Ossip Schubin
Schatten
Ossip Schubin

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Aus dem Park ging ich zu meiner Mutter. Sie ließ mich vor. Kaum von ihrem Ritt zurückgekehrt, hatte sie eben erst ihr Reitkleid mit einem losen weißen Peignoir vertauscht. Ihr Haar hing ihr in langen, unordentlichen Strähnen über den Rücken. Es sah rauh und spröd aus; unter ihren heißen, blutrünstigen Augen flackerte ein leichtes Rot wie der Wiederschein einer Flamme. Als ich eintrat, ging sie eben mit kurzen, scharf betonten Schritten auf und nieder.

Ohne ein Wort zu sagen, berührte sie meine Wange mit ihren glühenden, zersprungenen Lippen und gebot mir durch eine hastige Bewegung, Platz zu nehmen. Nachdem sie noch eine Weile auf und nieder gegangen war, setzte sie sich zu mir. Sie zupfte beständig an ihren Fingerspitzen, an ihren Aermeln, an ihren Haaren.

»Hat dich dein Ritt sehr ermüdet?« hub ich leise zu reden an und versuchte ihre Hand zu nehmen.

Sie zuckte bei meiner Berührung zusammen und sah mich starr an. »Mein Ritt?« wiederholte sie – »mein Ritt?« Dann auflachend . . . »Ach richtig, ich bin ja ausgeritten – ich hatte vergessen . . . mon Dieu ça avait si peu d'importance!« Sie legte die Arme um die Knie und wiegte sich auf und nieder. »Et vous? – haben Sie sich gut mit Suworin unterhalten?« rief sie mich französisch beinahe barsch an.

»Mutter!« hauchte ich, »vergißt du denn alles?«

»Ach, ich vergesse nichts,« rief sie, »glaubst du denn, es sei einem leicht, zu vergessen, daß man einen zwanzigjährigen Sohn hat?«

Bisher hatte ich geglaubt, sie habe aus Zartgefühl, ihrer falschen Stellung wegen, sich nicht öffentlich als meine Mutter zu bekennen gewagt, jetzt aber merkte ich, daß sie sich meiner schämte.

»Andre Frauen meines Alters führen kleine, fünfjährige Bübchen an der Hand . . . wie das jung macht . . . während ich . . . das kommt davon, wenn man sich als fünfzehnjähriges Kind eine Kette um den Fuß schmiedet. Mein Gott, mein ganzes Leben – alles, was mir die Leute vorwerfen, ist ja nur eine Folge davon . . . davon! . . .« Sie fing an zu schluchzen, ohne Thränen zu vergießen, nicht schmerzlich, sondern mit einer Art Wut. –

Tödlich verletzt erhob ich mich, wollte mich ohne ein Wort entfernen, da rief sie mich zurück. »Alfons!« schrie sie, »wo willst du hin? Um des Himmels willen, verlaß mich nicht!« Sie klammerte sich an mich und küßte mich mit wilden, leidenschaftlichen Küssen – Küssen, die nicht mir galten – vor denen mir graute. Ich wehrte sie von mir ab. Da weinte sie heftig, zornig, wie ein Kind und klagte, daß ich sie nicht mehr liebe, und daß sie es freilich nicht verdient habe, aber . . . ich solle nur bedenken! –

Ich führte sie zu ihrem Sitz zurück, nahm ihre Hand und behielt sie fest in der meinen. »Mutter, ich hab' dich lieb, wie niemand in der Welt dich je lieb gehabt hat,« versicherte ich ihr – »aber ich kann's nicht ertragen . . .« ich stotterte, es wurde mir heiß . . . »das schiefe Licht, in das die Verheimlichung unsrer Verwandtschaft unser Verhältnis stellt, macht mich zu elend. Glaubst du . . . könntest du deinem hohlen Freudenleben entsagen und mit mir ziehen, ich würde nur für dich existieren, was ich dir an den Augen absehen könnte, thät ich dir . . . es wäre nicht viel, aber . . .«

Sie lehnte sich an mich, sie streichelte mich. »Was dir einfällt!« rief sie heftig. »Was wirst du dir in deinen jungen, schönen Tagen so eine Last aufhalsen. Du mußt das Leben genießen, mußt dich andern Frauen widmen, als deiner alten Mutter. Ich wäre dir nur im Weg – gar bis der Tag käme, an dem du ein junges, schönes Mädchen heimführen wolltest. Da . . . da . . . du weißt gar nicht, wie groß das Opfer ist, das du mir bringen willst!« Ich sprang auf. Ich fühlte, daß sich hinter diesen schönen Redensarten die Angst vor der Langweile eines regelmäßigen Lebens barg.

»Sprich mir nicht von meinem Opfer, Mutter!« rief ich, »ich denke nicht daran – alles, woran ich denke, ist, daß ich nicht länger am Ufer zuschauen will, während du in der Flut versinkst. Hast du die Kraft, mir zu folgen, oder . . . soll ich vergessen, daß ich je eine Mutter gehabt habe? . . .« meine Stimme brach. »Ich weiß, es wird dir anfangs hart vorkommen« – setzte ich weicher hinzu – »so allein zu leben mit mir . . . aber . . . vielleicht gewöhnst du dich daran. Mutter, liebe Mutter . . . es hat eine Zeit gegeben, wo wir einander alles waren, du und ich . . . erinnerst du dich denn nicht mehr?« –

Da traten zwei große Thränen aus ihren Augen, und sie lispelte nur das eine Wort: »Mein Kind!« und legte die Arme um meinen Hals.

Ich glaubte, ich hätte gesiegt! –

*

Den Nachmittag ließ sie sich verleugnen, und um fünf Uhr aß ich allein mit ihr an einem kleinen, runden Tisch, der mit schön geformtem Silbergerät und funkelndem Krystall bedeckt war. Sie legte mir die zartesten Bissen vor, füllte mein Glas mit süßem Wein und nannte mich »mein Kind«. Der alte Kammerdiener, der servierte, sprach von mir als von dem »jungen Herrn« und blinzelte uns nicht mehr zweideutig an. Ich wußte, daß sie ihm gesagt, ich sei ihr Sohn.

Mein Herz war leicht wie ein Vogel und klopfte mir in der Brust herum, daß ich glaubte, es wolle ganz heraushüpfen.

Doch da – der alte Diener hatte das Dessert aufgetragen und uns allein gelassen – meine Mutter reichte mir eben einen rotwangigen Pfirsich über den Tisch hinüber – da wurde ihr Antlitz plötzlich totenblaß und ihr Auge starr. Der Pfirsich entglitt ihrer Hand und rollte mitten zwischen die Weingläser hinein, daß eines davon mit schrillem Geklirr umfiel und zersprang!

Ich wandte mich nach dem Fenster, auf das ihr starrer Blick gerichtet war, und sah eine große, gebückte Gestalt vorüberschleichen – Suworin! –

Von dem Moment an blieb meine Mutter sehr traurig und zerstreut.. Manchmal heftete sich ihr Blick wieder auf die halbgeschlossene Persienne, als erwarte sie noch einmal ein paar gebückte Schultern zu sehen.

Ich versuchte, um sie zu zerstreuen, ihr vorzulesen, einen insipiden, aber höchst gefühlvollen französischen Roman, den sie mir als ein Meisterwerk von Geist und Empfindung gepriesen, aber – sie hörte nicht zu. Sie hatte wieder die Hände um die Kniee geschlungen und wiegte sich einförmig hin und her.

Endlich schloß ich das Buch. Sie war vertieft in ihre eigenen Gedanken und merkte es kaum.

»Willst du nicht singen, Mutter?« bat ich leise.

Sie fuhr zusammen. »Singen,« murmelte sie . . . »Ja, ich will singen.«

Damit setzte sie sich ans Klavier . . . sie schlug ein paarmal mit der Handfläche auf die Tasten wie ein launenhaftes Kind. Die häßlichen Dissonanzen schienen ihr wohl zu thun. Ein irres Lächeln, ein Lächeln, wie es einem nur die bitterste Seelenqual abringt, verzog ihre Lippen, dann hob sie an. Der erste Ton brach ihr in der Kehle. Ihre Hände glitten von den Tasten und an ihren Seiten nieder, ihre Finger berührten fast den Boden und wieder schweifte ihr Blick nach dem Fenster. Ich hatte mich ihr genähert, und sie strich mir liebkosend über den Arm, ihre Hand war kalt und zitterte wie Espenlaub.

»Mutter, du fieberst, leg dich zu Bett,« drang ich in sie.

»Mich zu Bett legen,« ächzte sie, »o nein, ich möchte einen Spaziergang machen, einen weiten, weiten Spaziergang bis ans Ende der Welt, irgend wohin, wo es kühl ist, wo es kein Feuer und keine Liebe gibt!«

Sie schien wie von Sinnen.

Wir gingen aus. Es dämmerte. Der eigenartige Geruch des Augustabends, ein Gemisch von Staub, Rosenduft und versengten Blättern, erfüllte die Luft, die Kurgäste schlenderten träge, unschlüssig, wie Leute, die kein Ziel vor sich haben, durch das laue Halbdunkel. Ein leichter Wind zischelte in den Bäumen der Hauptallee.

Meine Mutter hatte einen Schleier über den Kopf geworfen, schob ihn jedoch bald mit den Worten: »Ich ersticke,« zurück. Sie schleppte sich kaum, ich zog sie mehr, als sie ging, und doch konnte ich meine Schritte nicht genug beeilen, sie drängte mich immer, noch rascher zu gehen.

Ehe wir ins freie Feld hinaus konnten, mußten wir am Park vorüber. Durch die schwüle Dämmerung klang die Musik des Abendkonzertes.

Meine Mutter blieb stehen. »Wenn wir in den Park hineingingen?« flüsterte sie.

Drei Minuten zuvor hatte sie die Menschen fliehen wollen!

Auf dem breiten Mittelweg des Parkes zwischen den Tischen und Bäumen tummelten sich ein paar Kinder; ihre frischen, fröhlichen Stimmchen schwirrten alle durcheinander. Einige von ihnen tanzten. An den Tischen saßen bleiche Frauen, hie und da ein gähnender Mann. Und alles war vom Staube und von grauem Zwielicht wie in Nebel eingehüllt.

Der Blick meiner Mutter irrte hin und her. Plötzlich umklammerte sie meinen Arm krampfhaft. Ein paar Schritte von uns saß Mademoiselle Pahtsch, den Hut tiefer im Nacken, die runden Augen glänzender, die aristokratisch geschwungenen Nasenflügel beweglicher als sonst; die Füße leicht unter dem Saum ihres Kleides hervorgeschoben, daß man ihre winzigen Lackschuhe und ihre gelb und blau gestreiften Strümpfe sehen konnte. Neben ihr, den Ellbogen auf ihrer Stuhllehne, den Kopf fast an ihrer Hutkrämpe, saß Suworin. Er bemerkte uns nicht. Meine Mutter biß sich die Lippen bis aufs Blut und eilte hastig an den beiden vorüber, obgleich die helle, gläserne Stimme Mademoiselle Pahtschs ihr liebenswürdig zurief: »Ilka, willst du dich nicht zu uns setzen?«

Sie eilte weiter und weiter. Den Park hatten wir längst hinter uns gelassen, und noch immer eilte sie so. Ihre Augen waren starr, ihr heißer Atem drang stöhnend über ihre Lippen. Es klang wie das Gewimmer des Windes, der jetzt, den Staub aufkräuselnd, die Erde entlang fuhr und ein Gewitter ankündigte.

Da ragte aus der Fläche eine weiße Kirchhofsmauer empor und hinter ihr ernste, schwarze Eisenkreuze und graue Denkmäler von Stein. Ein paar Raben kreisten über dem Ort, man sah sie deutlich schwarz gegen das violette Gedüster des Gewitterhimmels.

Meine Mutter stützte beide Hände auf die niedere Kirchhofsmauer und blickte zwischen die Gräber . . . »irgend wohin, irgend wohin, wo es kein Feuer und keine Liebe gibt!« hörte ich sie noch einmal murmeln . . . . Sie hob die Brust krampfhaft, als wolle sie sich zwingen zu weinen, aber sie konnte nicht. – Dann wendete sie sich zu mir – ach, ich vergesse es nie – nicht die glühende, zitternde Hand, mit der sie mich bei der Schulter packte, nicht ihren Atem, der meine Wange verbrannte, nicht die halb erloschene Stimme, die mir zuächzte: »Alfons, bring mich um!«

Ich vergesse es nie!

Die Starrheit, die sie bisher aufrecht erhalten hatte, verließ sie, ihre Gestalt sank schlaff zusammen, sie tappte um sich, als schwindle ihr; ich half ihr, sich niederzusetzen auf das kurze, trockene Gras, das die niedrige Anhöhe übergrünte, worauf der Kirchhof erbaut ist.

Zu unsern Füßen breitete sich eine Wiese aus, die ein schmaler, von Brombeerranken und Huflattich halb verdeckter Bach durchschlängelte. Er murmelte eintönig immer dasselbe – immer dasselbe; eine Grille zirpte schrill und zufrieden, und aus weiter Ferne, undeutlich und verschwommen, klang die Parkmusik zu uns herüber!

Die Atmosphäre wurde schwerer und schwüler, aus der Wiese flog der üppige, süße, lebensreiche Duft, den die lechzende Erde vor einem Gewitter schmeichelnd und bittend dem Himmel entgegensendet, über die Kirchhofsmauer schwebte ein dumpfer, fauler Totengeruch. Dieses Gemisch war unsagbar ekel!

Ich wollte meine Mutter dazu bewegen, den unheimlichen Ort zu verlassen. Umsonst! Sie grub die Hände ins Gras und schüttelte mit wildem Trotz den Kopf. »Die Leute sagen, es sei eine Sünde . . . die Liebe, wie ich sie fühle,« murmelte sie vor sich hin – »als hätt' ich sie mir ins Herz gepflanzt. Ich . . . Zehn Jahre meines Lebens, ja meine rechte Hand gäbe ich, um frei davon zu sein.« Eine Weile war sie still, dann wieder: »Wie mich das brennt, hier und hier!« Sie griff sich an die Stirn und griff sich ans Herz, »hier und hier!«

Dann veränderte sich ihre Stimmung, sie schloß die Augen, ihre Gestalt drückte eine träumerische, offenbar angenehme Mattigkeit aus. »Und manchmal ist's doch so schön!« lispelte sie mit verschleierter, schlaftrunkener Stimme, »so wunderschön! . . .«

An das Gefühl, wie es mich überkam, während sie von ihrer Leidenschaft sprach, kann ich mich nur schaudernd erinnern; doch trachtete ich, weder meine Geduld, noch meine Fassung zu verlieren.

»Mutter!« drang ich noch einmal in sie, »kehren wir um, der Regen droht.«

»Um so besser – um so besser! Ich bin durstig!

Da zerriß ein roter Blitz den schieferfarbigen Himmel, ein Donnerschlag durchschütterte die kühle Luft, die Erde erzitterte, ich glaubte, die Toten in ihren Särgen rasseln zu hören. Die ersten großen Tropfen fielen zögernd, dann rauschte das Wasser ungestüm aus den traurigen Wolken herab. Meine arme Mutter atmete tief auf. »Das thut wohl!« rief sie und ließ sich nun ganz sanft und gutwillig von mir nach Hause führen. Ich mußte den Tag mit ihr zubringen. Sie lag erschöpft auf einer Chaiselongue und hielt mich beständig bei der Hand. Ehe ich mich von ihr trennte, flüsterte sie: »Ich habe dir wehe gethan, mein armes Kind, ich habe irre gesprochen, die Gewitterluft war schuld daran, verzeihe mir!«

Dann schob sie die Haare mit beiden Händen von den Schläfen zurück. »Ja, ich war schlecht!« ächzte sie – »und ich kann nicht mehr gut werden – aber ich leide fürchterlich!«

Es regnete die ganze Nacht, und zwischen dem langatmigen, traurigen Rauschen hörte ich immer wieder eine halberloschene Stimme, die mir zurief: »Bring mich um . . . bring mich um! . . .«

 
Den 8. August 187 .

Ich kann's nicht abschütteln – es ist schrecklich dieser ewige Totengeruch, und diese Stimme, die mir immer wieder ins Ohr zischelt: »Bring mich um!«

Ich weiß nicht, war es die Sumpfluft, oder der kalte Gewitterregen, der mir's angethan, aber seit jenem Abend bin ich krank. – Manchmal denke ich, es müssen die Augen meiner Mutter gewesen sein! – Sie waren so dunkel, so schwül, der Blick ganz in das Gift jener unseligen Leidenschaft eingetaucht. –

Statt meiner früheren Müdigkeit quält mich beständig Unruhe. Ich habe heute ein Fenster zerschlagen, weil mich das Geknatter des Rahmens verdroß! – O, dieser ewige Totengeruch!

(Hier ein paar Zeilen völlig unleserlich.)

*

Zwei Stunden später.

Meine Hand folgt meinem Verstand nicht mehr – ich bin schläfrig. Ich bin beständig schläfrig, und kann doch nicht schlafen – ich nicke ein, verliere das Bewußtsein und sehe aus halbgeschlossenen Augen alles, was mich umgibt – nur noch viel andres dazu . . . es ist alles so wirr, so wirr! . . .

Ich hörte ein lautes Knochengerassel und sah auf der Tischdecke einen schönen schwarzbärtigen jungen Mann sitzen; er hatte den Mund voll weißer Rosen und zischelte mit halberstickter, undeutlicher Stimme, auf mich deutend: »Er ist eifersüchtig!«

Plötzlich zuckte ich zusammen und erwachte. Es ist Gustl Beyer, der auf meiner Tischecke sitzt. Er hat in der letzten Zeit täglich Geld von mir geborgt – jetzt wollte er noch Reisegeld von mir haben. Ich stellte es ihm zur Verfügung. Er schwur mir ewige Dankbarkeit. »Ich möchte dir meine Uhrkette zum Andenken lassen, aber ich hab' sie gestern verkauft – da, da hast du mein Medaillon, es hat meine erste Liebe drin gewohnt, es wird dir Glück bringen.« Damit küßte er mich auf beide Wangen und verschwand.

Nach einer halben Stunde kehrte er wieder. »Du,« rief er ohne alle Verlegenheit, »ich bitte dich, gib mir das Medaillon zurück, es gehört eigentlich nicht mir, das hatte ich vergessen. Da hast du den Revolver, der dir sonst so gut gefiel. Ich brauche ihn nicht, mich werden keine Räuber ausplündern wollen.«

Jetzt ist er fort, der kleine Revolver liegt auf dem Tisch – mir graut vor ihm, wie vor einem lebenden Wesen – ich kann die Augen nicht von ihm lassen – ich schiebe ihn von mir – aber langsam kriecht er auf mich zu – kriecht mir bis in die Hand. –

 
Den 30. August 187 .

Meine Mutter hat mich nur vor ihrem Kammerdiener anerkannt, vor der Welt heiße ich noch immer ihr »petit cousin Alphonse« und Kara fragt mich, ob ich eifersüchtig bin. Neulich hob ich die Hand, um ihn zu schlagen. Doch hielt ich mich zurück.

Ob sie mit mir gehen wird? Uebermorgen sollen wir reisen. . . .

Ich bin so müde . . . mir schwindelt. . . . Sie wird täglich unruhiger. Ihre Liebkosungen sind hastig, schwanken zwischen unnatürlicher Kälte und Leidenschaft.

*

Dieser Totengeruch ist unerträglich, mich erstickt die Zimmerluft. Ich geh' ins Freie! – –

*

So lautet das Ende des Manuskripts. Heute habe ich's ausgelesen.

Der Arzt kam, als ich's noch in den Händen hielt.

Er fühlte meinen Puls und sagte, es sei alles in bester Ordnung.

Ich lächelte vor mich hin. »Nicht wahr, ich bin ein sehr vernünftiger Narr?« sagte ich, dann plötzlich zu ihm aufsehend. Er schien etwas befremdet.

»Mein Lieber, Sie leiden an einer idée – fixe – die Folge sehr heftiger Seelenerschütterungen, aber Sie sind nicht irrsinnig – nicht im geringsten,« versicherte er höflich.

»Und wenn ich nicht irrsinnig bin, was thue ich denn hier?« fragte ich.

»Es wird nicht mehr lange dauern« – beschwichtigte er.

Da fuhr ich auf. – »Glauben Sie, daß mir das einen Trost gewährt . . . was soll ich denn anfangen draußen? . . . Kein Mensch wird mir die Hand reichen, meinen Bedienten werd' ich dreifach bezahlen müssen – und schließlich doch nur einen Schurken bekommen.«

»Mein Lieber, das ist ja eben Ihre idée fixe

»Mein Idee ist, mir einzubilden, meine Mutter erschossen zu haben« – rief ich mit gellender Stimme.

»Ihre Mutter hat sich selbst erschossen – Sie sind dazu gekommen, und der Schrecken hat sie . . .«

»Ach, so hat man mich verteidigt! Gehen Sie, Doktor – gehen Sie – Sie bringen mich auf . . . ich bin zwar ein sehr vernünftiger Narr, aber es könnte doch geschehen, daß ich mich an Ihnen vergriffe.«

*

Er hat mich allein gelassen. Glaubt er an meine Unschuld? . . . Ich weiß nicht, ich denke, er ist neugierig, möchte gern genau wissen, wie alles kam.

Ja, wie es kam! Ich entsinne mich dessen noch gut. – Wenn der rote Nebel sich nur lichten wollte! . . . Wenn die Gestalten nur aufhören wollten, zu tanzen, dann könnt' ich mich sammeln . . . so . . . Ja so . . .

Sie war gut gegen mich und sie liebkoste mich – aber sie war immer zerstreut dabei, und ich merkte von Tag zu Tag deutlicher, daß ich ihr nichts sei, als eine Erinnerung an ihre längst vergangene, süß makellose Jugendzeit. – Und trotzdem klammerte ich mich täglich fester an sie. –

Es war Abend. Auf mein leidenschaftliches Drängen, unsre Abreise für den Morgen festzusetzen, gab sie hastige, zerstreute Erwiderungen. Schließlich wurde sie sehr einsilbig und erklärte, sie sei unwohl.

Ich zog mich zurück. Aber schon auf dem halben Weg nach meiner Wohnung kehrte ich noch einmal um, schlich bis unter ihre Fenster.

In ihrem Zimmer brannte noch Licht, und hinter der halbgeschlossenen Persienne sah ich sie unaufhörlich auf und nieder irren.

Die Nacht war schwül und still, die Nachtfalter flogen mir ums Gesicht. Da vernahm ich einen sich langsam nähernden Schritt. Ich sah, wie meine Mutter im Gehen inne hielt, sah, wie ihr ganzer Körper den Ausdruck leidenschaftlich gespannten Horchens annahm. Der Schritt näherte sich – er kam an der Hausthür vorbei.

Da riß die Galbrizzi die Persienne auf und beugte sich hinaus in die graue Schwüle und rief mit heiserer Raubvogelstimme: »Suworin!«

»Suworin!« rief sie noch einmal, diesmal leiser und weicher. Da wandte er sich um und trat ins Haus. Die Persienne schloß sich wieder, aber nur schlecht, denn sie knatterte und zitterte beständig.

Ich sah sie beide ganz deutlich – ihn, der ihr gleichgültig die Hand entgegenstreckte, sie – die diese Hand kaum mit den Fingerspitzen berührte und, sich von ihm fernhaltend, einen Sitz am Klavier einnahm, während er sich unaufgefordert in einem Fauteuil ausstreckte.

In ihrem Wesen war etwas Gezwungenes, Gekünsteltes. Sie tastete unruhig an sich herum, an ihren Haaren und den Blumen an ihrer Brust. Es waren volle, blutrote Rosen, die gegen ihr schmelzbenähtes, tief im Viereck ausgeschnittenes schwarzes Kleid wunderbar abstachen.

Er schwieg. Offenbar erwartete er, sie werde ihm eine Erklärung geben für die sonderbare Art, mit der sie ihn zu sich gerufen.

Ihre ersten Worte waren: »Finden Sie nicht, daß ich zu blaß bin, um rote Rosen zu tragen?«

»Haben Sie mich hereingerufen, um diese wichtige Frage zu entscheiden?« sagte er, die Brauen in die Stirn schiebend.

»Mon Dieu!« sie zuckte die Achseln, – »ich habe Sie gerufen, weil . . . weil . . . ich wußte nicht, daß Sie in besonders wichtiger Weise über ihre sehr wertvolle Zeit verfügt hätten.« Sie legte die Hände aufs Klavier und schlug ein paar gellend falsche Akkorde an.

»Werden Sie vielleicht von der Pahtsch erwartet?«

»Ich war auf dem Wege zu ihr,« entgegnete Suworin – »das konnte mich natürlich nicht hindern, mich bei Ihnen aufzuhalten, Ilka. Sie wissen, wenn ich Ihnen in irgend einer Weise zu Diensten stehen kann, bin ich immer bereit.«

»Mich bei Ihnen aufhalten . . .« wiederholt meine Mutter in spöttischem Ton und schlägt eine noch schrillere Dissonanz an. »Ach, so . . . Sie können gehen, ich habe keinen Dienst von Ihnen verlangen wollen – gar keinen!«

Er zeigt jedoch keine Lust, sich zu entfernen, sondern zieht seine Tula-Tabakdose aus der Tasche und dreht sich eine Cigarette. Da springt meine Mutter vom Klaviersessel auf und ruft, sich voll zu ihm wendend: »Nein, ich habe keinen Dienst von Ihnen benötigt, ich habe Sie gerufen, weil ich mich langweilte, weil ich mich nach Ihnen sehnte. So, verachten Sie mich, Suworin!«

Ein wunderbares Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie dem Fürsten beide Hände entgegenstreckte.

Er nahm sie, die weichen Hände mit den Grübchen an den Knöcheln und den lieben, rosigen Fingerspitzen, und hielt sie an sein Gesicht. Ich glaubte, er wolle sie küssen, aber nein, er atmete nur tief und sagte: »Welch köstliches Parfüm Sie gebrauchen. Nun ich schon da bin, könnten Sie mir eigentlich eine Tasse Thee schenken.«

Die Galbrizzi legte den Kopf zurück und lachte – ein kurzes, zigeunerisches Lachen. »Das sieht Ihnen ähnlich, Suworin!« rief sie, »weil ich zufälligerweise ein Parfüm gebraucht habe, das Ihren Nerven behagt, thun Sie mir die Ehre, eine Tasse Thee von mir zu verlangen. Hm! Je vois les choses, comme elles sont . . . und mache mir über Ihre Zuneigung gar keine Illusionen.« Sie läutete und bestellte den Thee.

Der Frost schüttelte mich inmitten der schwülen Sommernacht!

Suworin lag mit halb geschlossenen Augen in seinem Fauteuil, er erwiderte auf ihre Rede nichts; – nur als sie, das Knie auf einen Sessel gestützt, die Arme auf der Lehne, zu ihm hinüber lachte, da sagte er: »Wie jung Sie noch aussehen, Ilka!«

Sie errötete vor Vergnügen.

»Jünger als Mademoiselle Pahtsch?« fragte sie kokett.

»Pahtsch! Pahtsch!« murmelte er zerstreut, – »wer ist das?«

»Die Dame, der Sie, meinem Parfüm zuliebe, untreu geworden sind,« sagt die Galbrizzi und sieht auf ihre mit Türkisen besäten Hände hinunter.

»Ja, richtig.« –

»Was hat Sie eigentlich hingezogen zu ihr?« fragte die Galbrizzi.

Er zuckt schweigend die Achseln. Meine Mutter hat sich niedergesetzt, sie dreht die Ringe an ihren Händen hin und her, streckt schließlich die Linke nach Suworin aus und deutet auf einen Ring von besonderer Form, einen langen Türkisenring mit Brillantstaub eingefaßt.

»Wissen Sie, von wem ich den Ring hab'?« fragte sie.

»Den Ring?« er dachte einen Augenblick nach . . . »den Ring . . . von mir etwa?«

Sie lachte leise. »Ja, von Ihnen, Sie haben mir ihn in Florenz geschenkt, damals vor endloser Zeit, als Sie mich liebten . . . Suworin, ich bin stark, und Sie sollen aufrichtig sein. Haben Sie mich je geliebt?«

»Beinah!« sagt er.

Sie lächelt herb, dann deutet sie auf einen zweiten Ring, einen großen Solitär an schmalem Goldstreif. »Und wissen Sie, von wem der ist?«

Er sah ihn aufmerksam an und schüttelte den Kopf.

»Auch von Ihnen,« sagte sie – ihre Stimme ist klanglos und ihr Lächeln sehr bitter – »den haben Sie mir geschenkt in Paris, fünf Jahre später, als wir uns wiederfanden. Nehmen Sie sich nicht die Mühe, mir zu versichern, daß Sie mich damals gar nicht geliebt hätten; aber sehr anziehend war ich für Sie – nicht?«

»Ich weiß keine Frau, die für mich anziehender gewesen wäre.« (Sehr trocken.)

Ein Freudenschauer durchfuhr sie. Die Persienne knatterte noch immer – ich saß und horchte und atmete kaum mehr.

Sie rückte ihren Sessel näher an ihn heran. Er maß sie mit einem unbeschreiblichen Blick, einem neugierigen, staunenden, verachtenden Blick.

»Ilka, wer ist der junge Mensch, mit dem man Sie seit einiger Zeit beständig sieht?« fragte er nach einer Pause.

Sie wechselt die Farbe, ich schnelle empor und nähere mich dem Fenster. Es wird trübe vor meinen Augen, eine große rote Wolke legt sich zwischen mich und meine Mutter, und in meinen Ohren saust es so, daß ich nur mit Anstrengung und sehr schwach die Worte vernehme: »Sind Sie eifersüchtig, Suworin?«

Die Persienne knattert und knattert, und in meinen Ohren saust's noch unerträglicher. Zwischen alldem höre ich Suworin sagen: »Ich bin nicht eifersüchtig, ich frage Sie nur, wer er ist.«

Sie wirft mit einem sehr häßlichen Ausdruck die Lippen auf. »Welchen meinen Sie – Kara, oder den kleinen Alfons – der ist . . . der ist ein unpraktischer Schwärmer . . . der in mich . . .«

Das Sausen ist nicht mehr in meinen Ohren, es ist rings um mich. Das sind die Engel, die mit ihren Flügeln schlagen, damit ich die Worte meiner Mutter nicht hören möge, und ich höre sie nicht, ich höre nur Suworin . . . Stimme streng und hart: »Ilka, es ist Ihr Sohn!«

Und durch den roten Nebel seh' ich meine Mutter blaß, die Zähne in den Lippen, den Blick finster, die Hand zornig geballt.

»Und wissen Sie, daß ich Sie beneide,« fährt er fort, »ich gäbe die Hälfte des erbärmlichen Lebens, das mir noch beschieden ist, für so einen Burschen! Und er hängt an Ihnen . . . Ja an Ihnen, Ilka . . . er hat Ihnen angetragen, Sie bei sich aufzunehmen, hat Sie, wenn mich nicht alles täuscht, wohl gar auf den Knieen darum gebeten!«

»Er ist toll!« zischte sie wild.

Die Engel haben mich verlassen, es ist still in mir und um mich, ich höre deutlich; der rote Nebel ist verschwunden – ich sehe klar!

»Nein, er ist nicht toll, er ist gut,« sagt Suworin.

Da senkt sie den Kopf. Etwas wie Scham überzieht ihre Wangen, und etwas wie Zärtlichkeit durchbebt ihren Mund.

»Was haben Sie ihm geantwortet, Ilka?« fragte er.

»Ich?« – ihre Stimme klingt wimmernd und stöhnend zwischen ihren kaum geöffneten Lippen durch . . . »ich versprach, mit ihm zu gehen, ja, ich schwor's ihm zu . . . aber ich kann nicht, hören Sie, ich kann nicht!«

»Und warum nicht, Ilka?«

Da öffnet sie die Augen weit, es ist ein Licht darin, das mich blendet. – »Weil ich Sie liebe, Suworin,« spricht sie.

Statt aller Antwort wendet er den Kopf von ihr ab.

Sie ist blaß wie eine Leiche. »Darf ich singen?« lispelt sie.

»Wie Sie wollen!«

Und sie setzt sich ans Klavier. O, wie sie singt ihre alten Zigeunerlieder jauchzend, klagend, wild und zärtlich. Sie wendet sich um und sieht ihn an; er bleibt unbeweglich – gleichgültig. Und immer blässer wird sie, immer schöner – und immer verzehrender wird die Sehnsucht in ihrem Blick!

Er ist unbeweglich – gleichgültig. Da schlägt sie von neuem ein paar Takte an. Es kracht etwas im Fensterrahmen – es kracht etwas in meinem Kopf. Sie singt das kleine Lied – mein Lied!

Zur selben Zeit, wie von einer unsichtbaren Hand berührt, öffnet sich die Persienne.

Suworin hat sich erhoben, er nähert sich ihr – jetzt steht er hinter ihr, gespannt lauschend.

Sie hat geendet, er beugt sich nieder zu ihr . . .

– – – Ich weiß nichts mehr – meine Haut wird starr, meine Haare sträuben sich, ich höre einen Schuß . . . wieder umgibt mich der rote Nebel, aber tausendmal röter und dichter, und alles ist voll Schreien und Wehklagen, der ganze Himmel und die ganze Erde . . . und eine kleine, müde Stimme fragt: »Wer war das?« und Suworin antwortet: »Ihr Sohn!«

Ja, ihr Sohn! – dann bin ich in ihrem Zimmer . . . dann halte ich sie blutend und zuckend in meinem Arm, und ihre kalten Lippen suchen ein letztes Mal die meinen, und sie flüstert: »Ich danke dir!« – – –

Sie brachten mich hierher! – – – In meinen Ohren braust es und vor meinen Augen ist alles rot! Die Qual jener letzten Augenblicke ist ewig! Nur manchmal steigt aus dem roten Nebel die Gestalt meiner unglückseligen Mutter! In ihren Augen ist ein Licht, das mich blendet, und ihre blassen Lippen murmeln: »Ich danke dir!«


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