man's nicht aus. Das ist die Hölle, das führt geradeswegs ins Irrenhaus, oder zum Selbstmord, oder zu einer anderen Schlechtigkeit. Diese vehementen und skandalösen Kulminationspunkte der Situation sind mir neben deinem Bruder erspart geblieben. Dafür schulde ich ihm Dankbarkeit und halte mich danach. Ich sage ihm Impertinenzen, aber ich bin ihm treu. Was hast du, Jack, du bist ja grün wie Salat?«

»Nichts, nichts.« Jack schüttelt sich ein wenig. »Ein Schwindel, es ist schon vorbei.«

Eine Minute später hat Jack das Zimmer seiner Frau erreicht. Er schiebt seine Schwägerin vor.

»O Klara! Wie süß!« ruft Mary der jungen Frau zu. Die verwandtschaftliche Intimität mit der Tochter eines Earls hat noch nicht aufgehört ihren Reiz auf sie auszuüben.

»Ich komme dir Gesellschaft leisten, während dein langer Mann ein wenig Luft schnappt,« sagt Lady Klara, »er sieht ja schon ganz elend aus von dieser dreitägigen Krankenpflegerei.«

»Wirklich, Jack, mein Bester?« ruft Mary und streckt die Arme nach ihm aus. Er fügt sich mit Resignation ihrer Umarmung, erwidert ihren Kuß. Zum erstenmal beobachtet ihn seine Schwägerin während dieser Prozedur. Sie beißt sich die Lippen.

»Nun fort mit dir, mein Junge,« ruft sie ihm zu, »wir können dich nicht brauchen, wir wollen uns ein wenig allein unterhalten! Adieu.«

»Bleib nicht zu lange weg, Liebling, Herzchen,« girrt Mary.

Er sieht sich noch einmal um und geht.

Beinahe eine Woche ist es her, daß Jack mit seiner Frau Bologna verlassen hat. Von Bologna sind sie nach Florenz gereist, wo sie sich auf Marys speziellen Wunsch hin kaum vierundzwanzig Stunden aufgehalten haben. Mit dem Mittagszug sind sie fort – fort an Zypressenwäldern vorbei, zu deren Füßen die üppigsten Zentifolien blühen, über breite Ströme hinüber, welche die Sonne ausgetrunken hat, so daß von ihnen momentan nichts übriggeblieben ist als ein dünner, trüber Wasserfaden, der sich träge und mühsam am tiefsten Grund des breiten, felsigen Flußbettes hinschlängelt, vorbei an den Silhouetten alter Festen, die, einen Hügel krönend, sich grau und ernst mit schroffen, finsteren Linien gegen den Himmel abzeichnen, ein Gewirr von Festungswällen, Kirchtürmen, verfallenden Palästen und einfachen Häusern aus grauem Stein, an großen stillen Seen, die regungslos in der grellen Sonne hinbrütend sich ausnehmen wie eine einzige große Scheibe mattglänzenden Bleies, von einem dichten Kranz mannshoher Binsen umstarrt, vorbei an Dörfern, in denen die braunen, fensterlosen Häuser alle ausschauen, als seien sie kürzlich von Flammen verheert worden, und zwischen denen die Menschen gelb und mager umherschleichen, als seien sie von einer fürchterlichen Müdigkeit in die Erde gedrückt. Dann wieder grüne Felder, Maulbeerbäume, überall Mohnblumen, immer wieder Mohnblumen.

Gegen Abend sind sie in Perugia angekommen und mit klirrenden Glocken in einem verhältnismäßig anständigen Zweispänner die steile Serpentine hinaufgefahren vom Bahnhof bis zum Hotel Bruffani, das auf dem Hauptplatz von Perugia steht.

Das ist vier Tage her.

Lady Klara und Sir Bryan sind ihnen an der Tür des Hotels entgegengekommen. Einen ganzen Tag hat's nichts gegeben als verwandtschaftliche Herzlichkeit, Gelächter, Neckerei, Galeriebesuche, dann ist Mary über die Treppe des Rathauses gefallen und hat sich den Fuß verstaucht. Mit tyrannischer Zärtlichkeit hat sie Jack neben ihrer Chaiselongue festgehalten von da ab. Armer Jack!

Er atmet auf, als er, das Hotel hinter sich lassend, auf den großen Platz hinaustritt. Aber das Gefühl der Erleichterung ist nicht von langer Dauer. Eine rasende Unruhe tobt in ihm, eine Unruhe, die kein Ziel vor sich hat, keins haben will.

Anfangs geht er nur, um zu gehen, treppauf, treppab, die unregelmäßigen, hügeligen, schmalen, von Mauerbogen überwölbten Gassen Perugias entlang, blind gegen den wundervollen malerischen Reiz des Städtleins, blind gegen den dunkelblauen Himmel, der zwischen und über dem eigentümlich schwarzgrauen Gewinkel des Mauerwerkes schwebt. Ihm ist's, als habe er eben eine drückende Last abgestreift, und als liefe ein Feind ihm nach, ihm dieselbe von neuem aufzubürden. Er weiß genau, daß kein Davonlaufen hilft, daß der Feind ihn einholen wird, aber er läuft doch, läuft unwillkürlich, und der Schweiß tritt ihm auf die Stirn, sein Atem ist gehemmt, und die Leute sehen ihm nach und sagen, er ist verrückt.

Nachdem er in einem Augenblick hochgradiger Erregung seiner Schwäche nachgegeben und sich auf die Bitte seiner Frau hin mit dieser nach Perugia begeben hat, ist das Pflichtgefühl von neuem in ihm erwacht. Er hat es sich vorgenommen, Perugia zu verlassen, ohne die Angiolina aufgesucht zu haben.

Er tut, was er kann, um sich zu überwinden. Aber ...

Die Worte seiner Schwägerin fallen ihm ein: Neben einem Menschen hinleben, dem man ebenso gleichgültig ist, als er uns ist, das hält man allenfalls aus. Aber mit einem Menschen leben, der einen leidenschaftlich liebt, ohne daß man seine Leidenschaft erwidert, das hält man nicht aus, das führt ins Irrenhaus oder zum Selbstmord oder zu irgendeiner anderen Schlechtigkeit.

Fort, fort!

Am liebsten möchte er noch heute zusammenpacken und von Perugia fliehen.

Mit einemmal bemerkt er, daß ihm jemand nachschleicht, ein brauner, zerlumpter Bursche mit eingeschlagenen Vorderzähnen.

Jack stiert ihn an. Will der Bursche ihn anbetteln? – Nein.

Er legt die Hand an seinen spitzigen Filzhut und sagt: »Seine Exzellenz Herr Ferrars?«

»Ja – was soll es!« gibt Jack ihm ungeduldig zurück.

»Ich habe einen Brief an Exzellenz zu bestellen.«

»Einen Brief – von wem?«

»Von der Signora Angiolina Minelli.«

Jack streckt die Hand hin nach dem Brief.

»Ich habe der Signora versprochen, den Brief nur an den Signor zu geben, wenn wir unbeobachtet sind. Ich warte bereits seit Stunden vor der Tür des Hotels Bruffani, ich hatte den Herrn aus den Augen verloren,« sagt der Bursche.

»Gib den Brief,« herrscht Jack ihn an.

»Hier ist er.«

Jack faßt ihn an, wie man eine glühende Kohle anfassen könnte, und versenkt ihn in seine Tasche. Dann reicht er dem Burschen ein Trinkgeld.

Der Bursche besieht sich das Geldstück auf der flachen Hand, dann wackelt er mit dem Kopfe.

»Was willst du noch?« fragt Jack schroff.

»Eine Bestätigung, daß ich den Brief abgegeben habe.«

Jack besinnt sich einen Augenblick, dann sucht er nach einer Visitenkarte und reicht sie dem Burschen.

»Und Antwort gibt es keine?« fragt der Italiener.

»Ich weiß nicht, es geht dich nichts an, pack dich.«

Der Bursche läßt sich's nicht zweimal sagen.

Nun steht Jack allein in einer schmalen Sackgasse, deren aus großen, unregelmäßigen Steinen bestehendes Pflaster sich nach der Mitte vertieft.

Die Fenster glänzen hinter tiefen scharfkantigen Fensternischen. Die, meisten sind offen. In allen Fenstern stehen Blumentöpfe mit rotblühenden Nelken oder Geranien, und fast in jedem Fenster liegt eine Katze. Eine davon springt herunter auf Jacks Schulter – er schrickt zusammen. Ein hübsches, schwarzlockiges Mädchen mit großen goldenen Ringen in den Ohren und bloßen, statuesken Armen lacht ihm lustig zu – mehr Gesichter zeigen sich an den Fenstern – man beobachtet ihn. Was will er hier? Was sucht er? Ja, was sucht er? – Einen Ort, um ungestört den Brief zu lesen, den Brief, den ihm die Angiolina geschrieben. Unwillig verläßt er das Gäßchen und richtet seine Schritte dem Dom zu.

An den blinden oder verkrüppelten Bettlern vorüber, die vor der Tür Spalier bilden, tritt er in die Kirche, sine Kirche voll Weihrauch und Wachskerzenduft und mystischer Dämmerung. Er setzt sich in einen der scharfkantigen, braunen Kirchenstühle links vom Eingang, den Brief uneröffnet in der Hand, und blickt vor sich hin in das rote Geflacker des Hochaltars, an welchem der Vespergottesdienst gehalten wird. Von der Orgel herunter tönt träumerisch und weich eine Liebesarie aus einer Verdischen Oper.

Jack legt die Hand an die Stirn, versucht nachzudenken. Was kann der Brief enthalten, der Brief der Angiolina, der Brief eines Weibes, das ihn anbetet und das er – ja, das er ebenfalls anbetet? Sie ruft ihn zu sich. Das weiß er, ehe er den Brief geöffnet hat, ruft ihn von der Seite seiner Frau zu seiner Geliebten – nach kaum sechswöchentlicher Ehe von der Hochzeitsreise hinweg. Er sagt sich, daß es besser wäre, den Brief ungelesen zu zerreißen. Schon steht er im Begriff, es zu tun, da kommt die einschmeichelnde Stimme des Mitleids, die bei allen großen Versuchungen das Wort führt und der Sünde zuruft: Versteck' dich hinter mich, mach' dich recht klein, ich bringe dich durch. Er hat nicht das Recht, den Brief einer Sterbenden ungelesen zu vernichten, sagt das Mitleid.

Das Mitleid entscheidet! Er hat den Brief geöffnet, er liest:

Ponte San Giovanni.

Die Tage sind vergangen, einer hinter dem anderen, seit Du mich zum erstenmal geküßt und gleich darauf verstoßen hast damals in Paris. Jetzt werden es bald dreihundertfünfundsechzig Tage sein, ein Jahr, ein volles Jahr seit meinem Glück, seit meinem Elend.

Mein Leben war indessen, was es sein mußte fern von Dir – und an seiner Seite – Ekel und Qual.

Ich hätte es längst von mir geworfen, wenn mich nicht die Sehnsucht, Dich vor dem Sterben noch einmal wiederzusehen, daran gehindert hätte, die Augen zu schließen. Aber ich kann nicht sterben – hörst Du, ich kann nicht, ehe ich Dich wiedergesehen habe, nur ein einzig Mal, nur eine Stunde, nur eine Viertelstunde, nur einen Augenblick – einen Kuß, einen einzigen – dann will ich sterben – gern. Was hast Du mir denn so übelgenommen? – Daß ich nicht war, für was Du mich hieltest? Dafür konnte ich nichts. Oder daß ich Dich belogen habe? – Dafür konnte ich ... aber – mein Gott! In meinem Kämmerlein war's damals, weißt Du noch? Die Blumen, die wir zusammen gepflückt, standen um uns herum, Du hattest mir den ersten Kuß gegeben. Wie lange ich auf diesen Kuß gewartet hatte, Du lieber, törichter Mensch, halb totgehungert hatte ich mich danach – und kaum, daß Du mir ihn gegeben – mitten in meinen Himmel hinein stelltest du mir eine Frage, die mich aus meiner Seligkeit herausriß in das sumpfige Elend meiner Vergangenheit. Und da log ich – ich log, obgleich das, was ich Dir zu gestehen hatte, keine Schlechtigkeit war, nur ein Unglück – ich log, weil ich wußte, daß, was ich Dir hätte gestehen sollen, mich verändert hätte in Deinen Augen und erniedrigt, obgleich es keine Schlechtigkeit war, nur ein Unglück. Ich log ... ich log, obgleich ich wußte, daß ich Dir früher oder später doch die Wahrheit würde eingestehen müssen, ich log, um mir die eine selige Stunde rein zu halten von Erinnerungen und Erörterungen, die sie beschmutzt hätten. Vielleicht log ich einfach, weil ich in dem Augenblick alles vergessen hatte, was vorüber war!

Wenn ich geahnt, was Du mir sagen wolltest, nachdem ich Dich belogen, hätte ich's vielleicht nicht getan.

Weißt Du's noch, mein Liebling? Du sagtest, daß Du mich zu Deinem Weibe machen wolltest – ja wirklich, das sagtest Du.

Mir wurde dabei zumute – zumute! – Dein Weib! – Mir schwindelt, wenn ich daran denke, daß so etwas möglich gewesen wäre. Es war nicht möglich, so etwas ist nicht möglich, ein Glück, wie ich's empfunden hätte an Deiner Seite, als Dein Weib, das kommt nicht zustande auf dieser Welt.

Ich habe Dich auch nur daran erinnert, daß Du mir einmal hast Dein ganzes Leben weihen wollen, damit Du jetzt nicht zu karg bist, mir eine Stunde zu gönnen, eine Stunde, einen Augenblick.

Ich weiß, daß Du verheiratet bist, Rambert hat mir's gesagt. Seit vorgestern weiß ich, daß Du Dich in Perugia aufhältst. Ich bin krank. Ich hoffe, es geht zu Ende, aber ich kann nicht sterben, bevor ich Dich noch ein letztes Mal gesehen.

Nur eine Stunde sollst Du mir gönnen von Deinem Leben, daß Du mir ganz hast zu eigen geben wollen, nur eine Stunde. Dann kehrst Du ruhig zu Deiner Frau zurück und ich zum lieben Gott.

Ich will Dich erwarten, wie ich Dich stündlich erwartet habe seit dem Tag, wo Du mich verstoßen hast damals in Paris. Ich werde nach Dir ausspähen auf die Straße hinaus, über die Du kommen mußt. Ich bin fast immer allein, jeden Nachmittag bis in die Nacht. Übrigens kannst Du dich bei der Korbflechterei an unserer Straßenecke (unsere Straße heißt Via dei Frati) erkundigen.

Gott segne Dich!

Angiolina.

Das ist der Brief der Angiolina. Jack hat ihn erst mühsam durchbuchstabiert, sein Italienisch reicht nicht weit genug, ihn geläufig zu lesen – es reicht aber weit genug, ihn zu verstehen.

Jetzt hat er ihn dreimal gelesen. Jede süße zärtliche Silbe hat sich seinem Herzen eingeprägt. Sein Kopf ist heiß. Was soll er tun, was soll er tun?

Er sieht sich um, wie um sich Rat zu holen. Die Kirche ist fast leer. Ein paar alte Weiber beten in einer Ecke den Rosenkranz, in einer anderen Ecke schäkert ein bildschönes Mädchen, dem ein Sonnenstrahl vergoldend über den braunen Scheitel fährt, mit einem Soldaten, Touristen kommen und gehen.

An dem Hochaltar hat der Priester sein Gemurmel eingestellt. Ein etwas verwachsener Kirchendiener löscht die Kerzen aus. Von der Orgel herunter tönt noch immer weich und klagend die träumerische Liebesmusik durch die mystische Dämmerung der weihrauchgeschwängerten Kirchenluft.

Jack liest den Brief der Angiolina ein viertes Mal; er kann ihn bereits auswendig.

Ein Abgrund hat sich aufgetan vor ihm.

Sein Zartgefühl ... sein Mitleid – das, was am edelsten und am wärmsten ist in ihm, verbindet sich dazu, sein letztes Restchen Pflichtgefühl zu untergraben.

Die Angiolina ist krank, sterbend. Soll er sie sterben lassen, ohne ein einziges Mal versucht zu haben, ihren Schmerz zu lindern?

Durch das offene Kirchenportal, mitten zwischen die kühle, modrige Kirchenluft, schleicht sich ein weicher, warmer Hauch und fährt über Jacks vom Angstschweiß feuchte Wangen. Jack küßt den Brief der Angiolina, dann zerreißt er ihn langsam in ganz kleine Stücke, so klein, so klein, daß der ganze Brief bald nichts mehr ist als weißlich grauer Staub. Dann steht er auf, verläßt die Kirche und wirft den Staub hinaus auf den großen Platz. Der Maiwind treibt damit sein Spiel.

Eine halbe Stunde später tritt er zu Mary – einen großen Strauß roter Rosen in der Hand.

Mary, auf der Chaiselongue ausgestreckt, mit ihrem bandagierten Knöchel und losem Morgenrock – dem korrekten Morgenrock einer jung verheirateten Frau, spielt soeben Schach mit ihrer hochgeborenen Schwägerin.

»Wie lange du fortgeblieben bist!« seufzt sie; dann mit einem Blick auf die Rosen: »O Jack, wie wunderschön! Sind die für mich?«

»Für wen sonst?« fragt Jack.

Lady Klara steckt einen Daumen hinter ihren Gürtel aus gelbem Naturleder, und den Blick mit einem eigentümlichen Ausdruck auf die Rosen heftend, lächelt sie vor sich hin.

Über dem Städtlein mit seinem unregelmäßigen Häusergewirr, das sich rechts und links von dem Fluß hinzieht, brütet stumpfe, bleierne Schirokkoschwüle. Graue Dünste decken den Himmel zu. Ein schwerer Druck lastet auf den Menschen, zugleich mit einer heiß vibrierenden Unruhe. Sie sind müde und können's doch nirgend aushalten, nicht auf dem Platz und nicht auf jenem.

Unter den mächtigen grauen Steinbogen, die sich über das Flußbett spannen, zieht sich tief unten träg' und gelb ein undurchsichtiger Wasserfaden. Die Fensterladen an den Häusern des Hauptplatzes, der schlecht geschottert, mit Heu und Haferspreu bedeckt ist, sind alle geschlossen.

Inmitten des Platzes steht der Podesta, eine Zeitung in der Hand, neben ihm, sich auf seinen dickleibigen, grünen Regenschirm stützend, in einer sehr abgeschabten Soutane und mit einem fettig glänzenden dreieckigen Filzhut, steht der Pfarrer, ein schöner schwarzäugiger Greis, und fragt, was es Neues gibt in der Welt.

Aus dem Inneren eines Weinschankes hervor tönt Gläsergeklirr und wüster Lärm, Gelächter und Gesang. Der Pfarrer legt die Hand ans Ohr: »Da ist der Minelli dabei,« sagt er, »Gott sei seiner Seele gnädig – oder auch nicht – mir gilt's gleich. Schuft«!

Etwas abseits von dem großen Platz, am äußersten Rand des Städtchens in einer bergansteigenden Gasse, befindet sich ein braunes Haus, scharfkantig, ohne Mörtelanwurf, schmal, fast wie ein Turm mit finsteren, tief in den Wänden sitzenden Fensterlöchern.

Eine primitive Loggia zieht sich an der Front des Hauses entlang, und ein dunkelroter Rosenstrauch schlingt seine Blütenäste um das häßliche Mauerwerk. Neben dem Hause, fast bis zu seinem Dache emporragend, steht ein großer Akazienbaum in voller Blüte. Gespenstisch weiß hebt er sich ab gegen das bleierne Grau des Schirokkohimmels.

In der Loggia steht die Angiolina. Sie trägt ein weißes Kleid und einen Strauß roter Rosen im Gürtel. Die beiden Hände auf die steinerne Brustwehr der Loggia gestützt, blickt sie die Straße entlang.

Wie oft sie da gestanden hat im brennenden, sengenden, verdorrenden Hochsommer, im müde sterbenden Herbst, im erstarrenden Winter, und jetzt im feucht-schwülen Frühling, immer den Blick auf die Straße geheftet, sehnsuchtsvoll, erwartungsvoll.

Alle Tage hat sie ihn erwartet – vergeblich.

Wird er endlich kommen? Auf den Brief hin, den sie ihm geschrieben, muß er kommen, wenn er ein Herz im Leibe hat und in dem Herzen nur ein Funken – nicht Liebe, nein, darauf verzichtet sie – Erbarmen für sie lebt. Sie ist müde, sie hält sich kaum auf den Füßen, aber Stunde um Stunde steht sie da und späht auf die Straße hinaus. Der Akazienduft wird drückend, betäubend, der Schirokkodunst wird dichter.

Keine Hoffnung mehr – nein, er kommt nicht. Sie wird ihn nicht fortgelassen haben, sie, seine Kusine, die jetzt seine Frau geworden ist. Ist es möglich, daß er diese Kusine liebt? Die Angiolina zuckt die Achseln. Sie hat ihn einmal mit ihr beisammen gesehen; sie glaubt es nicht, daß er die lieben kann. Als sie erfahren, daß er sich verheiratet hat, war's ihr ein Trost, zugleich zu erfahren, daß es die Kusine war, die er zum Weibe genommen. Er kann sie nicht lieben, die nicht! Eine Art grausamer Triumph belebt sie bei dem Gedanken, daß er sie nicht lieben kann.

Aber warum kommt er nicht – ein Stündlein hätte er ihr doch gönnen können, ein einziges Stündlein, er, der ihr wollte sein ganzes Leben weihen.

Sie gräbt sich die langen, blaßgelben Hände in ihr schwarzes Haar und beißt sich die roten Lippen wund. Sie hält sich kaum auf den Füßen vor Müdigkeit und wendet den Kopf von der Straße ab.

Da von fern hört sie leises Schellengeklingel – der Wagen eines Fremden, der auf dem Marktplatz hält. Wie scharf ihr Gehör geworden ist in den langen Stunden spähenden Horchens! Ein Schritt kommt die Straße entlang, ein junger, elastischer Schritt, den sie kennt. Dann fragt eine Stimme: »Wo ist das Haus der Minelli?«

Sie streckt den Hals vor. Ein Mann in verstaubtem weißem Flanellkostüm kommt die Straße entlang. Sie steht wie angewurzelt. Er blickt auf. Seine Augen begegnen den ihren – sie wendet sich der Treppe zu, atemlos, fassungslos, mit ausgestreckten Armen.

Er ist gekommen, einer Sterbenden einen letzten Trost zu bringen, weiter nichts, einer Sterbenden zu verzeihen, weiter nichts, einer schwachen, hilflosen Frau seine Roheit abzubitten, weiter nichts.

Und wie er sie sieht! ...

Die Dämmerung wird dichter, sie haben Gott vergessen, die Welt und die Zeit!

Gott erbarme sich ihrer!

 

In der niedrigen Weinstube des Kaffeehauses und hauptsächlichsten Unterhaltungslokales des Ortes wird der Lärm immer größer.

Es ist die Stube, die zugleich als Laden dient für Spezereien. Über der gegen den Marktplatz geöffneten Tür hängen Girlanden von Würsten, Gemüse und weißen Fettblasen. Ein paar herumstehende Fässer beengen den Raum. Hinter einem mit Zink bedeckten Pudel steht eine dicke Italienerin mit einem fahlgelben Tuch lose um den statuesken Hals geschlungen und mit dicken goldenen Nadeln in dem zerzausten Haar. Zwischen einer Batterie von Wein- und Branntweinflaschen steht sie da, die vollen Arme bis an die Ellenbogen entblößt, mit aus dem niedrigen Mieder quellenden Leinenhemd.

An einem Tisch sitzt Minelli halb betrunken, einen Krug Landwein neben sich, und spielt Karten mit zwei ebenso verliederten Kumpanen, als er selber einer ist. Wenn er gewonnen hat, wirft er den Kopf zurück und singt eine herausfordernde Melodie, eine Strophe aus einem Trinklied seiner Oper, die vor zehn Jahren Furore gemacht hat und deren sich jetzt niemand mehr erinnert außer ihm selbst.

Ein rothaariges Frauenzimmer mit Korallenschnüren um den Hals steht hinter ihm, von Zeit zu Zeit rät sie ihm, welche Karte er ausspielen soll. Er gewinnt. Er reicht ihr den Krug Landwein, der vor ihm steht, und läßt sie daraus trinken.

In einem Ausbruch wilder Laune zieht er sie zu sich herunter auf seine Knie.

Da tritt ein schmaler, glattrasierter, gelbsüchtig aussehender Mann in die Schenke – der Kirchendiener von Ponte San Giovanni, der sich nebenbei seinen Lebensunterhalt damit verdient, daß er die Liebeskorrespondenz der ganzen schreibunkundigen Jugend des Ortes verfaßt, eine Beschäftigung, die ihn um so wunderbarer kleidet, als er, wie von allen Seiten fest und steif behauptet wird, noch niemals Veranlassung gehabt hat, in eigener Person einen Liebesbrief zu dichten.

Dieser Widerspruch zwischen seiner Beschäftigung und seinen persönlichen Erfahrungen hat ihn einigermaßen verbittert. Wie es heißt, verbringt er die Zeit, welche er nicht vor seinem Tintenfaß versitzt oder in der Kirche verwenden muß, damit, einem Glück aufzulauern, das er stören kann.

Mit teuflischem Grinsen tritt er jetzt an Minelli heran, und sich mit der Hand über die glattrasierte Oberlippe fahrend, ruft er: »Scheint Euch ja recht gut zu amüsieren für einen Ehemann, Signor Minelli!«

So verliedert der ehemalige Komponist auch sein mag, hält er dennoch bis zu einem gewissen Punkt auf seine Würde, läßt sich von seiner Umgebung noch immer als Herr behandeln.

»Geht's Euch was an, Neidhammel, der Ihr seid?« wirft ihm Minelli zu.

»Hm! Mit dem Neid ist's so eine eigene Sache,« erwidert die Achseln zuckend der Kirchendiener; »wenn ich Euch um ein Frauenzimmer beneidete, so wär's um Euer schönes Weib und nicht um die rothaarige Dirne da. Aber« – der Kirchendiener reibt sich bedächtig die Hände ineinander – »die Signora Angiolina will, wie es scheint, nichts wissen von Euch, und darum behelft Ihr euch, wie Ihr könnt.«

Die blutrünstigen Augen Minellis flammen. Er haut mit der Faust auf den Tisch, daß Gläser und Krüge klirren.

»Ich will nichts wissen von ihr, ich, hört Ihr's, ein für allemal!«

»So, nun dann –« Der Kirchendiener unterbricht sich plötzlich und grinst vielsagend vor sich hin.

»Dann – nun, was dann?« schreit Minelli.

»Nun, dann kann es Euch wohl gleichgültig sein, daß Eure Frau Besuch empfängt in Eurer Abwesenheit.«

»Besuch?« Minelli schiebt die rothaarige Dirne von seinen Knien herunter und wiederholt: »Besuch? ... Es ist nicht wahr!«

»So geht und überzeugt Euch. Vor zwei Stunden etwa habe ich einen fremden Mann in die Casa Minelli eintreten sehen. Ein schöner großer Mensch war's, ein Engländer, wenn ich nicht irre, blauäugig und hochmütig, einer von denen, zu denen man Eccellenza sagt.«

»Vor zwei Stunden?« ruft lachend einer der Umstehenden, »und da habt Ihr nicht Zeit gehabt, Minelli früher zu warnen?«

Der Kirchendiener schiebt die Schultern in die Höhe: »Ich sah die Notwendigkeit nicht ein, wollte den jungen Leuten die Zeit gönnen, sich ein wenig zu unterhalten. Es heißt ja immer, daß ich ein Freudenstörer bin, ich denke, für einmal hätt' ich's bewiesen, daß man mir unrecht tut. Ein schöner Herr war's – zerquetscht so einen wie Euch, Signor Minelli, zwischen Daumen und Zeigefinger.«

Alle Anwesenden lachen, nur Minelli lacht nicht. Grünlichweiß, wie von einem plötzlichen Malariaanfall übermannt, schnellt er empor und verläßt die Schenke.

»Ihr habt Minelli zum besten gehabt, alter Spötter!« ruft jemand aus der Menge, die sich indes in der übelriechenden Weinstube versammelt hat.

»Ich?« Mit Entrüstung wehrt der Kirchendiener den Verdacht von sich ab. »Nein, in der Tat hat die stolze Signora Minelli heute Herrenbesuch empfangen.«

»Aber er ist doch fort?« fragt eine Stimme.

»Ich glaube es kaum, sein Wagen zum wenigsten steht noch immer vor der Osteria dort in Erwartung seiner Herrlichkeit,« erwidert der Kirchendiener und tritt an den Verkaufstisch, um sich ein Glas Wermut geben zu lassen.

»Dann verzeih Euch Gott das Unheil, das Ihr angerichtet habt,« tönt es aus der Menge zu ihm zurück.

»Bah!« Der Kirchendiener macht mit seiner ausgespreizten Hand eine wegwerfende Geste. »Nichts zu fürchten, 's ist ein Mann wie ein Turm, ich sage euch, zwischen Zeigefinger und Daumen zerquetscht er euren Minelli. Wenn er ihn nur ansieht, so von oben herab, so fällt der Minelli um.«

Aber die Menge hört nicht. Alle sind sie hinausgelaufen, um den halb betrunkenen Minelli einzuholen, um ein Unglück zu verhüten. Der Kirchendiener bleibt als einziger Gast zurück in der kleinen verräucherten Weinstube.

Er setzt sich an den Tisch, den Minelli und seine Kumpane soeben verlassen haben und auf dem die Karten noch zwischen verschiedentlichen klebrigen Ringen liegen, Spuren von entfernten Weinkrügen und Branntweingläsern. Bedächtig fängt er an, Türme aus den Karten zu bauen – alles schweigt um ihn herum. Nur die Fliegen surren an der niedrigen Zimmerdecke entlang.


Sie hatten alles vergessen, Gott, die Welt und die Zeit!

Als er endlich aus dem Traum erwachte, erschrak er darüber, wie spät es geworden war. Er sagte ihr, daß er jetzt gehen müsse. Sie hielt ihn nicht. »Geh,« sagte sie einfach, »ich weiß, daß es sein muß.«

Ihre Stimme klang so traurig, daß er froh war, ihr Gesicht nicht zu sehen, und doch, im nächsten Moment sagte er sich, daß er es nicht über sich gewinnen könne, von ihr zu gehen, ohne sich noch einmal satt geschaut zu haben an ihrer blassen, schwermütigen Schönheit.

Sie mußte Licht anzünden, damit er sie ein letztes Mal betrachten könne.

Er sah sie an, lange, innig. Sie selber war's, die ihn mahnte, daß es Zeit sei für ihn, zu gehen.

»Du weißt, es war ausgemacht,« sagte sie mit eigentümlich feierlicher Stimme, »nur eine Stunde, dann kehrst du zu deiner Frau zurück und ich – zum lieben Gott. Leb wohl, es war schön, und wenn's eine Sünde war, so nehm' ich sie auf mich für uns beide. Leb wohl!«

Noch ein Kuß, dann war er gegangen. Aber kaum, daß er einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Ihm war's, als höre er hinter sich ein Papier knistern, leise, wie wenn man ein Pulver aus der Apotheke entfaltet. Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erinnerung an ihre Abschiedsworte, für die er plötzlich ein neues Verständnis gewann.

Hatte sie Gift genommen?

Er wandte sich um – dort stand sie, die Hand auf die Brüstung der Loggia gestützt, um ihm nachzusehen, wenn er die Straße entlang gehen würde.

Der Mond rang sich durch den grauvioletten Schirokkodunst, rotgolden, verschwommen schwebte seine Scheibe über dem weißblühenden Akazienbaum, der betäubend duftete, sein unklares Licht schimmerte über das Gesicht der Angiolina hin.

»Angiolina, um Gottes willen!« rief Jack und nahm sie in seine Arme.

Da, leise, katzenpfötig kommt's die Treppe herauf. Sie hören's beide nicht.

Ein Messer blitzt – Zwischen die beiden Schulterblätter, tief in den Rücken hinein senkt sich der Stahl des Meuchelmörders.

Um eine Minute später füllt sich die Straße mit Aufregung und Geschrei, die Menschen eilen die Treppe hinauf – es ist zu spät, Minelli ist entflohen; auf einer Bank gegen die steinerne Wand gelehnt, sitzt die Angiolina, und zu ihren Füßen, halb kniend, den Kopf auf ihrem Schoß ein Sterbender. Ehe der herbeigerufene Arzt eintrifft, sind beide tot.

Bis tief in die Nacht hinein umwogt der Aufruhr das einsam öde Haus, neben dem der Akazienbaum blüht.

Der Podesta kommt mit seinem Schreiber, um den Tatbestand zu Protokoll zu nehmen. Sie sitzen auf der Loggia, er und der Schreiber, an einem wurmstichigen viereckigen Tisch um ein flackerndes, übelriechendes Talglicht herum. Die Leute drücken sich gegen die Wand, erzählen einander halblaut Geschichten, die an Schaurigkeit überbieten sollen, was sie soeben erlebt. Das Licht flackert im Wind, wirft seinen unruhigen gelben Schein über den Podesta mit seinem Schreiber, dann undeutlich über die flüsternde Menge und über eine große Lache Blut neben der Bank an der Wand; in den Duft des Akazienbaumes mischt sich ein häßlich salziger Geruch.

Die gerichtliche Prozedur ist beinahe beendet, da kommt eine hohe, schwarze Gestalt die Treppe herauf – der Pfarrer mit seinen langen weißen Haaren und seinem würdigen alten Gesicht. »Der Heilige« nennt man ihn in dem Örtchen.

»Es ist nichts für Euch zu tun hier, mein ehrwürdiger Vater,« ruft ihm der Podesta entgegen, »er war ein Protestant, sie eine Selbstmörderin.«

Aber der Pfarrer ließ die Einwendung nicht gelten, er verlangte, daß man ihn zu den Leichen führen sollte.

Da willfahrte man ihm.

Auf dem harten Steinfußboden hatte man sie niedergelegt, in das große, kahle Zimmer neben der Loggia.

Nebeneinander lagen sie da, alle beide mit Blut übergossen, nur die bleichen Gesichter völlig von Blut frei. Ein Weib war mitgekommen, dem Geistlichen zu leuchten, sie senkte das Licht über die Toten.

Der Pfarrer fuhr zusammen, ihm war's, als habe er nie etwas Schöneres gesehen als diese beiden Menschen, die selbst dem Tode heilig gewesen waren, so daß er sie mit Gewalt aus dem vollen Leben herausgerissen, ohne an ihrer herrlichen Blüte zu rühren. Er erschrak über den glücklichen Ausdruck auf dem Gesicht der beiden toten Sünder, die beide aussahen, als hätten sie mit dem letzten Blick in den Himmel geschaut.

»Opfer der Leidenschaft!« murmelt das Weib, welches das Licht hielt. »Morti di passione

Passione! Das Wort klang eigentümlich lockend und klagend durch den kahlen Raum, an dessen Wänden es wie schauernd zurücktönte.

»Di passione

Dem alten Pfarrer trat der Schweiß auf die Stirn, er kniete nieder neben den beiden Leichen, neben dem Protestanten und der Selbstmörderin, und betete.

Als er um einige Zeit später die Casa Minelli verließ, hielt er die Hände krampfhaft gefaltet und den Kopf tief gesenkt.

Er irrte durch die Felder in dem matt schimmernden Mondlicht bis zum Morgengrauen. Eine Unruhe, die er in seinem langen, heiligen Leben niemals empfunden, rüttelte ihn an jedem Nerv und erhitzte sein Blut.

 

Die Kunde von Jacks Ermordung und den Umständen, unter welchen sie erfolgt war, verbreitete sich über ganz England.

Es gab lange Erörterungen in den Zeitungen, die Sache wurde als ein entsetzlicher Skandal beurteilt, verurteilt, durchgehechelt und – zu den Akten gelegt.

Auf die Gemüter seiner nächsten Anverwandten wirkte die Todesnachricht natürlich erschütternd. Das Philistertum Sir Bryans beugte in diesem Fall das Knie vor der Summe des Blutes. Er, der nüchterne Geschäftsmann, magerte ab, schlich ein halbes Jahr mit gesenktem Blick zwischen den Menschen herum, wortkarg, als ob er sich eines Verbrechens schuldig fühle.

Er vermied es, wo er konnte, von Jack zu reden; vermochte er es aber nicht, dem Gespräch über ihn auszuweichen, so gedachte er des jüngeren Bruders nie, ohne seinem Namen ein mitleidiges Beiwort hinzuzufügen.

Lady Klara verteidigte ihren Schwager durch dick und dünn dem englischen Cant kühn ins Gesicht hinein.

Mrs. Winter weinte, alterte und behielt ihre Gedanken über den Fall für sich.

Selbst Sarah war nachsichtig, sie begnügte sich, philosophische Betrachtungen anzuknüpfen an den Vorfall, führte im übrigen das ganze Unglück auf den Alkoholismus zurück.

Nur eine von den Jack nahestehenden Personen blieb gänzlich unversöhnlich gegen ihn gestimmt, das war die verwitwete Mrs. Jack Ferrars.

Nachdem der erste Augenblick des Schmerzes um seinen Tod, des Schreckens über die Plötzlichkeit desselben vorüber war, empfand sie von dem Unglück nichts mehr als den Schimpf, die Demütigungen, welche ihr aus den Umständen erwuchsen, die den Tod Jacks herbeigeführt hatten. Sie erwähnte seiner nie ohne eiskalte Härte, ja, hob alle Steine in seiner Vergangenheit auf, um ihn zu erniedrigen.

 

Für all diese Persönlichkeiten ist der Strom des Lebens weitergezogen über Jacks Leiche hinüber. Sein Tod ist halb vergessen wie sein Leben. Selbst Mrs. Winter hat ihre Existenz von neuem aufgenommen.

 

Einen einzigen gibt's, der sein Gleichgewicht nicht mehr zu finden vermag seit der Katastrophe in der Casa Minelli, das ist der alte Pfarrer von Ponte San Giovanni.

Wenn die Leute jetzt von ihm reden, so deuten sie sich auf die Stirn. Er ist nicht mehr derselbe Mensch.

Besonders im Mai, wenn der Schirokko über der Erde brütet, der Dämon des Frühlings, da streicht er zwischen den Feldern herum, wie vom Bösen verfolgt, um dann schließlich niederzuknien neben dem Eisengitter, welches das kleine Fleckchen Erde umstarrt, in dem man die beiden Sünder verscharrt hat, den Protestanten und die Selbstmörderin. Nebeneinander haben sie sie begraben – die Leichen der beiden Ausgestoßenen.

Da verweilt der arme Pfarrer oft bis in die Nacht hinein, bis die Dunkelheit die Welt umfängt, bis die roten Mohnblumen auf den Gräbern schwarz werden und die Kelche schließen, oder bis der Mond, den Schirokkodunst teilend, ein fahles Licht über die weite, flache Landschaft gießt. Die Hände gefaltet, den Blick auf die Mohnblumen geheftet, denkt er immer dasselbe: daß es schön gewesen sein muß, jung zu sterben an einer letzten großen Freude! Und dann fragt er sich, ob die Liebe ein Werk des Teufels oder ein Werk Gottes ist.


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