Ossip Schubin
Toter Frühling
Ossip Schubin

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Zweites Buch

Jacks erster Weg am nächsten Morgen führte ihn natürlich zu der Marchesina. Sie war nicht zu Hause. Sie hatte, wie ihm die Zwirnhändlerin im Erdgeschoß mitteilte, Sitzung bei einem Skulptor, der nach ihr den Kopf einer Ophelia korrigierte.

Trotzdem die Zwirnhändlerin großes Gewicht darauf legte, daß die Angiolina nur für den Kopf, aber gewiß nur für den Kopf der Ophelia posiere, war es Jack unangenehm, daß sie überhaupt mit einem Skulptor arbeitete. Bildhauer genießen eines sehr schlechten Rufes.

Er empfahl sich und schlenderte in die schmale Straße hinaus, in welcher Trödlerläden, wo man neue Scherben als Antiquitäten verkaufte, mit Putzgeschäften abwechselten, in welchen alte Kleider neugemacht wurden. Jedes dritte Frauenzimmer, dem er begegnete, war geschminkt.

Sollte denn wirklich ihm zu Ehren ein Wunder geschehen und die Angiolina inmitten dieser demoralisierenden Atmosphäre rein verblieben sein? fragte er sich.

Etwa dreißig Schritt von dem Hause, welches die Italienerin bewohnte, begegnete ihm Rambert, lustig wie gewöhnlich, mit lose hängendem Jackett und etwas weit am Hinterkopf sitzendem Matrosenhut.

»Guten Tag, wie geht es?« rief er ihm von weitem entgegen. »Sie kommen von der Marchesina; hein – ohne Indiskretion, Verehrter, ohne Indiskretion!«

Jack fand dieses nachgeschobene »ohne Indiskretion« kühn, er ärgerte sich über die ungenierte Anrede des Journalisten, er ärgerte sich heute über alles, übrigens antwortete er wahrheitsgetreu wie immer: »Ich war bei ihr. Nach der gestrigen Szene war es wohl das geringste, daß ich versuchte, sie zu treffen. Sie war nicht zu Hause. Sie hatte Sitzung.«

»Ja, sie arbeitet mit Boutin,« erwiderte Rambert. Dann ging er ein Weilchen schweigend neben Jack hin. Endlich begann er: »Hm! Ferrars, Sie haben noch immer die Absicht, der Angiolina Ihre Hand zu bieten?«

Jack zögerte einen Augenblick, nur einen Augenblick, dann sagte er sehr schroff: »Natürlich!«

»So!« machte Lambert.

»Versuchen Sie nicht, es mir auszureden,« ereiferte sich Jack, »es würde zu nichts führen.«

Eine Pause folgte, dann begann Rambert von neuem: »Eigentlich geht mich die Sache nichts an.«

»Das meine ich auch,« brummte Jack übellaunig.

Der Franzose lächelte gutmütig, dann fuhr er fort: »Wenn wir einen Blinden auf einen Abgrund zuschreiten sehen, so geht es uns eigentlich auch nichts an, aber unwillkürlich strecken wir die Hand aus, um ihn zurückzuhalten. Ich kann es mir nicht verwehren, die Hand nach Ihnen auszustrecken, Ferrars. Ob Sie schließlich ein Modell heiraten wollen oder nicht, ist ja Ihre Sache – aber heiraten Sie das Modell nicht auf falsche Prämissen hin. Erkundigen Sie sich doch etwas näher nach den Privatverhältnissen Ihrer Flamme.«

»Was ist da noch zu erkundigen!« rief Jack. »In allen Ateliers von Paris hab' ich mich erkundigt damals, als sie mir noch nicht zu heilig geworden war, um ihr mißtrauisch nachzuspüren. Ich habe nichts als das Beste gehört. Ihr Benehmen mir gegenüber hat alles Gute, was man mir von ihr erzählte, zehnfach bestätigt. Sie ist für mich etwas durchaus Wunderbares! Ich werde stolz sein, wenn sie meine Hand annimmt. Es tut mir nur leid, ihr mit meinem Namen nicht auch ein glänzendes Los anbieten zu können.«

Jack sagte das mit viel Feuer und etwas zuviel Entschlossenheit – sozusagen ein wenig todesmutig. Er war sich dessen unangenehm bewußt, daß sich heimlich ein zweifelndes Grauen an seine Begeisterung heranzuschleichen begann.

Der Franzose sah ihn beobachtend von der Seite an.

»Hören Sie, Ferrars,« bemerkte er, »das, was Sie da alles vorbringen, ist sehr nobel und ritterlich, aber stichhaltig ist es nicht. Daß sich die Angiolina, seit sie in Paris ist – es mögen wohl jetzt zwei Jahre sein –, musterhaft benommen hat, läßt sich nicht leugnen. Was aber war ihr Leben vor diesen zwei Jahren? Ich habe mir früher nie Gedanken darüber gemacht, jetzt drängen sie sich mir unwillkürlich auf – die Gedanken nämlich. Was war ihr Leben vor diesen zwei Jahren? Auf was ist ihre Keuschheit zurückzuführen?«

»Rambert, Sie find in einer Weise roh – ich kann das nicht vertragen!« schrie Jack.

»Sachte, Verehrtester!« beschwichtigte ihn der Franzose, indem er Jack die Hand auf den Arm legte, »ganz fachte. Sie haben ja die Situation in Meudon nicht ausgebeutet, ich will's glauben. Aber, wie die Sachen standen, werden Sie der Angiolina damit eine ernstliche Enttäuschung bereitet haben. Sie ist sehr lebenskundig, sie weiß genau, wo eine Klippe zu umschiffen ist. Ich habe an die Angiolina geglaubt – es amüsierte mich, an sie zu glauben. Ich bitte Sie, wir anderen ernüchterten Menschen, denen der Zynismus durch die alltägliche Lebenserfahrung aufgedrungen worden ist, finden es erfrischend, uns in einem Wunderglauben erholen zu können. Aber es ist vorbei! Sie ist gar nicht so besonders tugendhaft, nur wählerisch ist sie. Sie hat sich im Laufe dieser zwei Jahre von irgendeinem großen Ekel erholt, dem sie in Italien davongelaufen ist. Sie haben ihr besser gefallen als wir anderen – das ist begreiflich. Ich nehm's ihr nicht übel, daß Sie ihr gefallen, und gönn's Ihnen von Herzen, aber den Nimbus nimmt's ihr doch. Mein lieber Ferrars, lancieren Sie sich nicht! Zu was die vielen Umstände – es wird auch ohne den Priester gehen!«

Das war für Jack zuviel. Er stürmte ungestüm an dem Franzosen vorbei, den kleinen harten Filzhut – er hatte sich nie an die malerischen Kopfbedeckungen seiner Zunft gewöhnt – tief über den Augen, seinen kurzen Spazierstock unter dem Arm und die Hände in den Taschen seines Jacketts.

Warum war denn alles, was der Franzose ihm gesagt hatte, so entsetzlich plausibel?

 

Den Rest des Tages verbrachte Jack mißmutig einsam in seinem Atelier. Er versuchte, sich einen vernünftigen Plan für seine Zukunft zurechtzulegen. Es gelang ihm nicht. Er ärgerte sich über sich selbst; er ärgerte sich über alles mögliche, am allermeisten aber darüber, daß er nicht vermochte, nach irgendeiner Richtung schlüssig zu werden.


Die Schatten waren bereits sehr lang geworden, als er ein zweites Mal seinen Weg zu der Angiolina nahm. Ohne sich bei der Zwirnhändlerin erkundigt zu haben, ob sie zu Hause sei oder nicht, stumm, den Blick gerade vor sich hin gerichtet, stieg er die Treppe hinauf. Es war eine abscheuliche Treppe, mit glatt abschüssigen Stufen, die sich in schwindelnder Spirale um ein schwarzes Loch drehten.

Jack erinnerte sich dessen, wie er – kaum acht Tage zuvor – die Angiolina über diese selben glatten, abschüssigen Stufen in ihr Stübchen getragen. Er fühlte das Anschmiegen ihrer warmen, vollen Arme um seinen Hals, der leichte Geruch ihres Haares umschwebte ihn. Sein Blut brannte ihm in den Fingerspitzen. Da – was war das – von oben herunter, durch die muffige gesperrte Treppenluft, zog sich ein süßer, klagender Laut – ein italienisches Lied, von einer schwachen, aber ungemein wohllautenden Stimme gesungen. Er blieb stehen – horchte – ein neues hob an, süß, geheimnisvoll und wollüstig, wie der Blumenduft unter dem Schirokkodunst zitterte es zu ihm nieder. Ganz leise schlich er sich bis zum fünften Stock hinauf. Die Tür ihres Zimmerchens stand offen, er konnte unbemerkt zu ihr hineinsehen. Sie saß an einem Pianino, über dessen Tasten sie ihre Hände gleiten ließ.

Die Schönheit dieser Hände war etwas Wundersames, aber noch wundersamer war die Schönheit des blassen Profils.

Er war auf der Schwelle stehengeblieben. Sie mußte seinen auf sie gerichteten Blick gefühlt haben. Sie sah auf.

»Darf ich eintreten?« fragte er.

»Natürlich,« erwiderte sie einfach, »ich erwartete Sie.«

Ehe er sich dessen versah, kniete er neben ihr auf der harten, gelb angestrichenen Diele und hielt ihre beiden Hände in den seinen. »O mein Engel!« rief er, indem er die Hände mit Küssen bedeckte. »Wenn Sie wüßten, wie gräßlich mir der gestrige Auftritt war, welche Vorwürfe ich mir machte über das falsche Licht, in welches ich Sie durch meine Unvorsichtigkeit gebracht!«

»Sie mich durch Ihre Unvorsichtigkeit?« wiederholte sie weich. »Sie glaubten wirklich, ich hätte nicht daran gedacht, daß so etwas kommen könnte, als ich da draußen mit Ihnen zusammenblieb?«

»Angiolina;« rief er fast entsetzt, »Sie hätten wirklich von vornherein überlegt ...«

»Natürlich,« erwiderte sie, »ich wußte, was die Leute von mir sagen würden. Aber was soll mir denn daran liegen – mir? – Solange der eine Mann gut von mir denkt, den ich liebe, ist mir alles andere gleichgültig – das Urteil der Menschen und der Richterspruch Gottes!« Damit beugte sie sich über ihn, und seinen Kopf zwischen die Hände nehmend, küßte sie ihn auf die Stirn. Er schlang die Arme um sie und hielt sie fest an sich.

Über ihren Kopf hinüber blickte er in das Stübchen, in dem alles anmutig war und dem seine Dürftigkeit selbst einen Zauber mehr verlieh. Jack traten die Tränen in die Augen, während er den Blick über die rührenden Armseligkeiten schweifen ließ, die das Zimmerchen ausschmückten. Da plötzlich, in seine warme, großmütige Rührung hinein, schlich sich von neuem das kalte Mißtrauen, das ihn den Tag über geplagt. Es kroch ihm durch die Glieder, es schnürte ihm die Kehle zu. Totschweigen ließ es sich nicht, er mußte ihm in die Augen sehen, mutig damit kämpfen, es umbringen ein für allemal.

»Mein Kleinod,« murmelte er, »ich weiß, du lebst seit zwei Jahren in Paris unter den schwierigsten Verhältnissen, denen sich ein so schönes Mädchen wie du aussetzen kann. Kein Mensch wagt es nur, ein leichtsinniges Wort über dich zu äußern. Man begreift dich nicht, aber man beugt das Knie vor dir. Lina! Um Gottes willen, sei mir nicht böse, verzeih mir die Frage: War es immer so? Es will mir nicht über die Lippen vor dir – aber nur das eine: Hast du noch nie einem Mann angehört?« Er wagte nicht, zu ihr aufzusehen, nachdem er das ausgesprochen.

Wenn er sie gesehen! – Sie war bis in die Lippen blaß geworden – fahl. Aus ihren Augen sprach ein schreckliches Entsetzen und zugleich der Durst nach Glück, der sich nicht bannen lassen wollte.

Eine Sekunde zögerte sie, dann sagte sie schroff und deutlich: »Nie!«

»Ich war ja davon überzeugt, ich wußte es ja!« jauchzte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. »Verzeih mir – verzeih! Meine Braut – mein Weib!«

»Dein Weib?« stieß sie heiser hervor.

»Ja – mein Weib, du bist mir heilig!«

Indem öffnete sich die Tür.

»Mille scusi! Ich bitte, sich nicht stören zu lassen!« rief eine heisere Stimme, die Stimme eines Trinkers. Jack wendete sich um. Er glaubte nicht anders, als daß ein Maler eingetreten sei, der die Angiolina um eine Sitzung bitten wollte.

Aber wenn es ein Maler war, so war es ein recht verliederter Geselle und Jack völlig fremd. Dort stand in der Umrahmung der Tür ein Mann von mittlerer Größe, den Hut, einen weichen, hellgrauen Filzhut, sehr schmutzig, mit einem breiten, fettig glänzenden schwarzen Band umschlungen, auf dem Kopfe. Um sein blasses Gesicht hing das blauschwarze Haar dicht in großen, glänzenden Wellen bis an den Rockkragen herab. Stirn, Augen und Nase waren ungewöhnlich edel geschnitten, so edel, wie man Ähnliches bloß bei antiken Statuen und bei Neapolitanern und Griechen sieht – und selbst der Mund, den ein leichter, spitz zulaufender Voll- und Schnurrbart fast gänzlich frei ließ, so daß man die üppigen, scharf geschnittenen Linien der Lippen genau wahrnehmen konnte, hatte etwas Großartiges in seiner gierigen Roheit. Die Kleider des Mannes waren abgetragen und fast widerlich fleckig, an Rock und Weste fehlten ihm verschiedentliche Knöpfe; was man von seinem Hemd sah, war gelb und verknittert, seine Stiefel waren braungrau und die Beinkleider untenherum ausgefranst. Um den Hals trug er ein verfärbtes grellrotes Tuch.

Er sah so verlottert aus als nur möglich – widerlich herabgekommen, aber eben herabgekommen. Man hätte ihn nicht den untersten Klassen zugezählt.

»Bitte sich nicht stören zu lassen,« bat er, da Jack sich erhob, mechanisch, taumelnd, »bitte, bitte!« Er lachte zynisch – dann sich direkt an die Marchesina wendend: »Lina, Lina, verzeih'! Ich hab's wirklich nicht absichtlich getan!«

Der Schweiß trat Jack auf die Stirn. War er plötzlich irrsinnig geworden? Mühsam wendete er den Blick von dem Fremden auf die Angiolina. Die Angiolina saß mit gefalteten Händen und weit aufgerissenen Augen, ein Bild starrer Verzweiflung, da.

»Wer ist's?« fragte Jack, »wer ist's?« Er heftete die Augen auf die Angiolina. Da grub sie ihre Hände in ihr Haar und ächzte: »Mein Mann!«

Einen Moment später war er draußen. Er hatte noch nicht recht begriffen, alles in ihm war starr, wie gelähmt von einem ungeheuren Ekel. Da hörte er einen keuchenden Atem hinter sich. Zwei eiskalte Hände klammerten sich an ihm fest. Es war die Angiolina, die ihm nachgelaufen war; sie rief ihm schluchzend Liebesnamen zu. Bis an den nächsten Treppenabsatz schleppte sie sich neben ihm hin. Er vermochte sich nicht loszumachen von ihr. Endlich schüttelte er sie von sich ab. Noch einmal streckte sie die Hände nach ihm aus. Er stieß sie von sich zurück, zornig, ja roh – ihm graute vor ihr.

 

Die Idealisten sind eine gefährliche Spezies. Wenn irgendeine besonders überspannte Anschauung, die sie sich von einem Menschen gebildet haben, an den Klippen der Wirklichkeit scheitert, so gehen sie nachträglich ebensosehr zu weit in ihrer Verachtung des armen Menschenkindes, als sie früher zu weit in der Verhimmelung desselben gingen.

Von seiner Schwärmerei für die Angiolina war bei Jack momentan nichts übriggeblieben, gar nichts mehr. Er selber erklärte sich den völligen Umschwung seiner Gefühle ihr gegenüber durch die Empörung, welche die Lüge in ihm erregt, die sie zu ihm gesprochen. Nun, die Lüge war ihm unangenehm, aber ein Geständnis ihrer Lage, selbst wenn es dem Erscheinen des Gatten vorangegangen wäre, hätte Jack jedenfalls auch abgestoßen. Die Tatsache, daß sie, und zwar, wie er später erfuhr, mehrere Jahre lang mit diesem Lotterbuben vereinigt gewesen war, sich von diesen frechen Lippen hatte küssen lassen, war ihm unaussprechlich widerlich. Ja, wenn er es von vornherein gewußt, so hätte er sich vielleicht mit dem begnügt, was sie ihm zu bieten hatte: ihre Schönheit, ihre demütige Zärtlichkeit und stolze Liebe. War es nicht genug – was wollte er noch?

Es war eben nicht, was er erwartet – sie war von ihrem Piedestal herabgesunken – sie war wie alle anderen oder wenigstens wie viele. Er konnte nicht Worte genug finden, um seine blödsinnige Leichtgläubigkeit zu schmähen.

Den Tag nach der unerquicklichen Entdeckung begegnete er noch einmal Rambert. Er wäre ihm gern ausgewichen, doch hatte ihn der Franzose bereits von weitem erkannt und eilte, das Gesicht voll lustiger Bosheit, auf ihn zu.

»Ich gratuliere, mein Lieber,« rief er, indem er Jack die Hand entgegenstreckte, »ich gratuliere von Herzen! Das Schicksal hat Ihnen eine große Dummheit erspart, Ferrars. Aber« – und er schlug Jack derb auf die Schulter – »was sagen Sie zu der Geschichte? Ich behauptete es ja, daß sie irgendeinem Ekel davongelaufen sein müsse aus Italien, die Angiolina. Ich hab' den Mann kennengelernt – gestern in der Boule Noire. Ein herrliches Exemplar! Das Komische ist, daß man bei ihm ebensowenig daraus klug wird, welcher Gesellschaftsklasse er ursprünglich angehört haben mag, wie bei der Marchesina. Anfangs hielt ich ihn für einen Straßenräumer oder Eisenbahnarbeiter, so versoffen, zerlumpt schmutzig – nicht mit einer Feuerzange anzurühren ist er! Und bei alldem spricht er ein Italienisch, wie's gewöhnlich nur in den gebildeten Klassen vorkommt, und sehr leidliches Französisch – er läßt sich seinen Schnaps bezahlen, spuckt auf die Erde, und dann – mit einemmal fallen von seinem Munde Bildungsbrocken, scharfsinnige Bemerkungen, die einen umwerfen, und Phrasen wie die: »Le prince Massimo m'a dit un jour ...« Was sagen Sie dazu?«

»Daß es mir ungemein interessant ist, zu erfahren, daß der Mann der Angiolina auf einem intimen Freundschaftsfuß mit dem Principe Massimo steht.«

»Bah! In welchem Ton Sie davon sprechen, wie tragisch Sie die Sache auffassen!« verwunderte sich Rambert.

»Und das setzt Sie in Erstaunen?« fragte Jack giftig. »Sie sind ja doch ein so merkwürdiger Menschenkenner!«

»Nicht wahr? Ich hab's Ihnen gestern bewiesen!« lachte Rambert gutmütig und etwas platt. »Nehmen Sie die Geschichte nicht so ernst – Sie sind ganz grün. Ja, mein Lieber, sehen Sie denn nicht, daß die Sachen für Sie so günstig als möglich stehen! Mit Paolo Minelli läßt sich reden. Freilich wird er Ihnen die Daumschrauben ordentlich aufsetzen. Er hält Sie für einen Krösus, Ferrars. Nun ich mir's recht überlege, Ferrars – 's ist ein schändlicher Gedanke, aber – ich frage mich, ob die Sache nicht zwischen den Eheleuten abgekartet war. Hm! hm! Wir waren alle so entzückt von der Mädchenhaftigkeit dieser Person – und zu denken, daß sie bereits zwei Kinder gehabt hat! Sie sollen übrigens gestorben sein.«

Als Rambert wieder aufsah, war Jack verschwunden.

»Sonderbarer Heiliger,« murmelte er vor sich hin, »er sollte doch eigentlich froh sein – froh sein!«

 

Rambert hielt sich für einen Menschenkenner und wurde auch von seiner Umgebung dafür gehalten. Bis zu einem gewissen Punkte war er es auch. In neun Fällen von zehn beurteilte er die Menschen richtig und wußte so ziemlich vorauszusagen, wie sie sich in dieser oder jener Lage benehmen würden. Dies kam, weil er sich in all seinen Berechnungen auf die Habgier, Sinnlichkeit und Schwäche, auf die niedrigsten Neigungen und gewöhnlichsten Eigenschaften des Durchschnittsmenschen stützte. Einem Ausnahmsindividuum gegenüber wie Jack machte seine schale Menschenkenntnis Bankerott. Dazu langte das Maß, welches er zur Klassifizierung der Menschheit bei sich trug, nicht aus. Bei solchen Anlässen stutzte er kopfschüttelnd und kam schließlich darin mit sich überein, daß der Mensch, für den sein Maß nicht ausreichte, zu groß geraten – nicht daß sein Maß zu kurz war. Ein Mensch wie Jack war für ihn einfach eine Art schönes Ungeheuer, und die exaltierte Auffassung desselben belächelte er nachsichtig als jugendliche Unreifheit, wenn sie ihm nicht einfach als direkte Geistesstörung erschien. Im ganzen stellte ihn seine nüchterne Auffassung der Dinge auf einen besseren Fuß mit der Menschheit als Jack sein toller Idealismus.

Da er nicht viel von den Menschen erwartete, fühlte er sich durch sie auch selten enttäuscht; er nahm sie, wie er sie fand. Nachsichtig, ohne Bewußtsein der Nachsicht, fühlte er sich mit der Mittelmäßigkeit wohl und verstand es sogar, sich mit der Gemeinheit abzufinden. Da Nektar und Ambrosia nun einmal nicht zu finden sind, so begnügte er sich mit den Fleischtöpfen Ägyptens.

Jack hingegen! Du lieber Himmel! Er wollte durchaus Nektar haben, und wenn er sich den nicht verschaffen konnte, war er bereit zu verdursten. Er nahm sich's wenigstens vor; bis zur Ausführung war freilich weit. Die menschliche Natur ist ein starkes eigensinniges Ding und verlangt früher oder später ihr Recht. Der Durst will gestillt sein, und wenn man sich jede andere Möglichkeit, ihn zu stillen, abgeschnitten hat, stillt man ihn endlich im Sumpf.

Ja, wenn Jack zum wenigsten an dem landläufigen, von einer Illusion zur anderen hinüberdämmernden Idealismus gelitten hätte! Aber das war durchaus nicht der Fall. Er litt an einer Art von sporadischem Eruptividealismus – einem Zustand, aus dem er jedesmal mit einem Gefühl vehementer Beschämung erwachte.

Nach seinem erheiternden Zwiegespräch mit Rambert hatte er sich in sein Atelier geflüchtet. Dort lag er, das Gesicht in einem Polster vergraben, Stunde um Stunde mit geballten Fäusten. Er war wütend über die ganze Menschheit und grollte dem Schöpfer, daß er die Menschheit so erbärmlich gemacht.

Nachdem er sich ein paar Stunden also zähneknirschend müde getobt, kam er zu der Überzeugung, daß sein Benehmen unwürdig sei, stand auf und bemühte sich, sich zu beschäftigen, um sich zu zerstreuen. Er setzte sich vor die Staffelei und begann mit müdem Blick und schwerer Hand etwas an seiner Park-Monceau-Studie herumzubessern.

Da klopfte es an seine Tür. »Herein!« rief Jack und sah auf; die Palette wäre ihm beinahe aus der Hand gefallen – herein trat der Gatte der Angiolina.

Er sah gerade so verlottert aus wie am Tage zuvor und noch um einiges malerischer. Genau wie gestern trug er auch heute ein dickes rotes Tuch um den Hals, den schmutzigen Filzhut aber hielt er in der Hand. Also barhaupt mit der breiten niedrigen Stirn, um die sich das lange Haar, in der Mitte gescheitelt, ganz nach Art des raffaelischen Geigers schmiegte, war sein Gesicht trotz aller widerlichen Spuren des Lasters, welche darauf verzeichnet standen, geradezu teuflisch schön.

Es schoß Jack brennend durch den Leib bei dem Gedanken, wie die Angiolina einst an diesem Lumpen mochte gehangen, ihn mit ihren weichen Armen umschlungen und mit den dunkelroten Lippen geküßt haben. Etwas wie ein Schwindel und eine Übelkeit überkam ihn. Indes trat Minelli auf ihn zu. In einer gewissen Entfernung von Jack blieb er stehen. »Scusi, Signore,« begann er, »mein Name ist Paolo Minelli, im übrigen weiß der Herr, wer ich bin.«

»Darf ich fragen, was Euch herführt?« fragte Jack barsch.

»Etwas, das dem Signor nicht unangenehm sein dürfte,« erwiderte Minelli mit einem zynischen Lächeln, bei dem er seine scharfen, gleichen, weißen Zähne zeigte. »Der Herr spricht Italienisch?«

Jack blieb stumm. Was konnte den Mann herführen, dachte er bei sich – was?

»Ich kann mich auch der französischen Mundart bedienen,« fuhr der Italiener fort und bewies sogleich, daß er dieses Idiom vollständig beherrsche. »Was ich zu sagen habe, ist kurz – wir sind beide Männer von Welt, die verstehen einander, ohne daß es nötig ist, viel Redensarten zu machen.«

Trotzdem Jacks Nerven bis zum Zerreißen angespannt waren, gewann ihm der Plural in dem Munde des Hallunken doch ein Lächeln ab. »Männer von Welt!«

Der Italiener zuckte mit den Achseln und fuhr fort:

»Monsieur Ferrars scheint es nicht zu glauben, aber ich habe einst bessere Tage gekannt. Ein Jahr lang war ganz Italien stolz auf mich, dann – ach, tempi passati, zu was sich erinnern! Ich erinnere mich so wenig als möglich – ich bin ein Philosoph; ich habe viele Bücher gelesen meiner Zeit – alles vergessen – mit dem anderen – aber das eine weiß ich noch, daß es eine Roheit ist, eine Frau zu zwingen zu dem, was sie nicht mehr gern freiwillig tut – das stimmt nicht mehr mit den modernen Ideen überein, und darum – hab' ich auch die Angiolina freigegeben. Ich habe nie den Anspruch daran erhoben, daß sie mir treu bleiben soll. Als sie fort wollte, ließ ich sie ziehen. Ich dachte mir, was da vorging, ich bin gekommen, um mich zu überzeugen. Ich habe den Signor Ferrars gestört und bitte ihn, es mir zu verzeihen! ... Nun – hat der Herr noch nicht verstanden, muß man – noch deutlicher sein?«

Jack stand da wie festgewurzelt.

»Es fehlt mir das Reisegeld ...« begann der Italiener und lachte – »mit dreitausend Franken ist die Sache abge–«

Er hatte das Wort nicht zu Ende sprechen können. Jack war auf ihn losgestürzt und hatte ihm seinen Malstock quer über sein schönes, widerwärtiges Gesicht geschlagen.

Ein böser Blitz entfuhr den schwarzen Augen des Italieners, zähnefletschend wollte er sich auf Jack stürzen – doch ehe er sich dessen versah, hatte ihn Jack beim Kragen genommen und wie ein Bündel eklen Kehrichts zur Tür hinausgeworfen.

Einen Augenblick lag der Italiener regungslos auf Händen und Knien vor Jacks Tür. Ihm war wüst im Kopf – nur einen Moment, dann erwachte er aus seiner Betäubung. Das erste Gefühl, was in ihm aufkochte, war ein flammender, rasender Haß. Er hätte Jack erdrosseln mögen – aber er wußte, daß er gegen die stählernen Muskeln des Engländers nichts ausrichten konnte. Er richtete sich auf – langsam die schmutzige Hand über die Rampe gleiten lassend, ging er die Treppe hinab. So viel war in ihm noch vom Menschen übriggeblieben trotz seiner Verkommenheit, daß ihn seine Gemeinheit verdroß, seitdem sie zu nichts geführt hatte. Es brannte ihm wie Feuer im Leib – es packte ihn an der Kehle.

Mit einemmal blieb er stehen und schlug sich an die Stirn. »Mein Tag wird kommen,« sagte er sich, »er liebt sie wie ein Narr, so etwas entwöhnt man nicht von einem Augenblick zum anderen. Früher oder später wird er ihr doch nachlaufen, und dann...«

Er biß die Zähne ineinander.

Noch denselben Abend bemerkte man auf der Gare de Lyon einen schmutzigen, verliederten Mann mit einem bildschönen Frauenzimmer unter den Abreisenden – Paolo Minelli und die Angiolina.

Er hatte das Gesetz für sich – er hatte ihr ruhig angekündigt, mit der Polizei wolle er sie heimtreiben lassen, wenn sie ihm nicht freiwillig folge.

Sie ließ alles über sich ergehen. Sie war wie eine Maschine, die von selbst nichts vermag, die erst durch einen fremden Willen in Bewegung gesetzt werden muß. Minelli ließ sie nicht aus den Augen. An den Schalter schleppte er sie mit, dann hielt er sie die ganze Zeit, ehe die Türen nach der Abfahrtshalle geöffnet wurden, am Oberarm fest, bis er sie in ein halbdunkles, ekelhaft nach erkaltetem Tabaksqualm riechendes Kupee dritter Klasse hineinschob. Erst als sich der Zug in Bewegung setzte, erwachte sie aus ihrer Betäubung; sie stieß einen halb erstickten heiseren Schrei aus und sprang auf, als wolle sie jetzt noch einen Ausweg suchen – jetzt, wo es zu spät war. Ihr Mann packte sie an der Brust und zwang sie auf ihren Sitz zurück. Da kam ihr das Bewußtsein ihrer Machtlosigkeit und Schutzlosigkeit. – Der Zug stöhnte und ächzte – fort von ihm – immer weiter – immer weiter. Ihr war's, als schleppe er sie in einen dumpfen, schwarzen Schlund, der kein Ende hatte. Weiter, immer weiter fort von ihm – fort von ihm. Sie konnte die Gebärde des Abscheus nicht vergessen, mit der er sich von ihr losgemacht auf der Treppe – er von ihr. Er, dem noch wenige Augenblicke früher kein Ausdruck zart und heilig genug gewesen war, um sein Gefühl für sie zu bezeichnen! – Jetzt war's vorbei. Warum hatte sie ihn belogen! Wäre alles anders geworden, wenn sie die Lüge nicht zu ihm gesprochen hätte? – Sie stellte sich die Frage immer wieder, immer wieder, wie man sich die Fragen stellt, auf die man keine Antwort finden kann. Immer weiter, stöhnend, in atemloser Hast – fort – fort – fort von ihm!

Die Vorsehung, welche uns arme Menschen im ganzen recht lieblos behandelt, hat uns immerhin eine lindernde Fähigkeit gegönnt, sie hat unseren Schmerzen, wenn sie am heftigsten sind, häufig ein lähmendes Element beigesellt. Die zermalmende Last unseres Leides ermüdet uns, drückt uns, wenn wir's am wenigsten für möglich halten, den Schlaf auf die Augen.

Die Angiolina schlief ein – sitzend, den Kopf in die harte, beschmutzte Ecke gedrückt. Sie träumte. Erst waren die Träume süß, aber das hielt nicht an, aus seiner momentanen Ermattung erhob sich ihr Schmerz von neuem. Das Bewußtsein der Wirklichkeit mischte sich in ihre Träume, ohne deutliche Erkenntnis der Einzelheiten, nur als dumpfe, stumme, überall heimlich beigemischte Qual – heftiger, immer heftiger! Gott erbarme sich unser!

Da erwachte sie. Es war schon hell geworden. Durch die kleinen trüben Fenster sah man einen blaßgrünen Morgenhimmel, in dem die letzten Sterne starben.

Sie begriff erst nicht, wo sie war, so fest hatte sie geschlafen.

Neben ihr saß ein alter Mann, der beständig hustete und zwischen seine Knie spuckte, ihm gegenüber ein kleiner brauner Soldat mit sehr weiten roten Hosen, der aus einer mit einer Odaliske bemalten Pfeife qualmte und der Angiolina durch den Qualm hindurch verliebte Blicke zusandte. Dann eine sehr dicke Frau, die aus einem roten Taschentuch Viktualien auskramte – eine junge mit einem Kind an der Brust – Feldarbeiter und ein Reisender aus besserer Klasse.

Die Luft war schlecht; der Tabaksqualm, die Ausdünstung dieser eng zusammengepferchten Menschheit verursachte Angiolina Übelkeiten.

Ein Gefühl unaussprechlich müder Trostlosigkeit überkam sie. Die letzten Schleier verschwebten vor dem heranbrechenden Tag – immer heller wurde das Licht, immer deutlicher das Elend.

Ihr gegenüber saß ihr Mann und beobachtete sie mit triumphierender Grausamkeit.


Jack hatte sich entschlossen, die Sache mit der Angiolina leicht zu nehmen, den Schmerz, den ihm die Trennung von ihr verursachte, einfach totzuspotten.

Seine Menschenkenntnis hatte sich einmal als gründlich unausreichend bewiesen, sein Idealismus hatte Bankerott gemacht, darüber war er mit sich einig. Um den anderen keine Ursache zu geben, über ihn zu lachen, mußte er ihnen zuvorkommen und selber über sich lachen. Dies tat er denn, wo er nur Gelegenheit dazu fand, mit großer Energie und zäher Beharrlichkeit. Dabei sah er grünlich bleich aus, und da es mit dem Totspötteln seiner Verzweiflung nicht so schnell ging, als er anfangs gedacht, so gebrauchte er allerhand Gewaltmittel. Er stürzte sich mitten in den Wirbel der tobsüchtigen Pariser Junggesellenzerstreuungen hinein. Er, der bis jetzt ein gewisses normales Maß gesunden Jugendleichtsinns nicht überschritten, tat es jetzt den Tollsten gleich. Es schien ihm förmlich darum zu tun, sich ordentlich herunterzubringen, was bekanntlich bei gebührender Ausdauer auch dem Stärksten gelingt. Daß er dabei nicht nur die ihm von Gott verliehenen Gaben mit Füßen trat, sondern auch seine letzten Vermögensüberbleibsel in der sinnlosesten Weise zum Fenster hinauswarf, ja, nicht genug daran, seinen Kredit wirklich über alle Gebühr und Gewissenhaftigkeit hinaus ausbeutete, focht ihn nicht an. Was ihn aber ernstlich unangenehm ankam, war, daß er am Boden des so gierig von ihm geschlürften Bechers die Vergessenheit nicht fand, die er darin suchte.

 

»Ah ha! – Wie geht's? – Freut mich, daß Sie sich wieder einmal bei mir zeigen!«

Armand Sylvains war's, der Jack die Worte zurief, als dieser ihn etwa vierzehn Tage nach der Abreise der Angiolina in seinem Atelier aufsuchte.

Der alte Künstler sah an diesem Tage sehr unvorteilhaft aus. Sein Gesicht war röter und aufgedunsener als gewöhnlich, die Augen blutrünstig, seine schlaffe rote Unterlippe zitterte. Die beiden Spitzen seines Schnurrbartes bogen sich bis an die Schläfen hinauf, und der hohe Hut, den er auch in seinem Atelier trug, um seine Augen vor Reflexlichtern zu schützen, saß ihm unternehmend auf dem linken Ohr.

Dabei sah der alte Mann herausfordernd und hochmütig aus, konnte nicht einen Augenblick stillsitzen und humpelte, auf einen Stock gestützt, von einer seiner Staffeleien zur anderen. Von Zeit zu Zeit stieß er einen Fluch aus, wenn er zufällig mit einem seiner seit einigen Tagen sehr kranken Füße gegen einen harten Gegenstand anstieß. Beständig sah er sich nach Jack um, als erhoffe er etwas von ihm – das Lob, welches man jedem Künstler zollt, wenn man seine Werkstätte besucht.

Aber Jack war heute zu faul oder zu müde, um zu lügen – er sagte nichts. Erbittert über sein Schweigen, fuhr Monsieur Sylvains ihn an: »Hm! Wie verkatert Sie aussehen! Haben Sie sich noch nicht getröstet ob des Verlustes der Angiolina – was?«

»Die Angiolina!« wiederholte Jack trocken. »Glauben Sie wirklich, daß ich mich noch mit der Schwindlerin beschäftige? Könnte mir beifallen!« Er ließ sich in einem niedrigen Sessel nieder, streckte die Beine von sich und steckte die Daumen in das Westenarmloch.

»Bah! Verschossen waren Sie immerhin ordentlich in das Frauenzimmer,« rieb Sylvains ihm vor, »und angenehm mag's Ihnen nicht gewesen sein, daß Ihnen der Wüterich die süße Frucht von den Lippen weggerissen hat.«

»So, hat er das?« murmelte Jack mit einem unangenehmen Lächeln, wie es ihm früher gänzlich fremd gewesen war. »Sie befinden sich in einem gelinden Irrtum, Monsieur Sylvains. Soll ich Ihnen die Wahrheit sagen? Der Wüterich – Sie sprechen doch von dem hochachtungswerten Gatten der Angiolina – der Wüterich hat mir sie angetragen, die Angiolina, um den Preis von dreitausend Franken, und ich wollte sie nicht.«

»So – hm! Sie fanden das zu teuer?« spottete Monsieur Sylvains.

»Nein, ich fand das zu billig,« erwiderte Jack, indem er mit seinem kleinen Finger die Asche von seiner Zigarre abstreifte. »Hm! Was wollen Sie! Das Glück erfreut einen nur, wenn man Gelegenheit hat, es zu überzahlen; man will sich das Glück erobern mit dem Einsatz seiner ganzen Persönlichkeit, und da stellt sich's heraus, das Glück kostet nur dreitausend Franken – erbärmliche dreitausend Franken. Das ist doch zu lächerlich – man hat keine Freude mehr daran – man verschmäht's!«

Jack sprach das alles in einem trockenen, etwas affektiert hinwitzelnden Ton vor sich hin, ohne aufzublicken. Eine Pause folgte.

»Sie sind ein Tor,« begann Monsieur Sylvains endlich. »Sie hätten zugreifen sollen!«

»Das ist Ansichtssache,« erwiderte Jack achselzuckend, indem er die Beine noch weiter von sich streckte.

»Ach was!« nörgelte Sylvains, »nichts im Leben quält einen wie die Erinnerung an eine Freude, die man totgeschlagen hat, anstatt sie zu genießen! Glauben Sie mir, noch am Totenbett werden Sie an das Vergnügen denken, welches Sie sich versagt haben!«

Da Jack beharrlich schwieg, fuhr Sylvains ebenso beharrlich fort, ihn zu reizen. »Was sagen Sie zu Ihrer Menschenkenntnis?« rief er.

»Wieso?« entfuhr es Jack.

»Wieso? Wieso? – Sie waren ja geradezu erpicht darauf, die Angiolina für eine Jeanne d'Arc zu halten. Erinnern Sie sich, was Sie mir für ein Gesicht schnitten, als ich einmal zu vermuten wagte, daß die Angiolina eine Witwe sein könne? Und jetzt stellt sich's heraus ... Es ist zum Totlachen, geradezu zum Totlachen. Die Heilige, wer ist sie? Ein Mädchen aus gutem Haus, das, kaum sechzehnjährig, mit diesem Minelli, der damals ihr Klavierlehrer war, durchgegangen ist. Hahaha! Zum Totlachen ist die Geschichte – finden Sie nicht?«

»Nein, ich finde gar nichts – ich finde die Geschichte traurig und ekelhaft!« rief Jack. »Im übrigen wünsche ich Ihnen einen guten Tag!«

Damit erhob sich Jack und wendete sich der Tür zu.

Monsieur Sylvains hielt ihn zurück. »Ach, bleiben Sie doch, die Sache ist ja abgetan, ich rede nicht mehr darüber. Im Grunde genommen war ich verliebter in die Angiolina als Sie. Ich – für mich hatte sie eine ganz besondere Bedeutung – ich hielt sie für den Genius meiner künstlerischen Wiedergeburt. Ich dachte, sie würde mir dazu verhelfen, etwas Großes zu leisten, aber – Unsinn, einen dürren Baum bringt man nicht mehr zum Blühen. Sie wissen, welche Stücke ich auf meine Vestalin im Frühling hielt! – Ersten Ranges ... ganz Paris sollte auf den Knien liegen davor! – Nun, ich malte das Bild fertig, zu meiner vollsten Zufriedenheit. Ich stellte es aus – bei Petit in der Rue de Seze! – Die Zeitungen machten Lärm um mein Werk herum. Erst hielt ich mich von Petit fern – dann ... man hat seine kleinen Eitelkeitbegierden. Wie ich meines Erfolges sicher zu sein glaube, ganz sicher, geh' ich zu Petit, ich denke – ha! ha! ha! – man wird mir eine Ovation bringen, man wird sich zuflüstern: Da geht Sylvains, der erste Maler seiner Zeit, ein Klassiker – ha! ha! ha! – die Menschen werden sich drängen vor meinem Bilde – ja, du lieber Himmel! – Und wissen Sie, was geschah? Mein Bild hing nicht allein in dem Saal bei Petit. Petit hatte eine kleine Eliteausstellung veranstaltet

– Eliteausstellung ... er nannte es so. Was waren denn das für Bilder ... Im ersten Moment sah ich nichts als violette, orangefarbene und grüne Flecken – alle Farben des Regenbogens frech durcheinandergemanscht – mitten dazwischen meine Vestalin – etwas dunkel, aber so ernst, so vornehm – eine Augenweide, auf der man mit Genuß ausruht von dem sie rings umgebenden koloristischen Wahnsinn. Ich reibe mir die Hände. Es ist noch kein Mensch da – ich bin früh gekommen. Da, nach und nach, erscheinen die Leute. Meine Vestalin hängt der Eintrittstür gegenüber auf dem Ehrenplatz – man sieht sie nicht gleich wegen des roten Rundsofas, das in der Mitte des Saales steht. Ich ärgere mich über das Rundsofa, das die Aussicht auf mein Bild versperrt. Na – meine Zeit wird kommen, sag' ich mir. Methodische Leute, die hereingekommen sind, fangen bei Nr. 1 an. Wie lange sie brauchen, um vom Fleck zu kommen! Bei einigen von den Klecksereien halten sie sich eine ganze Weile auf. Da ist so einer, der Jeanniot heißt, und ein anderer Claude Monet – ein Landschaftsmaler, der – und noch einer, Degas, der Tänzerinnen im Flug malt. Da gibt's ein Geschrei und ein: »Welche Bewegung in der Luft! – wie leuchtend! – wie das lebt – lebt – lebt!« Immer dasselbe Wort. Endlich kommen sie zu meiner Vestalin. Und da – einen Blick – weiter nichts – den Kopf abwendend, sagen sie: »Vieux jeu!« und gehen ihrer Wege.«

Monsieur Sylvains unterbrach sich atemlos. Jack, dem trotz der geschmacklosen Sticheleien, mit welchen ihn der Alte gequält, jetzt leid um ihn war, murmelte etwas wie: »Wenn man sich das Wort jedes Esels zu Herzen nehmen wollte!«

»Das Wort jedes Esels ...« flammte Sylvains auf. »Hören Sie nur weiter. Ich saß dort eine ganze Weile immer am selben Fleck mitten zwischen den orangefarbenen und violetten Klecksereien. Von meiner Vestalin sagten die Leute alle dasselbe: »Vieux jeu – vieux jeu!« und gingen weiter. Nur ein alter Herr mit einem kurzstieligen goldenen Lorgnon blieb etwas länger davor stehen. Der bückte sich, um die Signatur zu lesen. »Sylvains«, murmelte er, »ich erinnere mich des Namens, er hatte eine gewisse vogue vor dreißig Jahren – jetzt spricht kein Mensch mehr von ihm.«« – Monsieur Sylvains ließ seinen Kopf auf seine Brust sinken; Jack wollte etwas sagen, etwas mühsam Geschraubtes, wie er es zum Troste Sylvains' vorbringen konnte. Der Maler unterbrach ihn: »Das ist nichts!« rief er; »daß die anderen nicht viel von mir hielten, dagegen konnte ich allenfalls aufkommen, aber wissen Sie – da ereignete sich ein ganz kurioses Phänomen. Während ich so mehr oder minder zerschunden auf dem Rundsofa sitze, schließe ich die Augen, um mich auszuruhen, und wie ich sie dann plötzlich aufmache, fällt mein Blick auf ein Bild von ... ach, was weiß ich – Claude Monet, glaub' ich! Ich fahre zusammen – es ergreift mich etwas Unaussprechliches, die Schuppen fallen mir von den Augen – ja, da ist Licht, Wärme und Bewegung – das lebt– und meine Angiolina ist tot, meine ganze Kunst ist tot, und – ich ... ich habe dummerweise vergessen zu sterben. – Und heute ... heute bin ich wie verrückt – ich gehe von einem meiner Bilder zum anderen, ich suche mir einzureden, daß ich recht habe und daß die anderen sich irren – aber ich kann nicht! Reden Sie mir doch meine Grillen aus, beweisen Sie mir doch, daß ich ein Künstler bin!«

Ein kalter Schauer kroch Jack über den Rücken, er erinnerte sich eines Tages aus seiner Jugend, wo ihm zum erstenmal religiöse Zweifel gekommen waren und er in seiner Seelenangst, mit dem Fuß auf den Boden stampfend, einem, älteren Freunde, auf den er alle seine metaphysischen Sorgen abzulagern gewohnt war, zugerufen hatte: »Aber beweis mir's doch, daß es eine Unsterblichkeit der Seele gibt!« Die Antwort des Freundes trat ihm ins Gedächtnis: »So etwas läßt sich nicht beweisen, das ist Sache des Gefühls!« Und da es der bequemste Gemeinplatz war, den er bei der Hand hatte, brachte er ihn vor. Sylvains betrachtete ihn mit einem bösen Blick, er hatte etwas Tröstlicheres erwartet. »Gehen Sie!« rief er ihm zornig zu, »gehen Sie, wenn Sie nichts Gescheiteres zu sagen wissen!«

Doch als Jack etwas verblüfft und in dem lähmenden Bewußtsein, daß er hier mit seinem Latein zu Ende sei, seinen Hut nehmen wollte, um sich zurückzuziehen, hielt ihn Sylvains am Arm fest und schrie: »Bleiben Sie doch – Sie sehen, daß ich außer mir bin! Bleiben Sie doch – Sie tun ein gutes Werk! Ich weiß ja nicht, wo mir heute der Kopf steht! Lassen Sie mich nicht allein!«

Jack blieb. Der alte Künstler, der sein Leben vergeudet und sein Talent entwürdigt, wurde ihm unheimlich.

Sylvains humpelte indessen noch immer unruhig in seiner Werkstatt auf und ab. »Es kommt noch ein Umstand dazu,« murmelte er, »ein Umstand, der ... der die Situation verschlimmert. Es ist eine große Versteigerung heute im Hotel Drouot – eine Bilderversteigerung, bei der alle vornehmen Künstlernamen Frankreichs vertreten sind. Ein Bild von mir befindet sich auch dabei – eine Salome. Ich bin natürlich begierig zu erfahren, um welchen Preis sie abgehen wird. Der Vandenesse hat mir das Bild vor zehn Jahren mit dreißigtausend Franken bezahlt – noch gestern hätte ich gehofft, sie würde über fünfzigtausend Franken gehen – heute« – er streckte ratlos die Hände aus – »weiß ich nichts mehr ...« Nach einer Weile begann er von neuem: »Es ist immer ein spannender Moment für den Künstler – den nächsten Tag steht der Preis, den das Bild erreicht hat, in allen Zeitungen.«

Er wendete horchend den Kopf. »Nein, niemand ... merkwürdig ... ich hätte doch gedacht, daß die Stunde der Versteigerung vorüber sein müsse!« Er ließ sich schwer in einen Sessel gleiten.

»Soll ich im Hotel Drouot nachsehen?« fragte Jack gutmütig.

»Ach nein ... nein ...« wehrte ihm Sylvains, »es ist nicht nötig – Rambert ist bei der Versteigerung – er hat versprochen, mir Nachricht zu geben ... zu dumm, sich aufzuregen – wegen so etwas. Noch gestern wäre ich meiner Sache sicher gewesen. Heute ...« Er wischte sich mit dem Rücken seiner Hand die großen Schweißperlen von der Stirn.

Ein bleiernes Schweigen folgte. Von draußen tönte das Rasseln der Tramwaywagen unangenehm laut in die Stille des Ateliers hinein.

Sylvains zog seine Uhr. »Ich begreife nicht,« murmelte er, »es muß etwas geschehen sein.«

Jack griff nach seinem Hut. »Ich will doch sehen, was es gibt, Meister,« rief er, »in zwanzig Minuten bin ich wieder da!«

Indem hörte man Schritte auf der Treppe draußen. »Ach, endlich!« rief Sylvains. Er ging auf die Tür zu, riß sie auf und prallte unangenehm überrascht zurück. Anstatt des von ihm erwarteten Freundes war's ein Kommissionär, der ihm entgegentrat. »Monsieur Sylvains?« fragte er, die Hand an die Mütze legend.

»Derselbe,« erwiderte ihm der Maler.

Der Kommissionär überreichte ihm ein Billett. Die Hand des Malers, welche das kleine weiße Billett empfing, fiel an seiner Seite nieder. Er hatte die Schrift des Journalisten erkannt – er wußte, daß dieser, wenn er ihm eine angenehme Nachricht mitzuteilen gehabt, sie persönlich gebracht hätte. Erst als sich der Kommissionär zurückgezogen, entschloß er sich, das Billett zu öffnen. Er wurde totenblaß, stützte sich taumelnd auf die Lehne eines Stuhls.

Im ersten Augenblick hatte er offenbar Lust gehabt, Jack den beschämenden Inhalt des Zettels vorzuenthalten. Dann mit einer raschen Gebärde warf er Jack das Briefchen zu.

Jack las:

»Die Salome mußte von der Versteigerung zurückgezogen werden, weil sich niemand fand, der den Anbotspreis gezahlt hätte.

Lachen Sie über die Geschmacklosigkeit des Publikums, lieber Meister, und überlassen Sie es Ihren Freunden, sich darüber zu ärgern. Die Geschichte ist einfach unerhört – unerhört!

Rambert.«

»Unerhört!« entrüstete sich Jack, dem schwarz vor den Augen geworden war und der nicht recht wußte, was er sagen sollte. »Unerhört, unerhört!« knirschte Sylvains. »Rambert hat recht, ich kann nur darüber lachen – lachen!« Er versuchte es auch.

Sein Lachen klang fürchterlich – er brach kurz ab. »Weshalb soll ich lachen? – über wen? – über das Publikum oder über mich ... über mich,« murmelte er, »ja, über mich, denn das Publikum – Gott im Himmel! – das Publikum hat recht!«

Jack wurde unaussprechlich zumute. »Aber Meister, so dürfen Sie sich die Sache nicht zu Herzen nehmen – so nicht!« rief er, »wenn man leistet, was Sie leisten!«

Da hob Sylvains den Kopf. »Was leiste ich?« rief er schneidend. »Sehen Sie sich doch um und sagen Sie ehrlich, ob Sie eines meiner Bilder von Herzen loben können!«

Jack suchte mit gespannter Aufmerksamkeit nach Trostgründen für den alten Künstler an den Wänden des Ateliers und auf den herumstehenden Staffeleien. Plötzlich blitzten seine Augen auf in ehrlicher Begeisterung. »Etwas Herrlicheres als jene Studie dort hat keiner Ihrer Zeitgenossen gemalt!« rief er.

Monsieur Sylvains hob den Kopf. »Welche Studie meinen Sie?« fragte er langsam.

»Den Burschen dort, der die Pferde in die Schwemme reitet. Das ist ja schön wie Gericault!«

Jack stockte – er merkte, daß er eine Dummheit gemacht. Die Angst beschlich ihn, er könnte da am Ende ein Bild gelobt haben, das gar nicht von Sylvains herrührte.

»Wissen Sie, wann ich das gemalt habe?« fragte Sylvains langsam.

Jack schüttelte den Kopf.

»Vor vierzig Jahren, damals, als ich von einem Kunsthändler zum anderen wanderte, um meine Bilder anzubringen mit einem vor Hunger knurrenden Magen und einer durchlöcherten Tasche. Damals hab' ich diese Studie gemacht. Ich weiß, daß sie schön ist, aber zu was brauchen Sie mir das auch noch vorzureiben und gar heute – heute! ... Sacré nom d'un chien! Sie sind der größte Tölpel in Europa, Ferrars – immer stecken Sie den Finger in die Wunde!« Und bei diesen Worten faßte Monsieur Sylvains einen Malstock mit beiden Händen und zerbrach ihn über seinem Knie.

Jack wollte irgend etwas sagen, Sylvains aber fuhr ihm herrisch ins Wort: »Sie haben ja recht, vollständig recht!« rief er. »Die Studie ist gut, sehr gut, ist das Werk eines Künstlers – und was da auf den Staffeleien herumsteht, ist Schund. Heute weiß ich's genau – Schund, die Arbeit eines Handwerkers – nein, nicht nur eines Handwerkers, sondern eines Clowns, der seit fünfunddreißig Jahren Purzelbäume schlägt zur Auferbauung des Publikums, und dem das Publikum zum Lohn für seine emsige Bemühung, es allen Leuten recht zu machen, den Rücken gekehrt hat.«

»Aber lieber Meister,« sagte Jack kleinlaut, »Sie unterschätzen Ihre Arbeiten und überschätzen das Publikum. Das Publikum ist bekannt für seine Freude an der Mittelmäßigkeit!«

»O ja! Mit Pfuschern, die ihrem Innersten nach mittelmäßig sind, hat das Publikum nicht nur Geduld, sondern fühlt sich sogar zu ihnen hingezogen. Aber einem wirklich begabten Künstler, der einmal damit anfängt, dem banalen Geschmack der Menge Konzessionen zu machen, dem entzieht das Publikum sofort erst seine Achtung, dann seine Gunst. Es ist, wie wenn ein ehrlicher Mensch Bestechungsversuche macht. La bassesse ne réussit qu'aux canailles!«

Erschöpft und atemlos pflanzte sich Sylvains mit dem Rücken gegen sein bulgarisches Massacre. »Aber ich will den Leuten doch noch zeigen, was ich zu leisten imstande bin!« stieß er nach einer Pause hervor. »Es ist schauerlich, wie das so ein altes Vieh wie mich dann schließlich doch noch an der Kehle packt – der Durst, sich auszuzeichnen, etwas Großartiges zu leisten, etwas Großes – ja, ich muß, und wenn ich darüber sterben sollte! Nur noch einmal ... zeigen, was ich kann!« Der Atem ging ihm aus. Er fuhr sich über die Stirn, sank in einen Stuhl. »Unsinn!« stöhnte er, »es ist vorüber – es ist aus – ich weiß, daß es aus ist!« Er verbarg sein Gesicht in seinen Händen und schluchzte.

 

Den nächsten Tag sollte Jack bei seiner Tante frühstücken. Es war ein heißer Tag, und ganz Paris roch nach gebranntem Asphalt, Staub und Rosen. Der Geruch schwebte auch durch die weit geöffneten Fenster in die langweilige Wohnung der Winters hinein. Mrs. Winter beratschlagte mit Jack, welchen Badeort sie für sich mit Mary wählen solle, um dort die spätesten Sommermonate zu verbringen. Jack schlug zerstreut allerhand vor, was unausführbar war, und Mrs. Winter klopfte ihm lächelnd auf die Schulter. Dann machte sie besorgte Bemerkungen über sein schlechtes Aussehen, und mit dem Kopf schüttelnd und warnend den Zeigefinger emporhebend, fragte sie ihn, ob er in der letzteren Zeit nicht ein wenig zu wild gelebt. Er antwortete ihr, was ein junger Mann in solchen Fällen einer alten Dame antwortet, küßte ihr die Hand und behauptete, sein schlechtes Aussehen könne nur von dem riesigen Hunger herrühren, der ihn quäle.

Man wartete auf Marys Erscheinen, um sich zu Tisch zu setzen, aber Mary erschien nicht.

Jack fing an darüber zu witzeln, wie sehr sie die Arbeit absorbieren müsse. Sie male aber auch jetzt an einem begeisternden Sujet – einem alten Stiefelknecht neben einem Regenschirm; von so etwas war es nicht leicht, sich loszureißen.

Da öffnete sich die Tür – Mary trat ein. Sofort war es ihrem Gesicht abzulesen, daß sich etwas Besonderes zugetragen habe.

»Wie spät du kommst!« rief ihr die Mutter entgegen. »Und ... und ... ja, was ist denn geschehen?«

»Nichts, du brauchst nicht zu erschrecken – nur – Mr. Sylvains hat der Schlag gerührt!«

»Tot?« fragte Mrs. Winter. Sie war blaß geworden.

»Nein, er lebt noch – aber es ist gar keine Hoffnung,« erwiderte Mary. »Ich habe das Gutachten des Arztes abgewartet, deshalb habe ich mich so verspätet.«

Die Flügeltüren des Speisezimmers öffneten sich, der Diener meldete: »Gnädige Frau, es ist aufgetragen.«

Aber Mrs. Winter rührte sich nicht. Sie saß kerzengerade in ihrem Lehnstuhl und glättete unruhig mit ihren etwas derb geformten Händen die Falten ihres schwarzen Kleides auf ihren Knien. Endlich hob sie den Kopf. »Wie ist es geschehen, war jemand dabei?« fragte sie heiser.

»Nein, niemand,« erklärte Mary ruhig. »Heute morgen hat man ihn, hilflos röchelnd, in seinem Atelier gefunden, am Boden liegend. Er soll letzterer Zeit des Guten etwas zuviel getan haben. Er ist ein Mann von sehr ausschweifenden Gewohnheiten – widerwärtig, nicht wahr? Es ist immer widerwärtig!« Mary gehörte zu der Sektion englischer Damen, welche entschieden haben, daß man an Männer dasselbe Maß von Sittenstrenge anlegen müsse wie an Frauen. »Die Sittenlosigkeit ist immer widerwärtig,« sagte sie, »aber bei einem so alten Mann wirkt sie doppelt abstoßend. Wie es heißt, hat er den gestrigen Abend auf einem sehr tollen Fest bei der Schauspielerin Leah Richard zugebracht. Denkt euch nur, bei der!« Jack spielte mit seinem Zeigefinger um seine Lippen herum; unwillkürlich streifte ihn der Gedanke, was Mary sagen würde, wenn sie wüßte, daß er demselben Feste beigewohnt. Indessen fuhr Mary fort:

»Erst in früher Morgenstunde kehrte er heim. Anstatt in seine Wohnung zu gehen, muß er sich sofort in sein Atelier verfügt haben. Wie es scheint, hat er sich dann in einem Anfall von Wahnsinn noch damit beschäftigt, an verschiedenen von seinen Bildern herumzubessern, man fand seine Gemälde mit frisch aufgesetzten violetten, rosa und gelben Streifen bekleckst. Wie gesagt, er lag am Boden mit blutig geschlagener Stirn, die Palette in der Hand. Seine rechte Seite ist gänzlich gelähmt.«

Mrs. Winter hatte indessen ihren Lehnstuhl langsam so umgekehrt, daß sie mit dem Rücken gegen ihre Tochter zu sitzen kam. Sie schneuzte sich ein paarmal.

»Ist gar keine Hoffnung?« fragte Jack beklommen. »Der Arzt sagt nein. Der Zustand kann sich noch eine Weile hinschleppen, aber wie es scheint, ist dem Gelähmten nichts Günstigeres zu wünschen als ein schleuniges Ende. Es ist schrecklich! Im ersten Augenblick war ich ganz erschüttert,« versicherte Mary. »Nun, er steht mir ja nicht sehr nahe! Kommt frühstücken, ich bin sehr hungrig!«

Mrs. Winter, immer noch ihrer Tochter und Jack den Rücken kehrend, erhob sich endlich. Aber anstatt sich dem Speisezimmer zu nähern, ging sie mit gesenktem Kopf und kleinen unbeholfenen Schritten der dem Speisezimmer entgegengesetzten Tür zu.

»Was hast du, Mama?« rief Mary aufrichtig besorgt.

»Mir ist nicht wohl, Kinder; ich bitte euch, frühstückt ohne mich – vielleicht komm' ich – in einem Weilchen.«

Damit verschwand sie.


Drei Tage später senkten sie den alten veralteten Künstler ins Grab – in einer Seitenallee des großen nüchternen Kirchhofs von Montmartre, der, inmitten von Paris liegend, indiskret von dem rohen Stadtlärm umbraust wird.

Mrs. Winter geleitete ihn bis zu seiner letzten Ruhestätte. Sie verlor sich in der Menge des verhältnismäßig ansehnlichen Leichenzuges – sie war die einzige, die aufrichtig um den Toten trauerte – um das, was er in sich zugrunde gerichtet, mehr als um sein Leben.

Die anderen hatten sich hauptsächlich deshalb eingefunden, weil sich das Gerücht verbreitet hatte, Alexander Dumas werde eine Leichenrede am Grabe des Malers halten.

Alexander Dumas hielt keine Leichenrede, und die Menge verlor sich enttäuscht. Jack, der seine Tante zu dem Leichenbegängnis begleitet hatte, führte sie nach Hause.

Sie saß neben ihm, bleich, mit verweinten Augen. Lange blieb sie stumm. Endlich, kurz ehe sie ihr Heim erreicht, hob sie den Kopf und sprach: »Du wunderst dich wohl, Jack, daß mir die Sache so nahegeht – jetzt nach so langen Jahren, und nachdem ich's doch mit angesehen, was aus ihm geworden war. Was willst du?« Sie seufzte, dann leise mit tiefer, resignierter Melancholie setzte sie hinzu: »Es gibt Illusionen, die einem heilig bleiben, selbst nachdem sie sich in Enttäuschungen verwandelt haben!« Kurz darauf hielt der Wagen. Jack wollte die alte Frau hinaufgeleiten; sie wehrte es ihm. »Laß mich heute ein wenig allein,« bat sie. Dann drückte sie ihm die Hand und ging.

Bewegt und gedankenvoll blickte Jack ihr nach. »Es gibt Illusionen, die einem heilig bleiben, selbst nachdem sie sich in Enttäuschungen verwandelt haben!« murmelte er. Er fand die Worte schön.

In sein Atelier zurückkehrend, nahm er einen Umweg, um an dem Hause vorüberzugehen, welches die Angiolina bewohnt hatte. Er bemerkte einen gelben Zettel zwischen einer Morgenjacke aus blauem Flanell und einem Trauerhut (Preis zwölf Franken) in dem Schaufenster der Mercerie, die ihre Mietsfrau gewesen war. Eine Neugier wandelte ihn an – wenn es ihr Zimmerchen wäre, das leer stand. Dreimal wendete er sich ab – das viertemal trat er bei der Zwirnhändlerin ein und fragte sie, von welcher Beschaffenheit das Zimmer sei, welches sie zu vermieten habe. Sie blinzelte ihn sonderbar an – zu welchem Zweck konnte ein so vornehmer Herr wie er nach so bescheidenem Quartier fragen! Zu geheimen Zusammenkünften etwa?

»Ich glaube, das Zimmer dürfte Monsieur völlig entsprechen,« versicherte sie ihm dummdreist. »Die Tür mündet auf den Flur, Monsieur ist ganz ungeniert.«

Das Blut stieg Jack in die Wangen, es brannte ihm in den Ohren. Unwillkürlich kam ihm ein gräßlicher Gedanke, ein abscheulicher Gedanke. Ob es wohl auch für die Angiolina einen Wert gehabt haben mochte, daß die Tür auf den Flur hinaus mündete?

»War's das Zimmer, welches das ... hm! ... das italienische Modell bewohnte?« fragte er.

»Kennt Monsieur es etwa?«

Die Zwirnhändlerin blinzelte lauernd, nicht ohne eine gewisse leichtsinnige Gutmütigkeit.

»Ja,« erwiderte Jack, und dann selbst jetzt noch der Möglichkeit vorbeugend, die Angiolina in ein falsches Licht zu stellen, hastig bemüht, sie vor jedem ungerechten Verdacht zu schützen, fügte er hinzu: »Ich war einmal oben – ich bin Maler.«

»Auf was beläuft sich die Miete?«

Die Zwirnhändlerin betrachtete ihn vom Kopf bis zu den Füßen, offenbar, um in aller Eile abzuschätzen, wie weit sie ihn übervorteilen dürfe.

»Sehr wenig – für Monsieur tu' ich's billig, man vermietet immer billiger an Herren als an Damen – dreißig Frank monatlich, vorauszuzahlen.«

Jack warf die dreißig Franken auf den Ladentisch und verlangte den Schlüssel. Dann kletterte er die Treppe hinauf.

Ein eigentümliches Gefühl überkam ihn, als er die Schwelle des armseligen Stübchens überschritt. Nur zweimal hatte er es besucht, kaum eine Viertelstunde lang sich darin aufgehalten, und dennoch war's ihm zumut, als ob er in einen heimatlichen Raum zurückkehre.

Er erkannte die kleinen Vasen und Nippgegenstände, die ihr gehört hatten.

Die Vasen standen leer – der Staub lag auf allem. Die Vorhänge waren von dem schmalen eisernen Bett, von dem man das Bettzeug heruntergeschält hatte, zurückgezogen. Das Zimmer machte den Eindruck, als ob kürzlich jemand darin gestorben wäre.

Dort neben dem alten Pianino stand der Stuhl, auf dem sie gesessen damals, als er sie überrascht hatte, ehe seine Illusionen zusammenbrachen. Ihre Anwesenheit hatte das Stübchen geadelt; aber ohne sie – wie ärmlich sah alles aus!

Eine tiefe Rührung überkam ihn beim Anblick dieser vereinsamten Dürftigkeit. Er dachte an die unvergleichliche Schönheit der Angiolina – er sagte sich, daß sie nur den Finger auszustrecken gebraucht hätte, und die vornehmsten, reichsten und hervorragendsten Männer von Paris hätten darin gewetteifert, ihr fürstliche Reichtümer zu Füßen zu legen. Sie hätte einen Palast bewohnen können. Statt dessen hatte sie in einem elenden Monatszimmer gewohnt und Kattunkleidchen um zehn Sous den Meter getragen.

Sie hatte das Entgegenkommen der berühmtesten Künstler von Paris abgewiesen, und ihm, Jack, hatte sie die Arme entgegengestreckt – er erinnerte sich ihrer Worte: »Solange der eine Mann gut von mir denkt, den ich liebe, ist mir das Urteil der Welt gleichgültig und der Richterspruch Gottes.«

Ein erschütterndes Mitleid überkam ihn. Die Erinnerung seiner an ihr verübten Roheit fiel ihm schwer auf die Seele. Er schloß die Tür zu, warf sich auf den Boden nieder neben das eiserne Bettchen, das schmal und hart wie ein Sarg, und schluchzte.

Den nächsten Morgen suchte er Luca Canini auf und fragte ihn nach dem Aufenthalt der Angiolina. Luca Canini wußte ihn nicht. Er hatte die Angiolina erst in Paris kennengelernt. Er fragte da und dort, den und jenen – kein Mensch wußte von ihr.

Sie war verschollen, gänzlich verschollen.


Es ist wieder in London wie im Anfang unserer Geschichte, und wieder wie im Anfang unserer Geschichte befinden sich die beiden Brüder Ferrars beisammen. Nur ... nur zwischen damals und jetzt stellt sich doch ein bedeutender Unterschied heraus.

Statt des raffinierten Komforts, der Jack damals umgab, drückende Ärmlichkeit – das Schlafzimmer eines lodging house zweiten oder dritten Ranges, ein Zimmer mit finsteren Mahagonimöbeln, mit einem vertretenen Teppich, der aus den Überbleibseln zerschundener Stiegenteppiche zusammengesetzt scheint, mit einem Bett, das aussieht wie ein Leichenwagen, der zufälligerweise anstatt mit schwarzen mit dunkelroten Behängen drapiert wäre und mit einer fürchterlichen blau und gelben Wandtapete. Diese Tapete allein könnte genügen, einen Menschen melancholisch zu machen. Der Kamin ist mit himmelblauen Glasvasen und sehr vielen rosig schimmernden Muscheln verziert. Fast auf allen Möbeln hängen grobgehäkelte weiße Schoner.

Mehr noch als seine Umgebung hat Jack sich verändert. Seine Kleider schlottern ihm um die abgemagerten Glieder, sie sehen verstaubt aus und so, als hielte Jack nichts mehr auf sich. Sein Haar ist schlecht gestutzt und der sonnige, lebensfrische Ausdruck seines Gesichts gänzlich verschwunden. Zwei tiefe Falten ziehen um seinen Mund, und von den Augenwinkeln an den Backenknochen vorbei zeichnen sich zwei dunkel eingesunkene Streifen.

Während Sir Bryan, in einem der mit rotem Plüsch überzogenen Stühle sitzend, ihm einen Vortrag hält, geht Jack, die abgemagerten Hände hinter dem Rücken gefaltet, rastlos auf und ab.

»Also mit einem Wort,« endigte Sir Bryan seine Predigt, »du bist ruiniert, völlig ruiniert!«

Es ist nicht viel länger als ein Jahr her, daß Sir Bryan seinem Bruder eine ähnliche Predigt gehalten und sie mit demselben niederschmetternden Wort geschlossen hat. Damals hat Jack dazu die Hände in die Taschen seines Jacketts versenkt und, mit seinen blauen Augen träge vor sich hinblinzelnd, gemurmelt: »Ruiniert, ruiniert!« und dazu gelacht. Das Wort hatte damals keinen Sinn für ihn.

Heute verstand er das Wort. In dieser Umgebung von stumpfbraunem Mahagoni und verschossenem Utrechter Samt, vor diesem Bett, das wie ein Leichenwagen aussah, und der beschmutzten Tapete, aus deren gelb und blau verschnörkeltem Muster ihn scheußliche Fratzen angrinsten, verstand er das Wort: »Ruiniert!«

Immer wieder murmelte er's zwischen den Zähnen: »Ruiniert, ruiniert, ruiniert! – den Teufel auch, ruiniert!«

Er nahm ein Glas Kognak mit Sodawasser von einem Tischchen, ein großes Glas, und trank es auf einen Zug aus. »Verflucht!« murmelte er vor sich hin und stampfte mit dem Fuß auf die Erde.

Sir Bryan betrachtete ihn mißbilligend.

»Mein Lieber, ich würde dir raten, anstatt mit häßlichen Ausdrücken herumzuwerfen, die eines englischen Gentleman nicht würdig sind« – Sir Bryan faltete die Hände über den silbernen Knauf seines eng zusammengerollten, mustergültigen Regenschirms – »also anstatt dessen dir ein wenig klar zu werden über deine Lage und dir danach einen Plan für die Zukunft einzurichten.«

»Nun, nach dem, was du mir gesagt hast, wäre der beste Plan für die Zukunft – einen Nagel zu suchen, der stark genug wäre, daß ich mich daran aufhängen könnte!« rief Jack bitter und mischte sich ein zweites Glas Kognak mit Soda.

»Nur keine unnützen Redensarten,« fuhr Sir Bryan auf, »der Selbstmord gehört mit dem Duell einem vergangenen Zeitalter an. Zu Anfang des Jahrhunderts kam es allenfalls vor, daß sich Leute aus den besten Familien – Lord Castlereagh zum Beispiel – umbrachten, heutzutage find es nur Leute aus den niedrigsten Klassen, die diesen Ausweg aus ihren Schwierigkeiten suchen.«

»Ja, du hast recht, es gehört heutzutage nicht mehr zum guten Ton, sich aufzuhängen,« erwiderte Jack schneidend, und noch schneidender setzte er hinzu: »Du mußt es meinem roten Blut zugute halten, wenn ich einmal einen so gewöhnlichen Einfall habe – das sind die Nachteile unserer Extraktion.«

»Laß doch unsere Extraktion aus dem Spiele!« verwies ihm Sir Bryan gereizt. »Was weißt du von unserer Extraktion!«

»Nicht sehr viel, allerdings,« erwiderte Jack, »da ich keine Ahnung habe, wer unser Urgroßvater war.«

»Unser Urgroßvater war der in Armut geratene Sohn eines Abstämmlings desselben Ferrars, welcher George Villiers erstochen hat.«

»So! Hm! Nobleres hat der unternehmende Heraldiker, welcher dir deinen Stammbaum erfindet, nicht ans Tageslicht gefördert?« fragte Jack. »Von einem Meuchelmörder stammen wir ab, Bryan? Da war' ich lieber, anstatt einen Urgroßvater zu suchen, bei meinem alten Großvater stehengeblieben, der war doch wenigstens ein Ehrenmann!«

»Ach was,« erwiderte Sir Bryan gereizt, »der Meuchelmörder war aus sehr guter Familie!«

Jack lachte – etwas von seinem alten Übermut klang durch sein Lachen hindurch – nur einen Augenblick, dann wurde es hart und scharf. »Hm! Wie sich die Zeiten ändern!« spottete er. »Heutzutage darf ich armer Narr mich nicht einmal aufhängen, aus Angst, die Ferrarssche Hochehrbarkeit zu diskreditieren, und zur Zeit unseres Königs Karl scheint der Meuchelmord der Vornehmheit keinen Eintrag getan zu haben.«

Dieses an und für sich gezwungene und keineswegs von übersprudelndem Geist zeugende Gewitzel war natürlich wenig dazu angetan, die Laune Sir Bryans zu verbessern. Er maß den Bruder mit einem vernichtenden Blicke. »Laß doch dieses öde Spötteln,« verwies er ihm, »das alles ist überwundener Standpunkt, heutzutage kommt's überhaupt nicht mehr auf den Stammbaum an. Die Hauptsache sind die Verbindungen.«

Und Sir Bryan fuhr sich selbstgefällig über seine glattrasierte Oberlippe. Dann zog er die Uhr aus der Tasche. »Bereits sechs – ich kann mich nicht mehr länger aufhalten. Deine Lage habe ich dir klargemacht, das andere ist deine Sache. Trachte den Kopf oben zu behalten. Adieu!« Damit wendete er sich zum Gehen.

Jack sah ihm nach. Erst stand er da wie angewurzelt, bewegungslos, mit geballten Fäusten und zornig gerunzelten Brauen – es wollte ihm nicht über die Lippen, das Wort, das er zu sprechen hatte. Endlich, als Sir Bryan seine Hand bereits auf die Türklinke stützte, eilte ihm Jack, das kleine Zimmer mit drei Schritten durchmessend, nach, und ihm die Hand auf den Arm legend, rief er heiser: »Bryan!«

Der Baronet sah auf.

Jack wußte, daß so ziemlich sein Schicksal davon abhing, seinen Bruder in gute Stimmung zu versetzen. Er suchte nach etwas Verbindlichem, das er ihm vorbringen könne – aber Jack war nun einmal Jack. Als der Baronet ihm mit einem etwas ungeduldig hervorgestoßenen »Nun?« gemahnt hatte, sich deutlicher zu äußern, brachte er nichts heraus als: »Bryan! Gehört es zum guten Ton, seine nächsten Anverwandten verhungern zu lassen?« Der schwerfälligste Mensch wird mitunter schlagfertig, wenn er genügend gereizt worden ist. Sir Bryan erhob seine grauen undurchsichtigen Augen zu dem Gesicht seines ihn um einen Kopf überragenden jüngeren Bruders und sagte gelassen: »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Jedenfalls gehört es zum guten Ton, Leute, die man um eine Gefälligkeit ansprechen will, nicht herauszufordern!«

Jack senkte den Kopf – der Bruder hatte recht.

Ein Weilchen blieben sie beide still, der Baronet noch immer die Hand auf der Türklinke, Jack ein paar Schritte von ihm, den Blick auf den Boden. Sir Bryan war der erste, welcher das Gespräch wieder aufnahm. Er hatte das triumphierende Gefühl eines Reiters, der ein aufbegehrendes Pferd durch einen scharfen Peitschenhieb seine Macht hat spüren lassen und der von diesem Pferd nicht abgeworfen worden ist.

»Na, nichts für ungut, Jack,« sagte er, »ich weiß, daß es einem Menschen von deinem Charakter und in deiner Lage schwerfallen muß, eine Bitte vorzubringen. Aber äußere dich immerhin. Wenn ich deinen Wunsch erfüllen kann, ohne an meiner Familie ein Unrecht zu begehen – Gerechtigkeit vor Großmut – Jack, so bin ich bereit – bin bereit!«

Er sagte das beinahe herzlich. Jack, zur Rührung allezeit geneigt – eine Neigung, die seit seiner bodenlosen Zerdroschenheit und Niedergeschlagenheit sehr zugenommen hatte –, streckte ihm die Hand entgegen und murmelte: »Du bist ein guter Kerl – im Grunde bist du ein guter Kerl, und ich war häßlich gegen dich, und es tut mir leid.«

»Nur keine Sentimentalität!« wehrte ihm Sir Bryan. »Sag' mir lieber, was du wünschest, ich hab' nicht viel Zeit, sehr wenig Zeit.«

»Bryan, nach dem, was du sagst, kann ich auf gar kein Einkommen mehr rechnen.«

Sir Bryan schob die Brauen in die Stirn: »Einkommen? Deine Gläubiger werden große Schwierigkeiten haben, mit den Resten deines Vermögens ihre Forderungen zu decken,« erwiderte er; »ich glaube gar nicht, daß es ihnen möglich sein wird. Ein Teil wird leer ausgehen.«

Jack wurde totenbleich. »Und ... Bryan, das würdest du zugeben – du ...? Um Gottes willen, nur das nicht! Streck mir vor, was ich meinen Gläubigern schuldig bleiben müßte! Ich will dir's ehrlich zurückzahlen, Pfennig für Pfennig!«

»So, und womit?« frug der Baronet, indem ein beinahe humoristisches Lächeln seine sonst so ernsten Lippen kräuselte.

Jack stockte einen Augenblick, dann schöpfte er einen tiefen Atemzug, und den gesenkten Kopf hebend, sagte er: »Ich will dir einen Vorschlag machen. Ich bin nicht mehr der, der ich vor anderthalb Jahren war. Damals lachte ich darüber, daß ich von dreihundert Pfund jährlich leben sollte, selbst beim besten Willen hätt' ich's nicht fertiggebracht, heute ist das anders. Ich bin mit so vielen Menschen beisammen gewesen, die weniger haben und leben und anständig und nützlich leben –« Jack stockte.

Das Gesicht des Baronets hatte einen unruhigen Ausdruck angenommen. »Nun?« mahnte er den Bruder.

»Nun, siehst du, Bryan« – er legte ihm die Hand auf den Ärmel – »wie es scheint, hat Gott mir ein Talent mitgegeben, das nur einer ernstlichen Pflege bedarf, um mir eine sorgenlose und geachtete Lebensstellung zu verschaffen. Ich bitte dich, befriedige meine Gläubiger und gib mir durch drei Jahre ein Einkommen von hundertundfünfzig Pfund. Wenn ich im Laufe dieser drei Jahre nicht imstande sein sollte, meinen Verpflichtungen gegen dich nachzukommen, so verspreche ich, nie weiter etwas von mir hören zu lassen.«

Ein bleiernes Schweigen folgte. Sir Bryan klopfte mit der Spitze seines Regenschirms unruhig auf den Boden. Schließlich trat er von der Tür in das Innere des Zimmers zurück und sagte: »Jack, ich will nicht hart gegen dich sein. Du bist mein Bruder, und ich war eine Zeitlang sehr stolz auf dich. Du warst das Schaustück in unserer Familie, der Beweis für die Vortrefflichkeit der Rasse – dafür, daß das aristokratische Element, welches durch unsere Mutter in unserer Familie neu aufgefrischt worden, sich tüchtig behauptet hat. Du bist ja ein famoser Mensch in deiner Art, aber es fehlt dir absolut an der Zähigkeit, die dazu gehört, in etwas durchzudringen. Du hast die besten Absichten, die du nie ausführst, und die edelsten Impulse, mit denen du nur Unheil anstiftest. Heute hast du die Absicht, von hundertundfünfzig Pfund jährlich in Paris zu leben und dich zwischen exzentrischen Entbehrungen zum großen Künstler heranzustudieren. Und weißt du, mein Lieber, wie du die Absichten ausführen würdest, sobald du das erste Quartal deiner Rente in Händen hättest? Die erste Zehn-Pfund-Note würdest du irgendeinem interessanten Freund borgen, der dich mit einem genügend rührenden Gesicht darum anginge; mit der zweiten würdest du eine japanische oder anderweitige antiquarische Rarität kaufen nur ihrer Hervorragenden Billigkeit wegen, in der Hoffnung, daran zu verdienen, das heißt, du würdest in die Lotterie setzen, in irgendeine Lotterie, weil es doch schließlich sich einfach als unmöglich herausstellen würde, zu versuchen, mit den dir gegönnten Mitteln auszukommen. Nein, Jack, es tut mir leid, aber von so etwas kann keine Rede sein. Ich mache dir einen anderen Vorschlag. Deine Gläubiger zu befriedigen, kann ich dir nicht versprechen, aber ich will dir versprechen, sie zu beschwichtigen. Im übrigen – mehr kann ich nicht tun – stell' ich dir tausend Pfund zur Verfügung, unter der Bedingung, daß du Europa verläßt und in irgendeinem anderen Weltteil dein Glück versuchst.«

Jack hielt den Kopf sehr tief gesenkt; plötzlich hob er ihn wieder. »Ich habe begriffen,« rief er aus, »du räumst mich aus dem Wege, weil es dir ebenso unangenehm wäre, einen Bruder in der Nähe zu haben, der sich in die Schäbigkeit eines kleinen Einkommens fügt, als einen, der sich nicht hineinfügt. Eines wie das andere könnte den Ferrarsschen Familienkredit schmälern. Na – behalte deine tausend Pfund und die Überzeugung, daß dein Antrag ein außerordentlich großartiger war für dich, und ich behalte für mich das Recht, zugrunde zu gehen, wo und wie mir's beliebt! Verlier' deine kostbare Zeit nicht weiter. Adieu!« Damit drehte er dem Bruder den Rücken, und mit etwas von seiner ehemaligen trotzigen Haltung die Hände in die Taschen steckend, stolzierte er in das Innere des Zimmers zurück.

Eine Weile blieb der Baronet noch in der Tür stehen. »Du bist gereizt,« murmelte er achselzuckend, »bei einem Menschen in deiner Lage ist das kein Wunder. Wer – ein Mann, ein Wort, ich ziehe meinen Antrag nicht zurück, die tausend Pfund stehen zu deiner Disposition, vielleicht überlegst du dir's noch!«

»Den Teufel auch!« murmelte Jack, noch immer den Rücken gegen den Bruder; dann mit einemmal wendete er sich hastig um und deutete auf die Tür.

Sir Bryan verschwand. Ihm war nicht wohl zumute.

Wenn der nüchterne und ehrgeizige Mann für ein menschliches Wesen eine zärtliche Schwäche hatte – seine ehrbare Zuneigung für Frau und Kinder, eine Zuneigung, welche nichts weiter war als eine erweiterte Eigenliebe und Selbstverherrlichung, war ein Ding für sich, und von Zärtlichkeit ebensosehr als Schwäche frei –, wenn also der Baronet für irgend jemand ein ungenügend begründetes, unvernünftiges und warmes Gefühl hatte, so war's für seinen Bruder Jack. Eigentlich hatte er fast Lust, umzukehren und dem Jungen den Willen zu tun. Aber seine Vernunft sagte ihm, daß es ein Unsinn sei, und eigentlich hatte die Vernunft recht, wenn man nämlich von Jacks Vergangenheit irgendwie auf seine Zukunft schließen durfte. Und dann – ja, darin hatte Jack den Nagel auf den Kopf getroffen – es wäre dem Baronet fast ebenso unangenehm gewesen, einen sparsamen Bruder in seiner Nähe zu haben, der sich vernünftig in die ihm aufgedrungenen Schäbigkeiten fügte, als einen verschwenderischen, der auf die Kosten Sir Bryans den großen Herrn weitergespielt hätte. Der Ferrarssche Familienkredit hatte noch keine rechte Wurzel geschlagen, es war ein junges, schwaches Pflänzchen und mußte geschont werden.

»Armer Junge!« murmelte der Baronet. »Und solch ein famoser Geselle wie er ist! Aber zu helfen ist ihm nicht. Er hat es sich selber aufgeladen – er ist an allem schuld.«

Das diente dem Baronet zum Trost.

Jack war indessen zu der identischen Überzeugung gekommen. Nur merkwürdigerweise trug diese Überzeugung in seinem Fall gar nichts zu seinem Troste bei, sondern alles dazu, seine Trostlosigkeit zu verschärfen. Als der Baronet ihn verlassen, durchmaß er mit großen Schritten immer und immer wieder sein elendes Zimmer, wie ein wildes Tier seinen Käfig, wie ein Gefangener seinen Kerker durchmißt, und versuchte zu denken. Aber er »dachte nichts zustande«, ihm war's, als trieben sich seine Gedanken in einem ebenso begrenzten Umkreis herum wie seine Glieder. Was sollte er mit sich anfangen! Die schlechte Luft hemmte seinen Atem. Er hatte beide Fenster aufgerissen, aber auch von draußen drang nichts besonders Würziges herein. »Komisch!« murmelte er vor sich hin. »Wenn man nicht gerade ein Bauer ist, so gehört ein wenig frische Luft ebensosehr zum unerschwinglichen Luxus wie frische Butter und täglich gewechselte Wäsche. Alles könnte ich eher ertragen in diesem Mauseloch als diese Luft, diese schäbig schmeckende Luft! Als ob ich noch das Recht hätte, mich über irgend etwas zu beklagen – ich – ich! Ich bin ja an allem schuld – an allem!«

Er sank in einen der Mahagonistühle und stützte die Ellenbogen auf den kleinen Tisch, auf dem die Kognakflasche stand. Mit einemmal durchdrang der Refrain des Liedes, den die Burschen und Mädchen damals in Meudon gesungen, seine Seele, damals am Rand der Seine, den Wäldern entgegen: Qu'astu fait, qu'as-tu fait de ta jeunesse! Er versteckte seine Hände – das Denken in ihm war ausgelöscht.

Da fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er wußte nicht, wem die Hand gehörte, aber eine angenehme Wärme durchschlich ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Er sah auf; über ihn beugte sich besorgt und zärtlich – seine Tante Jane.

»Hab' ich dich endlich gefunden, du dummer Junge, du törichter, abscheulicher Junge!« rief sie ein um das andere Mal. »Ist das ein Benehmen für einen vernünftigen Menschen, du Verschwender, du leichtsinniger, liederlicher Taugenichts, du – du armer Kerl!« Jede der ersten Bezeichnungen hatte sie mit einem kleinen Klaps sozusagen unterstrichen. Zum Schluß beugte sie sich über ihn, streichelte ihm die Wangen und küßte wiederholt sein hellbraunes Haar. Er hielt noch immer sein Gesicht gegen ihre Brust. »Ja, ja!« murmelte sie weich, »versteck' dich nur und schäme dich, aber tüchtig, und wenn du damit fertig bist, wollen wir uns aufraffen, den Kopf wieder hochtragen und der Zukunft mutig in die Augen schauen!«

»Zukunft!« murmelte er vor sich hin, »Zukunft!«

Sie versetzte ihm noch einen Klaps. »Ja, von deiner Zukunft!« rief sie entschieden. »Als ob ein Mensch wie du, ein Mensch mit deinen Fähigkeiten das Recht hätte, zu verzweifeln, nur weil er ein paar Dummheiten angestellt hat. Und noch obendrein lauter anständige Dummheiten, von denen dich keine tributpflichtig macht! Na, was ist denn der Jammer?«

»Ich habe meine Jugend vergeudet, ich hab' mein Vermögen verloren, ich habe die Lebensfreude totgeschlagen in mir!« ächzte Jack.

»Was das für große Worte sind!« verwies ihm die alte Frau. »Du bist ganz einfach krank, mein armer Junge! Vor allem wollen wir dich gesundpflegen. Komm und fahr mit mir hinaus nach Ivylodge. 's ist herzlich langweilig bei uns, aber in deinem jetzigen Zustand wird's dir sehr guttun, dich ein wenig zu langweilen, und dann später wollen wir sehen! Ach, Jack, Jack, jung, begabt, nichts in seinem Leben haben, vor dem man sich schämen muß – ein reines Gewissen und die Freiheit – o Jack, versündige dich nicht, du hast noch die Zukunft vor dir!«

Er hatte langsam den Kopf gehoben, während die alte Frau also eindringlich in ihn hineinsprach. »Du hast recht, wir wollen sehen, was noch zu machen ist,« sagte er dann, leise ihre Hand an seine Lippen ziehend, »vielleicht bring' ich's noch zu etwas.«

»Und ob du's noch zu etwas bringst! Du wirst sehen, wie deine Kraft wächst mit der Notwendigkeit. Wirf all die Verwöhnung hinter dich und – vorwärts!«

»Vorwärts!« wiederholte Jack.

»Wo hast du deine Siebensachen, ich will dir helfen zusammenpacken,« sagte Mrs. Winter.

»Ich hab' noch gar nichts ausgepackt,« erwiderte Jack, indem er einen gleichgültigen Blick auf ein rotes Felleisen warf, das am Fußende des leichenwagenähnlichen Bettes lag.

»Also noch einmal: vorwärts, vorläufig nach Putney!« rief Mrs. Winter humoristisch.

Jack gedachte der Worte oft: »Vorwärts, vorläufig nach Putney!«

Sie fuhren zusammen an der eintönig schokoladenfarbigen Architektur vorbei den langen Weg nach Putney. Jack hatte den Weg nicht mehr gemacht, seitdem er damals, an jenem schönen Maitag, hinausgefahren war – auf Brautschau. Mit der Erinnerung schoß ihm ein kalter Schauer durch den Leib. Er hätte plötzlich umkehren mögen – wohin?

Er spähte unwillkürlich aus dem Cab, in dem er mit seiner Tante saß, hinaus. Ein gelbgrauer Nebel senkte sich vom Himmel, stieg aus der Erde auf und hüllte alles in atemraubende kalte Feuchtigkeit.

Noch vor kurzem war's Jack gewesen, als läge dieser selbe schleichende, kaltfeuchte Nebel auch über seinem Leben, zu Boden drückend, alle Freude auslöschend. Und plötzlich hatte die Herzlichkeit und Teilnahme seiner Tante mitten in diesen Nebel eine kleine Insel von Licht und Wärme hineingezaubert. Ach, er hatte solche Lust, sich an dieser überfließenden Teilnahme zu wärmen, sich herauszuflüchten aus dem grauen, alles erdrückenden Nationalnebel in diese warme Herzensgüte. Es verpflichtete ihn ja zu nichts. Nur ausruhen wollte er sich ein paar Tage. Er war ja so schrecklich müde. Ausruhen – und dann ... Ja, was dann? Er konnte nicht weiter denken, er war müde.

 

Nun war Jack in Putney. Die Tage vergingen – es wurden Wochen daraus. Er dachte noch nicht daran, fortzuziehen. Er fühlte sich wohl in Putney, ihm war's, als habe er sich selten wohler gefühlt. Die sich regelmäßig abspielende Monotonie des dortigen Lebensganges sagte seinem zerrütteten Nervensystem zu. Sein früheres Leben lag hinter ihm wie ein heiß pulsierendes Fieber. »Ich bin alt geworden,« sagte er sich, und dann fügte er hinzu, daß er sich freue, alt zu sein, und dabei war er aufrichtig.

Alles behagte ihm in seiner neuen Umgebung: die puritanische Einfachheit des Hauswesens, die gesunde Langweiligkeit, Unverkünsteltheit und Ungewürztheit der Kost, der von einem leichten Kampfergeruch verschärfte Lavendelduft, welcher die Wohnung durchwehte, die Kahlheit der Möbel und die altmodische Helligkeit der Wandtapeten. Momentan liebte Jack sogar die harten unkünstlerischen Stahlstiche, die in braune Holzleisten gefaßt, einen Teil dieser Tapeten verdeckten. Er war wie ein Mensch, der, vom Wein übersättigt, mit Leidenschaft reines Wasser trinkt. Alles, was ihn an das Fieber des Lebens mahnte, stieß ihn ab. Ein Mensch, der sich aus der Welt hinaus in das Kloster geflüchtet hat, mag dasselbe empfinden.

Über seinem Bett in dem von Sauberkeit glänzenden Zimmer, das er in Ivylodge bewohnte, hing ein Kupferstich, der ihn beim ersten Anblick etwas komisch anmutete und der ihn später rührte: ein Jesuskind in langem weißem Nachthemdchen, mit einem großmächtigen Heiligenschein um das Haupt, kniete zu Füßen der Mutter Gottes, die es beten lehrte. Das war so unschuldig und so einfältig; alle Tage bei seinem Erwachen lächelte ihm das Jesuskind zu – und abends war das letzte, was er sah, ehe er das Licht auslöschte, das betende Jesuskind. Eines Tages legte er halb unwillkürlich die Hände zusammen, und ehe er sich's versah, traten die naiv innigen Worte des ersten Gebetes auf seine Lippen, das er als Kind an den Knien seiner Mutter hatte stammeln gelernt.

Seine religiösen Überzeugungen hatten jahrelang wie die der meisten aufgeklärten jungen Männer unserer Zeit in einem sehr hypothetischen »Vielleicht« gegipfelt. Die ersten Abende hatte er nur aus Höflichkeit standgehalten, wenn Mrs. Winter vor dem Schlafengehen die Dienerschaft versammelte, um derselben einen Bibelvers vorzulesen und ein Vaterunser mit ihr zu beten.

Binnen kurzer Zeit gewöhnte er sich daran, den Worten zu lauschen, und sprach das Vaterunser mit; und dann freute er sich auf die kleine religiöse Zeremonie wie sich ein Nervenkranker auf seinen Schlaftrunk freut.

Er begleitete seine Verwandten am Sonntag in die Kirche. Es war eine prunklose kleine Kirche, in der ein alter Vikar schlecht und altmodisch den Gottesdienst feierte.

Keiner der modernen Clergymen war's, die David Strauß und Robert Elsmere gelesen haben und sich nun bemühen, die Wissenschaft mit der Religion zu versöhnen, was beiläufig so viel heißt, wie einen Vierfüßler und einen Vogel an dieselbe Deichsel zu spannen. Jack hatte ähnlichen Experimenten in fashionablen Teilen von London beigewohnt. Sie hatten ihn jedesmal komisch angemutet – und er hatte sich aufrichtig darüber verwundert, mit welchem Enthusiasmus besonders der weibliche Kirchenbesuch diese Meisterstücke geistlicher Redekunst, in denen nicht zu überbrückende Abgründe mit einschmeichelnden Sophismen umgangen wurden, lauschte.

Nein, der Referent Arthur Lang nahm in bescheidener Demut seine Religion hin, wie sie ihm von seinen Vätern überliefert worden war, einfach und überzeugt, was die einzige Art ist, einen intelligenten Menschen zu verhindern, an den großen Zwiespalt zu denken, welcher zwischen unserem Glauben und Begreifen immer bestehen wird.

Jack ging jetzt gern in die Kirche und saß seine paar Stunden Gottesdienst jeden Sonntag ab in dem großen, altmodischen Familienkirchenstuhl der Winters.

Ob er dabei viel an den Gottesdienst dachte?

Er freute sich an dem kalten Kalkgeruch der weißgetünchten Wände, an dem gedämpften Licht, das von draußen über die Grabsteine und zwischen den schwarzen Lebensbäumen des Friedhofes durch die hohen, schmalen, kleinscheibigen Fenster hereinschlich.

Die ganz aus Weiß, Grau und Braun gemischte Farbenstimmung des Kirchenraumes tat seinen Augen wohl, ebenso wie die einfachen, eintönigen, meist ohne jede Begleitung gesungenen Hymnen seinen Ohren wohl taten. Auch freute er sich an dem innig überzeugten Ausdruck der vielen betenden Augen, die alle nach derselben Richtung blickten: nach dem Kruzifix, das gegen die kahle Wand der Kirche lehnte. Mit der Zeit folgten Jacks Augen denen der anderen, der Zauber der großen Legende umfing ihn. Während er die Hymnen, ohne sich um den Inhalt ihrer Worte zu bekümmern, wie eine beschwichtigende Liebkosung an seiner Seele vorüberklingen ließ, schwebten seine Gedanken hinüber zu dem armen Nazarener, der, da er die Menschheit nicht zu erlösen vermochte, sie wenigstens gelehrt hatte, mit Ergebung zu sterben.

Er vergaß, daß hinter dieser christlichen Ergebung die Hoffnung mit weit ausgebreiteten Flügeln steht. Die Hoffnung war überhaupt ein beunruhigendes Element, das er in seiner wehleidigen Hast, das letzte Nestchen quälenden Fiebers in seinen Adern zu ertöten, erbarmungslos aus seinem einschläfernden Lebensprogramm herausgestrichen hatte.

Täglich verengte er seinen Horizont, zwang seine Gedanken in immer bescheidenere Kreise hinein. Nicht einmal die Zeitung las er mehr – alles, was ihn an die Gegenwart mit ihren vorwärtstreibenden Unruhen erinnerte, war ihm unheimlich.

In dieser Stagnation glaubte er zu gesunden. Aber was er für Gesundheit hielt, war nichts als ein angekünsteltes Ermatten, auf das ein fürchterlicher Rückschlag erfolgen mußte.

 

»Jack, was hast du den ganzen Tag gemacht?« Es war Mrs. Winter, welche die Frage an ihren Neffen richtete.

Sie saß neben dem Kamin, in demselben geräumigen, langen, etwas niedrigen Gemach, in dem Jack sie bei seinem ersten Besuch in Ivylodge angetroffen. Jack stand in der offenen Tür, die in den Garten führte, und blickte hinaus. »Was ich gemacht habe?« wiederholte er in der verschlafenen Art, die er sich kürzlich angewöhnt. »Was ich seit drei Wochen mache – mich wohlfühlen!« »Wohlfühlen – wohlfühlen!« wiederholte ungeduldig die alte Frau. »Wenn du das unter diesen Umständen kannst, so heißt das, daß du krank bist!«

»Krank!« Jack zuckte die Achseln. »Was dir einfällt; mir war selten so angenehm zumut!«

»Angenehm zumut ...!« ärgerte sich die alte Frau. »Wenn Leute im Begriffe stehen, zu erfrieren, so sagen sie auch, es sei ihnen angenehm zumut. Die letzten Stadien der Erstarrung haben immer etwas Einschmeichelndes – aber du lieber Himmel, in deinem Alter denkt man doch nicht ans Erstarren! Der Tod liegt dir noch fern. Lebe!«

Jack schüttelte sich. »Ach, laß mich zufrieden, Tante Jane, das Leben tut weh!« sagte er.

»Bisweilen, und dann recht tüchtig,« gab die alte Frau zu, »aber damit muß man fertig werden.«

»Ich trachte ja damit fertig zu werden,« versicherte Jack.

»Wie? – dadurch, daß du dich einschläferst, verflachst und verdummst. Das ist ja der reinste Morphiumdusel, dem du dich ergibst! Ich beobachte dich alle Tage genauer und – versteh' dich alle Tage schlechter.«

»Du begreifst nicht, wie ich mich dazu herbeilassen kann, so einen Tag nach dem anderen auf deine Kosten zu existieren,« sagte Jack langsam.

Die alte Frau wurde rot vor Entrüstung. »Komm her, Jack!« rief sie.

Jack wendete sich von der offenen Fenstertür ab und schritt langsam auf seine Tante zu.

»Da knie nieder!« gebot sie ihm.

Er tat's, worauf sie ihm ein paar nicht ganz sanfte Klapse auf beide Wangen versetzte. »Da hast du,« sagte sie, »das ist für deine Dummheiten, übrigens bei dem Leben, das du jetzt führst, kann die Gehirnerweichung nicht lange ausbleiben. Ein für allemal, mein Junge – vergiß es nie – du bist mir lieber als alles auf der Welt, und solange ich noch eine Kruste Brot habe, die groß genug ist, in zwei Hälften geteilt zu werden, bin ich bereit, dir die eine Hälfte zu geben.«

»Das brauchst du mir gar nicht zu versichern, das wußte ich schon,« sagte Jack; »aber was würdest du von mir denken, wenn ich mich ebenso bereit zeigte, diese Hälfte anzunehmen?«

Die alte Frau blieb stumm.

Die Luft fing an grau zu werden, die Tage sind kurz im Oktober. Jack legte ein Scheit Holz mehr auf in dem Kamin und breitete seine Hände fröstelnd über die Flamme.

»Hast du bereits einen Plan gemacht für deine Zukunft?« fragte die alte Frau.

»Die Zukunft – nein! Ich kann noch nicht,« murmelte Jack kopfschüttelnd. »Ich weiß, daß es geschehen muß, aber – laß mich noch ein Weilchen, es ist mir noch zu widerwärtig, mich mit meiner Existenz zu beschäftigen.«

»Jack! Du dummer Junge, das kann ich gar nicht hören!« entrüstete sich die alte Frau. »Wenn du dich mir wenigstens anvertrauen wolltest! Es ist doch nicht möglich, daß dich der Verlust deiner paar Heller in diesen Zustand versetzt hat!«

»Ach nein!« – Jack schüttelte den Kopf – »aber ... das Leben ekelt mich an!«

»Es ekelt dich an, weil du dir den Magen verdorben hast. Warum hast du dir den Magen verdorben? Warum hast du diese letzten Monate hindurch deine Gesundheit, dein Geld und deine Zeit vergeudet, alles mit einem Gesicht wie ein Totengräber bei einer Paradeleiche, ohne eine vergnügte Stunde dabei zu genießen?«

»Ach, Tante, frag' mich nicht – es kommt nichts heraus beim Fragen, und beim Antworten käme auch nichts heraus.«

»Ich frage doch,« entgegnete ihm die alte Frau.

»Wie du mich quälst!« rief er fast aufbegehrend. »Und wenn du's durchaus wissen mußt: ich habe eine Feindin umgebracht in den wüsten Monaten, von denen du sprichst – meine Jugend, und jetzt steh' ich im Begriff, sie zu begraben. Alle Tage ein wenig tiefer, alle Tage tiefer – noch eine Schaufel Erde darauf – nicht genug – einen Stein, irgendeinen schweren flachen Stein, damit sie sich nicht mehr rührt – gar nicht mehr! And wenn ich damit fertig bin – wenn das Fieber sich nicht mehr meldet, dann – nun, dann will ich die Last meines Daseins in Gottes Namen geduldig von neuem auf mich nehmen!«

»Das heißt, du willst dich künstlich alt machen,« sagte Mrs. Winter. »Ja, Tante, das will ich!« erwiderte zähneknirschend Jack. »Wenn du wüßtest, wie ich dich um deine weißen Haare und um deine ruhige Zufriedenheit beneide!«

»Du – mich?« – die alte Frau sah den kräftigen schönen jungen Menschen wehmütig an – »du – mich? – Laß es gut sein; die Zufriedenheit des Alters ist trauriger als die Verzweiflung der Jugend – und weißt du, woher das kommt? Ich will dir's sagen – daher, daß wir in der Jugend, mögen wir momentan noch so verstimmt sein, den Himmel doch noch vor uns haben, während er im Alter in jedem Fall, genossen oder ungenossen, hinter uns liegt. Du hast ihn noch vor dir!«

»So!« rief Jack bitter. »Ich möchte wissen, in welcher Gestalt!«

»Der Himmel auf Erden ist immer ein begrenzter Himmel,« sagte die alte Frau, »aber so schön, als er hienieden zu finden ist, sollte er sich dir bieten. Du bist begabt, du kannst dich an deiner Arbeit freuen, vielleicht einmal stolz sein auf deine Leistung, und dann kannst du daran denken, dir ein Nest zu bauen. Es wird dir wohl irgendein Mädchen begegnen, das, von der Natur ebenso reich ausgerüstet wie du selbst, sich zu deiner Lebensgefährtin eignet; und wenn sie dir begegnet ist, sollte es dir nicht schwerfallen, sie festzuhalten. Schöneres gibt's im ganzen Weltraum nicht: Liebe und Arbeit – Arbeit für die, welche man liebt. Selbstvergessen in einem anderen angebeteten Wesen – da hast du den Himmel auf Erden! Mir freilich ist er nie zuteil geworden, und er liegt ungenossen lange, lange hinter mir, aber ich kann's mir doch vorstellen, wie schön er sein muß!«

»Ach, Tante, er kommt dir schön vor, weil du ihn nie genossen hast,« entgegnete Jack sehr bitter, »weil deine Illusionen nicht an den Klippen der Wirklichkeit gescheitert sind! Aber glaub' mir, er ist nicht schön – ein Teufelsblendwerk ist er! Ehe er kommt, das Fieber; nachdem man ihn genossen, Ekel und Grauen! Das ist der sogenannte Himmel auf Erden – die Liebe ist so! Die Leidenschaft ist ja doch nur eine Sirene, die, mit dem Schweif im Schlamm wühlend, die Sterne ansingt. Ich mag nichts mehr wissen von ihr!«

Die arme alte Frau sah ihn mit ihren klugen, aber trotz aller Klugheit bodenlos unschuldigen Augen lange betroffen an. Sie begriff ihn nicht, ihre Weisheit war zu Ende, sie konnte nur vor sich hin murmeln: »Du bist krank – du bist krank!«

»Ich war krank,« erwiderte Jack, »sehr krank, aber jetzt wird es besser, alle Tage wird es besser. Wer sagt dir, daß ich nicht daran denke, mein Nest zu bauen?« fügte er leise hinzu. »Ich denke manchmal daran. Aber das eine sag' ich dir: eins von deinen reichbegabten, berauschenden Mädchen wähl' ich mir zur Gefährtin wahrhastig nicht! Nein, klug, ruhig, und etwas nüchtern, so muß meine Frau beschaffen sein; anmutig, aber nicht schön; vernünftig, aber nicht geistreich; ein wenig hausbacken, in Gottes Namen. Ich will ein beruhigendes Element haben neben mir; verstehst du das, Tante?«

Mrs. Winter nickte mit dem Kopfe. »Ich verstehe, was du willst, genau verstehe ich's – einen schweren, glatten Leichenstein auf das Grab deiner Jugend!«

»Nun ja!« rief er aus.

»Jack! Jack! Sei nicht töricht!« verwies ihm die alte Frau. »Die Jugend läßt sich nicht totschlagen so von einem zum anderen Tag, sie will sich ausleben – hörst du! Vergrabe sie, so tief du willst, und leg' den schwersten Grabstein darauf, es wird doch ein Sonnenstrahl kommen, der sie weckt; und dann wird sie auferstehen aus dem Grab und den Stein von sich schleudern, sie wird gierig sein, erbarmungslos und Unheil anrichten und ihre entfesselten Kräfte – die Kräfte, die zum Heile so vieler hätten dienen können – mißbrauchen!«

Jack antwortete nicht. Die Dämmerung fiel dicht und dichter. Es war sehr still ringsherum. Nur das brennende Holz krachte, und von draußen drang ein leiser, schaudernder, wehmütiger Laut in die Stube herein und mit dem Laut ein süßer Duft – der Duft herbstlicher Verwesung.

Jack hatte sich erhoben und trat von neuem an die offene Tür.

Mrs. Winter kam ihm nach. Einem violetten Schleier gleich senkte sich die Dämmerung über den Garten, in das Violett der Dämmerung mischte sich strichweise das silbrige Grau des Abendnebels. An dem Boden kroch er hin, leise stieg er an den Büschen empor und verwischte die Umrisse der alten Eschen.

Die Luft war lau und feucht, kein Hauch bewegte sie, keine Vogelstimme sang, nur hier und da rauschte ein Blatt zur Erde nieder. Ein heiliger Schauder schwebte über allem – der Schauder des großen Sterbens.

Immer dichter wurde die Dämmerung, immer verwischender der Nebel.

»Wie schön der Herbst ist!« murmelte Jack. »Ich hasse den Frühling!«

Aus einem anstoßenden Raume erklang der Choral aus der Matthäuspassion von Bach »Wenn ich einmal muß sterben«.

Es war Mary, die spielte – steif, ungelenk, aber einfach und korrekt.

Jack wendete den Kopf – ihm war's, als fielen eiskalte Wassertropfen auf sein wundes Herz.

»Die schönste Musik, die es gibt!« behauptete er.

Mrs. Winter schüttelte nur traurig den Kopf und wiederholte: »Du bist krank, Jack – du bist krank!«

 

Er war wirklich krank. Binnen kurzem sollte kein Zweifel darüber bestehen.

Den Tag nach dieser Unterredung sprach Mrs. Winter noch einmal eindringlich mit ihrem Neffen. Zum Schluß trug sie ihm an, was Jack von seinem Bruder vergeblich erbeten hatte: ihm eine Rente auszusetzen, damit er sich ohne Nahrungssorgen die nächsten drei Jahre dem Studium der Malerei in Paris widmen könne. Natürlich war sie bereit, ihm diese Rente reichlicher zuzumessen, als Jack es seinem Bruder zugemutet hatte.

»Vierhundert Pfund jährlich kann ich leicht entbehren,« versicherte sie ihm; »das ist beiläufig, was du brauchst, um gesund und anständig zu leben. Nur auf das eine mach' ich dich aufmerksam, mein Junge. Bei Lebzeiten magst du über mein ganzes Einkommen verfügen. Wenn's sein muß, geb' ich den letzten Heller für dich, und mit Freuden, aber hinterlassen kann ich dir nichts. Ich habe mich ohne Heiratskontrakt mit meinem Gatten vermählt. Infolgedessen war nach dem englischen Gesetz mein Geld sein Geld. Er hat es seinen beiden Mädchen hinterlassen und mir nur eine allerdings reichlich zugemessene Leibrente ausgesetzt.«

Es wurde ausgemacht, daß Jack sich anfangs Januar nach Paris begeben sollte. Indessen versprach er, sich bereits in Ivylodge an die Arbeit zu machen.

An dem nächsten erträglich warmen Novembervormittage schleppte er denn auch seine Staffelei in den Garten hinaus und machte sich daran, etwas von dem poetischen Herbststerben auf einer sehr großen Leinwand wiederzugeben. Die Arbeit interessierte ihn. Der Pinsel folgte willig seiner Empfindung. Er fand treffende Farbentöne, um den stimmungsvollen Verfall der Natur anzudeuten. Mit einemmal war's ihm, als fasse ihn eine schwere harte Hand beim Kopf. Er beachtete es nicht und arbeitete weiter. Aber die Hand wurde schwerer und schwerer, der Druck schmerzlicher. Den ganzen Rücken herunter zog sich jetzt das peinliche Gefühl, auch in den Armgelenken meldete es sich. Der Pinsel entglitt ihm. »Wie dumm!« murmelte er vor sich hin, indem er sich nach dem Pinsel bückte. Er hatte die größten Schwierigkeiten, sich wieder aufzurichten. Da berührte eine schmale, kühle, etwas harte Hand seine Schulter. »Oh, wie herrlich, wie wundervoll, wie reich in der Farbe!« rief Mary Winter. Die Worte schmeichelten Jack. Sie waren übrigens zutreffend. Das war freilich ein Zufall, denn Mary hatte im Grunde genommen gar keinen künstlerischen Sinn. Alles, was Jack malte, gefiel ihr. Sie hätte seine Studie herrlich, außerordentlich und reich in der Farbe gefunden, wenn er den Herbst grün und blau kariert dargestellt hätte.

»Gefällt es dir wirklich?« fragte er, momentan seiner Gliederschmerzen vergessend.

»Prachtvoll!« begeisterte sich Mary, »du wirst der größte Landschafter deiner Zeit werden! Aber jetzt komm nach Hause, das Frühstück steht bereit!«

In etwas gehobener Stimmung setzte sich Jack zum Gabelfrühstück. Doch kaum hatte er seine Eier verzehrt (das zweite Frühstück in Ivylodge fing immer mit Eiern an), als sich das peinliche Gefühl, welches ihn im Garten so unangenehm überrascht, von neuem einstellte, nur heftiger und mit unerträglichen Übelkeiten gepaart. »Ich bitte euch, verzeiht ... ich kann die Mahlzeit nicht beenden ... ich muß mich einen Augenblick niederlegen,« erklärte Jack den beiden Damen.

Mühsam, ohne recht zu wissen, wie er es fertigbrachte, kroch er die Treppe hinauf. Als Mrs. Winter kam, um nach ihm zu sehen, lag er zähneklappernd auf seinem Bett, die Nase gegen die Wand gekehrt.

Die Influenza war's, die heimtückische, Geist und Körper lähmende Influenza, die ihn befallen hatte.

Die Krankheit hatte bereits damals ihren anfänglichen Harmlosigkeitsruf eingebüßt, und die Ärzte verhehlten es Mrs. Winter nicht, daß es um Jacks Aufkommen fraglich stünde. Eine heftige Lungenentzündung komplizierte seinen Zustand.

Vierzehn Tage war Jack zu elend, als daß ihn sein Leben oder Sterben weiter interessiert hätte. Am sechzehnten Tag nach seiner Erkrankung fing er zum erstenmal an, seiner Umgebung etwas Teilnahme zu widmen.

Mrs. Winter saß in einem großen Lehnstuhl neben seinem Bett. Er sah den Umriß ihrer Gestalt undeutlich bei dem Licht einer grün verhängten Öllampe. Er trachtete, sich auf einen Ellenbogen aufzustützen. Es verursachte ihm große Mühe. Er hatte das Gefühl, als ob sein Körper sich in Blei verwandelt hätte.

»Tante,« fragte er gleichgültig, »geht es zu Ende?«

»Gott bewahre, mein Junge, du bist auf dem besten Weg, gesund zu werden!« versicherte ihm die Tante.

»Hm!« machte Jack übellaunig, wie ein müder Mensch, der sich gefreut hat, ruhig ausschlafen zu können, und dem man mitteilt, daß er in einer halben Stunde wird aufstehen müssen. Die Aussicht, weiter zu leben, bereitete ihm nicht das geringste Vergnügen.

»Ich hatte mich eigentlich gefreut, daß es zu Ende ginge,« sagte er.

»Schweig,« verwies ihm die Tante, »wir kennen das – das ist die Influenza. Vollständige Abstumpfung des Lebenstriebes ist eins der Symptome der Krankheit.«

»So, also die Influenza ist offenbar eine Krankheit, die einen gescheit macht,« meinte Jack.

»Du Narr!«

»Wieso, ich Narr? Gibt es denn etwas Dümmeres auf der Welt als den Lebenstrieb – das, was Chateaubriand als »la manie d'être« bezeichnet? Etwas, das uns zwingt, bei einer Beschäftigung zu verharren, die uns anwidert!«

»Also du fängst bereits an zu philosophieren; das freut mich,« sagte die alte Frau, indem sie an Jacks Bett trat und seine Polster glattstrich. »Der Arzt rechnete darauf, daß du heute zu dir kommen würdest; er machte mich darauf gefaßt, daß du dich bei deinem Erwachen mit einem empörten Schauer vom Leben abkehren würdest – wenn es sehr gut ginge, würdest du daraufhin anfangen zu philosophieren. »Bleibt's bei dem Schauer,« sagte der Arzt mir, »so geben Sie Ihrem Patienten ein Glas Kognak zu trinken; kommt's zum Philosophieren, so nötigen Sie ihm einen Teller Suppe auf.« Ich gehe, die Suppe für dich zu besorgen.«

Ehe die alte Frau das Gemach verließ, nahm sie den grünen Schleier von dem Schirm der Lampe. Ein weiches Halblicht verbreitete sich in dem Räume.

Jack sah jetzt wieder deutlich die kleine Gestalt des Jesuskindleins mit dem großmächtigen Heiligenschein, das über seinem Bette betete.

Draußen sauste der Wind, halb gefrorener Winterregen dröhnte gegen die Scheiben. Das Behagen einer warmen Geborgenheit umfing Jack. Nur um Gottes willen sich nicht mehr rühren müssen, so weiter duseln können, bis in den Tod hinein – mehr verlangte er nicht.

Da öffnete sich die Tür, und Mrs. Winter trat ein. Hinter ihr kam Mary und trug eigenhändig das Teebrett mit der Suppe an sein Bett.

Drei Tage später hatte er seine Schlafstube verlassen, und bald darauf erlaubte man ihm, ein halbes Stündchen in der Mittagsonne auszugehen. Nun hätte man denken können, daß sein junger starker Organismus sich betätigen und rasch zu völliger Gesundheit durcharbeiten würde. Aber nein! Die Mattigkeit blieb dieselbe einen Tag um den anderen, kleine Rückfälle stellten sich ein, Schwindel, Gliederschmerzen, Ohrensausen. Jack wurde nicht mehr bettlägerig, aber er fiel sozusagen aus einem Sessel in den anderen, und mehrere Wochen, nachdem er sein Schlafzimmer verlassen, humpelte er noch, auf einen Stock gestützt, im Hause umher. Die Abgestumpftheit des Lebenstriebes, der völlige Mangel an Lebenslust nahm eher zu als ab. Mit der zufrieden hinträumenden Schwermut, mit welcher er sich vor dem endgültigen Ausbruch der Krankheit durch seine Existenz geschleppt, war sein nunmehriger Zustand nicht zu vergleichen. Bis in jede Fingerspitze hinein spürte er eine so schwere, schwarze Melancholie, daß es ihm unsäglich widerwärtig war, sich unter dieser Last auch nur zu rühren. Zu der elendesten kleinen Beschäftigung konnte er sich nicht entschließen. Dabei nahm sein Mißbehagen die verschiedensten Formen an: Angst – vor was hätte er nicht zu sagen gewußt, vor der Zukunft, vor jedem kommenden Tag –, Gewissensbisse und vor allem die Überzeugung, daß sein Talent eine Erfindung seiner Freunde gewesen, daß er verurteilt sein würde, sein Leben lang von seinen Verwandten zu leben. Bei dem Gedanken hätte er weinen mögen wie ein kleines Kind, und manchmal kehrte er die Nase gegen die Wand und weinte bitterlich. Dann schämte er sich seiner Kleinmütigkeit. Er verbrachte seine ganze Zeit damit, sich wegen irgend etwas zu schämen oder vor etwas zu fürchten. Wenn er etwas von seinem Gemütszustand vernehmen ließ, so erwiderte man ihm ruhig, das sei der Lauf der Dinge, die Folge der Influenza. Sein Äußeres hatte sich verändert, seine Züge hatten die edle Schärfe ihrer Linien verloren, sein Gesicht war aufgedunsen und bleich, auch seine Glieder waren stärker, seine Erscheinung schwerfälliger geworden.

In dieser Zeit benahm sich Mary ihm gegenüber musterhaft. Die lebhafte, ein wenig rastlose alte Frau predigte zu viel in ihn hinein, sie gab sich zu viel und hauptsächlich zu bald Mühe, ihn anzuregen, ihn aus seinem apathischen Zustande herauszureißen. Mary ließ ihn gehen, nahm von seiner maßlosen und mitunter verletzenden Gereiztheit keine Notiz, bediente ihn, wie man ein Kind bedient, und erriet seine Wünsche – was er noch an Wünschen hatte –, ehe er dazu gekommen war, sie auszusprechen.

Sie, die sich in sein Wesen nicht hineinzufinden vermochte, solange er gesund und frisch ins Leben hineingestürmt, verstand ihn, seit er abgespannt und elend war, besser als ihre Mutter. Er fing an, sie zu entbehren, wenn sie längere Zeit fortblieb. Er rief sie zehnmal im Tage. Wenn sie kam, hatte er ihr nichts zu sagen. Aber ihre Nähe tat ihm wohl, beruhigte ihn. Manchmal bat er sie, ihm etwas vorzuspielen, immer dieselben weihevoll geheimnisvollen Choräle oder traurig feierlichen Tanzweisen von Bach.

Sie spielte unbeholfen, ohne jeden Versuch, vorzutragen, auf dem alten Klavier, das man jetzt Jack zuliebe aus dem Saal in das Wohnzimmer gestellt, und diese kühle, geisterhafte Musik tat ihm wohl. Er vertrug keine andere.

Noch eine Woche verging. Er hatte jetzt die Gewohnheit angenommen, sich von Mary vorlesen zu lassen. Er überließ ihr die Wahl. Einem ernsten Geschichtswerk oder philosophischen Aufsatz zu folgen, war er noch nicht imstande. Sie versuchte es mit Romanen. Erst lächelte er über die wohlerzogenen Geschichten, die ihn in der die Behandlung jedes tieferen Problems ausschließenden Einfachheit ihrer psychologischen Begründung fast komisch anmuteten. Bald langweilte ihn dieser Vergißmeinnicht-Salat. Da griff Mary zu älteren Werken, die bei hohem philosophischem Wert dennoch der Leidenschaft mit respektvollem Grauen, sozusagen mit gezogenem Hut, von weitem ausweichen. Die unsterblichen Essays von Charles Lamb las sie ihm vor, die süßesten Wiegenlieder, die je gequälten Menschenseelen von einer gequälten Seele vorgesungen worden sind; und endlich den ewig ehrwürdigen, ewig jungen Vikar von Wakefield.

Während der Vorlesung des Lebensganges dieses vielfach geprüften Philosophen wurde Mary einmal sehr rot, was sie gut kleidete, und da geschah etwas Seltenes. Jack lachte, dann nahm er ihre schmale, kühle Hand in die seine und hielt sie an seine Lippen.


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