Ossip Schubin
Toter Frühling
Ossip Schubin

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Ja, es war eine Torheit, niemand wußte es besser als er selbst, daß es eine Torheit war, in dem ungeheuren Paris ein schönes Frauenzimmer zu suchen – ein armes Frauenzimmer noch obendrein, das heißt eins, welches man nicht erwarten konnte, in ihrer Loge in der Oper oder in ihrem Wagen im Bois zu sehen. Aber manches Mal ist der Zufall den Toren hold, sagte er sich – warum sollte er ihm nicht hold sein?

Er hoffte, daß er ihm hold sein würde. Infolgedessen verbrachte er acht Tage damit, Paris nach allen Weltgegenden hin zu durchbummeln, mit neugierig aufgesperrten Augen, die dermaßen damit beschäftigt waren, in die Ferne auszuspähen, daß sie das Nächstliegende übersahen, was Jack bisweilen in unangenehmen Konflikt mit den Passanten brachte, die harmlos neben ihm auf den schmalen Bürgersteigen der inneren Stadt einherwanderten, und von denen er mehr als einen beinahe umarmt oder umgerannt hätte.

Nach acht Tagen war er dieses unfruchtbaren Zeitvertreibs etwas müde, lachte sich dafür aus und gab ihn auf. Zwei Sachen hatte er im Laufe dieser acht Tage in Erfahrung gebracht, erstens, daß der Maler, an den ihn seine Tante Jane empfohlen, sich momentan nicht in Paris aufhielt, und zweitens, daß Paris für einen Menschen, der sich gleich ihm in der Kunst des Sparens möglichst rasch ausbilden wollte, nicht der geeignete Ort sei.

Infolgedessen entschloß er sich, die heißen Monate in einem kleinen französischen Seebad zu verbringen, das jeden Sommer von Pariser Künstlern kolonisiert wurde und in welchem er zugleich ungeniert Studien machen und Malerbekanntschaften anknüpfen konnte.

Ein frischer Julimorgen war's, da er in Cayeux ankam, einem armseligen Nest, mit Hotels, in denen die teuerste Pension sechs Franken täglich kostete. Er drehte den Hotels den Rücken, mietete sich ein malerisches und für seine Zwecke wohnliches Fischerhaus, ließ seine Bedienung von einem Matrosen besorgen und seine Küche von einer alten Fischersfrau, die ehemals Köchin gewesen war. Er fühlte sich sehr wohl in seiner Umgebung, knüpfte nach rechts und links mit Künstlern und Matrosen Bekanntschaften an und drehte der Kasinosippe geflissentlich den Rücken.

Er schwamm wie ein Fisch, plätscherte stundenlang in den Wellen herum, kaufte sich ein kleines Segelboot und gewann allen Seeleuten Bewunderung ab durch die Geschicklichkeit, mit welcher er weit ins Meer hinaussteuerte, und einmal, da bei einem entsetzlichen Seesturm ein armes kleines Schifflein, das nicht in den Hafen einzulaufen vermochte, mit verzweifelten Alarmsignalen mitten aus den es grausam umtosenden Elementen heraus um Hilfe rief, war er einer der ersten, der das Rettungsboot aus dessen feuerfester Behausung zerren und flottzumachen half. Auch ruderte er mitten zwischen den anderen Matrosen im roten Flanellhemd quer durch die tosenden Wellen hindurch den Bedrängten entgegen. Man rechnete es ihm hoch an, so hoch, daß es ihn beschämte.

Die meisten der Seeleute, welche mit ihm zugleich das gefahrvolle Rettungswerk unternommen, waren verheiratet und ließen, falls ihnen etwas zustieß, eine mittellose Familie zurück, und dennoch hatten sie sich mit geradezu naivem Opfermut in die drohende Lebensgefahr hinausgewagt, als ob das etwas Selbstverständliches gewesen wäre. Niemand verwunderte sich darüber, und kein Hurra jauchzte ihnen entgegen, als sie mit der geretteten Mannschaft, von Wasser triefend, vor Anstrengung keuchend, über die schäumenden Wellen, zwischen deren weißen Kämmen sich gähnende Abgründe auftaten, in Port liefen.

Aber daß der vornehme »Milor« sich die Hände schmutzig und die Kleider naß gemacht hatte, um mitzuhelfen, darüber hatte das Staunen kein Ende. Er wurde gefeiert, als ob er das ganze Rettungswerk allein vollbracht hätte. Um den Fischern sein besonderes Wohlwollen zu beweisen, ja auch um ihre Aufmerksamkeit ein wenig von seiner Person abzulenken, lud er sie alle zu einem Punsch in die beliebteste Matrosenkneipe und zechte mit ihnen, bis ihm übel ward. Er liebte das Volk, aber seine Nerven sträubten sich manchmal gegen die Ausführung seiner liberalen Theorien.

Wie bereits erwähnt, verkehrte er außer mit den Seeleuten meistens mit Künstlern, er plauderte gern mit ihnen, freute sich sehr an ihrer Feinfühligkeit und Begeisterungsfähigkeit, an ihrem Sinn für Humor, an ihren Kindereien, an dem Überschuß von Leben, der ihnen aus den Augen sprühte und aus jeder spontanen Äußerung sprach und dem von der vornehmen Totschlächtigkeit seiner Landsleute längst übersättigten Jack besonders wohltat. Er nahm die Gewohnheit an, mit ihnen zu wandern, ihnen zuzusehen, während sie malten, er kannte bald die Privatmanier eines jeden der in Cayeux anwesenden Genies, er lächelte heimlich bald über das zahme Gestrichel des einen, bald über die kühnen Klecksereien des anderen. Fast keiner wagte es, der Natur unbefangen ins Gesicht zu schauen, alle huldigten sie irgendeinem künstlerischen »Anschauungsübereinkommen«, das sie, wenn darauf die Rede kam, durch bis zur Spektralanalyse zurückgreifende Theorien höchst scharfsinnig begründeten.

»Aber laßt doch das viele Grübeln sein, sperrt eure Augen auf, schaut sie euch trunken von all der Schönheit, die euch umgibt und die oft aus dem Einfachsten spricht, und dann – nun dann trachtet wiederzugeben, was von all der Schönheit allenfalls durch eure Augen bis in eure Seele gedrungen ist!« Das hätte Jack ihnen zuschreien mögen. Natürlich unterließ er es, erstens, weil er ein bescheidener Mensch war, der sich nicht berufen fühlte, Künstlern, von denen viele bereits berühmte Namen trugen, in ihr Handwerk hineinzureden (schließlich war ja anzunehmen, daß sie allenfalls doch noch mehr davon verstünden als er selbst), und dann auch, weil er gern mit ihnen auf gutem Fuße blieb und sich infolgedessen hütete, ihre Empfindlichkeit zu reizen. Er hatte eine sehr große Dosis Takt, das heißt die instinktive Gabe, alle dünnhäutigen, leicht verletzbaren Stellen an Geist und Körper der Menschen rasch zu erkennen und infolgedessen zu schonen.

Trotzdem er von den Leistungen der wenigsten in seiner Umgebung Besonderes hielt, hatte er sich anfangs geniert, mitten zwischen diesen Berufsmalern die Unbeholfenheit seiner Anfängerschaft Preiszugeben. Aber eines Tages zog er doch in aller Frühe zu malerischen Zwecken praktisch ausgerüstet zwischen den rosenumkränzten Häusern der krummen, schlecht gepflasterten Hauptstraße von Cayeux in die Felder hinaus und versuchte der Natur in dieser weihevollen Morgenstille etwas besonders Inniges abzulauschen.

Er war allein und hoffte es zu bleiben. Plötzlich jedoch bemerkte er einen langbeinigen Schatten neben sich – einer seiner Künstlerfreunde hatte ihn entdeckt. Jack wurde rot – aber anstatt, wie er erwartet, eines nachsichtig spöttelnden Lächelns erblickte er auf dem Gesicht des jungen Franzosen den Ausdruck aufrichtig anerkennenden Staunens, der sich plötzlich in dem Ausruf Luft machte: »Nom d'un chien, mais vous en avez du talent, mon cher, c'est que vous êtes artiste jusqu'au bout des ongles!«

Jack schlug wenigstens fünfzig Prozent Freundschaft ab von diesem Lob, er war ein bescheidener Mensch wie alle klaren Köpfe, dennoch zuckte es ihm bis in die Fingerspitzen vor Freude, und die Ohren brannten ihm heiß.

Sein anfänglich leichtsinnig gefaßter Entschluß, sich der Kunst zu widmen, nahm von dem Tage an festere Umrisse an. Er blieb in Cayeux, bis die Tage kurz wurden und die Wellen trüb grau und sehr kalt, so kalt, daß nicht einmal die Matrosen sich, außer wenn sie gerade mußten, die Füße drin naß machten. Jack aber schwamm noch alle Tage in das mißmutig entfärbte Herbstmeer hinaus, weit, weit, so weit, daß ihm die erfahrenen alten Seeleute Vorstellungen machten darob, aber er kam jedesmal glücklich zurück mit glänzenden blauen Augen und frisch gefärbten Wangen, und dann machte er sich von neuem an die Arbeit. Seine Seele war voll von dem angenehmen Fieber eines natürlichen, nicht künstlich erzeugten Schaffensdranges, er war wirklich eine Künstlernatur bis in die Fingerspitzen hinein, aber ...

Mitte Oktober verließ er Cayeux. Er nahm eine dickleibige Mappe voll Landschaftsstudien und sämtliche Sympathien des grauen Künstlernestes mit sich.

Fast fünf Monate waren seit dem Tag verstrichen. Was war in diesen fünf Monaten alles geschehen? Nichts Besonderes – nein, herzlich wenig – aber doch allerlei.

Unter anderem hatte Jack in sein Restchen Kapital ein sehr großes Loch gemacht. Er konnte wirklich nicht von dreihundert Pfund Renten leben, das brachte er einfach nicht fertig.

Anfangs hatte er seinen von neuem täglich mehr einreißenden alten Verschwendergewohnheiten gegenüber Skrupel empfunden; die aber hatte er trotz der lachend hingeworfenen Warnung seiner Schwägerin immer wieder mit dem Gedanken an seine Baugründe, die früher oder später Millionen einbringen mußten, beschwichtigt, nebenbei auch mit der Überzeugung, daß er bestimmt sei, sehr bald viel durch seine Kunst zu verdienen.

Diese Überzeugung hatte ein amerikanischer Kunsthändler in ihm gekräftigt, indem er ihm auf seine aus Cayeux mitgebrachten Skizzen hin einen großen Vorschuß geleistet und Jacks ganzes Talent in Pacht genommen hatte.

Um die Baugründe hatten sich nach wie vor keine Käufer gemeldet, der Vorschuß des Kunsthändlers war verbraucht, die Reklameartikel, welche der unternehmende Amerikaner für sein gepachtetes Genie in verschiedentlichen Zeitungen hatte abdrucken lassen, waren vom Publikum vergessen, aber die beiden bestellten Marinen, ein Sturm und ein Sonnenuntergang, jede zweieinhalb Meter lang zu hundertundachtzig Zentimetern Höhe, waren noch immer nicht gemalt. Der Kunsthändler fing an ungeduldig zu werden, er kam jede Woche nachsehen. In der jüngst vergangenen war er zweimal gekommen. Ich fühlte bereits die größte Lust, ihm seinen Vorschuß an den Kopf zu werfen – aber woher nehmen?

Was hatte er denn die vergangenen fünf Monate hindurch mit sich angefangen? Kaum von Cayeux zurückgekehrt, ganz mit künstlerischem Schaffensdrang und den besten Absichten, das Leben ernst zu nehmen, erfüllt, hatte er sich vor allem bemüht, den Rahmen seiner künstlerischen Existenz zweckentsprechend auszugestalten. Er hatte sich ein Atelier gemietet und eingerichtet nach allen Regeln künstlerischer Tradition, mit sehr schön geschnitzten alten Holzmöbeln, orientalischen Teppichen und japanischen Blenden, Bronzen, Waffen und geschmackvollem Allerlei. Dabei hatte sich die Überzeugung seiner bemächtigt, daß es sehr unpraktisch gewesen war, sein Londoner Mobiliar zu versteigern. Als sein Atelier ebenso wie sein Privatlogis nach seinem Geschmack hergerichtet war, hatte er angefangen ein wenig zu arbeiten. Aber das konzentrierte Interesse an der Kunst, welches seine Fähigkeiten in Cayeux getragen, fehlte hier, ihm war's, als ob er Blei in den Händen habe, allerhand Zerstreuungen drängten ihn von der Staffelei hinweg. Er fühlte, daß ihm die Vorkenntnisse fehlten. Von Zeit zu Zeit nahm er einen ehrlichen Anlauf, sich zu plagen, sich gewissenhaft hinaufzudienen in der Kunst. Er zeichnete mit ein paar Dutzend langhaarigen Jünglingen in der Akademie Akt. Es interessierte ihn – seine Versuche fielen den Professoren auf – aber – es kam immer wieder etwas dazwischen.

Anfänglich hatte er seine in Cayeux angeknüpften künstlerischen Bekanntschaften stark kultiviert, er hatte sie in ihren bescheidenen Häuslichkeiten aufgesucht oder auch bei sich glänzend bewirtet. Nach und nach aber war er mehr und immer mehr außer Verkehr gekommen mit ihnen. Er selber hätte es nicht zu sagen gewußt, wodurch. Ein paar seiner alten Bekannten, unter anderen ein Vetter, welcher der englischen Botschaft attachiert war, hatte ihn aufgesucht, und – und – ja die Gesellschaftsluft, in der er aufgewachsen war, heimelte ihn an. Nach längerer Zeit ausschließlich künstlerischen Verkehrs unterhielt er sich prachtvoll in der Welt. Seine Landsleute waren in Paris geradeso amüsant, als sie in London häufig langweilig waren. In Paris machten sich die Anständigsten unter ihnen nichts daraus, am Sonntag Romane zu lesen, Polkas zu klimpern, ja unter Umständen die Kirche zu schwänzen und ins Theater zu gehen. Der ganze drückende englische Nationalcant war samt dem kalten grauen Nebel, unter dessen Einfluß er sich ausgebildet hat, in England zurückgelassen worden. Hier und da erhob irgendein Mentor das Wort, aber er wurde einfach niedergelacht. Man besuchte die Theater in Gesellschaft reizender junger Frauen – die ganz kleinen nichtsnutzigen Theater, wo man sich am köstlichsten amüsierte, man soupierte dann bei Bignon, man machte die pompösesten Feste mit bei amerikanischen Emporkömmlingen, lachte darüber, wenn man den Maître d'hôtel mit dem Hausherrn verwechselte und der Maître d'hôtel es übelnahm, man tanzte auf allen Botschaften und gab sich mit seinen Intimen von einem Mal zum anderen Rendezvous. man lief Schlittschuh im Bois so lange, bis das Wetter wieder weich wurde, man traf zwischen acht und zehn Uhr morgens zu Pferd im Bois zusammen – Jack hatte so viele reiche Freunde, die immer bereit waren, ihm ihre Pferde zu borgen. Ja, die letzten fünf Monate hatten nicht zu den unangenehmsten in Jacks Leben gezahlt, aber, da – von einem Tag zum anderen war der Katzenjammer gekommen – der Gedanke: Was soll aus dem allen werden? Wenn sich der verflixte Geldmangel nur nicht so fühlbar gemacht hätte! Er rieb sich den Kopf. Es war schrecklich und zum Totlachen zugleich, daß immer diejenigen Menschen, die, wie er, das Geld am gründlichsten verachteten, es am wenigsten zu entbehren vermochten.

Es war ein Märztag – die Mi-carême, der alljährlich in die Fasten eingesprengte Karnevalstag. Man hatte sonst die Gewohnheit gehabt, lustig zu sein in Paris an dem Tage, man versuchte es, der alten Gewohnheit treu zu bleiben, aber man brachte es nicht fertig. Die Dissonanz der unfrohen, dem Datum zuliebe künstlich heraufbeschworenen Heiterkeit schlug von der Straße herauf an sein Ohr.

Er erhob sich von dem Diwan, auf dem er bis dahin mißmutig seine sehr langen Glieder ausgestreckt hatte, und drückte, die Hände in die Taschen seines Jacketts steckend, seine kurze, gut geschnittene Nase gegen die Scheiben seines Atelierfensters platt. Das Atelierfenster sah auf den Boulevard Rochechouart hinaus, ihm gegenüber ragte eine Reihe nicht sehr erbaulicher Vergnügungslokale auf, unter anderen die berühmte Boule noire. In allen Fenstern lagen Frauenzimmer in himmelblauen oder rosa Nachtkorsetten.

Inmitten des Boulevards zog sich eine Reihe magerer Stadtbäume, Jack konnte nicht recht unterscheiden, ob es Platanen oder Kastanienbäume waren. Der Frühling gärte bereits in ihnen, die braunen Knospenhülsen waren zum großen Teil aufgesprungen, und blaßgrüne, eng zusammengedrehte Blättchen ragten daraus hervor. Fast knapp vor Jacks Fenster befand sich eine Tramwaystation, jede fünf Minuten hielt ein Tram. Das Menschengewühl, welches sich auf den Wagen losstürzte – Männer, Frauen und Kinder, schwache Wickelkinder, welche man zu irgendeinem Vergnügen mitgenommen –, wirkte unheimlich.

»Wie häßlich ist die Menschheit en masse!« rief er, sich abwendend, aus, »und besonders die Pariser Feiertagsmenschheit!«

Aber mochte er sich hundertmal abwenden, die draußen in den Straßen herrschende Disharmonie verfolgte ihn bis in das Innerste seiner Gemächer. Immer das Gerassel der Wagen, das »Tu-tu« der Tramwaykutscher, das abscheuliche »Tu-tu«, das ihn an den letzten Akt von »Ernani« erinnerte – das Gewimmer irgendeines erschrockenen Kindes und das klagende Säuseln des Märzwindes in den Ästen der Bäume, an denen die Knospen zu springen begonnen hatten. Und dazu Jack mit den unangenehmen Erinnerungen an seine immer höher anlaufenden Schulden, die Baugründe, die nicht verkauft, die Marinen, die nicht gemalt waren, und mit dem Katzenjammer im Leib, mit welchem jeder halbwegs anständige Mensch es bezahlt, daß er fünf Monate lang an nichts anderes gedacht hat als an seine eigene Unterhaltung.

Er kam zu der Überzeugung, daß das Leben herzlich schal sei und das einzige darin von innerem Gehalt und wirklichem Wert – die Arbeit!

Er wollte Ernst machen. Die beiden Marinen mußten warten, er fühlte im Augenblick einen Widerwillen gegen Marinen, er hatte ihrer kürzlich zu viele bei einer öffentlichen Versteigerung im Hotel Drouot gesehen; sechsundzwanzig Marinen, alle grün mit etwas weißem Schaum vermischt aus dem Nachlaß eines berühmten Ozeanmalers. Brr! Sie erinnerten ihn alle zusammen viel weniger an das Meer als an zerquetschtes Reineclauden-Kompott. Er wollte sich ein Modell mieten, es tüchtig von allen Seiten abzeichnen, sich wieder einmal den Blick schärfen. Hm! – Aber er war so aus allem heraus, wen konnte er denn um Rat fragen? Das Gute lag so nah – der Maler, an den ihn seine Tante empfohlen, wohnte ein paar Schritte weit entfernt. Über den Empfehlungsbrief Mrs. Winters hatte er zwar nie ein Wort gesagt, aber er war immer freundlich gewesen gegen Jack. Und er wohnte so nahe bei ihm, kaum fünf Minuten weit. Jack nahm seinen Hut und machte sich auf den Weg zu Armand Sylvains nach dem Boulevard Clichy. Über eine schmale, glitscherige Treppe kletterte er zum zweiten Stockwerk empor, wo er an eine unansehnliche gelbe Tür klopfte.

Auf ein rauh herausgestoßenes »Herein« trat Jack in das Atelier des Meisters. Es war hoch, sehr geräumig und fast in seiner ganzen Breite gegen die Straße zu mit einem Glasfenster abgeschlossen, sehr staubig, unwohnlich, ohne jegliche Ausschmückung, im übrigen mit mindestens einem halben Dutzend Staffeleien und zwei oder drei plumpen, mit Malerwerkzeug aller Art belasteten Tischen ausgestattet.

Auf einer der Staffeleien befand sich eine mit Zechinen garnierte Zigeunerin, auf einer anderen ein trostloses Gemälde, eine Szene aus dem bulgarischen Aufstand – ein Leichensalat auf einer öden Fläche unter dräuendem Gewitterhimmel.

An der Wand hingen neben verschiedentlichen Studien ein paar nach der Natur modellierte Gliedmaßen, die Erde war mit Farbentuben und Zigarrenstumpfen bestreut.

Armand Sylvains stand vor einer der Staffeleien, einen hohen Zylinderhut auf dem Kopf, ein großes weißes Foulard-Cachenez um den breiten roten Hals, im übrigen ganz grau angezogen. Er war ein großer, offenbar sehr schön gewesener Mensch, der aber, wie man es auf den ersten Blick erkannte, sich in keinem Genuß zu mäßigen verstanden hatte. Seine mächtigen Glieder waren von der Gicht entstellt, die ehemals feine, sehnige Hand war schlaff und dick, auch seine glattrasierten Wangen, sein Doppelkinn und die starke rote Unterlippe hatten sich verschlafft, die markig gebogene Nase sich vergröbert, und unter den etwas hervorstehenden schwarzen Augen hingen dicke weiße Säcke.

Die Zähne waren noch gut, und der aufgezwirbelte Schnurrbart wirkte fast pathetisch, so unzeitgemäß jung sah er aus. Sylvains befand sich allein in dem Atelier, als Jack eintrat; es war Jack lieb. Die verstimmten journalistischen Posaunen, welche sich mitunter in der Werkstatt des Malers versammelten, waren ihm widerlich.

»Sieht man Sie wieder einmal?« rief ihm der alte Künstler entgegen, indem er ihm die Hand reichte, »tiens, und es ist nicht einmal Aschermittwoch.«

»Ja, glauben Sie denn, ich komme nur zu Ihnen, um meine Sünden abzubüßen?« fragte Jack munter.

»Jedenfalls kommen Sie nur, wenn Sie Katzenjammer haben,« brummte Sylvains, »aber setzen Sie sich, setzen Sie sich – wollen Sie eine Zigarette – da – hm! – niedriger moralischer Barometerstand – ich seh's Ihnen an – meinetwegen sind Sie nicht gekommen, Sie haben irgendein Anliegen.« »Ich bin gekommen, um ein wenig mit Ihnen über die Kunst zu plaudern,« erklärte Jack.

»So! Über meine oder über Ihre Kunst?« fragte humoristisch Sylvains.

»Meine Kunst existiert noch nicht,« erwiderte Jack.

»So, das ist richtig, eigentlich richtig – und meine existiert nicht mehr!« setzte er hinzu, und dann lachte er hart und grell, »die Menschen behaupten es zum wenigsten. Bah! – boshaftes Pack – Neid, blasser Neid – na, und womit kann ich Ihnen dienen?«

»Meister, ich möchte endlich einmal Ernst machen, ich möchte arbeiten.«

»Sagt ich's doch, daß Sie mir einen Katzenjammer mitbringen,« rief Sylvains.

»Muß man denn durchaus Katzenjammer haben, um sich daran zu erinnern, daß man Künstler ist?« fragte Jack.

»Solche Leute wie Sie immer,« entgegnete ihm Sylvains, »für Proletarier ist die Kunst das Paradies der Verstoßenen – für Leute wie Sie, die was Amüsanteres haben im Leben, ist sie ein Gemüsegarten, in dem man so rasch als möglich seinen Samen säet, um möglichst viel zu ernten. Aber sie nimmt's übel, die verdammte Hexe, wenn man ihr nicht von ganzem Herzen ergeben ist, das ist das Ärgste. Hm! Aus Ihnen wird nie etwas werden, glauben Sie mir, mein Lieber, trotz Ihres Talents wird nichts aus Ihnen werden – Sie haben nicht das Zeug in sich, sich in den großen Wahn zu vertiefen. Einem richtigen Künstler ist die Kunst das Leben, und das Leben irgend etwas Nebensächliches, was abgefertigt werden muß. Ihnen wird das Leben immer die Hauptsache bleiben. – Que diable! Sie sind geschaffen, es zu genießen. Steht's schlecht mit den Finanzen? – So, so! – Heiraten Sie, es ist die einzige Karriere, die für Sie taugt. Was haben Sie denn in der letzten Zeit gearbeitet?«

»Nicht viel – eine Landschaft hab' ich begonnen nach einer meiner Skizzen aus Cayeux – aber ich komme nicht recht vom Fleck – das Ding langweilt mich.«

»Natürlich langweilt Sie's!« rief Sylvains, »Sie sind ja nur Landschaftsmaler aus Faulheit, weil Sie sich einbilden, daß man sich in der Landschaft seiner Willkür am rücksichtslosesten überlassen und eine feste Form am ehesten umgehen könne. Lassen Sie's gut sein, eine tüchtig durchgeführte Landschaft ist so ziemlich eine der schwierigsten Aufgaben, die sich ein Künstler stellen kann. Aber wer denkt denn an so etwas, und das bloße Aufs-Geratewohl-Einschmutzen einer Leinwand, das man gewöhnlich landschaftern nennt, ist mir ein Greuel – ekelhaft. Und weiter brächten Sie's in der Richtung nicht. Ihre Begabung liegt anderswo. Sie haben die Fähigkeit, eine menschliche Individualität zu charakterisieren. Aber was Teufel, vor allem müssen Sie zeichnen lernen, mit der Farbe werden Sie immer fertig werden, es ist die verfluchte Form, die Ihnen zu tun geben wird. Zeichnen, zeichnen, zeichnen, wenn Sie es zu etwas bringen wollen! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen erteilen kann. Aber – Sie machen ja doch nichts! Heiraten Sie, mein Lieber, heiraten Sie!«

Jack wußte nicht, ob er lachen oder sich ärgern sollte. Da ihm die Wahl schwer wurde, tat er beides.

»Von einer Versorgung wollen wir vorläufig absehen, indessen bitte ich Sie um näherliegende Ratschläge. Ich bin gleich Ihnen überzeugt davon, daß es für mich sehr notwendig ist, zu zeichnen, und ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mir ein Modell empfehlen könnten, das zu ausgiebigem Studium taugt.«

»Ein Modell – nehmen Sie Luca Canini, er ist ein gewichster Neapolitaner, pockennarbig, häßlich wie die Nacht – aber alles, was Sie brauchen in bezug auf Muskeln und Ausdauer, wird Ihnen nebenbei Ihre Pinsel putzen und Kommissionen besorgen, jede Art von Kommissionen, er ist so ziemlich der gewissenloseste Lump von Paris, aber bares Geld können Sie immer vor ihm liegen lassen, offene Briefe nicht.«

»Da ich keine Busenfreundschaft mit ihm schließen will, ist mir seine Moralität ziemlich gleichgültig. Wollen Sie mir freundlichst seine Adresse aufschreiben?«

»Ja, ja!« brummte Sylvains unwirsch, dann plötzlich wütend auf Jack losfahrend, rief er: »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie seit einer Viertelstunde allen meinen Bildern den Rücken gekehrt haben!« »Aber Meister! – Ich behielt mir vor –«

»Ach, was behielten Sie sich vor – sperren Sie die Augen auf – was sagen Sie zu dieser Leinwand?« Damit pflanzte sich Monsieur Sylvains breitschulterig vor seinen bulgarischen Leichensalat.

Jack log sehr ungern. »Das Bild ist schauerlich,« sagte er langsam, »aber es ist prachtvoll gemalt!«

»Das glaub' ich, nom d'un chien! daß es gut gemalt ist; ich möchte einen wissen unter den Künstlern, die heutzutage den Vildermarkt beherrschen, der mir nur eine Handbreit, nur eine Handbreit davon nachmalen könnte! Da ist Kraft drin, Schwung!«

»Ja, ja! Kolossal, kolossal!« murmelte Jack, aber ohne rechte Überzeugung. Im Innersten seines Herzens fand er die Mache des Malers – veraltet.

Sylvains runzelte die Stirn. Da klopfte es an die Tür.

Sylvains fuhr zusammen. »Herein!« rief er und setzte hinzu: »Nur vorwärts, Luca,« als ein Mann in schlampigen, halb bäuerlichen, halb städtischen Kleidern eintrat. Anstatt eines Hemdkragens trug er irgendein buntes Kattuntuch um den Hals. Sein gelbes, pockennarbiges Gesicht zeichnete sich durch ein unbeschreiblich servil einschmeichelndes Grinsen aus. Er hatte langes, auf der rechten Seite gescheiteltes Haar, kleine, listig blinzelnde Augen, eine aufgestülpte Nase und dicke Lippen.

Man merkte ihm sofort an, daß er ein Italiener sei, aber man wunderte sich zugleich, daß es ein Italiener zustande brachte, so ordinär auszusehen.

»Luca Canini,« rief Sylvains, indem er ihn gleichsam Jack vorstellte. »Sie kommen wie gerufen,« setzte er hinzu; »da ist ein junger Herr, der ein Modell braucht.«

»Al suo servizio; Eccellenza!« erwiderte Luca grinsend, indem er seinen schmutzigen Hut aus weichem grauem Filz an seine Brust hielt.

»Wann soll begonnen werden?« fragte Sylvains, »morgen?«

»Nein, morgen geht es nicht, morgen habe ich Lady Leclerq versprochen, sie im Bois zu begleiten.«

»Na, da haben wir's,« lachte Sylvains.

»Meinethalben morgen!« rief Jack unwirsch, »ich werde Lady Leclerq abschreiben; ich werde grob sein, nur um meinen künstlerischen Ernst zu beweisen.«

»Das müssen Sie auch, ohne das geht es nicht ab,« entschied Sylvains; »soll ich den Preis für Sie ausmachen?«

»Was mir Milor gibt, wird mich zufriedenstellen,« versicherte Luca miauend. »Wenn der Herr befiehlt, morgen um neun, gut – morgen um neun. Aber mille scusi – ein weibliches Modell steht vor der Tür – wenn der Herr mir erlaubt, es hereinzubringen – vielleicht könnte es einem von den Herren nützlich sein.«

»Mein Bedarf ist momentan gedeckt,« erklärte Sylvains; »und Ihnen,« sich an Jack wendend, »würde ich raten, nicht mit einem weiblichen Modell anzufangen, erstens ist die Struktur des männlichen Körpers stärker markiert – Sie lernen mehr, und dann zweitens ist der künstlerische Ernst der Situation weniger gefährdet.«

»Aber es ist ein so besonders schönes Modell, scusi, Eccellenza, nur einen Augenblick –« Ohne auf eine Artwort zu warten, öffnete Luca die Tür und rief: »Angiolina!«

In das Atelier trat eine junge Italienerin von etwa zweiundzwanzig Jahren, hochgewachsen, breit in den Schultern und mit einem Kopf von unsagbarer Schönheit. Sie war in einen langen, grauschwarzen Regenmantel eingemummt und ging, wie viele Mädchen ihres Standes in Paris, bloßköpfig.

»Otez ce machin!« rief Sylvains in seiner fachlichen Malerart, indem er an einem Zipfel ihres Mantels zupfte.

Luca Canini half ihr dienstbeflissen die häßliche Hülle abtun.

Unter dem Mantel trug sie ein dunkelgrünes Kleid, das bis zur Dürftigkeit einfach, jedoch von jeglicher Geschmacklosigkeit frei war und unter dessen harmonisch an ihr niederfließenden Falten man die Schönheit ihrer Körperformen deutlich erriet.

»Hein! – was sagen Sie dazu?« fragte Sylvains, indem er die junge Person bei ihrem Ellenbogen nahm und Jack zuwendete.

Jacks Augen begegneten denen des Modells – sein Herz gab einen starken Schlag. Er erkannte die geheimnisvolle Schönheit, der er am Abend seiner Ankunft in Paris am Seineufer begegnet war. Das Blut stieg ihm in die Stirn, er merkte, daß auch sie ihn erkannte und daß die Erinnerung an ihr erstes Begegnen ihr unliebsam war. Sie runzelte die Brauen und wendete den Kopf von ihm ab.

»Welche Figur! Sie muß süperb gewachsen sein,« rief Sylvains; dann zu dem Modell: »Posez vous l'ensemble

Bei dieser völlig gerechtfertigten fachmännischen Frage fühlte Jack, wie ihm die Fingerspitzen brannten – das Modell zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb.

»Nein, sie will nicht, sie will durchaus nicht,« erklärte Luca im Ton aufrichtigen Bedauerns.

»Sie hat ganz recht,« erklärte Sylvains schroff; »also nur Kopf und Hände?«

»Ja, aber sehen Sie nur, Eccellenza, was für Hände!« Luca nahm die Angiolina bei den Fingerspitzen, um den Maler auf die Schönheit der Hände besonders aufmerksam zu machen. »Die langen Finger und der Ansatz des Daumens, und das Handgelenk zart und doch energisch – und der Nacken!«

Luca faßte das Modell bei den Haaren, die, in einen schweren Knoten zusammengewunden, etwas tief am Halse ruhten.

Das Mädchen schüttelte seine Berührung ab, eine zornige Flamme sprühte aus ihren Augen.

»C'est bien – ich will mir die Adresse aufschreiben,« erklärte Sylvains, indem er ein Stück Kohle zur Hand nahm. »Angiolina,« begann Luca, »Rue de la Rochefoucauld.«

»So – und der Preis?«

»Zehn Franken die Sitzung.«

»Das ist viel,« meinte Sylvains.

Das Mädchen wollte etwas sagen, Luca schnitt ihr die Rede ab.

»Es ist auch ein ungewöhnlich schönes Modell,« sagte er.

»Das läßt sich nicht leugnen.« Sylvains hatte die Adresse mit Kreide notiert – er nickte dem Mädchen zu: »Auf Wiedersehen, ich will Ihnen eine Postkarte schreiben, wenn ich Sie brauche.«

Unterdessen hatte Jack der Italienerin geholfen ihren Mantel umzutun, sie hatte nur mit einem Kopfnicken gedankt.

Luca wollte sich mit ihr zurückziehen. »Haben Sie Ihre Sache mit ihm abgemacht?« wendete sich Sylvains an Jack; »morgen um neun soll er zu Ihnen kommen, nicht wahr?«

»Boulevard Rochechouart vier,« sagte Jack.

Luca verschwand grinsend.

»Was sagen Sie zu der Italienerin?« fragte Sylvains den jungen Engländer, nachdem sich die Tür hinter dem Modell geschlossen. »Eine phänomenale Schönheit, die muß ich malen. Es ist mir soeben ein Bild eingefallen.– eine Vestalin im Frühling! – das wird etwas – famos – ein Meisterwerk! Ja, mein Lieber, was machen Sie denn für ein Gesicht, Sie sind ja ganz benommen, und da wollen Sie den künstlerischen Ernst durchführen, wenn die Schönheit des ersten besten Modells Sie umwirft?« Monsieur Sylvains konnte nicht fertig werden mit Lachen.

»Unsinn,« murmelte Jack durch die Zähne, »Unsinn, es gibt zufällig Nebenumstände –«

»Was für Nebenumstände?« fragte Monsieur Sylvains.

Jack runzelte die Brauen, er wurde sich plötzlich sehr klar darüber, daß das Breitschlagen der Nebenumstände seiner Bekanntschaft mit der Angiolina, der Ernst, welchen er der Sache entgegenbrachte, in den Augen des alten Malers ihn nicht weniger lächerlich machen würde. Er behielt die Nebenumstände für sich. »Ich muß mich noch ankleiden zu meinem Diner,« erklärte er, nach seinem Hute greifend.

»So – mit wem dinieren Sie?« fragte Sylvains.

»Mit den Grants im Kontinental, nach dem Diner wollen wir ins Theater.«

»Ah! Mit den Grants! Sehr reiche Amerikanerinnen und hübsch. Die älteste Grant interessiert sich für Sie – nein? Heiraten Sie, mein Lieber, glauben Sie mir, heiraten Sie, 's ist die einzige Karriere, die für Sie paßt. Wenn Sie wüßten, wie viel Ausdauer und Opfermut dazu gehört, einen richtigen Künstler zu machen! Bei mir langte es nicht in dieser Richtung – leider! Sie sehen, was aus mir geworden ist! Na na, man darf sich nicht zu klein machen, und von meinem nächsten Bilde soll ganz Paris sprechen, das sag' ich Ihnen im voraus – ganz Paris.«

 

Verstimmt und aufgeregt verließ Jack das Atelier.

Er kannte den Lebenslauf des alten Malers, und während er sich zum Diner umkleidete, dachte er darüber nach.

Armand Sylvains war ein Künstler, der, mit großem Talent ausgerüstet, noch ziemlich jung mit dem glänzendsten Erfolg debütiert hatte, dessen man sich in künstlerischen Kreisen erinnert, und der jetzt in die traurige Kategorie der Depassés, der überflügelten gehörte.

Es war ihm zu bald gut gegangen im Leben. Sein künstlerischer Idealismus war erst langsam, dann immer schneller im Erfolg erstickt und in dem sich aus dem Erfolg ergebenden Wohlleben. Der tiefe Ernst, welcher das Rückenmark jedes echten, künstlerischen Strebens ist, war ihm verlorengegangen im Wunsche, zu genießen, und in der angenehmen Gelegenheit, die sich ihm zum Genießen bot. Er wußte es, theoretisierte massenhaft darüber, ohne jedoch der Vergnügungssucht, die den Künstler in ihm ertötete, Einhalt zu tun. Die Kunst war für ihn bald nichts mehr als ein lukrativer Beruf, der ihm zu einem angenehmen Leben verhalf. Seine Gedanken waren nicht mehr bei seinen Bildern, sie waren bei den großen Damen, von denen er sich feiern ließ und bei denen er sich Abend für Abend herumsiedelte, vorgeblich, um für seine Bilder neue Typen zu studieren, eigentlich aber nur, weil ihn der seinen subtilen Künstlersinn und seine Künstlereitelkeit bestrickende Zauber, welcher sie umgab, gefangengenommen, weil er sich heimisch fühlte bei ihnen und weil es sich nirgends so reizend faulenzen ließ wie in der Gesellschaft. Seine Kollegen vernachlässigte er deshalb nicht, nein, er war immer ein guter Kerl und zu jedem Atelierscherz bereit; er leerte heute sein Glas leichten blauen Weins am selben Tische mit seinem Portier und morgen seinen Champagnerkelch an der Tafel des Herzogs von Orleans; er schämte sich nie eines armen Verwandten oder schäbigen Freundes und war neben seinen verschiedentlichen aristokratischen Liaisons intim befreundet mit den berühmtesten und berüchtigtsten Schauspielerinnen seiner Zeit. Nein, er vernachlässigte niemand als – die Kunst. Er war noch immer ein Modemaler, aber ein Künstler war er nicht mehr.

Alle Tage fertigte er mit hastiger Geschicklichkeit irgendeine Aufgabe ab, schmierte mit verblüffender, hauptsächlich in grellen Farbeneffekten herumgaukelnder Technik ein Bild fertig, das ihm ein lüsterner Kunsthändler, noch ehe es trocken war, von der Staffelei nahm. Im übrigen ließ er die Reklame dafür sorgen, seinen Ruhm zu erhalten. Auf die Dauer war das nicht durchführbar. Es ging bergab mit ihm, erst langsam, dann immer schneller. Heute war er ein überwundener Standpunkt. Ein paar Journalisten, die er sein Leben lang gekannt und die mit ihm zugleich alt und bitter geworden waren, ein paar junge, denen er Gefälligkeiten erwiesen, machten noch immer ein wenig Lärm um ihn herum, und ein paar amerikanische Kunsthändler bewahrten ihn vor Not. Das war alles, dessen er sich im Alter rühmen konnte. In die große Welt ging er nicht mehr gern. Seine alten Verehrerinnen luden ihn zwar immer noch ein, aber schließlich war es ein mäßiger Zeitvertreib, zwischen den alten Damen sitzen zu müssen und ihnen eintönig ein über das andere Mal zuzuschwören, er sähe ihre Runzeln nicht, während junge Künstler schönen jungen Frauen die Cour machten, Frauen, die einer Generation angehörten, die von seiner Berühmtheit nichts mehr wußte.

Seine Gesundheit war mit seinem Talent eingegangen, er litt an Gicht und Asthma und konnte sich über seine weißen Haare nicht trösten. Sein einziges Vergnügen bestand jetzt darin, sich alle Tage zwei Stunden lang vor dem Café Tortoni inmitten eines Kreises von Künstlern und Literaten, die sich gleich ihm mit dem Grad von Erfolg, den sie erreicht hatten, nicht befriedigt fühlten, seine Theorien breitzuschlagen.

Er hatte den großen Wortreichtum und die niederschmetternden Paradoxen von Künstlern, die mit sich und der Welt unzufrieden sind. Früher ein anerkennender Kollege und wohlwollender Kamerad, war er jetzt von Brotneid verzehrt und quoll über von vernichtenden Urteilen über alle zeitgenössischen Kollegen. Er hatte allerhand Theorien über die Kunst – Theorien, die an und für sich richtig und geistreich waren, die aber seinen Zuhörern dadurch lästig wurden, daß er sie nur dazu anwandte, die Vortrefflichkeit seiner eigenen sowie die Nichtigkeit aller anderen Kunstleistungen deutlich zu beweisen.

Alle Tage saß er zwei Stunden lang bei Tortoni und predigte, das heißt schimpfte. Einen anderen Genutz kannte sein verpfuschtes Leben nicht mehr.

Der Gedanke an diese versumpfte Künstlerexistenz ging Jack den ganzen Abend lang nicht aus dem Kopfe.

In vieler Beziehung bot Sylvains ihm ein warnendes Beispiel. »Heiraten Sie, heiraten Sie!« tönte es ihm ins Ohr. »Es ist die einzige Karriere, die für Sie taugt!«

Das war demütigend, aber vielleicht hatte der Alte recht. Während des Diners streifte ihn der Gedanke, ob eine Verbindung mit der hübschen, eleganten, lebhaften Miß Grant ihm nicht den günstigsten Ausweg aus seinen pekuniären Schwierigkeiten böte. Sich mit ihr zu verbinden, war jedenfalls nicht so schrecklich, wie Mary Winter zu heiraten. Er überlegte sich die Sache allen Ernstes.

Da tauchte das Bild des armen italienischen Modells vor ihm auf. Vergeblich trachtete er es zu verscheuchen, vergeblich sich zu einem vernünftigen Entschluß zu zwingen. Es ging nicht mehr.

Er wurde immer einsilbiger, und im Theater, wohin er die Grants verabredetermaßen begleitete, saß er teilnahmlos hinter den Damen und merkte kaum, was auf der Bühne vorging.

Miß Grant sah sich ein paarmal nach ihm um. Er wich ihrem Blick aus.

Im dritten Zwischenakt hatte sich Miß Grant davon überzeugt, daß mit diesem jungen Manne nichts zu machen sei, und da sie ein praktisches Geschöpf war, so gab sie sofort alle Versuche auf, an der Situation zu rütteln, ja, sie tröstete sich sogar ziemlich erfolgreich mit dem Gedanken, daß Jack keinen Titel habe und daß er infolgedessen als Partie nie so recht eigentlich wünschenswert gewesen sei.

Sie trennten sich nach der Vorstellung als die besten Freunde und als zwei Menschen, die genau wußten, was sie voneinander zu erwarten hatten.

Sie reichte ihm beim Abschied vor dem Hotel noch sehr freundlich und mit einem gut kameradschaftlichem Lächeln die Kand, und Jack konnte nicht umhin, zu finden, daß die Amerikanerinnen in ihrer Art etwas für sich haben.

In ziemlich gedrückter Stimmung schlug er den Weg nach Hause ein.

Als er die Rue de la Chaussee d'Antin hinter sich gelassen, wurde es öde und still. Die Laternen wurden hier selten, der Himmel war sternenlos, ein Geruch von nassen Steinen durchschwebte die Straßen, von den Dächern klatschte es in großen Tropfen auf das Pflaster nieder, ein durchsichtiger, hellgrauer Nebel tat das seinige dazu, die Umrisse aller Gegenstände zu verwischen. Von fern girrte und schwirrte die Musik billiger Tanzlokale um seine Ohren, ganz unkenntlich in der Melodie, es war nur wie ein widerlicher musikalischer Speisedunst. Aus einer der Nebengassen trat ein Maskenpaar, der Mann als Schotte verkleidet mit sehr mageren Beinen und zu langem Oberkörper, die Frau als Kolombine mit schlapp hängenden Flügeln. Sie sahen beide halb verhungert aus, und der Mann grölte mit den zitternden Resten einer offenbar geschulten Stimme französische Romanzen.

J'étais assis près d'elle,
Un souffle d'air léger
apportait jusqu'à moi l'odeur des oranges.

Jack wollte erst über den verdrehten Gesellen lachen, dann konnte er es nicht.

»Gott, wie greulich ist das Leben!« dachte er bei sich; »das einzige, was der Mühe wert ist darin, ist die Illusion, und die mächtigste Illusion von allen ist –«

Er blieb stehen, stampfte mit dem Fuß auf die Erde – war er denn wirklich verliebt? Ein ernstliches Gefühl in dieser Richtung wäre ihm sehr unangenehm gewesen, besonders für ein Modell, und noch obendrein für ein tugendhaftes.

 

»Wie lange ist sie schon in Paris?« fragte Jack. Es war den Tag nach der Mi-carême. Er hatte richtig den Ritt mit Lady Leclerq ins Bois aufgegeben, um seinen künstlerischen Ernst zu beweisen. Zwei Stunden hatte er damit verbracht, den Rücken Luca Caninis auf einem Stück sehr rauhen blauen Papiers abzuzeichnen. Die Arbeit hatte ihn interessiert, er war wieder einmal ins Feuer geraten. Erst als Luca nicht mißzuverstehende Zeichen von Müdigkeit gegeben, hatte er sich in seinem Studium der Muskeln und Knochen des Italieners unterbrochen.

Luca, fröstelnd, trotz der dem Modell zu Ehren stark erhöhten Temperatur, kauerte neben dem Ofen und stärkte sich mit einem Stück Brot und Wurst, das er mit einem plumpen, etwas stumpfen Taschenmesser in sehr kleine Bissen zerschnitt. Er aß langsam, mit Andacht.

Jack, welcher indes, die Hände wie gewöhnlich in den Taschen seines Jacketts, auf und ab schritt, hatte so wie von ungefähr ein paar Fragen über die Angiolina an ihn gerichtet.

»Wie lange ist sie schon in Paris?«

»Zwei Jahre lang,« erwiderte Luca.

»Hm! Und wo ist sie her?«

»Ich weiß es nicht, sie ist mir empfohlen worden von einem Kollegen.«

»Ihr nehmt Prozente von den Modellen dafür, daß Ihr ihnen Verdienst verschafft?«

»Manchmal – sehr wenig – aber man muß leben.« Luca grinste einschmeichelnd.

»Ja, sagt mir, wie es denn kommt, daß eine so schöne Person wie diese Angiolina einen Agenten braucht, um ihr Posen zu verschaffen? Die sollte doch von allen Seiten her begehrt sein.«

»Das wäre sie auch, wenn sich etwas mit ihr anfangen ließe, aber sie ist zu zimperlich, sie posiert nur bei Künstlern, die sie wie eine Prinzessin behandeln. Die geringste Zudringlichkeit, ein lustiges Wort – und sie kehrt nicht wieder. Ich bitte den Signor, was sind das für Geschichten bei einem Mädchen, das allein in der Welt steht und das sein Brot verdienen muß!«

Luca dehnte und reckte sich, dann faltete er seine Hände und ließ alle Fingergelenke krachen.

»Also – eine Tugend?« fragte Jack schroff.

»Ja! Bis jetzt, ja!« Luca zuckte die nackten Schultern, über die er ein grün und blau kariertes Tuch gehängt hatte. »Einige sagen, sie hält sich aus Ehrgeiz, weil sie es auf einen reichen Mann abgesehen hat, und andere behaupten, sie habe einen Liebhaber da unten in der Campagna. Das kann sein. Viele verlobte Mädchen, die in Rom bei den Malern arbeiten, sind keusch – in Paris ist das selten.«

Jack zuckte zusammen. Die Vorstellung, daß die Angiolina Geld zurücklege für irgendeinen ihr angelobten schwarzbärtigen italienischen Handwerker oder Bauer, erfreute ihn wenig.

Nach einer Weile begann er von neuem: »Hm! Ich brauche jetzt gerade ein Modell in dieser Art – Ihr könntet mir für die nächste Woche die Angiolina mieten.«

Luca nickte. »Aber der Herr weiß, nur für den Kopf und die Hände. Sie tut's nicht anders.«

»Ich weiß, ich weiß!« rief Jack kurz, »ich benötige nichts anderes. Sie soll mir eine Nonne posieren.« »Ach, wenn sie eine Nonne posieren soll! – Ich werde sehen, was ich für den Herrn tun kann.« »Seid Ihr ausgeruht?«

»Si, Eccelenza!«

»Ihr bringt mir morgen Nachricht?«

»Si.«

Während Jack sich nun weiter um die genaue Wiedergabe der Muskulatur Luca Caninis bemühte, durchschlich ihn ein über die Maßen angenehmes, erwartungsvolles Gefühl. Mit Spannung lebte er den Stunden entgegen, welche er um den geringen Preis von zehn Franken in der Gesellschaft des schönen Modells würde verbringen dürfen.

 

Den nächsten Tag erschien Luca bei Jack Ferrars in Begleitung einer langen, mageren Person mit unheimlich schwarzen Augen und einer spitzigen Nase in einem kreideweißen Gesicht.

»Ja, was soll das?« fragte der junge Engländer aufgebracht.

»Milor wünschte ein Modell für eine Nonne,« begann Luca, »und da hab' ich mir erlaubt, ihm eins zu bringen: Agathe, Spezialität für Nonnen und überhaupt Heiligenbilder.«

»Ich habe die Angiolina mieten wollen und keine andere!« schrie Jack.

»Die Angiolina ist nicht zu haben,« erwiderte mit einer verzweifelten Geste Luca, »aber ich kann Milor noch andere Nonnen vorschlagen – eine mit blauen Augen und roten Wimpern – macht sich sehr gut.« »Zum Teufel auch,« rief Jack, »warum habt Ihr die Angiolina nicht bestellt?«

»Weil die Angiolina nicht zu haben ist, weil die Angiolina nicht für Monsieur posieren will!« rief mit sehr spitziger Stimme die in ihrem Stolz gekränkte, verschmähte Agathe.

»Und warum nicht?«

»Weil – ach, ich denke, sie findet, Milor ist zu jung,« entgegnete, immer seinen schmutzigen Filzhut auf sein lappiges gelbes Vorhemd drückend, Luca Canini.

»Sie findet, Monsieur nimmt die Kunst nicht ernst genug; sie wußte vielleicht nicht recht, zu was sie Monsieur herbestellt hatte!« rief das Modell.

Bei diesen Worten öffnete Jack seine Tür und zeigte der vorlauten Agathe energisch den Weg hinaus.

Tief beschämt näherte sich Luca dem Modeltisch.

»Monsieur arbeitet heute nicht?« fragte er ängstlich.

»Meinetwegen, ja.«

»Milor darf mir das nicht übelnehmen, das mit der Angiolina. Ich kann weiß Gott nichts dafür. Wenn Milor nur wüßte, wie launenhaft die ist, wirklich zu zimperlich! Unter ihren Kolleginnen heißt sie deshalb auch nicht anders als: die Marchesina.«

 

Jack ärgerte sich über sich selbst. Er nahm sich fest vor, nicht mehr an die Marchesina zu denken. Es hatte ja ohnehin keinen rechten Sinn für ihn, ihr nachzulaufen. Im ganzen ungewöhnlich dem Einfluß des Ewigweiblichen unterworfen, hatte er doch nichts von einem bewußt auf ein bestimmtes Ziel lossteuernden Verführer.

Als er die Angiolina in sein Atelier bestellt hatte, war er sich über seine eigenen Absichten ihr gegenüber völlig unklar. Vor allem wollte er durch die besondere Ritterlichkeit seines Betragens den unangenehmen Eindruck verwischen, der ihr von der ersten Begegnung mit ihm am Seineufer geblieben zu sein schien. Darüber hinaus stießen seine Gedanken auf etwas Laues, duftig Dämmeriges, von dem er sich hütete, durch nüchternes Grübeln den Schleier zu lüften. In Herzensangelegenheiten überließ er sich einfach seinem Schicksal.

Aber so unvorsichtig er in dieser Richtung auch war, so sah er doch ein, daß weitere Versuche seinerseits, in der Bekanntschaft mit der »Marchesina« vorzudringen, nur zu einer Schlechtigkeit führen konnten oder zu einer Torheit.

 

Mein lieber Jack!

Deine Briefe find in letzter Zeit recht selten geworden. Schade, von Cayeux schriebst du so lang und ausführlich, such nice amusing pleasant letters«. Aber das ist kein Vorwurf, nur ein Bedauern. Übrigens hoffe ich, daß wir in kurzer Zeit uns eines mündlichen Gedankenaustausches erfreuen dürfen. Eine großartige Umwälzung hat sich zugetragen in unserem Heim. Denke dir nur, Jack, Sarah ist verheiratet. Du vermutest gewiß Schreckliches. Aber so arg ist's nicht. Nein, Gott sei Dank, die Anwartschaft auf schwarze Enkelkinder ist mir erspart geblieben. Es hing an einem Haar. Sarah war ganz vernarrt in ihren Afrikaner. Da eines schönen Tages brachen ihre Illusionen zusammen. Es stellte sich heraus, daß der geistliche Beruf nicht genügte, des Reverend Juniper Leben auszufüllen. Er hatte noch eine Nebenbeschäftigung. Bei Tage predigte er im Eastend von London den weißen Sklaven ein Evangelium der Liebe und Enthaltsamkeit, und abends – nun, abends sang er in einem Café chantant Couplets.

Abraham Bray, der junge Dekorateur, dessen Du dich von der erquicklichen Nachmittagsunterhaltung, der Du damals in Ivylodge beigewohnt hast, wohl noch erinnerst – Du weißt, er lieferte erst die stimmungsvollen Wandverzierungen, dann die Klavierbegleitung zu dem Mäßigkeitsfest –, der war's, welcher Sarah zuerst auf das interessante Doppelwesen des schwarzen Missionars aufmerksam gemacht hat. Sie wollte ihm nicht glauben. Er aber sagte: »überzeugen Sie sich selbst.« Eines Abends besuchte sie – leider erfuhr ich's erst später, vielleicht hätte ich gegen dieses Proceeding ein Veto eingelegt – am Arm Brays die Musikhalle, welche den Schauplatz der humoristischen Tätigkeit Jumpers bildete, in einem Salvation BonnetSalvation bonnet, ein besonders unkleidsamer Damenhut, von den Mitgliedern der Heilsarmee getragen. und verschleiert. Jumper erschien auf den Brettern; erst wollte sie ihn nicht erkennen; wie es scheint, trug er einen Federkranz und ebensolchen Gürtel, in welchem Kostüm er verschiedene afrikanische Tänze aufführte. Dann aber erschien er in Zivil. Er sang Couplets, in denen er die Apostel des Mäßigkeitsvereins karikierte. Kein Zweifel mehr möglich an der Identität seiner Persönlichkeit und keiner an der Aufrichtigkeit seiner so heftig zur Schau getragenen Liebe für die Sache. Ich, welche anfangs gewähnt, Sarah sei ausgegangen, um einer methodistischen Abendandacht beizuwohnen, hatte ob ihres verlängerten Ausbleibens bereits begonnen, mich zu ängstigen. Da, gegen Mitternacht, kehrte sie, und zwar in Begleitung Abraham Brays, zurück. Sie befand sich in einem unbeschreiblichen Zustand, in dem sie uns alles erzählte, das heißt den Zusammenbruch ihrer Täuschung. Dann ging ihr plötzlich der Atem aus, sie verfiel in hysterische Krämpfe. Wir mußten sie zu Bett bringen. Als ich, nachdem ich sie beruhigt, in unser Wohnzimmer zurückkam, war Bray noch immer dort. Er hatte es sich nicht versagen können, Nachrichten von ihr abzuwarten. Er schwamm in Tränen, seine gelben Haare hatte er dermaßen zerwühlt, daß sie wie ein verhageltes Weizenfeld aussahen. Er stürzte mit gefalteten Händen auf mich zu und schrie: »Wie geht's ihr – o dieses einzige, großartige Weib und der Kannibale, das afrikanische Krokodil! Es ist empörend – es ist schrecklich – o das einzige großartige Weib!« Es gehörte Energie dazu, ihn aus dem Hause zu schaffen.

Sarah wurde krank, das heißt, sie hütete für einige Tage das Zimmer. Mir flößte ihr Zustand, aufrichtig gesagt, keine große Besorgnis ein. Dem armen Bray um so mehr. Er erkundigte sich nach dem Befinden des großartigen Weibes alle Tage. Als Sarah endlich wieder herunterkam, war er der einzige, den sie um sich ertrug. Er war auch der einzige, welcher genügende Sympathie mit ihrem Zustand hatte. Nach und nach fing er ernstlich an, ihr die Cour zu machen – auf seine Weise. Er sang ihr alle Tage das Büßlied von Beethoven vor und wiederholte ihr im Laufe jedes seiner Besuche wenigstens dreimal, daß sie a grand woman sei.

Vorige Woche wundere ich mich eines Tages, warum Sarah so lange nicht zum Frühstück kommt. Ich schicke in ihr Schlafzimmer hinauf, um nach ihrer Gesundheit zu fragen. Sie ist nicht zu Hause. Ich fange an besorgt zu werden. Um halb zehn Uhr erscheint sie am Arm Brays. Die beiden flehen um meinen Segen – sie hatten sich soeben verheiratet.

Mir war ein wenig leid um den jungen Maler, aber anderweitig kann ich nicht sagen, daß ich gegen die Prozedur viel einzuwenden hatte. Vielleicht wird Sarah durch die Ehe vernünftiger, wenigstens normaler werden. Er ist zehn Jahre jünger als sie, und ein Narr. Dafür ist er, so sonderbar Dir's erscheinen mag, ehrlich und aufrichtig in sie verliebt. Vorläufig schnäbeln sie sich von früh bis abend. Dazwischen mißhandelt sie ihn ein bißchen. Sie haben merkwürdige Pläne für die Zukunft – seine Kunst soll Großes leisten im Dienste von Sarahs Sittlichkeitsideen. Die beiden wollen die ganze Welt bekehren zur Mäßigkeit. Sie will Vorlesungen halten, glaube ich, und er wird den Impresario machen dazu und die Hintergründe malen. Na Prosit!

Das Dümmste dabei ist, daß dieser Roman meiner ältesten Stieftochter, so platt und grotesk er eigentlich ist, doch genügt hat, um auch Mary aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sie ist empört über Sarah, sie wendet sich ab oder verläßt das Zimmer, wenn sich die beiden Eheleute küssen, sie erzählt mir in erbittertem Ton von der Geschmacklosigkeit Sarahs, und bei alledem seh' ich doch, daß es in ihr zu arbeiten, zu gären anfängt, daß die große Glückssehnsucht, die im gegebenen Moment die Klügste von uns um ihren Verstand, die Stärkste um ihre Kraft bringt, auch über die arme kleine Mary gekommen ist. Dabei ist sie äußerlich geradeso wohlerzogen wie je – kalt, gemessen, ein wenig steif. Man muß sie sehr genau kennen, man muß sie von früh bis abend beobachten, um ihr das anzumerken, was ich ihr anmerke. Das Flämmchen, das in ihrem Herzen aufflackert, ist nur gerade stark genug, sie zu quälen; ob es je stark genug werden könnte, um ihr Wesen zu durchwärmen, um einen Funken in einer anderen Individualität zu entzünden? Ich weiß es nicht; fast fürchte ich das Gegenteil.

Poor little Mary! Ich schreibe Dir in der Hoffnung, daß Du mir ein wenig an die Hand gehen kannst in meinen Versuchen, sie zu zerstreuen, ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben. Neulich sagte sie mir, daß sie sich gern der Malerei ernstlich widmen möchte, und fragte mich, ob ich ihr zulieb für einige Zeit nach Paris übersiedeln wolle, damit sie sich dort in der Kunst weiter ausbilde. Als ich zu ihr bemerkte, ich hätte nicht gewußt, daß sie so sehr an der Malerei hinge, erwiderte sie ruhig: »Bis jetzt hab' ich's auch nicht getan – aber wir müssen einen Lebenszweck haben.«

Wie ich höre, hat mein alter Freund Sylvains ein Damenatelier eingerichtet. Willst du ihn fragen in meinem Namen, ob er Mary aufnehmen möchte? Ich glaube, er wird sich Mühe geben mit ihr. For auld Lang Syne's sake. Wie lang das her ist und – wie schön es war! Was er wohl sagen wird, wenn er mich wiedersieht mit meinen weißen Haaren! Im ersten Moment wird er mich nicht erkennen – dann ... Ich bin jetzt ganz alt, so alt, daß ich es offen gestehen kann, wie sehr ich mich auf ihn freue.

Aber auf Dich freue ich mich doch noch viel mehr, mein sonniger Goldjunge. Sobald der Zeitpunkt unserer Abreise bestimmt ist, will ich Dir telegraphieren, damit Du Zimmer für uns bestellst in einem guten, ruhigen Hotel. With best love

Deine alte Tante Jane. Diesen Brief erhielt Jack in seinem Atelier an einem sonnigen Nachmittag in der zweiten Hälfte April.

Als er ihn durchgelesen, stöhnte er erst humoristisch, faltete ihn zusammen und legte ihn schließlich auf seinen Schreibtisch unter einen Briefbeschwerer in Form eines bronzenen Salamanders, den er kürzlich von einer koketten kleinen Polin zum Lohn für eine gewonnene Wette erhalten hatte. Die Polin hatte sich zu dem Salamander etwas gedacht, Jack nicht. Für ihn war der Salamander einfach ein sehr hübscher Briefbeschwerer. Er dachte momentan an sehr wenig Weibliches mehr außer der Marchesina. Das inhaltschwere Schreiben seiner Tante Jane lenkte übrigens für den Augenblick seine Gedanken von diesem Problem ab. Das, was ihm die Tante von der Doppeltätigkeit des schwarzen Missionars mitteilte, erfüllte ihn mit dem mutwilligsten Vergnügen; über die Heirat Sarahs verzog er ein wenig den Mund; trotz seiner demokratischen Prinzipien gereichte es ihm nicht zur höchsten Genugtuung, einen methodistischen Zimmermaler unter seine nächste Verwandtschaft zählen zu müssen. Marys neue Leidenschaft für die Malerei stimmte ihn ein wenig ironisch, und dies, obgleich er, von seltener, treuherziger Leichtgläubigkeit, nicht einen Augenblick etwas anderes hinter dieser Leidenschaft suchte, als was Mary ihm zeigen wollte.

Daß diese Leidenschaft eigentlich ein Vorwand sei, welcher es Mary ermöglichte, sich ihrem Vetter Jack etwas zu nähern, an seinen Bestrebungen teilzunehmen, das fiel dem jungen Mann nicht ein. Ihn amüsierte es nur, daß Mary Winter, diese durch und durch unkünstlerische Person, malen lernen wollte, und seine Einbildungskraft spiegelte ihm plötzlich allerhand schöne Leistungen vor, in welchen sie ihre ganz ausgezeichnete Talentlosigkeit beweisen würde. Er schüttelte sich immer ein wenig, wenn er dieser kleinen Base gedachte. Dann nahm er gutmütig seinen Hut und begab sich zu Monsieur Sylvains, um das Nähere in betreff der malerischen Ausbildung Marys mit demselben zu besprechen. Er traf Sylvains ein paar Schritte von dem Hause, das er bewohnte, auf der Straße.

»Ah, Ferrars! Sie hier? Wollen Sie zu mir?« rief er dem jungen Engländer entgegen.

»In der Tat,« erwiderte Jack.

»Hm!« – Monsieur Sylvains schmunzelte – »Wollten wahrscheinlich mein neues Bild sehen, Ça marche, ça marche! – Famos wird das Ding, die Marchesina posiert mir dazu. Sie erinnern sich doch des italienischen Modells. Herrlich – ich male sie richtig als Vestalin gegen einen blühenden Frühlingshintergrund. Stellen Sie sich das vor! Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen über den Titel, den ich dem Bild geben soll, denn der Titel gehört dazu heutzutage, gehört dazu. – Die Vestalin im Frühling – was meinen Sie, oder die Vestalin und der Frühling? Hein, was meinen Sie? – Das wird packen, nicht? – Der Verrat des Frühlings.« »Ce coquin de printemps,« entschlüpfte es Jack, den, ein echtes Kind seiner Zeit, wie er es war, die romantischen Belleitäten des alten altmodischen Malers humoristisch anregten. »Ce coquin de printemps« war der Titel eines üppigen Stückes, das kürzlich auf einem nichtsnutzigen Boulevardtheater gegeben wurde.

Die Brauen des alten Malers verzogen sich zornig: »Sie sind unausstehlich, Ferrars, nehmen nichts ernst. – Guten Tag – adieu!«

»Aber Meister!« rief Jack, indem er ihn zurückhielt, »wie können Sie nur... wenn Sie wüßten, wie gespannt ich bin auf Ihr Werk!«

»So?« Sylvains blieb stehen und sah ihn mißtrauisch an. »So – wirklich? – Hm! Kehren wir um, ich zeig's Ihnen – das Ding wird gut – gut!«

»Sie werden doch um meinetwillen die zwei Stockwerke nicht steigen!« wendete Jack rücksichtsvoll ein. »Wenn Sie erlauben, komm' ich morgen.«

»Auch recht – aber kommen Sie gewiß. Sie werden staunen! Wissen Sie, unter uns gesagt, viel verdanke ich bei dem Bilde der Angiolina.« Monsieur Sylvains faßte Jack vertraulich unter dem Arm. »Ist das ein Modell – eine Schönheit – dabei unermüdlich und eine amüsante kleine Person. Denken Sie, sie hat Leopardi gelesen und spielt Klavier! Sie spricht über Literatur, über das neueste Stück im Theater Francais mit einer Verve, einem Esprit!«

»Was Sie sagen!« murmelte Jack, dem bei Erwähnung der Angiolina alles Blut zu Kopf gestiegen war.

»Ja, ja, es ist höchst sonderbar. Ich kann mir wirklich ihren ganz ungewöhnlichen Bildungsgrad nicht zusammenreimen mit ihrer Stellung. Oft frage ich mich, ob sie nicht vielleicht eine Zeitlang die Mätresse eines geistreichen alten Roués gewesen ist.«

»Aber Monsieur Sylvains!« rief Jack empört.

»Was gibt's?« Der Maler hatte nicht begriffen, was Jack in seinem Ausspruch hatte verdrießen können.

»Wie kommen Sie nur auf so einen Gedanken?« fragte schroff und ärgerlich Jack.

»Wie ich auf den Gedanken komme? – Er liegt doch sehr nahe, der Gedanke!«

Sylvains schob seinen hohen Hut etwas aus der Stirn und betrachtete Jack unbefangen.

»Also – hm! – hat sich die – Unnahbarkeit der Angiolina – als – als eine Erfindung Luca Caninis herausgestellt?« fragte etwas zögernd Jack.

»Unnahbarkeit – Unnahbarkeit« – Monsieur Sylvains wiederholte das Wort spöttisch –, »ich hatte nicht Gelegenheit, dieselbe auf die Probe zu stellen. Ich gefalle ihr entschieden nicht. Mir gegenüber ist sie von einer musterhaften Zimperlichkeit. Aber was beweist das, mein Lieber, was beweist das! Und was liegt weiter daran? Sagen Sie mir, warum bestehen Sie darauf, die Angiolina für eine Jeanne d'Arc zu halten? – Ah ça, sind Sie vielleicht verliebt in das Frauenzimmer?«

»Unsinn,« schrie Jack, »ich habe nie ein Wort mit ihr gesprochen! Aber –«

»Nun, was aber?«

»Ich finde es abscheulich, ein Mädchen so ins Leere hinaus zu verdächtigen!« ereiferte sich Jack.

»Ein Mädchen –« Sylvains wiederholte das Wort nachdenklich: »ein Mädchen! – wie wissen Sie, daß sie ein Mädchen ist – vielleicht ist sie Witwe.«

Jack biß sich die Lippen. »Aufrichtig gesagt, ist mir das höchst gleichgültig, Monsieur Sylvains,« behauptete er. »Ehe ich es vergesse, möchte ich gern eine Bitte an Sie richten.«

»Heraus damit, was ich tun kann, tue ich – nur nicht Ihnen hundert Franken borgen, denn die hab' ich nicht,« spöttelte gutmütig Monsieur Sylvains.

»Beruhigen Sie sich,« erklärte ihm Jack, »um so nüchterne Angelegenheiten handelt es sich nicht, sondern um eine Kusine von mir, die einen Lebenszweck sucht.«

»So – warum heiratet sie nicht?« fragte Sylvains. »Hat sie kein Vermögen?«

Jack lachte herzlich auf.

»Das scheint in Ihren Augen der einzige triftige Grund für ein Mädchen, ledig zu bleiben.«

»Der einzige – außer dem einer sehr schlechten Gesundheit,« erwiderte Sylvains ganz ernst.

»Bei uns gibt es noch andere Gründe, die ein Mädchen veranlassen, nicht zu heiraten,« sagte Jack.

»Hm! Bei Ihnen müssen die Mädchen warten, bis man sich in dieselben verliebt.«

»Eigentlich ja.«

»Gräßlich,« rief der alte Franzose, »blödsinnige Zustände! – ungesund – unmoralisch! Drei Viertel der jungen Mädchen aus den anständigen gebildeten Mittelklassen sind nun einmal nicht danach angetan, daß man sich in sie verlieben könnte. Aber gerade die sind dazu geschaffen, ganz vortreffliche Frauen und Mütter zu werden. Was machen Sie aus denen? Bleiben die alle sitzen?«

»Ein guter Teil bleibt sitzen. Die anderen –«

»Begegnen ein paar klugen, jungen Männern, die nach gehöriger Prüfung aller Nebenumstände sich in eine glühende Liebe hineinreden. Bah! – 's taucht ja jetzt bei uns auch auf, diese Unart mit den sogenannten Neigungsheiraten. Sie können mein Wort darauf nehmen, daß in neun Neigungsheiraten von zehn eine ganz gewöhnliche Heiratsneigung dahinter steckt! Die sogenannten Liebesheiraten sind ein Prämium auf die männliche Verlogenheit ... Aber sprechen wir von anderen Dingen. Ihre Kusine ergibt sich also der Malerei aus Verzweiflung, weil's bisher noch niemand eingefallen ist, sich in sie zu verlieben? Wir wollen sehen, was sich für sie tun läßt.«

»Meine Tante fragt bei Ihnen an, ob Sie Mary in Ihrem Damenatelier aufnehmen wollen?« bemerkte Jack.

»Ihre Tante? – Wer ist Ihre Tante?«

»Mrs. Winter,« sagte Jack, »dieselbe, die mich mit einem Empfehlungsbrief an Sie gesandt.«

»Ja, richtig,« erwiderte Sylvains, »aber, um Ihnen die Wahrheit zu gestehen, habe ich den Brief verlegt, ehe ich ihn gelesen. Alle Empfehlungsbriefe sind sich ja gleich, und gut empfangen hab' ich Sie ja ohnehin! Wie nannten Sie Ihre Tante?«

»Mrs. Winter geborene Ferrars.«

»Ferrars – Ferrars –« murmelte Sylvains, ihr Name, hm! ... ich habe so viele Engländerinnen kennengelernt im Leben – jedenfalls bin ich überzeugt, daß Ihre Tante scharmant ist. Sie sind ja auch scharmant – nur wird nichts aus Ihnen werden – als Künstler, mein' ich natürlich. Denn ein famoser Mensch sind Sie ja. Schreiben Sie Ihrer Tante, was Sie wollen, sehr viel Liebenswürdiges, und erwähnen Sie um Gottes willen nicht, daß ich den Empfehlungsbrief ungelesen verloren habe. Weiß gar nicht, wie mir das passiert ist. Ouf! Wir sind zur Stelle!«

Es war vor einem Bouillon Duval, daß der Maler haltmachte.

»So weit ist es mit mir gekommen!« rief er. »Das ist mein Café Anglais! Speisen Sie mit mir, Ferrars? Die Küche ist wirklich nicht schlecht.«

»Das weiß ich aus eigener Erfahrung,« versicherte Jack, »aber die Stunde ist mir noch zu früh. Ich kann also meiner Tante getrost schreiben, daß Sie den Unterricht Marys übernehmen wollen?«

»Gewiß, gewiß!«

Als Jack in sein Atelier zurückkehrte, zog er den Brief der alten Frau noch einmal unter dem Briefbeschwerer, unter welchen er ihn geborgen, hervor, und las ihn ein zweites Mal durch. Er lächelte recht wehmütig und mit einer gewissen Zärtlichkeit. Arme alte Frau! Wie lange so etwas dauert bei den Frauen! Jacks hübsche blaue Augen wurden feucht, er fuhr liebkosend über den Brief seiner klugen, törichten Tante hin; ja, er küßte ihn sogar ganz andächtig, ehe er ihn wieder weglegte, und anstatt ihn, wie das erstemal, auf seinem Schreibtisch mit dem Salamander zu beschweren, verschloß er ihn in eine Schublade, in welcher er ein paar kleine Heiligtümer aufzubewahren pflegte.

Und plötzlich gedachte Jack eines Briefes, den Napoleon kurz vor der Schlacht von Eilau aus dem Lager an Josephine geschrieben, und zwar in Erwiderung auf ein paar verliebte Reminiszenzen, mit welchen ihn die schöne Kreolin kürzlich in ihrer Korrespondenz beglückt. Der Brief begann mit den Worten:

»Ma pauvre Joséphine! J'ai eu d'abord de la peine à comprendre tes gentillesses. ... Vous en avez de la mémoire, vous autres femmes!«

 

Um wenige Tage später erschienen die Winters in Paris. Jack holte sie auf der Gare du Nord ab. Mary war hübscher geworden. Sie hatte zwar noch immer einen zu mageren Leib und vorspringende Zähne, aber ihr geschmackvolles Reisekleid stand ihr vortrefflich, und ihre frische Hautfarbe stach vorteilhaft ab gegen den gelben Teint der Französinnen.

Trotz alledem gefiel sie Jack nicht – nicht im mindesten. Er mußte sich überwinden, um sie anzusehen oder anzureden. Die wohlerzogene Eintönigkeit, mit der ihr die Worte von den Lippen fielen, brachte ihn zur Verzweiflung. Das ewige to be sure – how interesting – sweet usw. Obendrein plapperte sie in einem fort.

Das Wiedersehen seiner alten Tante Jane erfüllte Jack dagegen mit aufrichtiger Freude. Wie herzlich sie diese Freude teilte, was sie für warme Worte fand, um ihren »sonnigen Goldjungen« zu begrüßen!

Jack besorgte für sie und Mary, was zu besorgen war, bestieg dann mit den beiden Damen einen offenen Wagen, um mit ihnen in das Castiglione zu fahren, wo er Zimmer für sie bestellt hatte.

Mary plapperte immer weiter mit derselben gedankenlosen, wohlerzogenen Geläufigkeit. Die alte Frau hielt sich im Gegenteil sehr still. Sie war unruhig, in feierlich gehobener Stimmung. Träumerisch atmete sie den Duft von nassem Goldlack und Maiglöckchen, der den Handwägelchen der Blumenverkäuferinnen entschwebte, träumerisch ließ sie die Augen über die Käufer und Menschen gleiten, an denen der Fiaker vorüberfuhr.

»Back in dear wicked old Paris again!« murmelte sie vor sich hin. Ihr war's als ob sie vor etwas sehr Wichtigem stünde, an der Schwelle eines neuen Lebensabschnittes.

Nachdem Mary Winter sich darüber klar geworden war, daß sie einen Lebenszweck brauche, wurde es ihr ebenfalls klar, daß sie diesem Lebenszweck so rasch an den Leib rücken müsse als möglich. Es war ausgemacht, daß Jack die Damen den nächsten Tag im Hotel abholen sollte, um mit ihnen zu Sylvains zu fahren. Als er pünktlich zur im voraus bestimmten Stunde erschien, saß Mrs. Winter bereits erwartungsvoll neben dem Kamin in ihrem kleinen Hotelsalon, angetan mit einem schweren, steifen, schwarzen Seidenkleid, die Hände feierlich über einem Taschentuch auf ihren Knien gekreuzt.

»Was du für ein hübsches Porträt abgeben möchtest!« sagte Jack.

Sie richtete sich ein wenig gerader auf im Rücken, wurde rot und schielte nach einem Spiegel.

»Meinst du?« murmelte sie etwas befangen. »Nun, hübsch war ich nie, aber einigen Menschen hab' ich doch gefallen.«

Kurz darauf erschien Mary. Sie brachte eine große Mappe mit Studien in den kleinen Salon und fragte: »Möchtest du die Dinger prüfen, Jack? Welche davon soll ich Monsieur Sylvains zeigen?«

Jack bemühte sich, einen Unterschied zwischen den verschiedenen überaus schwächlichen und blutleeren Leistungen seiner Kusine zu entdecken. Da er das nicht imstande war, riet er Mary, die ganze Mappe mitzunehmen. Mary fühlte sich durch diesen Rat geschmeichelt. Es gibt Frauen, die sich alles als Schmeichelei auszulegen verstehen. Dann, und indem sie sich die Handschuhe anzuziehen begann, bat sie Jack, zu klingeln. Sie trug dem herbeieilenden Kellner auf, einen Wagen vorfahren zu lassen und zugleich die Mappe hinunterzunehmen. Sie hatte eine gemessene trockene Art, ihre Befehle zu erteilen, die geradezu komisch abstach gegen die Freundlichkeit, welche ihre Mutter dem ganzen Personal des Hotels entgegenbrachte, von der Patronne angefangen bis zu dem kleinen Chaffeur Paul und dem schwarzen Pudel, welcher Pauls intimster Freund war.

Ihrem Prinzip gemäß, überall auf die Kosten zu kommen und diesen Räubern von Pariser Hoteliers auf keinen Fall etwas zu schenken, klingelte sie den Lift herauf, um sich hinableiern zu lassen, obgleich ihr bei dieser Veranstaltung immer übel wurde und es ihr viel bequemer gewesen wäre, die Treppe hinabzugehen.

Die Wirtin des Hotels in schwarzem Crepe-de-Chine-Kleid und mit blaßrotem Haar stand verbindlich lächelnd an der Tür des Schreibzimmers, der Maître d'hôtel fragte in aller Eile, ob die Damen heute dinieren würden.

Unter dem rotundgraugestreiften Schirm, welcher inmitten des Hofes den Platz eines Zeltes vertrat, saßen zwei Amerikanerinnen und schnatterten laut von ihrem neuen Putz. In der Durchfahrt begegneten den Winters nicht weniger als drei Austräger von verschiedenen Modeschneidern, einer von Worth, einer von Doucet und einer von Redfern.

»Es ist unglaublich, wieviel diese oberflächlichen Frauenzimmer für törichten Tand ausgeben,« bemerkte Mary Winter, indem sie den vor den Arkaden wartenden Wagen bestieg, »das kommt davon, wenn man keinen ernsten Lebenszweck hat.«

Dann kletterte Jack den beiden Damen in den kleinen offenen Wagen nach und hatte große Mühe, seine langen Beine unterzubringen, und dann fuhren sie über den Vendomeplatz an der von der Kommune geschändeten Siegessäule vorbei, die von gewonnenen Schlachten berichtet, welche niemand mehr interessieren, durch die Rue de la Paix an der Oper vorüber, quer durch das elegant geschäftigste, lustigste, sonnigste Paris in das schmale Gewinkel der älteren Gassen auf das Boulevard Clichy. Die alte Frau wurde immer schweigsamer, ihre Augen hörten auf, sich mit ihrer Umgebung zu beschäftigen, sie rückte aufgeregt an ihren steifen, altmodischen Ärmeln hin und her.

Der Wagen hielt. Zwei Kunstschülerinnen in Leinwandblusen und mit dem gespannten Blick in abgespannten Gesichtern, welcher für Kunstschülerinnen bezeichnend ist, traten gerade aus einer Crêmerie, in der sie diniert oder ein Modell gesucht hatten.

»Zwei Damen, die ihren Lebenszweck gefunden haben,« bemerkte Jack nicht ohne Ironie zu seiner Kusine Mary. Mary verstand die Ironie nicht, blickte aufmerksam die beiden Kunstjüngerinnen an und sagte: »Interesting, very,« worauf sie mit Mutter und Vetter die steile, gelbe Treppe zu dem Atelier Sylvains' hinaufkroch. Die Tür des Ateliers stand offen, man hätte sich sehr bemühen müssen, nicht in das Atelier hineinzusehen. Mrs. Winters Blick spazierte unbefangen durch die offene Tür. Sie sah einen alten Mann vor einer Staffelei sitzen, den Hut auf dem Kopf, ein loses weißes Halstuch um seinen sehr roten Hals – einen Mann mit einer verschlappten Unterlippe und rundem Rücken. Eine kleine braune Person, eng zusammengeschnürt, mit üppigem Busen, dazu mit sehr viel falschen Schildpattnadeln in ihrem kunstvoll verschnörkelten Haar und mit billigem Pariser Putz an allen Ecken und Enden ihrer Persönlichkeit, stand neben ihm, die Hand auf seiner Schulter, und sagte gerade: »Du weißt, mir fehlen fünfzig Franken, um den Kohlenhändler zu bezahlen.«

»Ach was, ich habe keine fünfzig ...«

Jack merkte, wie seine Tante leichenblaß wurde und zusammenfuhr. Vielleicht wäre sie am liebsten unverrichteter Sache umgekehrt, da sah Monsieur Sylvains sich um. Die kleine braune Person verschwand plötzlich wie in eine Versenkung. Sie hatte große Übung im plötzlichen Verschwinden – Jack kannte sie dafür – und Monsieur Sylvains ging mit ausgestreckten Händen seinen Gästen entgegen.

»Madame Winter« (er sprach den Namen »Vintähr« aus), »freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, ebenso wie die Ihrer Fräulein Tochter, das heißt, Sie hatte ich ja bereits vor Jahren die Ehre zu kennen, gnädige Frau, wir haben uns öfters getroffen bei Madame Anselme. Sie waren doch die junge Dame, die immer die skizzierten Kinderköpfe studierte?«

»Nein,« erklärte Mrs. Winter, »das war Miß Johnstone. Ich malte Landschaften.«

»Landschaften – ah, Pardon – ah, ich erinnere mich – ja, ja, Landschaften, ich erinnere mich genau, ganz genau!«

Mrs. Winter richtete ihre Augen auf ihn, die großen blauen Augen, die jung geblieben waren in ihrem alten Gesicht. Armand Sylvains fuhr zusammen und verstummte. Er erinnerte sich jetzt wirklich genau – ganz genau. Vielleicht kam's ihm auch deutlich zum Bewußtsein, welchen wenig würdigen Weg er eingeschlagen, wie sehr er bergab gegangen, seitdem er von dem tapferen edlen Mädchen Abschied genommen; ja, vielleicht kam ihm der Gedanke, daß sie selber sich darüber klar werden könne. Mit der warmherzigen Spontaneität, die sich noch immer von Zeit zu Zeit aus seinem verliederten und verbitterten Wesen Bahn brach, reichte er jetzt Mrs. Winter ein zweites Mal die Hand und führte die ihre an seine Lippen. »Wenn Sie wüßten, wie deutlich mir so von einem Augenblick zum anderen die Vergangenheit geworden ist!« murmelte er. Aber der Zauber war gebrochen. Mrs. Winter gehörte zu denjenigen, die ein Licht auszulöschen wissen, ohne daß es noch eine halbe Stunde nachher qualmt. Sie beherrschte jetzt vollkommen die Situation. Sie lächelte dem alten Künstler zu, ohne Gereiztheit und ohne Sentimentalität, und sagte freundlich, aber ruhig: »Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Monsieur Sylvains, wir wollen uns lieber an Ihrer Gegenwart erfreuen.«

Sylvains zog die Brauen zusammen. »Es ist nichts in meiner Gegenwart, an dem man sich erfreuen könnte – nichts mehr!«

Er hatte sich offenbar nie in seinem Leben so sehr über die Mittelmäßigkeit des von ihm erreichten Zieles geschämt als jetzt, wo er mit der alten Frau zusammenkam, die als junges Mädchen so Großes von ihm erwartet, so fest an ihn geglaubt hatte.

Mrs. Winter ließ ihre klugen Augen aufmerksam über die ringsum stehenden Bilder gleiten, ohne das in ihnen zu finden, was sie offenbar erwartet. Obgleich sie in Putney gelebt hatte und Monsieur Sylvains in Paris, war sie mit der modernen Kunstrichtung vorwärtsgegangen und Monsieur Sylvains nicht.

Mary Winter sagte abwechselnd »sweet« und »interesting, very«, als plötzlich die Tür aufging und ein junges Frauenzimmer in einem sehr einfachen schwarzen Kleid und mit einer großen Garbe Blumen im Arme das Atelier betrat.

»Wie schön!« rief Mrs. Winter halblaut. Jack benützte die Gelegenheit, dunkelrot zu werden.

»Mein neuestes Modell, mehr Prinzessin als Modell,« erklärte Monsieur Sylvains mit rücksichtsvoller Neckerei. »Das Fräulein ist so gnädig, mir für meine Vestalin im Frühling zu stehen. Das Bild hier.« Er deutete darauf. »Sie hat mir ein paar Blumen besorgt, um den Frühling damit auszustaffieren.«

»Es gibt wohl heute keine Sitzung?« fragte die Angiolina in ihrer stets ein wenig finsteren und mißtrauischen Art.

»Gewiß – gedulden Sie sich nur ein Weilchen. Seien Sie liebenswürdig und ordnen Sie indessen die Blumen; Sie wissen, das versteht niemand so gut wie Sie. – Madame Wintähr, hieß es nicht, daß sich Ihre Tochter der Malerei widmen wolle? Mon ami Ferrars fragte mich neulich, ob noch Platz sei in meinem Atelier. Natürlich ist Platz für Ihre Tochter, Madame Wintähr – wenn keiner gewesen wäre, hätte ich ihn gemacht. Bei wem haben Sie bisher studiert, Miß?«

»Kensington art school

»Könnten Sie mir etwas von Ihren Arbeiten vorlegen?«

»Ich habe eine Mappe voll Studien mitgebracht – vielleicht schicken Sie das Modell darum hinunter,« erwiderte Mary Winter mit einer Seitenwendung nach der Angiolina.

Die Italienerin zog die Brauen zusammen und richtete sich hoch auf.

»Aber Mary!« entfuhr es Jack, und da Monsieur Sylvains sich etwas ratlos umsah, setzte Jack sofort hinzu: »Gestatten Sie, daß ich die Mappe hole.«

Als Jack, schwer mit Marys Meisterwerken beladen, ins Atelier zurückkehrte, fühlte er plötzlich etwas wie eine Liebkosung auf seiner Wange. Unwillkürlich sah er auf. Es war der Blick der Angiolina, der auf ihm ruhte, warm und dankbar.

»Was für ein sonderbarer Mann!« bemerkte Mary, nachdem sie das Atelier verlassen und mit ihren Angehörigen von neuem den Wagen bestiegen hatte. »Er mag ein großer Künstler sein,« fügte sie langsam mit der Gemessenheit eines Menschen, der eine ganz neue Entdeckung zum besten gibt, hinzu, »aber er ist kein Gentleman.«

Ein bleiernes Schweigen folgte. Mrs. Winter wendete den Kopf ab – Jack ärgerte sich. Warum sollte denn seine arme alte Tante durchaus gezwungen werden, sich immer wieder ihres verglommenen Traumes zu schämen? Aber Mary ließ nicht nach. »Ich glaube,« fuhr sie fort, »daß er nicht sehr wählerisch in bezug auf seinen Umgang ist. Wer ist denn das komische Frauenzimmer, das davonhuschte, als wir kamen?«

»Ich glaube, es ist die Haushälterin,« erwiderte Jack unverfroren.

»Aber sie sagt zu ihm »du«,« grübelte Mary.

»Das ist bei Künstlern so Brauch,« phantasierte Jack.

Mrs. Winter faltete die Hände fester ineinander.

Indes bemerkte Mary nach gedankenvoller Pause: »Ich halte Monsieur Sylvains für einen vorzüglichen Lehrer und will darum trachten, aus seinem Unterricht so viel als möglich Nutzen zu ziehen; den persönlichen Verkehr mit ihm dünkt es mich besser auf ein Minimum zu beschränken.«

Nachdem alle drei in das Hotel Castiglione zurückgekehrt waren, forderte Mary ihren Vetter noch auf, ein paar Kommissionen mit ihr zu machen. Sie wollte sich Malerwerkzeug anschaffen, um sofort den nächsten Morgen in ihrer künstlerischen Laufbahn energisch vorzudringen. Jacks gutmütigen Antrag, sie möge ihm mitteilen, was sie für die nächste Zeit brauche, er wolle alles selber besorgen, wies sie ab – sie wünschte die Einkäufe persönlich zu machen. So marschierte er denn geduldig neben ihr her, von einem Farbenladen zum anderen. Er fühlte sich nicht sonderlich wohl dabei. Mit ihrer leisen höflichen Stimme kritisierte Mary unbarmherzig alle Ware und handelte die Preise herunter. Sie zählte stets pünktlich die ihr vorgelegten Rechnungen nach, wobei es sich herausstellte, daß man sich einmal um fünf Centimen zu ihren Gunsten und einmal um zehn zu ihrem Schaden geirrt.

Das war alles sehr richtig – aber Jack atmete doch erleichtert auf, als er mit ihr im Hotel zurück war.

Man hatte die Palmen frisch begossen, das ganze Höfchen roch nach nassem Grün und nassem Asphalt; unter dem rotundgraugestreiften Regenschirm saß Mrs. Winter, ein Buch, das sie nicht las, auf den Knien. Sie nickte Jack freundlich zu; während sich Mary nach oben verfügte, um sich für das Diner zurechtzumachen, setzte sich Jack zu der alten Frau.

»Wie still und in dich gekehrt du heute bist!« sagte er, indem er ihre Hand in die seine nahm.

Er wußte, was in ihr vorging, aber er wollte sie veranlassen, sich darüber auszusprechen; er dachte, es würde ihr wohltun.

»Mein lieber Junge, ich habe heute eine Illusion begraben,« sagte sie mit ihrem guten geistreichen Lächeln. »Das ist immer ein trauriges Begräbnis, besonders in meinem Alter, wo die Illusionen nicht mehr nachwachsen.«

Jack schwieg; er begnügte sich, leise über die Hand der alten Dame zu fahren – die arme alte Hand, die bereits kühl geworden war und dennoch an diesem schönen Frühlingsabend in seiner warmen jungen zitterte.

Auch die alte Frau schwieg. Nach einer Weile hob sie den Kopf und sagte:

»Halte dein Leben heilig, mein Junge, damit du nicht die Erniedrigung eines würdelosen Alters auf dich nehmen mußt.«

 

Die Winters sind bereits acht Tage in Paris. Sie haben das Hotel Castiglione verlassen, natürlich nicht, ohne daß Mary noch zum Schluß die Rechnung beanstandet und mit Entschiedenheit erklärt hätte, unter diesen Umständen würde sie sich hüten, irgend jemand mit einem Trinkgeld zu beglücken. Zu kurz ist das Personal dabei nicht gekommen, Mrs. Winter hat heimlich einen Regen von Zwanzig-Franken-Stücken über dasselbe ausgestreut. Jetzt wohnen Mutter und Tochter in einem weitläufigen Appartement in den Champs Elysees, einem Appartement mit einem sehr braunen Speisezimmer, einem sehr hellen Salon, einem Boudoir und drei oder vier muffigen Schlafzimmern.

Die ganze Wohnung riecht nach englischen Touristen, sie ist kalt und unfreundlich und für die Bedürfnisse der Winters zu groß. Mary Winter sieht letzteres ein, aber sie tröstet sich mit der Überzeugung, daß die Wohnung für ihren Umfang preiswürdig ist, und bietet Jack an, eins der Zimmer zu beziehen, was er dankend ablehnt.

Gewöhnlich steht die Wohnung zehn Stunden von den vierundzwanzig des Tages leer. Mrs. Winter flieht das steife Appartement, soviel sie kann, und Mary widmet sich mit Begeisterung dem neuen Lebenszweck. Sie hat im Laufe dieser acht Tage bereits alles mögliche auf die Leinwand gepinselt. Ihr größter Triumph waren bisher zwei Tomatoäpfel neben einer Sardinenbüchse.

Monsieur Sylvains hat sich über diese Leistung geäußert. »Aber ich verwerfe das keineswegs!« Auf dieses Lob hin hat Mary sich entschlossen, ihre Skizze einrahmen zu lassen.

»Er lobt so selten, daß selbst eine geringe Anerkennung seinerseits mich sehr freut,« äußert sich Mary gegen ihren Vetter, welchen sie bittet, den Rahmen für sie zu bestellen. Sie hat es schließlich aufgegeben, ihre sämtlichen Kommissionen mit ihm gemeinschaftlich besorgen zu wollen, hauptsächlich, weil sie in dieser Richtung auf energischen Widerstand gestoßen ist; dafür fordert sie jetzt gern kleine Gefälligkeiten von ihm heraus. Er hat ihr versprochen, ihr den Rahmen zu besorgen, unter der Bedingung, »daß sie die Rechnung nicht beanstanden wird.« Diese neckende Anspielung, welche sie klug genug war zu verstehen, hat sie veranlaßt, sehr tief zu erröten. »Jack, du hast unrecht, mich zu verspotten. Wenn ich die Rechnungen so genau prüfe, so geschieht es aus Gewissenhaftigkeit, nicht aus Geiz. Ich kann nun einmal keine Unordnung leiden.«

»Und du hast recht, Mary; nimm dir mich zum warnenden Beispiel. So weit kommt's mit einem Menschen, der nie gerechnet hat! Ich werde nächstens hundert Franken von dir borgen.«

»Gleich, Jack, warum nicht tausend!« hat Mary fast lebhaft ausgerufen. Jetzt war's an Jack, rot zu werden.

»Aber Mary!« hat er vorwurfsvoll erwidert, vorwurfsvoll, beschämt und ein wenig gerührt. Der Antrag war etwas geschmacklos, aber er war direkt aus dem Herzen gekommen. Mary Winter hatte bei ihrem unwillkürlichen Ausruf ihre Hand auf Jacks Rockärmel gelegt, und als Jack die Hand von sich loslöste, küßte er sie. Damit brach er das Zwiegespräch ab und ging, den Rahmen zu bestellen. Im Gehen murmelte er für sich: »Ich habe meine Kusine entschieden falsch beurteilt, anfangs hielt ich sie einfach für einen Frosch. Längst hab' ich mich davon überzeugt, daß in dem Frosch ein Igel steckt – vielleicht steckt in dem Igel ein Weib!«

Lange beschäftigte er sich mit dem Problem nicht: er hatte bedeutend Wichtigeres und Interessanteres zu denken. Der Blick der Angiolina, dieser mühsam eroberte warme, dankbare Blick ging ihm nicht aus dem Sinn. Um alles in der Welt hätte er sich ihr nähern wollen! Warum stieg er nicht ganz einfach in ihr Mansardenstübchen hinauf und klopfte an ihre Tür? – Wäre er abgewiesen worden? Armer, törichter Jack! Wie so mancher andere Idealist wich er durch die künstlichsten Umwege einem Ziel aus, das knapp vor ihm lag.

Gegen Abend war's in der ersten Hälfte des Mai. Die Luft war warm und würzig. Es war die Zeit, in welcher alles verborgene Pflanzenleben aus dem Boden empor dem Himmel entgegenstrebt, während die Menschheit sich müde der Erde zuneigt. Selbst Jack empfand etwas von der Frühlingsmüdigkeit in seinen langen Gliedern – etwas von der Müdigkeit, die sich an einem großen Glück emporrichten möchte. Dabei schlenderte er planlos durch die Rue de la Rochefoucauld und dachte an Angiolina.

Die Dämmerung begann zu sinken; die Verkäuferinnen vor den Trödelbuden, die hier den hauptsächlichsten Prozentsatz unter den Läden ausmachen, fingen an, ihre zum großen Teil auf dem Trottoir ausgebreiteten Waren einzupacken. Und was für Waren! Matratzen, alte Betten, Louis-Quinze-Uhren, alte Schlüssel, die rote Jacke einer längst ausgezischten Regimentstochter und überspieltes Küchengerät. Über eine mit Schmutz und Anschlagzetteln bedeckte Mauer streckte ein Fliederbusch seine weißen Blütenäste. Sein Duft mischte sich mit dem Geruch von heißen Steinen und mit der Ausdünstung, die aus den Kellerfenstern einer billigen Garküche auf die Straße hinausstrebte. Hunde mit durstig herausgebleckter Zunge, große und kleine, tummelten sich hier, wie es schien, herrenlos umher und schnupperten nach Knochen und alten Speiseüberresten, offenbar nicht ohne Erfolg. Während Jack ihr ungeniertes Wesen beobachtete, dachte er an Konstantinopel und lachte. Mit einemmal bemerkte er eine kolossale Bestie, die einem hochgewachsenen, dunkelgekleideten Frauenzimmer nachlief. Unglücklicherweise fing die Frau an zu eilen, das Tier setzte ihr nach, faßte sie beim Kleid und riß sie zu Boden, worauf es mit ausgebreiteten Tatzen über ihr stehenblieb.

Jack sprang auf das Tier zu, faßte es beim Kragen und schob es zur Seite. Der Hund, welcher sich vorher passiv benommen, leistete jetzt, was er konnte, an Widerstand und gab sich alle Mühe, Jack ins Handgelenk zu beißen – es war Jack nicht leicht, mit ihm fertig zu werden. »Stehen Sie doch auf,« rief er dem immer noch auf dem Boden liegenden Frauenzimmer zu, »ewig werde ich das Tier nicht beim Kragen halten können!«

Sie lag mit dem Kopf gegen das Pflaster, offenbar hatte sie diese Position gewählt, um ihr Gesicht gegen die zerfleischenden Angriffe der Bestie zu schützen. Die Linien ihrer Figur, des einen neben dem Kopf ausgestreckten Armes waren von unvergleichlicher Schönheit. Ein dicker Knoten halbgelösten dunklen Haares ruhte ihr im Nacken. Konnte das ... Da hob sie den Kopf mühsam – aus einem bleichen, zu Tode erschrockenen Gesicht blickten die Augen der Angiolina zu Jack empor. Dieser versetzte dem sich immer wütender gebärenden Köter einen Faustschlag auf die Stirn. Das Tier wurde matt und schwindlig, zwei Arbeiter nahmen ihm dasselbe ab. Er beugte sich über die Angiolina. »Um Gottes willen!« rief er, »haben Sie sich verletzt?«

»Nein,« erwiderte sie, »es war nur der Schrecken. Ich danke Ihnen, von ganzem Herzen dank' ich Ihnen!«

»Es ist ja nichts zu danken – das hätt' ich ...« Er stockte.

Sie lächelte mit anmutiger Bosheit. »Ja, was Sie für mich getan hätten, hätten Sie für jeden anderen auch getan,« fiel sie ihm ins Wort.

»Sie wissen es aber selbst, daß ich es für niemanden so gern getan hätte als für Sie,« entgegnete er.

Dann versuchte sie sich aufzurichten, aber es ging nicht – sie hatte sich beim Laufen den Knöchel verstaucht.

»Wie schrecklich!« rief er. »Ich will Ihnen einen Wagen verschaffen!«

»Es ist nicht notwendig,« erwiderte sie, »ich stehe knapp vor meiner Tür.«

»Erlauben Sie wenigstens, daß ich Ihnen behilflich sein darf,« sagte er schüchtern – mit der Schüchternheit, welche den Frauen stets als die größte Huldigung schmeichelt.

Sie lächelte ihm zu. Sie waren plötzlich zu dem Bewußtsein gekommen, daß sie einander schon lange kannten – sehr lange. Er richtete sie auf – gehen konnte sie fast nicht – er schleppte sie.

Das Haus, in welchem sie wohnte, stand wirklich hart daneben. Es war ein hohes, schmales Haus mit rachitischen grauen Jalousien, unten im Erdgeschoß ein armseliger Zwirn- und Putzladen mit einem in kleine, von rotem Holz umfaßte Scheiben eingeteilten Schaufenster, hinter welchem die unmöglichsten Hüte, Hauben und Nachtjacken sich breitmachten – ein Laden, wie er in ein sehr bescheidenes Provinzstädtchen zu gehören schien und wie man seinesgleichen in Paris immer noch aus Schußweite von all den großen Basaren antrifft. Die Inhaberin dieses Ladens – Mercerie nennt man derartige Geschäfte in Paris – hatte der Marchesina ein Zimmerchen von ihrer Wohnung abvermietet.

Die Tür des Hauses stand offen, dumpfige schwere Luft drang daraus hervor.

»Also hier ist's?« fragte Jack.

»Ja.«

»In welchem Stockwerk?«

»Im fünften.«

»Sie können nicht gehen, darf ich Sie hinauftragen?« fragte er.

Sie antwortete nicht; aber als er sie in seine Arme hob, legte sie die ihren um seinen Hals. Er trug sie andächtig wie eine Mutter ihr Kind. Sie war nicht leicht, aber er spürte ihre Last nicht.

Eine rasende Aufregung pochte ihm in allen Adern. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. Sie hatte die Augen geschlossen, sie war sehr bleich, nur die Lippen waren dunkelrot. Ein wahnsinniger Wunsch kam ihm, seinen Mund auf diese Lippen zu drücken. Ihn schwindelte.

Jetzt befand er sich mit ihr auf dem engen Treppenabsatz vor der Tür ihres Zimmers. Es mündete direkt auf die Treppe hinaus.

»Da haben Sie den Schlüssel,« sagte die Angiolina.

Er öffnete die Tür und trug sie über die Schwelle.

Die Dämmerung hatte bereits angefangen, die Konturen aller Gegenstände zu verwischen; dennoch gewann Jack beim Eintritt in das bescheidene Stübchen den Eindruck von etwas unaussprechlich Rührendem, dürftig Anmutigem. Der Duft von frischen Blumen schlug an sein Gesicht. In einer Ecke des Zimmers stand ein schmales eisernes Bett. Dort legte er sie nieder.

»Ich will Ihnen jemand heraufschicken, sofort,« sagte er hastig.

Sie nickte stumm.

Einen Augenblick zögerte er – er erwartete, daß sie etwas sagen sollte. Vielleicht ...

Sie sagte nichts. Da küßte er ihre Hand und verließ das Zimmer.

Als er die Tür hinter sich geschlossen, war's ihm, als höre er sie schluchzen.

 

Jack hatte einen großen Anfall von Fleiß. Er arbeitete jetzt täglich mehrere Stunden lang an einer Studie im Park Monceau. Ein paar seiner Künstlerbekannten hatten ihn bei dieser Beschäftigung entdeckt und machten mörderisches Aufhebens mit seiner Leistung – nichts als ein bißchen Sonnenschein zwischen zartbelaubten Frühlingsbüschen hindurchleuchtend und über grünem Rasen schimmernd. Aber wie warm und lebendig war der Sonnenschein und wie viel Luft schwebte durch das Laub! Jack war noch sehr unbeholfen – in der Mache fehlten ihm mitunter die elementarsten Kunstgriffe; aber er hatte eines, was ihm so mancher mit verschiedentlichen Medaillen ausgezeichnete Maler, der seit Jahren das Recht besitzt, seine Bilderrahmen mit H.C. zu dekorieren, hätte neiden können: die Fähigkeit, alles zu beleben, was sein Pinsel berührte. Diese Zauberkraft, welche den gottbegnadeten Künstler vom Handwerker unterscheidet, hatte ihm die Vorsehung in die Wiege gelegt.

Die Künstler – bekanntlich sind die Maler kollegial anerkennender Natur – schütteten alle ihre Lieblingsbeiwörter über Jacks Leistung aus, nannten dieselbe crâne und drôle, und mehr als das: der amerikanische Kunsthändler, dessen Forderung bereits seit längerem wie ein Damoklesschwert über Jacks Haupt schwebte, erklärte sich bereit, zu Ehren dieser Park-Monceau-Studie auf seine Marinen zu verzichten, für den Fall nämlich, wenn Jack die Studie durch eine hübsche Staffage zu einem Bilde vervollständige. Er hatte Monsieur Sylvains gebeten, ihm betreffs der Staffage einen Rat zu erteilen. Monsieur Sylvains hatte versprochen, gelegentlich in den Park zu kommen, sich das »Wunder von einer Studie,« gegen welche er, dank dem großen Geschrei der Künstler, herzlich eingenommen war, zu besehen.

Gestern hatte ihn Jack erwartet, ungeduldig und vergeblich – heute gedachte er seiner nicht. Seine Studie nahm ihn gänzlich in Anspruch.

»Tonnerre!« hörte er mit einemmal hinter sich ausrufen. Er wandte sich um und erblickte Monsieur Sylvains.

Mit hochklopfendem Herzen erwartete Jack die Kritik des Meisters.

Monsieur Sylvains krümmte die Mundwinkel. »Hm! Also das ist die berühmte Studie!« begann er spöttisch, »hm, hm...!«

»Was sagen Sie dazu?« fragte Jack kleinlaut.

»Was soll ich dazu sagen – sie ist sehr grün,« brummte Sylvains. »Übrigens scheint das ja heutzutage in der Mode – Sie machen die Mode mit – Sie haben recht.«

Damit verstummte Sylvains.

Nach einem Weilchen setzte er sich vor die Studie hin auf den Sessel, von dem Jack beim Erscheinen des Meisters aufgesprungen war. »Geben Sie mir Ihre Palette,« sagte er. Jack reichte sie ihm, worauf Monsieur Sylvains Jacks Sonnenschein unbarmherzig mit schweren Asphalttönen auszulöschen begann. Der arme Jack sah hilflos zu und kraulte sich hinter den Ohren.

Mit einemmal blickte Sylvains von seinem Zerstörungswerk auf, und seinen Hut weiter zurückschiebend als gewöhnlich, fragte er schroff: »Zum Teufel, Ferrars, warum heiraten Sie Ihre Kusine nicht?«

»Bietet meine Studie Ihnen einen so traurigen Beweis für meine Talentlosigkeit, daß Sie mir einen Rettungsanker aufdrängen wollen?« fragte Jack nicht ohne Empfindlichkeit.

»Von Talentlosigkeit kann bei Ihnen keine Rede sein,« erwiderte Sylvains; dann mit einer Geste nach der Studie hin: »Ich habe persönlich keine besondere Vorliebe für Salat – aber wenn man Salat gelten läßt, so muß man zugeben, daß der Ihre besonders frisch und üppig ist. Sie haben etwas im Strich, im Aufsetzen der Farbe, was sich nicht erlernen läßt. Weiter aber, mein Lieber, werden Sie's nie bringen – und darum frage ich noch einmal, warum heiraten Sie Ihre Kusine nicht? Dame! Elle est bien gentille

»Es fehlt der magnetische Rapport,« erwiderte Jack etwas unbeholfen spöttelnd.

Monsieur Sylvains faßte ihn scharf in die Augen. »Das heißt, Sie empfinden ihn nicht – und Ihre Kusine?«

»Über die Empfindungen meiner Kusine bin ich nicht weiter unterrichtet,« erwiderte Jack. »Hm! ... wirklich! ... über die Empfindungen einer Kusine, die nach Paris kommt, um malen zu lernen, weil sie dort einen Vetter hat, der ebenfalls malt!«

»Das weil haben Sie erfunden, Monsieur Sylvains,« erwiderte Jack etwas schroff.

»Nein, ich habe es gefunden,« entgegnete der Franzose; »aber nehmen Sie sich nicht die Mühe aufzubrausen. Ich verstehe Sie – ich weiß, daß in gewissen Fällen das Zartgefühl einem Manne verbietet, scharfsinnig zu sein. Hm! Mit einem Wort, Sie... mögen Ihre Kusine nicht!«

»Ich empfinde für meine Kusine die größte Achtung!«

»Das genügt!«

»Den Teufel auch,« entgegnete Jack etwas hitzig, »die Achtung gehört dazu, aber alleinseligmachend ist sie nicht! Die Achtung ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Knochengerüst der Liebe. Je edler das Knochengerüst, um so sicherer, um so dauernder die Schönheit des Gefühls! Aber denken Sie sich, eine Liebe nichts als Knochen – Amor als Skelett... schrecklich! Ich denke mir ihn immer als einen krausköpfigen kleinen Schalk mit sehr vielen Grübchen!«

»Diese Vorstellung stimmt mit der meinen überein,« gestand Monsieur Sylvains, »aber ich habe Ihnen bereits einmal gesagt, daß meiner Ansicht nach der kleine Schalk bei der Ehe nicht viel mitzuspielen hat.« »Ich erlaube mir, anderer Ansicht zu sein.«

»So – wirklich! – Hm! – Sie tun mir leid,« meinte Monsieur Sylvains, mit den Achseln zuckend.

»Und warum?«

»Weil Sie ein unverbesserlicher Idealist sind und sich Ihr Idealismus immer in Sachen mischen wird, bei denen er nichts zu tun hat. – Tiens!« – er lehnte sich etwas zurück – »da habe ich Ihnen nun Ihr Bild verdorben – Ihre und meine Art, die Natur anzusehen, passen nicht zusammen. Wischen Sie nur die Senfsauce wieder von dem Salat herunter. Und adieu auf ein andermal!«

»Aber Sie wollten mir doch einen Rat geben betreffs der Staffage,« bemerkte Jack kleinlaut.

»Betreffs der Staffage! – Das Nächste ist immer das Beste,« erwiderte Monsieur Sylvains großartig. »Sehen Sie sich um!« Damit humpelte er von dannen.

Jack sah sich nach einer Staffage um.

Knapp neben ihm saß ein Ehepaar. Der Mann, elend, mager, mit einem verregneten Matrosenhut und zu kurzen Beinkleidern, die ihm über die um die Knöchel herum bauschenden, vertretenen Zugstiefel hinaufkrochen, hielt ein großes Buch mit Illustrationen auf seinen Knien aufgeschlagen; die Frau, älter als er, ohne Vorderzähne, mit dünnem, blondem, schlicht gescheiteltem Haar, reinlich in ihrer Schäbigkeit und offenbar die Sorgengequältere von beiden, flickte neben ihm Wäsche – ein blasses rachitisches Kind spielte zu ihren Füßen im Sand. Eine große Platane, deren Laub noch durchsichtig war, breitete ihre Schatten über die drei.

Jack kannte die Leute – Sie kamen alle Tage. Der Mann war ein Kommis, der vor drei Monaten seinen Posten verloren hatte. Er verbrachte die Zeit seines Spazierens mit dem Studium der George Sandschen Literatur, die sehr billig geworden war bei den Antiquaren.

Das war keine Staffage für Jacks Bild. Etwas weiter saßen auf einer Bank zwei Mulattinnen mit sehr grellen Kopftüchern, die eine in einem grünen, die andere in einem gelben Kleid, und strickten, strickten so rasch, daß man zwischen ihren Händen anstatt der Stricknadeln nur ein graublaues Flimmern sah. Drei aufgeputzte Pariser Kinder tummelten sich um sie herum. Dann kam eine vom Kopf bis zu den Füßen rot gekleidete Amme – ein Stadtsergeant, blau mit blanken Knöpfen. Dann erblickte er Luca Canini, den er sich hierherbestellt hatte, um zur bestimmten Stunde seine Sachen abzuholen. Jack legte seine Palette nieder, gab Luca seine Aufträge, sagte ein paar freundliche Worte zu dem verarmten Ehepaar und verließ den Park. Er hatte den Abend für sich und fragte sich, was er damit anfangen sollte. Eine Lust wandelte ihn an, die Häuser hinter sich zu lassen, sich irgendwo ins Freie zu begeben.

Er wanderte mit seinen langen Beinen quer durch die Champs Elysees an die nächste Haltestelle der »Hirondelle«. Das Schiff war im Abfahren begriffen; er stieg ein, setzte sich an irgendeinen Platz mit dem Rücken gegen die Schiffsrampe und freute sich an dem lauen Wasserdunst, der aus der Seine zu ihm aufstieg, und an dem weichen, graugrünen, versilberten Kolorit der Landschaft am linken Seineufer. Es war noch keine eigentliche ländliche Landschaft, sondern nur eine sich verlaufende Vorstadt, ein paar Zeilen schwacher, durchsichtiger Bäume, meist Pappeln, hinter denen das grelle Weiß, das ungebrochene Orangerot von frisch eingedeckten Neubauten aufschimmerte – ein Wirbel von Kalkstaub, Haufen von Ziegeln und Sand, vertretene Grasplätze und im Hintergrund das Häusermeer von Paris, ein Gewirre von aus violettem Chaos herausragenden Linien, in deren Mitte etwas märchenhaft schimmerte und flimmerte: die Kuppel des Invalidendoms, über die sich der Abglanz der bereits tief stehenden Sonne ergoß.

Das Schiff war zum Brechen voll – das Publikum von der niedersten Gattung. Aber Jack gehörte nicht zu jenen, welche über die Gewöhnlichkeit ihrer Umgebung die Nase rümpfen, wenn sie um den Preis von zwanzig Pfennigen einen Vergnügungsdampfer benutzen. Im Gegenteil freute er sich, daß so viele Menschen für so wenig Geld einen angenehmen Nachmittag genießen konnten. Nur war es ihm widerlich, daß seine Nachbarin zur Linken beständig Würste aß, die mit Knoblauch gewürzt waren, und daß sein Nachbar zur Rechten eine sehr übelriechende Pfeife rauchte und beständig mit einer gewissen Bedächtigkeit vor sich hinspuckte. Er suchte sich einen anderen Platz und geriet in eine Gruppe von intelligent und schmutzig aussehenden Frauenzimmern, die er sofort als Kunstschülerinnen vom linken Seineufer erkannte. Sie sahen alle gleich andächtig auf denselben Punkt. Der Richtung ihrer Blicke folgend, bemerkte Jack einen berühmten Historienmaler mit einem schönen spanischen Gesicht, der, offenbar des Eindrucks, welchen er auf die Mädchen gemacht, völlig bewußt, von ihnen wegblickte und, lässig an die Dampfschifframpe gelehnt, für den blasierten beau ténébreux posierte.

Der Anblick der Kunstschülerinnen stimmte Jack noch trauriger als der des unappetitlichen Proletariats, vor dem er geflohen war. Sie nahmen sich alle so herabgekommen, so physisch und moralisch verhungert aus. Er sah von den Menschen fort auf die Ufer hinüber, die sich jetzt in immer herrlicherer Schönheit entfalteten.

Welche saftigen Wiesen – das Gras, in kniehoher Üppigkeit, blumendurchwuchert, wuchs bis in den Strom hinein, wo es sich in einem Netz von gelben und weißen Wasserlilien verlief –, welche Weiden, riesengroß, frei entfaltet, silberumschimmert, mit bis in das Wasser hineinsinkenden biegsamen Ästen; und hinter ihnen andere Bäume, schmal emporragende hohe Erlen und Ulmen mit nicht unmalerisch verstutztem durchsichtigem Astwerk; alle Konturen goldig umsäumt von sonnentrunkener Frühlingsfeuchtigkeit. – Ja, das war hübsch, das war reizend – Jack suchte mit den Augen den Platz, wo er seine nächste Studie anfangen könne. Er bemerkte einen Fußpfad, der, weiß zwischen dem üppigen Wiesengras aufschimmernd, in ein Wäldchen hineinführte. Ein junges Paar schritt den Pfad entlang auf das Wäldchen zu. Jack wurde unbeschreiblich zumut. Mit einemmal fühlte er in sich etwas wie eine gesteigerte Lebenstätigkeit, eine angenehme Wärme und Unruhe.

Er sah auf – die Kunstschülerinnen waren verschwunden, dort ihm gegenüber saß die Angiolina. Jack fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe schoß. Da begegnete sein Blick dem der Italienerin; eine große Freude und zugleich Befangenheit überkam ihn, er lüftete den Hut. Sie lächelte ihm zu. Dann, ohne selbst zu wissen, was er tat oder daß er es tat, stand er auf und ging zu ihr hinüber. Sie reichte ihm freundlich die Hand. Er führte dieselbe an seine Lippen und nahm neben ihr Platz.

»Sind Sie mir gar nicht mehr böse?« fragte er mit seinem gutmütigen Lächeln.

»Wie sollt' ich,« sagte sie. »Im Gegenteil bin ich Ihnen sehr dankbar!«

»So, für was denn?« fragte er.

»Für was?« wiederholte sie, zu ihm aufblickend. Welche Augen sie doch hatte! Ihr Blick ging ihm durch Mark und Bein. »Dafür, daß Sie mich von dem bösen Hund befreit; dafür, daß Sie so freundlich nach mir gefragt haben und für meine Zerstreuung gesorgt während meines Zimmerarrestes; für die Bücher und Blumen, die Sie mir geschickt haben – für ... nun dafür, daß Sie die ganze Zeit gegen mich waren, wie Sie's gewesen sind!«

»Ich hatte viel gutzumachen,« murmelte er.

Sie sah ihn voll an. »Ja, wegen damals,« sagte sie. »Nun, im Grunde war es Ihnen nicht übelzunehmen, daß Sie sich irrten. Aber es demütigte mich, es demütigte mich fürchterlich. Sie glauben's mir nicht – aber es war mir zum erstenmal geschehen!«

»Ihnen nicht glauben! ... Aber wie sollt' ich Ihnen nicht glauben! Ich glaube alles Gute und Schöne von Ihnen,« versicherte Jack, »es wundert mich nicht einmal. Was mich wundert, ist, daß ich mich einen Augenblick irren konnte. Haben Sie mir verziehen?« Er sagte das so innig, so herzlich, daß er ein Stück Eis damit zum Schmelzen gebracht hätte.

»Und das muß ich Ihnen erst sagen?« fragte sie.

»Nun ja, sagen Sie's mir, ich möchte Sie's so gern sagen hören,« drang er in sie.

»Sie machen ein Gesicht wie ein Kind, das um Zuckerwerk bettelt,« entgegnete ihm die Marchestna.

»Ich bettle auch um Zuckerwerk,« erwiderte er ruhig. »Haben Sie mir verziehen? So sagen Sie's doch!« Er streckte ihr die Hand entgegen.

Sie legte die ihre hinein. »Ja, meinetwegen – ich haben Ihnen verziehen,« sagte sie.

Ihre Stimme klang müde. Sie war noch blässer als sonst, aber in ihrer Blässe war mehr Wärme – ihre Lippen waren dunkler und sahen voller aus als gewöhnlich. Ein eigentümlich gedämpfter Glanz schimmerte aus ihren halb geschlossenen Augen. Es war, als ob sie über etwas nachdächte, als ob sie sich selber eine Frage stellte. So sehr war Jack in ihren Anblick vertieft, daß er darüber das Reden vergaß.

Sie war's, die anfing. »Sie müssen mich für sehr überspannt gehalten haben,« sagte sie nach einer Weile.

Er verstand nicht recht.

»Ich meine in meinem Benehmen gegen die Maler,« fuhr sie fort.

»Sie machen es ihnen allerdings ziemlich schwer,« sagte er halb lächelnd.

»Nun ja, aber es geht nicht anders; es ist schwierig, das Rechte zu treffen. Wenn Sie wüßten, was dazu gehört, in meiner Stellung noch ein bißchen Anstand zu behaupten, Sie würden sich über meine Schroffheit nicht wundern.«

»Ich wundere mich über gar nichts,« versicherte er ihr, »als ... darüber, daß Sie sich in dieser Stellung befinden, die paßt nicht zu Ihnen.«

Sie runzelte die Brauen. Er fühlte, daß er einen sehr schmerzlichen Punkt berührt. Es tat ihm leid, ihr weh getan zu haben. Er rückte noch etwas näher heran. Er suchte, was er ihr sagen könnte, und fand nichts. Sie war's, die begann:

»Was soll ein armes, ganz ungebildetes Frauenzimmer tun, um ihr Brot zu verdienen?« fragte sie.

»Sie, machen eben durchaus nicht den Eindruck eines ganz ungebildeten Frauenzimmers,« meinte er. Sie lächelte – seine Worte freuten sie offenbar; dann die Achseln zuckend, sagte sie mit ihrer tiefen, angenehmen Stimme, der Stimme, die an den Ton alter italienischer Geigen erinnerte: »Was wollen Sie – 's ist doch, wie ich sage: von der Bildung, die ein armes Mädchen braucht, um mit dem Leben leichter fertig zu werden, fehlt mir so ziemlich alles; von der Bildung, die hingegen dazu dient, einem armen Mädchen das Leben noch schwerer zu machen, von der hab' ich allerdings ziemlich viel.«

Es lag eine Subtilität in dem Ausspruch, welche Jack überraschte. Das Rätselhafte ihrer Persönlichkeit nahm für ihn zu.

Eine leichte Röte war auf ihre Wangen getreten, ihr Gesicht drückte herben, fast zornigen Stolz aus. Sie richtete sich auf, wie um sich gegen einen Druck aufzulehnen, der jahrelang auf ihr gelastet, dann fuhr sie fort:

»Was hab' ich denn gelernt? Französisch sprechen – ein wenig Englisch – Klavierspielen gerade genug, um mir ein Liedchen zu begleiten – singen, so viel wie man singen kann, wenn man seine Stimme verloren hat – und außerdem – bis hundert zählen und meine Hände pflegen. Ich kann in keiner Sprache orthographisch schreiben, und ... meine übrigen Kenntnisse sind gleich Null. – Suchen Sie aus diesem Schatz von Wissen etwas heraus, womit man fünf Pfennige verdienen kann!«

»In der Tat,« murmelte Jack, »aber jedenfalls sind es ungewöhnliche Kenntnisse für ...«

»Für ein Modell,« warf sie bitter hin, »natürlich!«

»Es sind beiläufig die Durchschnittskenntnisse einer jungen Dame.«

»Ja,« sagte sie, »die Kenntnisse einer Contessina, von der man erwartet, daß sie mit siebzehn Jahren einen reichen Mann heiraten und ihr ganzes Leben nichts anderes tun müssen wird, als das Menü korrigieren, welches ihr der Koch präsentiert, und schöne Kleider anziehen und den Menschen gefallen. Das ist auch genau das, wozu ich erzogen bin – und dabei... Sie kennen ja mein Leben!«

»Es ist schrecklich!« murmelte Jack mitleidig. »Und läßt sich da gar nichts tun – kann man Ihnen nicht helfen?«

»Helfen ...!« Sie sprach das Wort vor sich hin, so matt, so trostlos, daß es dem jungen Mann die Seele zerschnitt. »Helfen! – Wie ist da zu helfen? ... Ich trachte nachzuholen, was ich kann, ich lese viel ... eine Zeit – lachen Sie mich nicht aus – nahm ich Stunden im Französischen und Englischen; aber dann ... nun, dann sagte ich mir, zu was könnte ich's denn bringen, selbst wenn ich die klaffendsten Lücken in meinen Kenntnissen ausfüllte? Höchstens zur Unterlehrerin in einem Pensionat! Und da noch ... wer weiß! Ich bitte Sie – ein Mädchen, das Modell gewesen ist! – Ich habe diese Idee aufgegeben – ich füge mich. Wenn mein Leben auch nicht glänzend ist, erträglich ist es – die Arbeit nicht hart – die Zahlung gut. Ich bin unabhängig! Manchmal kann ich ins Theater gehen – hier und da plaudert sich's ganz angenehm mit den Künstlern, bei denen ich mein Brot verdiene. Im übrigen hab' ich es durchgesetzt, daß sie mich so behandeln, wie ich behandelt sein will. Es war nicht leicht, aber ich habe es durchgesetzt.« Sie warf den Kopf zurück.

»Ich glaube an das achte Weltwunder, seit ich Sie kenne, Marchesina,« murmelte Jack, und leise setzte er hinzu: »Wenn Sie wüßten, welche Lust ich hätte, vor Ihnen niederzuknien – wie rührend und heilig ein Wesen wie Sie für einen Mann ist!«

Sie sah ihn eigentümlich an; mit einemmal wurden ihre Augen sehr finster, ein bitterer, fast häßlicher Zug umschwebte ihren Mund.

»Vielleicht nicht ganz so heilig, wie Sie es annehmen,« murmelte sie; »es ist nur, daß mir vor alledem so graut!«

Die Worte schnitten wie ein häßlicher Mißklang in Jacks Seele hinein – sie paßten nicht zu dem Bild, welches er sich von der Marchesina gemacht, wie aus einem Abgrund widerlicher Erfahrung herauf schwebten sie von den Lippen des Mädchens. Nur einen Augenblick dauerte sein Mißbehagen, dann hatte er es vergessen. Er war zu verliebt, um sich dabei aufhalten zu können. Er konnte sie nur immerfort ansehen.

Sie ließ den Blick über die grünen Seineufer schweifen, holte einen langen, genießenden Atemzug. »Wie schön das Leben sein könnte!« murmelte sie.

Das Dampfschiff hielt. »Meudon!« schrie der Kondukteur, »Bas-Meudon!« Die Angiolina erhob sich.

»Wollen Sie hier aussteigen?« fragte Jack.

»Ich hatte keine bestimmte Absicht,« erwiderte sie ihm, »ich wollte nur von Paris weg irgendwo Frühlingsluft atmen. Aber es ist hübsch hier – sehen Sie nur!« Sie deutete auf eine Reihe kleiner altmodischer Häuser, fast alle mit hölzernen Balkonen versehen und in blühende Glyzinen eingehüllt. »Ich möchte mich hier aufhalten,« sagte sie, »ich möchte so gern einen Spaziergang machen über diese Wiesen und dort in den Wald hinein.« Damit schritt sie dem Ausgang des Dampfschiffs zu.

»Darf ich mitkommen?« fragte Jack kleinlaut hinter ihr.

Sie sah sich nur über die Schulter hinüber nach ihm um und lächelte.


Die weich hinsterbende, langsam in violettgrauem Dunst verklingende Färbung eines Frühlingsabends schwebte bereits über den Wiesen, als die beiden von ihrem Spaziergang in das primitive Städtchen zurückkehrten – er und sie.

Obgleich das Lächeln, mit dem sie ihm gestattet, sie zu begleiten, fast einer Herausforderung gleichgekommen war, hatte er sich dennoch während dieses langen Spazierganges über die stillen, einsamen Wiesen, durch den schattigen, einschmeichelnd flüsternden Wald auch nicht die geringste Vertraulichkeit herausgenommen.

Kam das von ihr oder von ihm? Es mochte wohl hauptsächlich von ihm ausgegangen sein, von dem unverwüstlichen Idealismus, den er der Situation entgegenbrachte.

Fast gänzlich stumm war er mit ihr durch das langsam sterbende Abendlicht gewandert, durch den lauen, liebkosenden Frühlingsduft. Auch sie hatte nicht viel gesprochen, nur hier und da ein paar Worte, wozu sie ihm über den Blumenstrauß, der immer größer wurde in ihrer Hand, zugelacht.

Als der Blumenstrauß zu groß geworden war, nahm er ihr ihn ab. Sie pflückte einen neuen. Und jetzt war die Sonne untergegangen, ein kühler Hauch schwebte feucht über die Wiesen hin. Sie wendeten ihre Schritte dem Städtchen zu.

»Wie hungrig ich bin!« rief die Angiolina aus.

»Wollen Sie hier soupieren?« fragte er.

»Es wäre reizend,« sagte sie rasch. Sie wählten das einladendste, glyzinenumwuchertste der bescheidenen Gasthäuser auf dem primitiven Uferdamm mit dem Blick auf die Seine. Dort setzten sie sich auf eine kleine Veranda, deren Dach eigentlich nur durch einen über ihr weit vorspringenden hölzernen Balkon gebildet war. Es war bereits so dunkel, daß man die Lampen anzünden mußte.

Während sie auf das von Jack mit großer Sorgfalt bestellte kleine Mahl warteten, ordnete die Angiolina die Blumen.

Am unteren Rande des Balkons, der die Veranda beschattete, zog sich eine reiche Girlande von schweren Glyzinentrauben; in dicken Büscheln wuchsen die Trauben beisammen, von leichtem grünem Blättergewirr unterbrochen. Blätter und Blüten sahen seltsam blaß aus in dem flackernden Licht der gegen die Wand des Hauses befestigten Lampen.

Der feuchte Hauch des Stromes drang zu den beiden Verliebten, geschwängert mit dem säuerlichen Geruch jungen Laubes, dem Geruch von frisch abgerindeten Holzklötzen, die in großen Haufen auf dem Uferdamm lagen, und mit der matten Süßigkeit der Glyzinen. Man hörte das leise Plätschern der Wellen gegen die Ufer und zugleich das Rauschen des nahen Waldes, und in alles das mischte sich der Klang eines mehrstimmig gesungenen Liedes, einer jener monotonen französischen Romanzen mit in Moll modulierendem Refrain. Burschen und Mädchen, Arm in Arm schäkernd und flüsternd, zogen über den Damm an Jack und der Angiolina vorüber nach der Richtung der Wälder hin, von wo bald schwächer, bald stärker das klagende Lied herüberdrang: Qu'as-tu fait, qu'as-tu fait de ta jeunesse?

Die Angiolina hatte aufgehört, ihre Blumen zu ordnen. Sie trat hinaus und streckte lauschend den Kopf vor.

Jack dünkte es, als habe er in seinem Leben nie etwas Schöneres gesehen als die junge Italienerin, wie sie so dastand mit ihrem bleichen, sehnsüchtigen Gesicht unter den leise nickenden blaßlila Glyzinentrauben, und er sagte sich auch, wie jämmerlich die altmodische Kunst Armand Sylvains an dem Versuch, diese Schönheit wiederzugeben, gescheitert war. »Oh, wenn ich ein Bild nach Ihnen malen dürfte!« sagte er, an sie herantretend, leise.

»Und warum malen Sie's nicht?« fragte sie.

»Würden Sie mir posieren?«

»Wann Sie wollen.«

»Wirklich? Wie glücklich Sie mich machen!« Er nahm ihre Hand und drückte seine Lippen darauf. Sie entzog ihm ihre Hand aber lächelnd mit dem langsamen, schwermütigen Lächeln, zu dem sie jedesmal die Lider über ihre Augen senkte. Das Lächeln verlieh ihrem Antlitz etwas fast Magisches.

»Für wann wollen wir die nächste Sitzung feststellen?« fragte er.

»Monsieur hat zu befehlen, das arme Modell unterordnet sich seinen Wünschen,« entgegnete neckend die Angiolina.

»Sie arbeiten nicht mehr mit Sylvains?«

»Nein! Monsieur Sylvains ist längst fertig mit mir. Die letzte Woche hat er sich damit beschäftigt, den Frühling in das Bild hineinzumalen. Ich brachte ihm anfangs frische Blumen, um seinen Frühling doch etwas zu beleben. Aber das lebendige Grün verwirrte ihn, er malte schließlich die ganze Frühlingsblüte nach einem Haufen verstaubter künstlicher Blumen, mit denen er vor zwanzig Jahren bei einem Malerball sein Atelier aufgeputzt hat, und die er mit alten Kotillonorden und zerrissenen Seidensocken in einem Karton aufhebt. Sie können sich den Frühling denken!«

Jack lachte. Wie gut sich's mit ihr plaudern ließ, und wie klug und amüsant sie war – ein Mädchen in solchen Verhältnissen.

Da kam der Kellner und stellte eine goldgelbe Omelette auf den Tisch.

Sie setzten sich einander gegenüber. Die Angiolina war wirklich hungrig, aber sie gebärdete sich beim Essen so anmutig wie in allem anderen. Der Hunger stand ihr vortrefflich. Auf die Omelette folgte ein gebratenes Huhn mit Salat. Jack zerlegte das Huhn und bediente seinen reizenden Gast. Er selbst aß fast nichts.

»Noch ein Stückchen,« nötigte er, indem er einschmeichelnd einen Flügel des Huhns emporhielt.

»Nein, nein! Jetzt ist's genug!« erwiderte sie ihm. »Aber wie mir das geschmeckt hat! Es war zu nett, plaudern zu können während des Essens. Ach, wenn Sie wüßten, wie öde das ist, so Tag für Tag sein Beefsteak oder sein Kotelett einsam zu verzehren oder in der Pause einer Sitzung in Gesellschaft eines Künstlers, von dem man immer ...«

Von draußen meldete das Sausen und Brausen des Stromes, daß das Dampfschiff sich von Sevres heraufarbeite.

Die Angiolina erhob sich. »Es wird spät,« sagte sie.

»Wir haben noch gar nichts ausgemacht,« warf er ein.

»Morgen kann ich nicht.«

»Also übermorgen?« Er sah sie flehend an. »Wir wollen sehen ...« Sie lachte ihm zu, wobei sie nach ihrem Blumenstrauß griff.

»Ah ça! Ich gratuliere!« rief in diesem Augenblick eine tiefe rauhe Stimme.

Jack blickte auf und sah Armand Sylvains, der mit einem von Jack in Cayeux gemachten Bekannten, dem Journalisten Rambert, an die kleine Veranda herangetreten war.

Beide Herren lächelten zynisch – im übrigen verunstaltete ein höhnischer Ausdruck das Gesicht des alten Malers, das vor Aufregung dunkelrot geworden war.

»Monsieur Sylvains,« rief Jack, »wie können Sie sich erlauben –!«

»Was erlauben? – Die Augen offen zuhalten – nicht wahr? Es war ein Zufall, mein Lieber, ein Zufall – wenn mich jemand zu rechter Zeit beim Zipfel gepackt, so hätte ich sie geschlossen oder mich abgewendet, obgleich es schade gewesen wäre, denn Sie sahen beide sehr hübsch aus. Die Liebe steht einem schönen Frauenzimmer immer gut – von Männern kann man das weniger behaupten, die sehen in dem Zustand gewöhnlich etwas verdummt aus – aber item –«

»Monsieur Sylvains!« rief Jack noch einmal; dann unterbrach er sich, um nach der Angiolina zu sehen.

»Die suchen Sie vergebens,« erwiderte ihm der Journalist, »die ist mit dem Dampfschiff fort auf dem Weg nach Paris. Es vergeht eine halbe Stunde, ehe Sie ihr nachrennen können.« »Darum ist mir momentan weniger zu tun als darum, Sie darüber aufzuklären, daß ich ein völlig unbescholtenes Mädchen durch meine selbstsüchtige Unvorsichtigkeit unverantwortlichen Verdächtigungen ausgesetzt habe. Ich schwöre Ihnen –«

»Schwören Sie nichts,« erwiderte Rambert, »beweisen würden Sie damit wenig, denn wir wissen es ja alle, daß es Fälle gibt, in denen der Meineid als Ehrensache gilt. Nur, daß Sie sich die Mühe geben, in diesem Fall meineidig zu werden, hieße den Luxus doch etwas weit treiben – ich bitte Sie – für ein Modell – die Sache ist ja normal, ganz normal!«

Damit wollte er die Hand gutmütig auf Jacks Schultern legen. Dieser aber schüttelte ihn unwirsch von sich ab. »Jetzt hab' ich gerade genug!« rief er, auf den Boden stampfend. »Da Sie beide mir doch keinen Glauben schenken wollen, so werde ich mich nicht weiter bemühen, Ihnen zu versichern, daß ich mit der Angiolina nicht ein Wort von Liebe gewechselt habe! Aber das eine erkläre ich Ihnen: falls die Angiolina meine Werbung annimmt, wird sie meine Frau! So – und nun hab' ich die Ehre, Ihnen beiden eine gute Nacht zu wünschen!«

Nach diesem inhaltschweren Ausspruch lüftete Jack seinen Hut und marschierte mit sehr langen Schritten in das Dunkel hinaus.

Rambert und Sylvains setzten sich an den Tisch, den Jack und Angiolina soeben verlassen hatten.

Rambert fing an zu pfeifen, Armand Sylvains lachte vor sich hin, hart und grell. Endlich schlug er mit beiden Fäusten auf die Tischplatte und rief: »Nom d'un chien! Was sagen Sie dazu?«

»Ich finde die Geschichte, wie schon erwähnt, außerordentlich normal!« erwiderte Rambert humoristisch.

»Ja, normal, normal! Aber begreifen Sie die Italienerin – dieses Gezier und Gezerre – dieses Heiligtun. Was beweist das?«

»Es beweist, daß ihr keiner von uns gefallen hat,« erwiderte kaltblütig Rambert.

Die Nachtluft wurde feuchter und kühler, der Duft des Frühlingslaubes säuerlicher. Von draußen klang noch immer das Plätschern und Lecken der Wellen und das Rauschen der nahen Wälder, und mitten dazwischen, aus der Ferne undeutlich klagend, das mehrstimmig gesungene Lied mit seinem in Moll modulierenden Kehrreim: Qu'as-tu fait, qu'as-tu fait de ta jeunesse?


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