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4.

Und wieder ging ein Winter über das Land, und der Sepp hatte eine solche Unruhe im Herzen, daß ihm war, als habe er nie eine so heillose Zeit erlebt, und als habe ihm nie soviel gedroht, wie jetzt, ohne daß er zugreifen und sich wehren konnte. Dabei schien gar keine Ursache zur Unruhe zu sein. Was war denn geschehn? Im Herbst waren der Sixt und der Vogler aus dem Gemeinderat ausgeschieden, der Toni Oberlechner und der Lieserer hineingekommen, und das nicht einmal gegen des Sepp Willen. Der Toni für den Sixt, der Lieserer für den Vogler. Der Siebenlehner hatte den Vorschlag gemacht, und es war gar nichts dagegen einzuwenden gewesen. Man konnte den größten Besitzer in St. Thomas nicht dauernd von der Vertretung ausschließen, und die kleinen Leute mußten auch ihren Mann haben. Ob der nun Vogler oder Lieserer hieß, das war einerlei.

Darüber also brauchte sich der Sepp nicht zu beunruhigen und tat es auch nicht.

Er brauchte es auch nicht des Loisl oder des Toni wegen, soweit es um die Zenzi ging. Der Toni hatte leise, wenn auch deutlich, angeklopft, und der Sepp hatte mürrisch gesagt, er habe es seiner sterbenden Frau in die Hand versprochen, der Zenzi in der Sache einmal nicht dreinzureden, und was er versprochen, halte er. Es war ihm nicht schwer gefallen, das zu sagen; denn eher stürzte das Törle ein, als daß die Zenzi den Toni nahm.

Anders war es mit dem Loisl. Mit dem war es schon fast ein bißchen ärgerlich. Einmal tat er das Maul nicht auf, ein andermal brachte er es kaum zu, und der Sepp hatte ihn schon ein paarmal verwundert und scharf angesehn. Tagelang vergrub er sich bis in die tiefe Nacht in seine Arbeit, und wieder schien er zuweilen tagelang nichts zu tun zu haben. Mit der Zenzi sprach er wenig und das Wenige unfreundlich. Und genau so die Zenzi ihm gegenüber. Es machte dem Sepp weiter keine Not, aber er meinte, er werde wohl einmal dazwischenfahren müssen, wenn es noch lange so weiterginge.

Was dem Sepp Not machte, war Unsagbares. Er hatte das Gefühl, als drohe ihm persönlich etwas, eine Krankheit oder ein schwerer Schicksalsschlag, obwohl er nicht wußte, woher der kommen sollte, und als drohe ein schweres Schicksal der Gemeinde von der Törle-Lawine aus.

In seiner Unruhe lief er etliche Male, scheinbar um Belanglosigkeiten, zum Brunner. In Wirklichkeit trieb ihn die Sorge, und ob er heute eine Gemeindeangelegenheit zum Vorwand nahm, morgen einen Viehkauf, übermorgen wieder etwas anderes, immer lenkte er die Rede auf die Lawine. Zuletzt brachte er den Brunner sogar dazu, trotz des Schnees mit ihm ein Stück gegen das Buckelkar hinaufzusteigen, um festzustellen, wie es denn derzeit da oben aussähe. Sie standen, beobachteten durch ihre Gläser, und der Sepp hielt eine förmliche Rede. Früher also sei vom Törle aus ein Erd- und Steinrücken wie eine Wulst quer über das Buckelkar an der Kugler-Nase vorüber nach der Achenschlucht zu gegangen. Zwischen der Wulst und der Felsnase sei so etwas wie eine Rinne, man könne es auch eine Mulde nennen, gewesen, die sich übrigens auch quer über das ganze Kar gezogen hätte. In dieser Mulde sei die Lawine abgefahren und habe sich in der Acheschlucht zu Tode gestürzt. – So habe es der Sepp vom Vater gehört, der aber schon nicht mehr ganz den ursprünglichen Zustand kennengelernt habe; denn schon zu seiner Zeit habe die Lawine ein gut Teil des Buckels von der Kugler-Nase weggerissen gehabt. Von einer Gefährdung des Schachens oder gar des Schlegeli sei allerdings noch keine Rede gewesen, von St. Thomas selber ganz zu schweigen. Wie lange war das her? Man könne mit fünfzig, wenn man wolle, auch mit zwanzig Jahren mehr rechnen. In der Zeit allerdings sei die Veränderung rasch gegangen. Nachdem der Rücken vor der Kugler-Nase weg war, war die Buckelkar-Rinne beinahe im Handumdrehen zerstört, der Winkel, in dem die Lawine jetzt gegen den Kugler stoße, immer flacher, sein Schenkel, von hier aus gesehn der linke, immer länger geworden. Wieder von hier aus gesehn links stelle sich der Lawine kein nennenswertes Hindernis in den Weg. Der gewachsene Fels liege tief, viele Meter dick aber liege Schutt und Geröll darauf, das einmal vom Törle herabgekommen sei, und so breche denn die Lawine immer weiter nach Westen durch. Dadurch aber stoße sie jetzt auf St. Thomas zu wie durch einen Schacht oder eine Schlucht, rechts Kugler, links Steilhang vom Kar aus. Ehe sich also der Lawinensturm verbreitern und damit abschwächen könne, fahre er durch den Schacht mit geballter Gewalt einher, und das sei das Unglück. So sei die Lage. Heute würde unter diesen Umständen kein Mensch daran denken, hier oben eine Gemeinde zu schaffen. Die aber, die einst St. Thomas gegründet, hätten unmöglich voraussehen können, wie es kommen werde, und man könne ihnen darum auch keinen Vorwurf machen. Anders sei es allerdings mit den jetzt Lebenden.

»Was willst du damit sagen, Sepp?« fragte der Brunner.

»Alles und nichts, Brunner. Alles, das heißt: Siedel um! Nichts, das heißt, es kann gut gehn. Noch viele, viele Jahre kann es gut gehn. Nur: Ich weiß nicht, ich hab so eine Unruhe in mir.«

»Sepp, Sepp! Rein verrannt hast du dich. Ich begreif's ja. War vor zwei Jahren kein Spaß. Das stimmt. Aber hast du vorher schon einmal einen solchen Mordtrum von Lawine erlebt? Ich nicht, und ich bin älter als du. Und voriges Jahr dagegen? Da war's ein Dreck. Umsiedeln! Jetzt umsiedeln? Sepp, sollen denn die Leute sagen, ich hätt' den Verstand verloren? Sepp! Denk, du wärst an meiner Stelle. Würdest du jetzt umsiedeln?«

»N–ein, aber – –«

»Nein also. Und ich, Sepp, ich tu's auch nicht und tu's überhaupt nicht. Gewöhn dir das verfluchte Wort: Umsiedeln! ab, bald du nicht willst, daß sie dir einmal alle Fensterscheiben einschmeißen. Freilich, das Land ist groß genug. Gäb natürlich mehr als einen Platz, wo man unser bissel St. Thomas hinsetzen könnte, aber kannst leicht das Törle mitnehmen oder unsere Almen, den Vätern ihre Gräber und – –? Nein, Sepp, ich geh nicht. Wenn's sein soll, dann mag mich die Lawine begraben. Und jetzt will ich dir was sagen: Wir stehn grad richtig. Grad da stehn wir, wo die Lawine fällt. Bald sie jetzt kommt, nachher brauchen wir zwei uns um das Umsiedeln keine Gedanken mehr zu machen. Dann sind wir gleich richtig und für immer umgesiedelt.«

Wär am Ende leicht das Beste, dachte der Sepp und ging schweigend hinter dem Brunner her, der sich abwärts wandte. Sie trennten sich an dem Achesteig, der Brunner stieg zu seinem Hofe hinauf, der Sepp ging auf das Schlegeli zu. Als er an des Loisl Hause vorübergehn wollte, in dem die Burgel mit ihren drei Kleinen hauste, indes der Bastian nach wie vor bei dem Zweigler arbeitete, hörte er lustige Kinderstimmen. Da riß es ihn in das Haus hinein. Er mußte etwas tun, woran er vorher mit keinem Atemzuge gedacht. »Burgel,« sagte er, »könntest mir einen Gefallen tun.«

»Gern, Wirt. Sag's nur gleich.«

»Geht aufs Frühjahr zu und muß alles aufgefrischt und hergerichtet werden. Meine Weiberleute haben schon angefangen, aber die Zenzi, ich weiß nicht, was mit ihr ist – –«

»Wird nicht viel sein. So ein Dirnlein hat leicht einmal was, hat aber weiter nichts zu sagen.«

»Na ja also, und die Maria und die Lies und – – Sie schaffen's halt nicht allein. Mir wenigstens geht's zu langsam. Weißt ja, wie ich bin.«

»Freilich. Und da soll ich helfen? Gern, aber – –«

»Die Kinder bringst natürlich mit. Hab gern einmal ein bissel Gewusele um mich. Also morgen früh um neun, wenn's dir recht ist.«

»Ist mir schon recht und werd pünktlich sein.«

»Alsdann: B'hüt, Burgel.«

»B'hüt, Wirt.«

Die Burgel kam am anderen Morgen pünktlich, wie sie versprochen. Die Maria und die Lies und die Josefa waren zwar ein wenig überrascht, aber der Sepp hatte die Zenzi instruiert, und so hatte die Burgel nicht das Gefühl, daß sie eigentlich gar nicht nötig sei und unerwartet komme. Die Zenzi allerdings konnte aus dem Vater so wenig klug werden, wie es der Brunner geworden war, aber da sich der Vater mit ihr nicht aufs Reden einließ, und ihre Gedanken außerdem viel zu sehr um den Loisl kreisten, stellte sie keine unnützen Fragen. Mit dem Loisl kannte sie sich nicht mehr aus. Es ist wahr, sie war schnippisch gegen ihn gewesen auf der Alm und da herunten auch, aber, du lieber Herr Jesus, konnte denn das so ein Bub nicht verstehn? Mußte er denn nicht spüren, daß hinter aller gemachten Herbheit die Liebe harrte? Und nun so etwas! Der Toni Oberlechner hatte der Zenzi vorgestern zugeflüstert, ob sie denn wisse, daß der Loisl der Bertha Wiegler zu Gefallen ginge. Freilich, hatte die Zenzi gesagt, das wisse sie lange, aber was schere sie sich denn um den Loisl? Der möge es doch halten, mit wem er wolle. So hatte die Zenzi gesagt, so stark war sie gewesen, und dabei hätte es nicht weher tun können, wenn ihr einer ein Messer ins Herz gestoßen und darin um und um gedreht hätte.

Um elf am Vormittag, es war der erste März, stand der Sepp vor seinem Hause mitten auf der Straße, hatte das Glas an den Augen und sah nach dem Törle hinauf. Und da geschah es, und der Sepp sah es von Anfang an. Am Dach des Törle löste sich ein ungeheures Schneefeld. Ein dumpfes Gerumpel kam daher, aber es war zu schwach, die Leute aus den Häusern zu jagen. Wie riesige Eisblöcke brachen die Schneemassen von der Törle-Spitze ab, überschlugen sich, gingen in Trümmer, stäubten auf. Jetzt kam der ganze, über dreihundert Meter hohe Steilhang in Bewegung. Es lösten sich nicht mehr einzelne Blöcke, die ganze Wand, immer breiter werdend, kam in Fahrt. Brüllend rannte das weiße Meer gegen die Kugler-Nase, bog im flachen Winkel ab, pflügte das Buckelkar auf, sich verdoppelnd. Alle Berge warfen den Donner zurück, das ganze Hochtal brüllte auf und ein Schneesturm raste über St. Thomas, daß es völlig Nacht wurde. Die Glocken läuteten nicht, sie schrien und jammerten. Daher kam das Knirschen brechenden Gebälks, dorther das Schreien verängstigter Menschen und Tiere. Zwanzig Schritte vor dem Sepp flog ein Schornstein auf die Straße und zerschellte. Aus dem Oberlechnerhause tönte der verzweifelte Hilfeschrei einer Magd. Ein Stier kam dahergestürmt, rannt gegen eine Hausmauer und krachte zusammen. Verstörte Menschen sprangen auf die Straße und riefen Gott und die Heiligen um Hilfe an. Der Sepp aber stand eine Weile wie erstarrt. Es war ihm nichts geschehn. Er hatte, ohne es gewollt zu haben, geschützt durch seine Hauswand, in einem toten Winkel gestanden. Jetzt schnellte er auf, warf seiner Zenzi, die neben ihn gesprungen war, das Glas zu, schrie es, als schrie er in Feuersnot, unter die verstörten Leute: »Nach dem Schlegeli und dem Brunnerhof! Alle Mann! Hacken, Schaufeln, Äxte mitnehmen!« Der Loisl stand barhäuptig und in Hemdärmeln, wie er in der Werkstatt gearbeitet, neben ihm. »Los!« schrie der Sepp wieder. Und zum Loisl: »Ins Haus, Bub! Werkzeug geholt! – Zenzi, dem Loisl eine Joppe von mir! – Stad, ihr Leute! Schnell, aber nicht ohne Verstand. Wollt ihr sie etwa mit den Händen herausscharren? – Bastian, brüll nicht so daher. Die Burgel und die Kinder sind bei mir.« Schon stieß der Bastian einen erlösten Schrei aus, und schon kam die Burgel aus dem Haus gestürzt und hing ihm am Halse. Gleich darauf drängte sie ihn wieder von sich. »Geh helfen, schnell, schnell! Dort rennen sie schon!«

Voran rannte der Sepp, und der Loisl hielt mit ihm Schritt. In der Rechten schwang jeder eine Axt, in der Linken hatte der Sepp eine Schaufel, der Loisl eine Hacke. Und schreiend und keuchend stürmten die anderen hinter den beiden her. An seinem Hause, das ganz verschoben war, riß der Sepp den Loisl vorwärts. »Laß! Das war leer. Droben liegen Menschen. Zum Brunner!« Und, rückwärts gewandt, zu dem Haufen: »Ein paar hier unten bleiben! Die andern zum Brunner und zum Terobin!«

Der Brunnerhof war zerrissen. Vom Hause standen zwar die Grundmauern, aber die rechte Dachhälfte war völlig niedergebrochen, die linke zerfetzt. Die Scheune war nach der Seite übergekippt, Brennholz war bis an den Wald geschleudert worden. Unversehrt, bis auf das Dach, stand der Stall. Das Vieh blökte und versuchte, sich von den Ketten zu reißen.

Mit der Axt zertrümmerte der Sepp ein Fenster und stieg ein, indes der Loisl den Zugang durch die Haustür frei zu machen versuchte. Neben dem Ofen her kam die schwache Stimme des Brunner. »Ich leb, Sepp, aber ich hör meine Frau und die Kinder nicht. Laßt mich liegen. Erst die andern.« In der Küche nebenan lag die Brunnerin. Der Balken, der ihr die Brust eingedrückt, lag über ihr. Zwei Kinder steckten bis an den Leib in Schutt. Als sie die Männer herausgruben, erwachten sie und begannen jämmerlich zu schreien. Die Magd kam wie irrsinnig vom Walde her gerannt, raufte sich die Haare und schrie in einem fort, die Welt ginge unter. Taumelnd kam der alte Knecht aus dem Stalle und fragte blöde, was denn eigentlich gewesen sei.

Die Kinder waren braun und blau geschlagen, aber eine Ecke der Decke hatte schützend über ihnen standgehalten. Der Brunner hatte das rechte Bein gebrochen, das Gesicht blutete, und die linke Hand war gequetscht.

Der Terobin hatte vor der Tür gestanden, war gegen die Mauer geschleudert worden, war tot. Im Schlegeli war des Loisl Haus verschoben worden, aber merkwürdigerweise nicht eingestürzt. Auch dem Nachbar war das Haus stehngeblieben, aber der Stall mit den fünf Ziegen war fort. Irgendwohin.

Der Brunner sagte trotz seiner Schmerzen und obwohl ihm die Frau erschlagen worden war: »Ist eine schwere Heimsuchung. 's ganze Heimatl zerschlagen und meine Agnes, mein gut, gut Weib! Heiland, Heiland! Aber – ich bau doch wieder auf! Lauter Stein. Ich – kann nicht fort!« Der Sepp widersprach ihm nicht, aber er wußte: Du baust nicht wieder auf, und wir alle, wir – bauen ab. Der heutige Tag ist das Todesurteil für St. Thomas.

Auch St. Thomas selber war arg mitgenommen. Die Häuser waren zwar fest genug gewesen, aber da waren Zäune eingedrückt, dort Schuppen zerrissen, Schornsteine waren herabgeschlagen, Fensterläden aus den Angeln gerissen, Vieh lag unter Stalltrümmern.

Von der Rettungsstation hatte der Sepp Tragbahre und Verbandzeug holen lassen. Nun gab er auf dem Brunnerhofe Anweisungen, abzuräumen, wo etwas nachstürzen konnte. Der alte Knecht blieb bei dem Vieh. Die Magd war zwar so weit ruhig geworden, daß sie dem Knecht am Tage zur Hand gehn wollte, aber sie weigerte sich, über Nacht auf dem Hofe zu bleiben.

Hinter dem Brunner her, der auf der Tragbahre lag, ging der Sepp in das Dorf zurück. Am Schirmerhäusel traf er auf die Burgel mit ihren Kindern. Sie weinte, weil sie nun nicht wisse, wo sie bleiben sollten.

»Wo wirst denn bleiben?« sagte der Sepp. »Wo die Brunnerleute vorläufig auch bleiben. Bei mir. Ich hab Platz. Außerdem ist das Haus noch fest, wenn's auch ein bissel windschief ist.«

Da umklammerte die Burgel des Sepps Rechte mit beiden Händen. »Wenn du mich nicht geholt hättest, mich und die Kinder!«

»Gut ist's schon,« sagte der Sepp, »aber halt ein reiner Zufall auch.«

Daheim erfuhr der Sepp, daß der Toni Oberlechner etwas getan, das er ihm nicht zugetraut. Er hatte seine zwei Rosse angespannt und war nach Rauth gefahren, den Arzt zu holen. Des Toni Menschenfreundlichkeit war jedoch nicht so groß, als es schien. Er gedachte, auch ein eigenes Geschäft zu besorgen, und besorgte es. Auf das Bezirksamt ging er, tat sich so wichtig, als habe er ungefähr die Lawine wenigstens halb aufgehalten, und fragte, ob es nun wohl mit der Umsiedlung von St. Thomas, über die einmal soviel geredet worden sei, ernst werden würde. Das, sagte der Bezirksdirektor, sei stark anzunehmen. Der Minister habe letztes Mal ziemlich lange mit ihm gesprochen und sich genauen und raschen Bericht ausbedungen, wenn etwa eine Heimsuchung St. Thomas treffe. So, meinte der Toni, die Heimsuchung sei ja nun wohl da. Zwei Tote, mehrere Verletzte, niedergebrochene und verschobene Häuser bis nach St. Thomas herein. Das werde wohl langen. Er fürchte es auch, gab der Bezirksdirektor zu. Ja, wollte der Toni weiter wissen, wenn St. Thomas umgesiedelt würde, müsse man dann hingehn, wohin man geheißen werde, oder könne man sich etwa selber umtun und werde einem trotzdem vom Staat vergütet, was man droben verliere. Sicher werde es das, war des Bezirksdirektors Ansicht. Er könne sich sehr gut denken, daß es dem Staate lieber sei, die Leute gingen freiwillig und wohin sie wollten, als daß sie gezwungen würden und man ihnen Wohnsitze anweisen müsse, wobei man ja doch keinem werde recht tun können.

Das genügte dem Toni, und als er draußen vor der Tür stand, war er wieder ganz der Biedermann und Menschenfreund.

Keiner der Verletzten brauchte ins Krankenhaus nach Rauth, auch der Brunner nicht. Gegen alle Vernunft ließ der am vierten Tage, kaum daß seine Frau unter der Erde lag, schon den Maurermeister Dinger aus Rauth kommen und vereinbarte mit ihm die Wiederherrichtung seines Hauses. Am sechsten Tage waren die Handwerker da, am achten ließ sich der Brunner wieder hinaustragen. Er hatte sich mit dem Sepp, der ihn unklug, verrannt, eigensinnig schalt, entzweit.

Inzwischen war auch der Bezirksdirektor da gewesen, hatte sich den Schaden besehn, ihn schätzen, hatte sich den Hergang schildern lassen. Mit dem Sepp war er über das Schlegeli hinaus auf das Lawinenfeld gestiegen, und der hatte dort dasselbe vor ihm ausgeführt, was er seinerzeit schon dem Brunner gesagt.

Da hatte ihn der Bezirksdirektor ernst angesehn. »Huber, die Kommission hat festgestellt, daß eine Abhilfe nicht möglich ist. Die Herren waren Wissenschaftler! Nach den Erfahrungen der letzten Jahre gehn die Veränderungen da droben und auch hier unten, wo sich das Geröllfeld immer weiter heranschiebt, rascher vor sich als früher, weil ein gewisser Widerstand, der droben wahrscheinlich vorhanden war, beseitigt zu sein scheint. Damit wächst die Gefahr für St. Thomas rapide. – Sie würden mit einer Umsiedelung einverstanden sein?«

»Einverstanden sein, freiwillig meine ich, und einverstanden sein müssen, weil es keinen anderen Weg gibt, ist zweierlei. Freiwillig gebe ich meine Heimat nicht auf, aber gegen das Müssen würde man sich halt nicht wehren können, aber das sage ich – –«

»Kann mir's schon denken. Ich weiß nicht, wie der Minister entscheiden wird, obwohl es mir nicht eigentlich zweifelhaft ist. Sie tun aber ein gutes Werk, wenn Sie Ihre Stimme, die, wie ich weiß, viel in St. Thomas gilt, in die Waagschale werfen und zur Vernunft reden. Dem Brunner wird die Fortführung seines Baues bis zur Entscheidung des Ministers verboten. Das ist selbstverständlich. – Wir wollen umkehren. Ich will rasch noch die Gemeindevertretung zusammenrufen lassen.«

Es geschah. Die Männer saßen wortkarg und mit hängenden Köpfen da. Von daher und dorther fiel zu den Ausführungen des Bezirksdirektors ein kurzes: »Freilich,« und: »Wenn man halt wüßt« und: »Leicht wird's doch nicht wieder so schlimm,« das aber war alles. Überhaupt kein Wort sprachen der Toni Oberlechner und der Lieserer. Zuletzt bat der Bezirksdirektor den Sepp, seine Ansicht darzulegen. Der tat es, führte aus, was er mehrfach am Buckelkar ausgeführt hatte, mußte zugeben, daß sich die Wirkungen der Lawine gegen früher vervielfacht hätten, sah keinen anderen Weg, als den sowohl der Bezirksdirektor wie früher schon der Minister, genannt, wuchs aber dann, als er den Kopf ausschaltete und allein das Herz sprechen ließ, so hoch über sich hinaus, daß die anderen erschüttert waren, obwohl er eigentlich nichts weiter sagte, als was auch sie fühlten. Es gehörte schon mehr als Unverstand, es gehörte böser Wille dazu, nicht zu hören, wie die Heimat aus dem Sepp schrie, und nicht zu sehn, wie sein Herzblut rann. Eines war zwar grundehrlich, aber doch unklug vom Sepp und war dem Toni Oberlechner Wasser auf seine Mühle. Der Sepp schloß, gradezu aufstöhnend: Und wenn es ihm das Herz zerreiße, und wenn ihm auch das entsetzliche Wort: Umsiedeln, schlaflose Nächte gemacht, seit er es vor Jahren zum ersten Male aus des Ministers Munde vernommen, es ginge um Menschenleben, und er sehe keinen anderen Weg als: Umsiedeln! keinen anderen! Damit setzte sich der erschütterte Mann wieder, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, und sein Gesicht war aschgrau.

Am selben Abend nahm der Toni Gelegenheit, allein mit dem Sepp zu reden. Gut sei es gewesen, was der Sepp gesagt, besser, als es irgendein anderer hätte sagen können. Festhalten, solange es eine Möglichkeit gäbe, und nachgeben, wenn es halt die Vernunft durchaus geböte. Er, der Toni, sei durchaus seiner Meinung.

Dann sei es ja gut, sagte der Sepp, aber er frage nach keines Meinung, auch nicht nach der des Toni, er frage nur nach seinem Gewissen. Ob sie alle für ihn oder alle gegen ihn seien, das sei ihm einerlei. Ruhe vor sich selber müsse er haben, und die könne er nur haben, wenn er ehrlich sei.

»Gut, gut,« lobte der Toni, und – – ob er denn noch einmal von der Zenzi reden dürfe.

»Kann's dir nicht wehren, von der Zenzi zu reden, hab dir aber doch meine Meinung schon gesagt, und weiß nicht, was da eigentlich noch zu sagen wär,« murrte der Sepp.

Ja, da sei doch zweierlei. Einmal munkelten die Leute, der Loisl halte es mit der Bertha Wiegler.

»Laß sie munkeln,« sagte der Sepp. »Wird ja wahrscheinlich gelogen sein; denn wenn der Loisl auch dumm ist oder wenigstens ein Ungeschickter und ein Traumichnicht, so dumm ist er nicht, daß er ausgerechnet die Bertha Wiegler – – Ich kann ihr nichts nachsagen, aber eine Gute soll sie halt nicht grade sein. Außerdem, wenn es wahr ist, nachher ist's halt wahr. Jeder liegt, wie er sich bettet. Mich geht der Loisl nichts mehr an. Bin schon lange nicht mehr sein Vormund.«

»Schon, aber da ist das andere. Mußt doch zugeben, daß die jungen Dirnlein manchmal selber nicht wissen, was sie wollen. Da ist ein Machtwort grad zu ihrem Besten.«

»Das spreche ich nicht. Heut nicht und niemals. Nicht deinetwegen und nicht eines anderen wegen, wer's auch sei.«

»So. Hm. – Sagtest, der Loisl wär ein Traumichnicht. Soll das heißen, wenn er sich's getraute und dich um die Zenzi fragte, dann – –«

»Herrgottsakra, bist du ein Amtsrichter, der mich verhört? Aber wenn du's wissen willst: Ja! würde ich sagen.«

»Dann wär's also gleich gar.«

»Scheint mir so.«

Von dem Tage an brodelt es in St. Thomas. Die alten Freunde blieben, bis auf den Brunner, dem Sepp gesonnen, wie sie ihm immer gesonnen gewesen waren, aber die anderen keiften wie die alten Weiber. Er solle nur mit seinem Umsiedeln kommen, der Sepp! Die Fenster einschmeißen? Ah, das sei ein Dreck. Aber das Haus zusammenschmeißen und den Sepp samt seiner Zenzi zum Teufel jagen, das würden sie machen. Und die Stadtleut, wo das Umsiedeln bestimmten, wenn die etwa kämen, die jagten sie gleich hinterdrein.

Und hatten sie etwa nicht recht, die »Verteidiger ihrer Heimat«? Stand der Brunner, der angesehene Brunner, einst des Sepps bester Freund, jetzt sein Feind, nicht auch auf ihrer Seite? Und warum war der Brunner dem Wirte feind? Weil der Sepp für die Umsiedlung, der Brunner dagegen war. Der Brunner, den es um ein Haar selber mit erschlagen hätte, der seine Frau verlor, war dagegen! Der Brunner, der nach wie vor am ersten und meisten gefährdet war. Einen Brief hatte er dem Sepp geschrieben, der Toni Oberlechner hatte ihn zufällig gelesen, und darin das Wort gebraucht, das einzig hier am Platze war: Verräter!

Der Toni hatte den Brief nicht nur gelesen, er hatte mehr getan, er hatte ihn dem Brunner, dem die Fortführung seines Baues verboten worden und der zur Zeit mit Gott und aller Welt zerfallen war, eingegeben. Aus nachbarlichem Gutmeinen hatte er den kranken Mann besucht. Das andere hatte sich dann ganz von selber ergeben. Der Toni war schlau. Er log nicht, als er berichtete, was der Sepp in der Gemeindevertretung vor dem Bezirksdirektor gesagt, er verschwieg nur, was für den Sepp sprach, und rückte in ein grelles Licht, was scheinbar gegen ihn war. Das wiederum tat er nicht etwa anklagend oder gar in Wut. Anklage und Wut überließ er dem Brunner. Er bedauerte nur, daß man sich so in dem Sepp getäuscht, ja, daß er überhaupt so sein könne. Der Brunner fuhr ihm genau so grob über den Mund, wie es der Toni erhofft. Ein Lump sei der Sepp, der sich wahrscheinlich die Taschen spicken ließe und dafür seine Heimat verrate. »Und,« der Brunner war krebsrot und hieb auf den Tisch, »jetzt weiß ich auch, wie das mit meinem Bauverbot zugegangen ist. Der Sepp hat's dem Bezirksdirektor eingegeben!«

O, was war der Sepp für ein Kanaille, der Toni Oberlechner für ein guter, heimattreuer Mann, und der Bürgermeister, der Moosbacher, für ein feiger Hund! Und den Loisl ja nicht ausnehmen! Vor dem Hause des Siebenlehner hat es eine Holzerei gegeben, weil der Loisl dem Anderl und dem Martin Pelz ins Gesicht gesagt, sie seien Lügner, der Wirtsvater wäre nicht für das Umsiedeln, das sei nicht wahr. Der Loisl ist zwar mit den beiden fertig geworden, aber die Joppe ward ihm arg zerrissen. Und so, wie er war, in der zerrissenen Joppe, ist er zum Wirtsvater gestürmt.

»Wirtsvater, ist das wahr, daß du fürs Umsiedeln bist?«

»Ja,« sagte der Sepp.

Der Loisl griff sich an den Kopf. »Wirtsvater, das – kann doch nicht sein.«

Weil der Sepp des Buben ehrlichen Schmerz fühlte, ward er weich und sagte: »Setz dich einmal daher.« Eine halbe Stunde drauf bat der Loisl, der Wirtsvater möge ihm nicht böse sein. Das habe er nicht gewußt. Der Sepp lachte bitter. »Bin in der letzten Zeit viel gewöhnt worden, nehm also deins nicht weiter schwer. Wird leicht noch mehr kommen, aber ich denk, ich halt's aus. Bin dir nicht böse, aber es lohnt nicht, daß du dich meinethalben noch einmal raufst. Schad um deine Joppe.« – –

Der Minister Dr. von Wenzel stützte den Kopf in die Hand. Er hatte eben den Brief des Bezirksdirektors von Rauth gelesen, hatte ihn zweimal gelesen, und mußte ihm, so hart es ihn ankam, in der Schlußfolgerung recht geben: St. Thomas muß umgesiedelt werden, und zwar sobald wie möglich; denn niemand vermag zu sagen, ob und welches Unheil die Lawine im nächsten Jahre anrichten wird.

Armes, schönes St. Thomas, du Ort der Erhabenheit, der Freiheit, der großen Einsamkeit und du Ort, da noch Männer wachsen! Männer vom Schlage des Josef Huber, des Hieronymus Fabian, des Alois Schirmer, des Schreck, des zähen Brunner!

Der Minister ließ sich noch einmal, wohl zum vierten Male, das Gutachten bringen, ließ die Herren von der Kommission selber rufen, besprach sich mit ihnen, legte die Hand breit und schwer auf den Tisch: »Ich muß Ihnen recht geben, meine Herren. Es gibt keinen anderen Ausweg. St. Thomas muß umgesiedelt werden, und man muß sofort damit beginnen. Der Brunnerhof, das Schlegeli und die Osthälfte des Dorfes mindestens müssen bis zum Herbste geräumt sein; denn im Winter ist da droben alles stillgelegt. Ich werde sofort das weitere in die Wege leiten. Hab den Fall schon lange erwogen und die Gegend von Klosterau in Aussicht genommen. Die erinnert etwas an St. Thomas.« Er sann einen Augenblick. »Eins will ich noch tun,« fuhr er fort. »Es sind in St. Thomas ein paar vernünftige Männer. Vor allem ist da der Wirt, der Huber. Mit denen mag sich der Bezirksdirektor von Rauth in Verbindung setzen. Sie werden zur Vernunft reden. Wenn wir Härten vermeiden können, wollen wir sie vermeiden. Die Gemeindevertretung mag abstimmen. Es ist möglich, daß die Abstimmung negativ ausfällt, und dann muß es eben gegen die Gemeinde gehn. Ich hoffe aber, sie fällt positiv aus, und dann ist die Umsiedelung um vieles leichter. Ich danke Ihnen, meine Herren.«

Als die Entscheidung des Ministers in Rauth eintraf, lag der Bezirksdirektor schwer krank. Sein Vertreter war mit Arbeit überladen, war ein Neuling, der St. Thomas nicht einmal kannte, gar kein Interesse an dem Neste hatte und die Sache nur formell und nur insoweit erledigte, daß er den Bürgermeister rufen ließ und ihm den Kopf wusch. Törichte, bockbeinige Gesellschaft da oben! Ob sie denn alle miteinander verrecken wollten? »Der Teufel holt euch, wenn bei der Abstimmung ein einziges Nein dazwischen ist. Befohlen ist befohlen! Ich verlaß mich auf Sie, Bürgermeister!«

»Und ich verlaß mich auf gar nichts.« Der Moosbacher richtete sich hoch auf. »Ich will tun, was ich kann. Im übrigen, meine ich, wäre es Ihre Sache, nach St. Thomas hinaufzukommen und mit den Leuten zu reden.«

»Dazu hätte ich grade Zeit. Ich versteh euch ja auch gar nicht einmal richtig. Also, Bürgermeister, heute in acht Tagen muß ich Bescheid haben.«

In acht Tagen. Das war also am fünfundzwanzigsten Mai. Die Matten grünten, Falter flogen wieder, die Ache lärmte, die Hänge fingen an, schneefrei zu werden, und die weißen Berge leuchteten im Sonnenlicht. Der Brunner lag noch immer oder, richtiger, wieder krank und verfluchte sein Ungestüm, das ihn verleitet hatte, zu früh aufzustehn. Er war hingefallen, und das Bein war abermals gebrochen.

Sturm durchtobte St. Thomas. Er war schlimmer, als es der Lawinensturm im Frühjahr gewesen war. Wehe, wenn die Gemeindevertretung mit Ja stimmte! Der Seibold, der Lech und der Rank hatten sich verschworen, den Sepp mit Gewalt daran zu hindern, zur Abstimmung zu gehn. Es war nicht nötig. Drei Tage vorher trugen der Loisl und der Schreck den Sepp auf der Bahre ins Rauther Krankenhaus, und schon am Abend war er operiert. Er hatte eine Darmverschlingung und rechnete nicht damit, daß er wieder lebend nach St. Thomas zurückkehren werde. So hatte er denn seiner Zenzi ein kurzes, bedeutsames Abschiedswort gesagt. »Nicht zu herb sein,« hatte er gesagt. Es war also nunmehr mit dem Brunner und dem Sepp sowohl die stärkste Stütze der Für-Bewegung wie die der Gegen-Bewegung ausgeschieden, aber der Sepp galt mehr als der Brunner.

Als der Sepp aus dem Hause war, fanden sich an den Abenden wieder Gäste in der Wirtsstube ein, und die Zenzi stand ganz allein. Der Loisl war in den Bergen. Jetzt schon in den Bergen!

Wenn einer gehört hätte, was der Toni Oberlechner in diesen Tagen dem Lieserer einbleute, es hätte ihn gegraust, und wenn einer gesehn hätte, was der Toni tat, er hätte glauben müssen, der habe den Verstand verloren. Der Toni war der jüngste der Gemeindevertreter und hatte als solcher das Protokoll zu führen und bei Abstimmungen die Stimmzettel auszuteilen und einzusammeln. Darauf baute er seinen Plan, der gelingen mußte, wenn das andere schief ging.

Das andere war eine letzte Aussprache mit der Zenzi. Es war am Abend vor der Abstimmung. Über St. Thomas lag ein dumpfer, schwerer Druck. Es war so still, als wäre das ganze Dorf unter der Törle-Lawine begraben worden. Der Toni und der Lieserer hatten zwar gut unter den Leuten gearbeitet und viele Helfer gefunden, aber was jetzt, unmittelbar vor der entscheidenden Stunde, in den Herzen schrie und rang und aus ihnen heraus betete, das war nicht mehr der aufgepfropfte Wildling Verhetzung, sondern das war echte Heimatliebe, die sich dagegen wehrte, gekreuzigt zu werden.

Die Wirtsstube war leer. Da kam der Toni. Hart und entschlossen kam er.

»Zenzi,« begann er, »ich komm noch einmal. Zum letztenmal. Morgen wird abgestimmt. Sollst bei mir den Himmel auf der Erde haben. Gebt dem Loisl euer ganzes Heimatl, wie es geht und steht. Hab nichts dagegen. Sollst nichts weiter mitbringen, als was du auf dem Leib hast, aber mein sollst du werden. Schau, stehst allein. Hast es schwer. Der Vater liegt im Krankenhaus. Leicht – –«

»Er kommt wieder!« schrie die Zenzi in heißer Angst.

»Will dir's wünschen und ihm auch, aber – der Vater liegt im Krankenhaus, und dein Loisl – –«

»Ist nicht mein Loisl, geht mich gar nichts an.«

»Ich weiß das besser – – treibt sich auf den Bergen herum, jetzt auf den Bergen! weil er zu faul zum Arbeiten ist und nicht halb soviel für dich übrighat, wie du für ihn. Brauchst nicht zu eifern. Und da komm ich und sag – –«

»Nichts mehr sagst du! Hast schon viel zu viel gesagt. Und wenn du jetzt nicht gleich gehst – –«

»Stad, Dirn! Bloß eins will ich dir noch sagen. Bald du jetzt ja sagst, nachher – bleibt St. Thomas, und wenn du nein sagst, nachher – stirbt es morgen.«

Die Zenzi lachte, aber ihr Lachen war mehr ein Schreien. »Das hätt'st du in der Hand?«

»Zenzi, ich lüg nicht. Bei allen Heiligen!«

»Toni, und wenn es wahr wär, – aber es kann ja nicht wahr sein und ist nicht wahr, bloß Angst willst mir machen, – aber, und wenn es wahr wäre, dann soll eher St. Thomas sterben, als daß ich dein Weib werd.«

»Gut. Erst St. Thomas, nachher dein Vater und der Saubub, nachher du. Hast es so haben wollen und sollst jetzt den Toni Oberlechner kennenlernen!«

Am anderen Tage schien St. Thomas das Todesurteil tatsächlich gesprochen zu sein, weil dem Toni Oberlechner ein gut ausgeklügeltes Satansspiel gelang.

Der Moosbauer tat seine Pflicht, wenn er sie auch nur mit halbem Herzen tat. Er sprach ein paar ruhige, vernünftige Worte für die Umsiedelung. Die Männer saßen mit trotzigen Mienen da, jeder entschlossen, ein Nein zu schreiben. Einer fuhr dem Moosbacher dazwischen: »Ist egal, was wir schreiben. Umgesiedelt wird so und so, bald's die Bagag will. Und sie will's!«

Damit war der erste Stein aus dem Damm des Schweigens gebrochen. Die nächsten brach der Lieserer heraus. Was er herausbelferte, war zwar so ungereimtes Zeug, daß ihn der Zweigler anschrie, das könne ja keine Sau fressen, aber grade so sollte es sein. Im Nu waren die Köpfe heiß, die aufgestaute Spannung entlud sich, der Lieserer hieb auf den Tisch: Umgesiedelt würde, grad umgesiedelt. Er spreche nicht für die großkopfeten Bauern, er spreche für die armen Leute, die in St. Thomas nicht leben könnten, draußen aber – – Ha, es sollte schon jeder seinen warmen Platz kriegen. Die Bauern sahen sich an. Was war das? Der Lieserer sagte genau das Gegenteil dessen, was sie die ganze Zeit über hatten hören müssen. Im Gebrüll verteilte der Toni die Stimmzettel, im sich steigernden Toben und Eifern – der Moosbacher setzte sich nicht durch –, sammelte sie der Toni wieder ein, und das Taschenspieler-Kunststück, das er daheim mit saurem Fleiß geübt, gelang, war so leicht, daß er sich die Hälfte der Mühe hätte sparen können. Keiner achtete auf ihn, der Lieserer brüllte, der Zweigler wollte auf ihn zuspringen und mußte von zweien gehalten werden, der Moosbacher schrie: »Bist denn ganz verrückt, Lieserer?« Nicht einer, der nicht gegen den geifernden Lieserer hin halb über dem Tisch gelegen hätte.

Neun Männer waren sie, neun Nein wurden geschrieben. Der Toni Oberlechner aber hatte sieben Stimmzettel aus dem gleichen Papier, jeden mit einem Ja beschrieben, in der linken Joppentasche, und als er seinen Filz vor dem Bürgermeister auf den Tisch setzte und einen Augenblick hinausging, waren die sieben Ja im Hute, und er hatte in der rechten Tasche die sieben Nein, die viel leichter auszutauschen gewesen waren, als er gedacht. Der Lieserer hätte seine Sache wahrlich gar nicht besser machen können. Als der Toni wieder an den Tisch trat, war es totenstill, und er hörte den Moosbacher eben sagen: »Sieben Ja, zwei Nein.«

Damit schob der Bürgermeister die Stimmzettel in einen Umschlag, und ehe auch nur einer der versteinerten Männer ein Wort fand, hatte der Moosbacher schon den Umschlag geschlossen und das Gemeindesiegel daraufgedrückt. »Nun wär's gar,« sagte er und schob den Brief in die Tasche. »Das Amt verlangt, daß ich ihn einschicke. Die Sitzung ist aus.«

»Was?« brüllte der Siebenlehner auf. »Mein Gott, Männer, das ist doch nicht wahr! Das kann ja nicht sein! Das ist – – Ich hab – –«

»Stad bist!« Der Moosbacher drückte den Mann, der sich halb erhoben hatte, auf den Stuhl zurück. »Es war eine geheime Abstimmung, ist alles in Ordnung zugegangen, und ich leid nicht, daß jetzt noch darüber geredet wird.« Damit stand der Moosbacher auf. »Hättet's euch eher überlegen müssen. – B'hüt!« Die Tür schloß sich hinter ihm, aber als er draußen am Fenster vorüberging, hörte er, daß drinnen der Sturm lauter tobte als vorhin. Der brüllte ein: »Mein Gott, das kann ja nicht sein,« der ein: »Lumpen seid ihr, wo erst so sagen und nachher so,« und einer: »Die Stimmzettel sind gefälscht.«

Da trat der Toni Oberlechner auf. »Gefälscht, sagst du, Hinderer?«

»Gefälscht, sag ich.«

»Wer hat sie gefälscht? Ich?«

»Das – hab ich nicht gesagt,« zauderte der Hinderer.

»So. Dein Glück. Mir hättest das nicht nachsagen dürfen. Himmelkreuz! Hier geht's ums Zuchthaus. Und da soll mir einer kommen! Mir ist's genug. Eine Schand ist's, wenn einer sein Heimatl verrat. Ich geh. Kommst mit, Lieserer!« Er drehte sich noch einmal um. » Ein Wort! Ich hab meine Ehre, und die laß ich mir nicht dreckig machen. B'hüt!«

Langsam und kopfschüttelnd zerstreuten sich sechs Männer, vor deren Augen förmlich der Himmel eingestürzt war, denen das Grauen im Genick saß, die vor innerer Erregung kaum ein lautes Wort zu sagen vermochten, nach den Bergen sahen, auf denen die Sonne lag, aufstöhnten: Mein Gott, das kann ja nicht sein! Kann ja nicht!

Der Toni Oberlechner aber hatte trotz allem Pech gehabt. Er hatte die Zettel draußen dahin werfen wollen, wo sie niemand suchte, weil er beabsichtigte, bei einem Angriff, mit dem er rechnete, seine Taschen umzukehren. Das, was er gewollt, war nicht möglich gewesen, weil die Lies scheuerte. Und grade kam auch die Zenzi. So hatte er die Zettel zusammengeballt und aufs Geratewohl weggeschleudert. Zeit hatte er nicht zu versäumen, wollte er sich nicht verdächtig machen. Die Zenzi hatte zwar den Oberlechner nicht beobachtet, aber ein Gefühl sagte ihr, daß es sonderbar vom Toni sei, jetzt, wo doch alles auf der Spitze stand, die Sitzung zu verlassen, und daß da etwas dahinterstecken müsse. Sie ging etliche Schritte, ließ die Augen umherwandern, sah das Knäuel, das hinter das Regenfaß gekollert war, las es auf, las ein Nein, sprang in ihre Kammer, öffnete Zettel um Zettel, erstarrte und – barg die Zettel in ihrer Lade. Ihre Hände waren eiskalt, das Gesicht war leichenblaß. Was tun? Den Moosbacher holen? Nein. Abwarten, bis der Vater wiederkam.

Ganz St. Thomas brüllte das Wort: Verrat! Der Lieserer ward verprügelt und lief zum Toni, sich ein Pflaster auflegen zu lassen. Der Toni aber legte es nicht auf, weil er sich sonst dem Lieserer in die Hände gegeben hätte, während der jetzt nicht mehr wußte, als daß er einen Aufstand hatte machen sollen. »Was geht's denn mich an, wenn du gerauft hast,« sagte der kalt. »Hätt'st halt ordentlich wiedergehauen. Hast heute deine Pflicht getan. Mehr nicht.«

»Du auch.« giftete der Lieserer.

Da trat der Toni dicht vor ihn hin. »Was willst du damit sagen?«

»Nichts.« Der Lieserer duckte sich.

»Gut. Ein unebenes Wort, Lieserer – –!«

Die Zenzi tat und war an dem Tage alles, weinte, lachte, betete zum Herrgott und grollte ihm, hoffte und war verzagt, war einmal glühheiß, ein andermal eiskalt.

Es war eben Nacht geworden, da stürmte der Loisl herein. Ganz aus dem Häuschen war er. »Zenzerl,« jubelte er, »Zenzerl!« Er fuhr zurück. »Ah, richtig, magst mich ja nicht leiden.«

»Loisl!« stöhnte die Zenzi auf und schlug die Hände vor das Gesicht.

»Was?« schrie der Loisl und zog ihr die Hände herab. »Zenzerl! Zenzerl, du – magst mich?«

»Ach, Bub!«

Da riß sie der übermütige Loisl an sich. » Mein Dirn! Mein Zenzerl!«

»Hast mir soviel Not gemacht, Loisl!«

»Nicht bös sein, ja, du! Zenzerl, liebes, ich bring ja so viel Gutes! Beim Vater war ich. Gut geht's ihm, läßt er dir sagen. Noch zwei Tage, dann ist er wieder daheim. Und, Zenzerl, ich hab's! Ich hab's, und der Vater sagt, recht sei's! Brauchst nichts zu erzählen. Ich weiß schon, wie's gegangen ist, aber ein Schmarren ist's, ein Dreck! Gleich heute noch ruf ich die Buben zusammen und los geht's! – Da setz dich her, da neben mich.« Der Loisl zog ein Papier aus der Tasche, glättete es und breitete es auf dem Tische aus. Es waren allerlei Linien und Zahlen darauf. »Jetzt paß auf. Das ist das Törle, das das Buckelkar, da geht's zur Scharte, das ist die Kugler-Nase. Schau, daher kommt die Lawine, wo uns soviel Not macht. Jetzt mußt aber genau aufpassen. Hab alles mit dem Maß ausgemessen und stimmt aufs Haar. Hundertzwei Meter ist's oben am Kar hin bis an die Stelle, wo die Lawine am Kugler anrennt und den Bogen macht. Da kommt eine Rinne hin, leicht ein bis zwei Meter tief und acht oder zehn Meter breit. Ist ein bös Stück Arbeit, das weiß ich, aber der Stein ist nicht extra hart, und am End gibt's ja auch noch Pulver. Da nach dem Kar zu, vom Kugler aus links, kommt eine Mauer hin. Dies Jahr noch nicht hoch, ander Jahr hoch genug. Da ist die Kugler-Nase. Grad achtzig Meter lang ist sie, sieben, auch elf Meter hoch, fünf, auch neun Meter dick. Die muß weg!«

»Loisl!« sagte die Zenzi verzagt.

Der Loisl aber lachte. »Wird's dir leicht Angst? Dem Vater nicht und mir auch nicht. Schau, Zenzerl, ist ein Betrug dabei, geht aber nicht ohne den. Der Vater meint, ich sollt zum Minister gehn, aber – das tu ich nicht, weil's nachher darauf hinauskäm, daß ich ihn von der Wand herabgeholt hab. Das tu ich nicht, und der Vater heißt's gut. Schau, ich ruf die Buben zusammen, alle, und den Ronymus, den Schreck, den Bastian, und schießen tun wir. Drauflos schießen. Wir bringen es nicht zum Ende, aber der Minister hört die Schüsse.«

»Loisl, so weit geht kein Schuß.«

»Geht schon, und wenn er auch weiter nichts ist als ein Briefel, es gelangt. Und dann kommt der Minister her. Fuchsteufelswild kommt er her und nachher – – Ah, ich müßt ihn doch nicht kennen, und der Vater sagt's auch. Bald aber die Rinne da und die Kugler-Nase weg ist, nachher muß die Lawine in die Ache, ob sie will oder nicht! – Zenzerl, ich muß fort, muß die Buben zusammenrufen.«

»Loisl, ich muß dir noch was sagen.«

»Dann sag's geschwind, und, Zenzerl, wenn erst der Minister da gewesen ist, nachher red ich mit dem Vater. Vorher nicht. Will erst wer sein.«

»Loisl, der Toni hat die Stimmzettel gefälscht.«

»Heiland, Heiland, Zenzerl!«

»Ich hab die richtigen, der Toni hatte sie draußen weggeschmissen, ich hab sie aufgelesen, aber ich muß warten, bis der Vater wiederkommt.«

»Recht ist's, Zenzerl. So ein Haderlump, der Toni! Der Vater wird's schon richten. – Ich muß fort. B'hüt, Zenzerl, liebes! Und kein Wort sagst von den Zetteln! Keinem Menschen ein Wort!«

Der Loisl rannte wie ein Irrsinniger zu seinen Gehilfen: »Die Buben bestellt ihr. Um neun sollen sie in meiner Werkstatt sein. Alle! Es geht los, sagt ihr.« Er selber lief zum Fabian. »Ronymus, da schau her. So wird's gemacht. Ich brauch dich. Willst mir helfen?«

»Verrückt bist, Loisl.«

»Ist's richtig, was ich sag, oder ist's nicht richtig?«

»Scheint schon richtig zu sein, aber – –«

»Aber? Sag das Wort nicht! Also willst oder willst nicht?«

»Kann dich doch nicht sitzen lassen.«

»Alsdann verlaß ich mich auf dich.«

»Vergiß den Brunner nicht.«

»Den Brunner? Der liegt doch krank.«

»Mögen ihn zwei hertragen oder herfahren. Her muß er.«

Der Loisl stürmte hinaus. Ein schlichter Weiser aber saß und sann. Die Kugler-Nase wegsprengen! Hundert Menschen, kluge und einfältige, haben tausendmal die Augen auf dem Felsrücken ruhn lassen, haben nichts gesehn als das Unmöglich und haben sich geschlagen gegeben. Immer haben sie, auch der Ronymus, der Sepp, der Brunner, ja, selbst die Herren von der Kommission, vom Törle aus geschaut und gedacht, ohne deswegen ganz an der Kugler-Nase vorbeizudenken. Von deren Höhe her schwebte zwar das Wenn, aber aus ihren starren Flanken trotzte das Unmöglich, und das schlug sie zurück, weil es scheinbar vernünftig und gerechtfertigt war, schlug sie zurück bis auf einen. Dem beugte sich das Unmöglich. Das Wenn stieg geschlagen von dem rauhen Felsrücken herab und ward willig zum Kann und zum Muß, weil – eines Menschen Glaube höher war als eine Felswand und in seiner Glut unüberwindlicher als eine gewachsene Steinmauer.

Der sinnende Steinsucher lächelte. Was hat der Loisl eigentlich entdeckt? Bei Licht besehen nichts, was nicht alle anderen auch schon längst gewußt und gesehn haben. Sie haben alle gewußt, daß, wenn die Kugler-Nase weg wäre, die Lawine wieder in die Acheschlucht hinab müßte, St. Thomas gerettet wäre. Das ist keine ausgeklügelte Weisheit, das liegt auf der Hand, ist das Selbstverständlichste, das es geben kann, aber – Hier setzt das Wunder ein. Ja, man muß es schon ein Wunder nennen. Hundert Menschen, selbst die klügsten, stoßen sich den Kopf ein an dem Wenn, einer stößt mit dem Kopfe hindurch. Auch der hat Jahre gebraucht, hat sich zerquält, hat das Möglich zwar dumpf geahnt, aber auch ihm ist es erst in einer heiligen Stunde zum Können und – zum Müssen geworden.

Wie es gehn wird, weiß der nüchterne Ronymus genau. Mehr als beginnen können sie mit ihren schwachen Kräften und ihren unzulänglichen Mitteln das große und schwere Werk nicht. Es durchführen, dazu gehört mehr, als worüber die armen Leute von St. Thomas verfügen. Es weiter zu bedenken, daß wohl heute und noch auf Wochen hinaus ein heiliger Eifer und eine brennende Liebe einen Ring um St. Thomas schmieden werden, aber dieser Ring darf nicht einer gar zu harten Belastungsprobe unterworfen werden, die Gemeinde darf nicht zu lange allein stehn, sondern es muß ihr Hilfe kommen. Ist es anders, dann wird das Werk nicht nur nicht vollendet, sondern das Hosianna, das sie heute dem Loisl zurufen werden, wandelt sich zum Kreuzige. Und dann – Es liegt dem Ronymus, der dem Tode tausendmal ins Gesicht gesehn, nicht gar soviel am Leben. Dann – wird er mit dem Loisl zusammen sterben, und – recht ist's.

Der Steinsucher strafft sich. Sterben!? Wie des Loisls Augen leuchteten, wie der ganze Mensch in Glut und Glauben stand! Anfangen! Sprengen, hacken, schaufeln! Die Kugler-Nase kann weg und kommt weg! Der Weg, St. Thomas zu retten, ist erkannt und gewiesen. Jetzt gilt es also nur eines: Man muß ihn gehn!

Schlag neun waren sie alle zusammen. Der Fabian, der Schreck, der Bastian, selbst der Brunner war da. Der Loisl glühte, und was er zu sagen hatte, schleuderte er in Glut heraus. »Buben,« begann er, »ich weiß, was heute in St. Thomas geschehen ist. Es wird ein Wort gewispert. Gefälscht soll die Abstimmung sein. Kann mir's nicht gut anders denken, wüßt aber doch auch nicht, wer der Haderlump gewesen sein sollte. Ist aber egal, ob gefälscht – wird sich schwer nachweisen lassen – oder nicht. Umgesiedelt soll werden, weil die Lawine nicht aufzuhalten ist. Buben, verkauft ist St. Thomas, verschachert ist's. Wir holen's zurück! Die Lawine ist aufzuhalten! Sag's euch nachher, wie ich's meine, und werdet mir recht geben müssen, wie mir der Wirtsvater recht gegeben hat.«

»Der?« schrie einer. »Der ist der Richtige. Gut, daß der krank worden ist. Zwar: Ist ohnedem sauer geworden. Der ist fürs Umsiedeln.«

»Nicht wahr ist's,« schrie der Loisl dagegen. »Wenn's keinen andern Ausweg gibt, hat er gesagt, müßt er halt, weil das Dagegen keinen Sinn hat und keinen Zweck hätt'. Bald's aber einen gibt, ist er der Letzte, der fürs Umsiedeln ist.«

»So,« sagte der Brunner, »jetzt hört sich das anders an.«

»Ja,« der Loisl wandte sich an ihn, »hast ihm mit deinem Brief weh genug getan.«

»Hat mich auch schon genug gereut.«

»Also, Buben, es gibt einen Ausweg, und ich weiß ihn! Hab alles droben genau ausgemessen, kenne jeden Stein, jeden Tritt. Alles kenne ich wie meine Tasche. Es gibt einen Ausweg, aber den können nicht die Väter gehn, den können bloß wir gehn, wir Buben, weil ein extra Schneid dazu gehört, und weil wir nach niemand fragen dürfen, bloß nach uns selber, und weil es uns egal ist, was etwa das Bezirksamt sagt oder gar der Minister.«

»Kommen sollen sie,« grollte einer.

Der Loisl achtete nicht darauf. Glühheiß fuhr er fort: »An den Notwinter denkt, wo kein Mensch nach St. Thomas herein oder aus St. Thomas hinaus konnte. Ist am Ende an die fünfzehn Jahr her. War damals noch ein kleiner Bub und hätt' vieles nicht verstanden und das meiste vergessen, hätte der Wirtsvater nicht immer gesagt: Schau, Bub! Tu die Ohren auf, Bub! Merk's, Bub! So weiß ich alles noch und steht mir vor den Augen, als wär's gestern gewesen. Wie war es dazumal in St. Thomas? Eine Hand war die ganze Gemeinde, und ein Kopf war sie. So war Frieden, ward jeder satt, haben wir den heiligen Abend erlebt, an dem die Männer das erste Brot aus Rauth holten, und sie der Pfarrer segnete. Wär's anders gewesen, wären wir nicht eine Hand und ein Kopf gewesen, drunter und drüber wäre es gegangen, totgeschlagen hätt' einer den andern, niedergebrannt wär worden und verhungert wären wir. Ist seinerzeit ein Wort in den Blättern gestanden. Die braven Männer von St. Thomas, hat es geheißen. Bald wir jetzt wieder ein Kopf und eine Hand sind, wir Buben untereinander, dann soll es bald heißen: Die braven Buben von St. Thomas. Das sage ich. Einer kann nichts. Gar nichts kann er. Aber alle, Buben, alle – – Wir schaffen's! – Jetzt hört her.« Der Loisl erläuterte seinen Plan, alle hingen an seinen Lippen, und da stöhnte einer: »Richtig ist's,« und dort einer: »Da schau her.« Und als es der Loisl herausschleuderte: »Die Kugler-Nase muß weg!« da schrien zehn, fünfzehn: »Weg muß die! Nachher ist's gleich geschafft.« Der Loisl war fertig, die Burschen jubelten: »Loisl, Loisl!« Der Brunner aber hob die Hand.

»Stad seid's,« sagte er. »Ich wüßt kein Wort, das ich gegen den Loisl sagen könnt, aber warum ich bleib, das sollt ihr wissen. Leicht, daß dann manch einer besser weiß, warum er bleibt, als er's heute weiß. Ich bleib, und wenn ich fortmüßt, dann könnt's nur geschehn, wenn sie mich in Ketten gelegt hätten. Buben, hat's einer sich richtig überlegt, was Umsiedeln heißt? Das heißt herausreißen wie man einen Baum mit der Wurzel herausreißt. Ich sollt das Törle nicht mehr sehn, wenn ich aus dem Fenster schau, nicht mehr den Bischkopf und die Almen und die Bäume? Blind werden müßt ich, ehe ich das drangeb. Und ich sollt nicht mehr die Ache hören und nicht mehr den Wind und den Sturm da heroben? Taub werden müßt ich, und dann würd ich's immer noch inwendig hören. Keinem von uns ist St. Thomas ein bissel was, jedem ist es alles. Keiner ist bloß in St. Thomas, jeder ist St. Thomas selber. Das Blümel ist er und der Stein ist er, wo in der Wiese liegt, und der Himmel ist er, der über St. Thomas steht, und der Baum, der im Holze wächst. Meint ihr, Buben, das könnt noch anderswo so sein? Bis ihr sterbt, werdet ihr die Glocken von St. Thomas hören und seine Almen sehn. Durch seine Hölzer werdet ihr gehn, und eure Kinder werden es von euch hören, wie es war, und sagen werden sie: Vater, das Letzte hätt'st drangeben müssen für St. Thomas, grad in allem das Letzte, aber – du hast uns drum gebracht. – Loisl, solang St. Thomas noch steht, und wenn wir die Lawine ablenken, wird es immer stehn, wirst leben dahier, das sag ich. – Brauchst ein Geld? Was ich hab, sollst kriegen, und wenn's nicht langt, eine Grundschuld nehm ich auf. Aber bleiben will ich.« Als der Brunner, der, eine Krücke neben sich, auf einer Werkbank saß, ausgeredet hatte, war es den Buben, als stünden sie vor dem Altar Gottes.

»Recht hast geredet,« begann der Fabian mit rauher Stimme. »Aber zweierlei muß ich noch dazu sagen. Loisl, mich hast und die andern, scheint's, auch. Da fehlt nichts. Heute fehlt nichts, aber, Buben, ein Gaudi, wie's leicht scheinen könnt, wenn wir da droben umeinander sind, ist's nicht, sondern eine heilige Sache ist's, gar wie wenn einer im Kriege vor dem Feind steht. Akkurat so stehn wir. Sagst, Brunner, wir brauchen ein Geld. Viel Geld brauchen wir, und, Buben, das müßt ihr herausholen von euren Vätern.«

»Her muß es,« schrieen sie.

»Und jeder muß heran. Grad der Ärmste auch, sag ich. Was nötig ist, Pulver und Zündschnur, leicht auch Dynamit, wenn's möglich wär, da sind wir da, der Schreck und der Sepp und ich. Muß grad zu machen sein, daß wir's kriegen; denn sonst ist's gleich von Anfang an gefehlt. Wichtig ist's, aber wichtiger ist noch ein anderes. Ein Kopf hat der Loisl gesagt, ein Herz meint der Brunner, bald ich ihn recht verstanden hab, und ein Wille, sag ich. Dort steht euer Kopf und euer Herz und euer Wille. Wem's unter euch so blutig ernst ist wie mir, und wer eine heilige Arbeit so will wie ich, der tut jetzt, was ich tue.«

Damit ging der Ronymus auf den Loisl zu, gab ihm die Hand und sagte: »Mich hast.« Der eine wortlos, der andere des Fabians Worte wiederholend, der dritte ein eigenes kurzes Wort findend, traten sie alle an den Loisl heran und reichten ihm die Hand. »Hatt's nicht so vermeint,« sagte der Loisl verlegen, »aber gut ist's. So gut wie ein heiliger Eid. – Montag ist heut. Am Donnerstag in der Frühe steigen wir auf.« – –

Der Sepp war heimgekommen, war noch schwach, mußte sich noch schonen und ließ doch gleich am ersten Abend den Pfarrer Hornberger bitten, zu ihm zu kommen, weil er etwas Wichtiges mit ihm zu besprechen habe.

»Herr Pfarrer,« sagte er, als der vor ihm saß, »ich hätt' halt eine Bitte.«

»Wird nicht viel sein, Sepp. Also?«

»Sie wissen, was die Buben vorhaben?«

»Ja.«

»Und heißen es gut?«

»Gut schon, aber ich kann mir nicht denken, daß sie es schaffen.«

»Das muß man sehn. Herr Pfarrer, es wär halt schön, wenn Sie den Buben einen Segen mitgeben wollten, weil's doch gar eine so ernste Sache ist, und daß sie gleich den richtigen Begriff kriegen.«

»Das will ich tun, Sepp, und wenn man mir einen Strick daraus dreht, ist mir's auch einerlei.«

»Ich hab halt gedacht, eh die Buben aufsteigen, – sie kommen vor meinem Hause zusammen, – führt sie der Loisl gleich so, wie sie sind, in die Kirche.«

»Wär nicht schlecht, Sepp, aber anders ist's besser. Die Buben ziehn in einen Krieg. Dabei soll die ganze Gemeind sein. Wann ist's angesetzt?«

»Um vier in der Früh.«

»Gut. Heute Abend wird's herumgesagt. Um vier läutet der Mesner. War ein guter Gedanke. Ich dank Gott, daß Sie wieder da sind, Sepp.«

»Ich auch, Hochwürden.«

»B'hüt, Sepp. Wär schön, wenn Sie morgen früh auch dabeisein könnten, wird aber wohl noch nicht gehn.«

»Muß gehn, Hochwürden.«

Zwei heilige Stunden hat St. Thomas unter Pfarrer Hornberger erlebt, zwei Stunden von solcher Eindringlichkeit, daß kommende Geschlechter noch lange werden von ihnen zu sagen wissen, die eine die Abendstunde, in der die Männer nach dem Notwinter das erste Brot aus Rauth brachten, die andere die Morgenstunde, da die Buben auszogen, die Heimat zu erobern.

Es dämmerte kaum, als die Glocke über das stille Hochtal klang und die Gemeinde rief. Und sie kamen alle bis auf einen, den Toni Oberlechner, der ein Wehdam hatte. Wie sie waren, so kamen sie, nahmen ihre schweren Hacken und Schaufeln, nahmen sogar Pulver und Zündschnur und Dynamit mit in die Kirche. Und über alle und alles sprach der Pfarrer seinen Segen, und sie standen im Halbkreis vor dem Altar, die Burschen und Männer, soweit sie mit ans Törle gingen, wie die Soldaten, bevor sie ins Feld ziehn, neigten die Häupter, beugten die Knie und richteten sich helläugig steil auf. Hornberger sprach ganz kurz, aber ganz stark. Jeder habe sein Haus, das sei sein Heimatl. Die zusammen geben die Gemeinde, und Heimatl, Gemeinde und der erhabene Kranz der Berge, da sei die Heimat. Heimat aber heiße Vergangenheit, damit Dank gegenüber den Gewesenen, heiße Zukunft, damit Verpflichtung gegenüber den Kommenden, und heiße Gegenwart und damit Arbeit, solange sich eine Hand rühren könne, und Kampf bis zum letzten Atemzuge. Die Tat sei Menschenaufgabe, das Gelingen Gottes Sache.

Es war eine starke, männliche Rede, die der weißhaarige gütige Mann mit bebendem Herzen hielt. Der Almwind sang darin, und der Sturm brauste, die Not wuchtete, und die Freude jauchzte. Kinderlieb war darin und schwerer Mannesschritt. Der Lawine vom Törle her setzte er eine andere Lawine entgegen, das einige Wollen einer Gemeinde, die jetzt erkennen gelernt, was Heimat sei.

Still und schwer gingen sie aus dem Gotteshause, still und langaus stiegen sie zu Arbeit und Kampf zu Berg, und über den Kugler her flogen die ersten Sonnenstrahlen und ließen die ganze ungeheure Westkette rot aufglühn.

Im Davongehn hatte der Loisl dem Wirtsvater zugeflüstert, der Oberlechner sei als einziger nicht dabei gewesen.

»Weiß schon,« hatte der Sepp gesagt, »muß so sein. Der Judas gehört dazu. – B'hüt, Bub.« So hatte er gestern abend auch mit dem Ronymus, der noch spät bei ihm gewesen war, gesprochen.

Der Fabian und der Schreck sprachen nicht darüber, wie es ihnen gelungen war. Es war ihnen jedenfalls gelungen, Pulver, Zündschnur, sogar Dynamit zu beschaffen. Bis auf den Toni Oberlechner lebte St. Thomas in einem heiligen Rausche. Ein Kopf, ein Herz, ein Wille war St. Thomas vom ärmsten Holzfäller bis zum Bürgermeister, und nichts hätte deutlicher erweisen können, daß die Abstimmung gefälscht war.

Der Toni Oberlechner war vereinsamt. Er spürte ständig ein leises Prickeln in den Gliedern, tröstete sich jedoch damit, daß, wenn auch der Verdacht der Fälschung nunmehr deutlich auf ihm ruhe, deren Nachweis jedoch unmöglich sein werde. Er hatte das weggeworfene Knäuel zwar bei unauffälligem Suchen nicht gefunden, aber inzwischen hatte es ein paarmal geregnet, und die Lies hatte das Knäuel ohne Zweifel beim Aufräumen längst dahin geworfen, wohin er es selber hatte werfen wollen. Zweierlei tat er, eines, sich zu rächen, das andere, für sich zu sorgen. Er schrieb an den Minister, und er kaufte ein Anwesen drunten im Lairachtale; denn daß St. Thomas umgesiedelt würde, die Arbeit am Törle aber nichts als ein Schmarren sei, darin war er auch nicht einen Augenblick unsicher.

Minister Dr. von Wenzel empfing am gleichen Tage zwei St. Thomas betreffende Zuschriften. Die erste enthielt den Plan eines Ingenieurs, eine Straße von Rauth nach St. Thomas, darüber hinaus in die Bergwelt bis jenseits des Törle nach Daplang zu führen. Es war ein Plan von so unerhörter Kühnheit und so gigantischem Ausmaß, daß dem Minister einen Augenblick der Herzschlag stockte, und er das Schriftstück kopfschüttelnd vorläufig zur Seite legte.

Das zweite enthielt Anklage und Bericht des Treuesten der Treuen unter den Leuten von St. Thomas, des Anton Oberlechner. Als das der Minister gelesen, stieß er einen gelinden Fluch aus. »Sind denn die Menschen da droben verrückt geworden?« sagte er laut vor sich hin. Vor etlichen Tagen war der Bericht des stellvertretenden Bezirksdirektors von Rauth gekommen, nach dem alles vernünftig zu gehn schien, und heut war der Teufel los in St. Thomas. Der Minister las den Brief noch einmal. Also die Kugler-Nase weg, eine Mauer hin und eine Rinne vom Törle-Hange aus.

Ein Viertelstunde später saß der Geheimrat Bärwald, der Führer der seinerzeitigen Kommission, dem Minister gegenüber.

»Herr Geheimrat, ist in dem Gutachten der Gedanke erwogen, die Kugler-Nase wegzusprengen?«

»Nein.« – »Er ist Ihnen auch nie gekommen?«

»Das – wohl. Es liegt ja auf der Hand, aber –«

»Warum steht dann nichts davon da?«

»Weil der Gedanke absurd ist.«

»Warum ist er absurd?«

»Weil die Kosten viel zu hoch sein würden.«

»Die Verantwortung dafür wäre auf meines Vorgängers Kappe gegangen und würde jetzt auf die meine gehn. Bitte, lesen Sie.« Der Minister reichte dem Geheimrat den Brief des Toni. Der las, legte ihn kopfschüttelnd wieder hin und sagte: »Dazu weiß ich weiter nichts als: Unsinn! Mit den Mitteln, die den Leuten zur Verfügung stehn!«

»Fragen wir jetzt nicht nach den Mitteln, weder den technischen, noch den Geldmitteln. Halten Sie die Durchführung des Gedankens technisch für möglich?«

Der Geheimrat wiegte den Kopf. »Ich vermag jetzt nichts Genaues zu sagen, aber – mindestens nicht für unmöglich.«

»Hm. Also ein Kolumbusei, aber, wie es scheint, ein sehr hartes.«

Er lächelte und schüttelte abermals den Kopf.

»Ich bin zwar nicht technisch gebildet, aber was der Alois Schirmer sah, hätte ich selber zur Not auch sehn können. Na. – Morgen, nein, das geht nicht, in – drei Tagen fahren wir nach St. Thomas. Sie mit. Unangemeldet. – Nehmen Sie inzwischen das mit,« der Minister reichte ihm den Plan des Ingenieurs, »und lesen Sie es durch. Ich rufe Sie wieder an.« –

An die zweitausend Meter hoch lag die Arbeitsstätte der Buben von St. Thomas. Rundum strahlten die Firnen, glitzerten Wände und Bänder, polterten Lawinen in die Abgründe. Das Buckelkar war noch zur guten Hälfte verschneit, am Törle-Dach guckte kaum ein Riff heraus, die Karkrone aber war fast schneefrei. Es war in keinem Jahre anders. Die Südsonne brütete förmlich über der Einsattelung, die Ostwinde hielt der Kugler ab, die Nordwinde das Törle. So kam es, daß die Karkrone, über die hinweg der Pfad zur rückwärtigen, tief verschneiten Scharte führte, nur noch eine dünne Schneedecke hatte, während rund herum noch lange der Winter regierte. Drei Tage hatten sie, bevor sie zum allgemeinen Aufbruch nach St. Thomas zurückkehrten, droben schon schwer gearbeitet, der Loisl, der Hieronymus, der Bastian, der Schreck und etliche Holzfäller und Wildheuer. Nun stand ein fast fertiges grobes Steinhaus da, am Schneerande, nach der Scharte zu, stand ein kleines Zelt, das dem Wirt gehörte, und als die Männer und Buben nach der kurzen Feierstunde in der Kirche aus St. Thomas zogen, trugen sie außer dem Werkzeug noch allerlei an Decken und Hausrat, Brettern und Nägeln zur Fertigstellung ihrer Unterkunft mit.

»Da wären wir,« sagte des Moosbachers Sepp, »und jetzt spuckt's in die Hände. Auf geht's!«

Der Loisl ordnete an. »Ihr macht die Hütte fertig. Ronymus, das da wär jetzt dein Platz.« Er wies auf die Kugler-Nase.

»Weiß ich eh schon,« brummte der Fabian gutmütig. »Wo's am schwersten ist, muß alleweil der Ronymus hin. Alsdann: Da wären halt zuerst die Bohrlöcher. Geht's mit, Bastian und Xaver und Max. Neun brauch ich. Gleich oben auf der Schneid müssen wir anfangen, daß uns nicht etwa zuletzt die Brocken in die Suppen fallen. Zeit laß!« Der Fabian stieg auf den Kugler-Felsen, die andern stiegen ihm nach.

»Teifi,« sagte der Pratl, »wenn das jetzt alles weg muß!«

»Muß es halt weg,« sagte der Bastian.

»Das sind leicht tausend Kubik.«

»Und? Was denn nachher? Und wenn's hunderttausend sein, kommen's auch weg, bald's sein muß.«

»Bastian,« leitete der Hieronymus, »da wär das erste Loch zu setzen. Pratl und Xaver, haltet euch zum Bastian.«

An drei Stellen ließ der Fabian zugleich bohren. Der Stein war anfangs mürbe, dann aber fest, so daß mit guter Sprengwirkung zu rechnen war.

Stahl klang auf Stahl, die Muskeln waren hart, die Sehnen gespannt, wie ein starkes, mutiges Lied hallte das helle Klingen hinab zu denen um den Loisl. Sie hatten zunächst leichtere Arbeit. Die Schneebrocken flogen und kollerten in das Kar hinab oder wurden als niedrige Mauer gegen die Schanze zu gehäuft. Der Loisl hatte rechts und links lange Schnüre gezogen. So breit, meinte er, müsse die Rinne werden. Um eins am Nachmittag gab der Fabian das erste Hornzeichen, kurz nachher hallte der erste Sprengschuß. Donnernd weckte er das Echo am Törle und an den Bischkopfwänden, dumpf flog er über St. Thomas hin, und die Leute reckten die Köpfe. »Ist droben schon losgegangen.« Die Burschen aber hielten ihre Hacken- und Schaufelstiele umklammert. »Siehst das Loch, wo's gemacht hat?« Kräftiger schwangen die Arme die Spitzhauen, lauter knirschten die Schaufeln im mürben Gestein, die Sonne schien, muntere, mutige Zurufe gingen hin und her, und die Schneewände glitzerten und gleißten.

Der erste Tag war vorüber, die erste Nacht brach herein, eine sternklare, kalte Nacht. Die innere Wärme aber half den Menschen, die Kälte von außen her leichter ertragen. Sie prahlten gradezu ein bißchen, die Buben von St. Thomas. »Heilig,« sagte der Anderl Dietrich, »bald uns einer das geheißen hätt', nachher hätt' jeder gesagt, er wär verrückt.«

»Hab's euch doch geheißen,« sagte der Loisl scherzend.

»Nicht wahr ist's,« wehrte der Anderl ab. »Hast gesagt: Bald jeder sein Heimatl erhalten will, nachher muß die Kugler-Nase weg.«

»Und?«

»Das ist kein Heißen.«

»Was ist's dann?«

»Ein Heißen ist's schon,« fiel der Schorch Ender ein. »Ein Heißen schon, aber von keinem Menschen aus. Aber ja,« unterbrach er sich, »auch von Menschen aus, aber von denen, wo schon lang auf dem Friedhof schlafen. Von denen aus ja und sonst halt von jedem Haus und jedem Stadel aus und von St. Thomas ganz und gar und von den Bergen und den Almen. Das kann man nicht so sagen, aber ein Heißen ist's, und weil's halt so eins ist, was man zwar nicht hört, aber drin in der Brust g'spürt, drum – – Sag's, Loisl. Kannst es besser.«

»Kann's auch nicht besser und wär auch nicht nötig. G'langt schon, wenn's jeder spürt.«

»Und von dem aus,« wußte der Sepp Moosbacher, des Bürgermeisters Jüngster, »grad das Törle käm weg, wann's sein müßt.«

»In hundert Jahren,« brummte der Fabian behaglich.

Als sie daraufhin lachten, ereiferte sich der Sepp: »Möcht leicht sein in hundert Jahren, aber fragst nach der Zeit, wenn's sein müßt, oder nach den Kubik?«

»Ein bissel schon nach beiden,« mampfte der Ronymus neben der Pfeifenspitze heraus, »aber deswegen würd mir immer noch kein's bange machen.«

»Das ist meine Meinung,« trotzte der Sepp weiter. »Und bald jetzt einer von den Stadtleuten daherkäme – Sein da gewesen, und? Ein Holz pflanzen, wo kein Holz wächst, sonst – umsiedeln. Aber gesehn hat keiner, wie's zu machen ist und auf der Hand liegt. Mus mach ich aus den Stadtleuten, bald einer kommt.«

»Stad,« begütigte der Loisl.

»Heilig,« versicherte der Sepp. »Keiner hat nix gesehn. Gegangen sind sie, wie sie gekommen sind, aber du, Loisl, hingeschaut hast, und da war's gar.«

Der Loisl lachte. »Hingeschaut hab ich von rechts und von links und von oben und von unten drei Jahre lang, aber gar ist's noch lange nicht gewesen. Da stehst egal vor der Steinnase und kannst dir nicht denken, daß die weg könnt. Grad für immer ist sie da, wie sie schon immer da gewesen ist, weil's Stein ist. Drei Nächte hab ich drüben gehockt, wo jetzt die Hütte steht. War mordskalt und hab unter zwei Kotzen nicht warm werden können, so daß ich nicht viel geschlafen hab und immer einmal hin und her laufen mußt, bloß um ein bissel warm zu werden. Aber dageblieben bin ich und wär dageblieben, und wenn's noch drei Tage gedauert hätt'! Mußt es finden, hab ich gedacht. Muß grad sein, und eher geh ich nicht vom Fleck. Am vierten Tag ganz in der Früh bin ich wieder dagestanden und hab geschaut und da, ja, wie sag ich das gleich? Grad durchgeschaut hab ich durch den Stein, als wenn er entweder nicht da oder ein großes Glasel wär, und hab in die Acheschlucht gesehn und hab ein Poltern gehört, daß die Berge geschrien haben. Die Lawine ist's gewesen, die in die Acheschlucht abgefahren ist. So hab ich's zu hören vermeint.«

»Grad ein Wunder ist's,« murmelte der Bastian.

»Und da hab ich's gewußt,« fuhr der Loisl fort, »der Stein muß weg, und weil er weg muß, kommt er auch weg.«

»Was hast nachher gemacht, als du das gewußt hast?« fragte der Brandl Max.

»Grad in die Höh gesprungen ist er,« schleuderte es der Sepp Moosbacher heraus.

»Nein,« der Loisl schüttelte den Kopf.

»Ich hätt's gemacht,« beharrte der Sepp.

»Ich hab's anders gemacht,« sagte der Loisl leiser.

»Da im Schnee bin ich niedergekniet. Ja. Und gedacht hab ich: Auf die Buben kannst zählen. Die Männer dürfen das gar nicht von sich aus machen, außer daß sie uns von drunten aushelfen, wie sich's grad machen will. Da heroben aber müssen in der Hauptsach die Buben stehn, und auf die kannst zählen. – Nachher, ja, da bin ich hinabgesprungen grad wie ein Hirsch und gleich zum Wirtsvater nach Rauth, und – – Das andere wißt ihr.«

Es war still, ein leiser Wind ging wie ruhige Atemzüge einher. Da sagte der Fabian: »Der erste Tag. Schlafenszeit ist. B'hüt!«

Acht volle Tage dauerte die Arbeit. Die heilige Glut hielt an, und als der Anderl sagte, es sei wohl schön, das müsse man sagen, und von ihm aus könnt es ruhig noch lange dauern, nur eines fehle: Die Dirndel. Da fuhr ihm der ungestüme Sepp Moosbacher über den Mund, daher gehörten keine Dirndel, und wenn er es etwa ohne die nicht aushalte, möge er sich lieber gleich hinabscheren; denn dann tauge er nicht hierher.

Den Sepp nahm sich der Loisl vor. Es mußte sein. Er stiftete keinen Unfrieden, der Sepp, aber sobald die Rede auf die Stadtleute kam, und sie kam fast jeden Tag auf sie, ward der Sepp so wild wie der Stier, wenn er ein rotes Tuch sieht. Mus müsse man aus ihnen machen, sagte er, grad Mus. Der Loisl beruhigte, warnte, bat zuletzt, aber der Sepp lupfte die Achseln: »Bist der Loisl, und ich weiß, was du der Gemeinde tust, aber die Stadtleut, wo weiter nichts wußten als: Umsiedeln – – Loisl, grad wild werd ich.«

»Werd so wild, wie du magst, aber das sag ich: Bald die Stadtleut kommen, und ich rechne damit, daß sie kommen, dann gehn wir zuvor vom Platz. Du auch. Das versprich mir.«

Der Sepp sah zur Seite. Er dachte nach, und es ging ein kurzer Blitz über seine halbgeschlossenen Augen. »Wenn du's halt für richtig hältst –«

»Ja, Sepp. Versprichst es mir, daß du auch vom Platze gehst.«

Der Sepp wandte sich zum Gehen. »Meinetwegen. Ich versprech's.«

Es geschah nach dem des öfteren, daß, wenn der Loisl während der Arbeit in die Nähe des Sepp kam, eine lebhafte Unterhaltung jäh verstummte.

Sie arbeiteten unmenschlich, die paar Männer und Buben von St. Thomas. Die Wunde am Kugler-Felsen ward immer größer, gegen das Kar hin wuchs eine rohe, breite Mauer, die Rinne vom Törle her war bereits in ihrer ganzen Länge deutlich erkennbar, und der Grundton der gewaltigen Arbeitssymphonie war die wortlose Liebe zu der armen und doch so schönen Bergheimat. Keiner fragte nach einer Begrenzung seiner Leistung, keiner tat sich etwas auf sie zugute, mehr als vierzig Hände waren eine Hand, mehr als zwanzig Köpfe und Herzen regierte ein Wille. Der Loisl dominierte in keiner Weise, aber es genügte, daß er halt der Loisl war. Keiner zog ein Unmöglich auch nur in Erwägung, keiner beklagte die unzulänglichen Hilfsmittel. Menschen, die das Klagen über unerfüllte Wünsche darum nicht kannten, weil sie keine hatten, dafür aber gewohnt waren, sich auf sich selber zu stellen und die Unmöglich mit ihrer eigenen Kraft zu bezwingen, standen vor dem Riesenwerk genau so da wie vor dem Wildbach, der gebändigt, vor der Wand, die bezwungen werden muß. Kein Glauben: Wir können es, kein Trotzen: Wir sind stärker als selbst der Fels, nichts weiter als eine fraglose Selbstverständlichkeit in allem noch so schweren Drum und Dran und trotz der mehr als kümmerlichen Hilfsmittel, weil es keinen anderen Weg gab, die Heimat zu erhalten, der aber, den sie gingen, ihnen einleuchtete. Bewußt trotzig war der Bastian. Er sah, daß es im Ganzen an dem Felsen langsam vorwärtsging, biß die Zähne aufeinander und bohrte sich hinein in das: Wir wollen! Ernst war der Fabian. Das Dynamit ging auf die Neige, Pulver genügte nicht, und es war nicht nur gefährlich, es war wohl überhaupt unmöglich, beides wiederzubeschaffen. Bang und bänger lauerte der Loisl auf den Tag, an dem ihm ein Bote aus dem Tale meldete, daß der Minister gekommen sei. Wenn er und der Wirtsvater sich im Toni Oberlechner verrechnet hatten, dann blieb zuletzt wahrhaftig nichts weiter übrig, als daß der Loisl selber schrieb. Und das wäre ihn sehr hart angekommen. So flocht er es denn selbst in seinen schlichten Abendsegen: Toni, tu uns die Lieb, sei schlecht, zeig an!

Derselbe Loisl aber zeigte allezeit ein heiter ernstes Gesicht, lobte seine Kameraden nicht, damit keiner meine, er dünke sich der erste, aber es strahlte eine so unbedingte Zuversicht von ihm aus, daß die andern sie als Dank empfanden und werteten. Es war ihm verdächtig, daß kaum noch über die Stadtleute gesprochen ward, aber er hatte Sorgen, die größer waren, und dachte dem Schweigen nicht weiter nach, zumal er ja auch des Sepps Versprechen hatte.

Schön waren die Abende. Ein Lagerfeuer, das bis nach St. Thomas hinab leuchtete, brannte, die Burschen saßen und lagen um das Feuer und sangen mit guten Stimmen ihre alten Lieder, der Loisl erzählte von der Zeit, die er in Ripp verbracht, Sagen lebten auf, von Bergabenteuern ward geredet.

Am neunten Tag trafen gegen Abend mit einem Male der Minister und Geheimrat Bärwald beim Sepp Huber ein, und der Minister sah dem Sepp scharf in die Augen, als er ihm die Hand reichte. »Steckt natürlich mit dahinter, der Herr Huber. Was? Kann ich mir denken.« Sie saßen lange Stunden zusammen. Der Minister hatte den Bürgermeister rufen lassen, der Sepp auf eigene Faust den Brunner. Er hatte ihn aber an der Tür abgefangen. »Brunner, bald du jetzt ein ungutes Wort sagst, nachher schmeißt alles über den Haufen. Gute aber kannst nicht genug sagen. Merk's, Brunner.«

Es ward viel Ernstes und Verständiges geredet, aber ein Wort aus des Brunners Munde gefiel dem Minister besonders. »Herr Minister,« sagte er, »Sie kommen vom Staat. Was ist uns heute der Staat? Gesetze und Steuern und Abgaben ist er uns. Meinen's, daß wir so einen Staat gern haben? Nicht lieber als ein Gewitter, vor dem wir uns verkriechen. Das Gewitter muß sein, wir wissen es, und der Staat muß auch sein. Wir wissen's. Aber was müßt uns der Staat sein, und was könnt er uns sein? Ein Vater müßt er uns sein, zu dem wir sagen: Da schau her, da drückt's uns, und da tut's uns weh. In die Augen muß man ihm sehn können, den guten Willen muß man wissen, Herz muß man spüren. Nicht, daß er weit von uns ist und vorübergeht, und wir bloß den Blitz zu sehn und den Donner zu hören kriegen. – Weil's da sind, Herr Minister, ist der Staat da, hat ein Gesicht und – jetzt ist gleich alles gut. Jetzt haben wir ein Vertrauen. Wenn's einen Weg gibt, unsere arme Gemeind zu erhalten, und den gibt's, das sehen's jetzt, – und wir können ja überhaupt nicht fortgehn, – nachher sollt der Weg nicht gegangen werden, weil's ein Geld kostet? Herr Minister! Mein Weib hat der Balken erschlagen, meine Kinder hätt' ich um ein Haar verloren, ich selber hink noch immer, aber – lebendig bringen's mich aus St. Thomas nicht fort.«

Der Minister schwieg. Er sah nur dem Geheimrat ernst in die Augen.

Am andern Morgen jagte der Sepp die Zenzi, die Lies und die Josefa in aller Frühe zu Berg. Die Hütte auf der Stockalm sollten sie richten, weil der Minister und der Geheimrat dort übernachten wollten, und die Zenzi sollte außerdem dem Loisl sagen, daß die Stadtleute kämen – der Herr Minister sei dabei – und keiner droben bleiben dürfe.

Die Zenzi blieb nachher auf der Stockalm, während die Lies und die Josefa zurückkehrten.

Um elf trafen der Minister, der Geheimrat und der Bürgermeister am Törle ein. Der Arbeitsplatz war leer. Der Geheimrat schüttelte den Kopf. »Wie lange haben die Burschen hier gearbeitet, Herr Bürgermeister? Acht Tage? Davor muß man den Hut abnehmen. Vier bis sechs Wochen wäre nicht zu lange gewesen, aber acht Tage?! Für Geld wäre in der Zeit nicht die Hälfte fertig geworden.«

Sie gingen hin und her, kletterten auf die Kugler-Nase, sosehr auch der Geheimrat dabei stöhnte. Der Fabian hatte die Sprengung nicht unklug geleitet. Die Hilfsmittel aber, über die man verfügte, waren mehr als kümmerlich, und der Geheimrat murmelte ein ärgerliches: »Unfug!« nach dem andern. Länger als zwei Stunden waren sie hin und her gegangen, da trat der Minister vor seinen Mitarbeiter: »Jetzt bitte ein summarisches Urteil. Möglich oder nicht möglich?«

»Selbstverständlich möglich, aber –«

»Aber?«

»Erstens ist die Rinne nicht nötig. Die kann man sich also sparen. Zweitens hat die Mauer nur dann wirklich Wert, wenn wir sie aus Beton herstellen und im gewachsenen Fels verankern. Jetzt ist sie ein kümmerlicher Behelf. Drittens wird es sich nach einer ganz oberflächlichen Schätzung um rund zehntausend Kubikmeter Fels handeln, der weg muß, und dafür –«

»Hier spielt, wenn ich mich recht erinnere, vielleicht das zweite Projekt mit herein. Wenn nicht, würde man trotzdem über die Kosten hinwegkommen müssen. Und weiter?«

»Ja, wenn die Felsnase weg ist, dann – muß die Lawine allerdings dort hinab.« Der Geheimrat wies nach der Acheschlucht.

»Herr Bürgermeister –« Der stand am Rande der kleinen Plattform, unter sich die steinerne Leiter, wandte sich jäh zurück: »Jesus! Die Buben kommen!« wandte sich wieder, schrie hinab: »Zurück, Buben!«

»Nein,« schallte es von unten herauf, »wir kommen!« Der Moosbacher warf sich über einen großen Stein und umklammerte ihn mit beiden Armen. »Zurück!« Der Minister stand neben ihm und sah hinab in die wilden Gesichter der Burschen, die, einer hinter dem anderen, heranstiegen. »Mus machen wir aus den Stadtleuten,« brüllten sie aus der Tiefe herauf. »Umsiedeln! Gleich werden's zum Teifi umgesiedelt sein! Holen tun wir sie!«

Keuchend schon der Bürgermeister den Stein an den Rand der Rinne. »Zurück!«

»Nein! Her mit der Bagage!«

»Zurück, Buben! Um Jesu Christi willen!«

»Nein! Gleich ist's geschafft!«

»Zurück! Oder – der Stein kommt!«

»Bist verrückt, Vater?« Die Heransteigenden stockten.

»Noch einen Schritt, Sepp, der Stein kommt, und hin seid's alle miteinander. Zurück! Gleich auf der Stelle! Um Jesu Christi willen!«

Langsam kehrten die vom Sepp Moosbacher angeführten Burschen zurück. Sein Versprechen, das er dem Loisl gegeben, hatte er gehalten. Er war gegangen, aber er hatte längst mit etlichen vereinbart gehabt, daß sie wiederkommen würden, und es war ihnen blutiger Ernst. Der Bürgermeister lag keuchend, als wäre er hingeschmettert worden, über dem Stein.

»Bürgermeister!« Der Minister rüttelte den Moosbacher am Arme. »Bürgermeister!«

Der wandte ihm sein aschfahles, verstörtes Gesicht zu. »Mein Sepp war vorn dran, mein Kleiner! – Herr Minister, sie können halt ihr Heimatl nicht hergeben.«

»Stehn Sie auf. – Morgen um zehn erwarte ich die Gemeindevertretung vollzählig auf der Stockalm. Wir wollen dort übernachten, der Huber hat's richten lassen. Sie brauchen Ihrer Sicherheit wegen keine Sorge zu haben, Herr Geheimrat. Das werden der Sepp und der Bürgermeister regeln. Den Bengel nehmen Sie sich vor, Bürgermeister.«

Ernst saß indes der Loisl in seiner Werkstatt. Er wußte nichts davon, daß sich die Buben hinter seinem Rücken zusammengeschart hatten.

Die Zenzi rechts, den Geheimrat links, saß der Minister schweigend bis in die Nacht hinein auf der Bank vor der Almhütte. Majestätisch standen die Berge, dumpf polterte es an den Hängen, rot leuchteten im Sonnenuntergang die Firne, und – drunten bangte St. Thomas um sein Schicksal.

Der Morgen war herrlich. Mit der Sonne stand der Minister auf, setzte sich wieder vor die Hütte, und die Zenzi tat ihm zulieb, was sie ihm tun konnte. Er war ernst und doch gut gelaunt und neckte die Zenzi.

Die fragte ihn, was denn nun wohl mit dem Loisl, der doch der Anführer gewesen sei, geschehen werde.

»Ja, Zenzi, was soll denn mit dem weiter geschehen? Ins Zuchthaus kommt er halt.«

Weinend umklammerte die Dirn des Ministers Hand. »Nein, Herr Minister Doktor, nein, wo er –«

»Mich doch von der Wand geholt hat?«

»Das müssen's nicht sagen. Deswegen hat ja der Loisl nicht geschrieben.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Er hat doch gesagt: Wenn ich jetzt schreib, dann denkt der Herr Minister Doktor – –«

»Es wäre wegen damals? Ach so.«

»Ja. Und deswegen –«

»Hat er lieber den Unsinn angefangen.«

»Das ist kein Unsinn, das ist richtig.«

»So. Das weißt du? Zehntausend Kubikmeter Fels wegschießen wollen!«

»Ach Gott, Herr Minister Doktor!«

»Du würdest am Ende den Buben aus dem Zuchthaus holen, was?«

»Ja, ja. Wann's sein müßt.«

»Hm. – Was geht dich denn überhaupt der Loisl an?«

Da warf die Zenzi weinend den Kopf auf den Tisch. »Dafür kann man nichts!«

»So, so. – Ich hör den Herrn Geheimrat kommen. Schaff dem was zu essen und laß uns allein.«

Der Geheimrat hatte gegessen, sie besprachen noch einmal die Möglichkeiten. Es war nicht nur möglich, die Lawine abzulenken, sondern man wollte auch ernsthaft dem Plan des Straßenbaues nähertreten. Die Straße würde ein unerhört kühnes Werk werden und hatte, wenn sie durchgeführt ward, in der Welt kaum ein Seitenstück. Sie entriß zwar St. Thomas seiner Einsamkeit, schuf aber für Tausende und aber Tausende die Möglichkeit, in eine Welt hinabzutauchen, in die sie ihre Füße nicht mehr trugen, die Augen vollzutrinken einer Herrlichkeit, die dem, der sie in sich hatte, selbst den Weg über Niederungen zu einem Höhenwege machte.

Es war eine ernste Stunde. Der Minister nahm das Glas, sah hinüber nach den Bischkopfwänden, reichte es dem Geheimrat. »Suchen Sie mal, reichlich hundert Meter unter dem Gipfel, die brettartige Wand rechts. Sie ist jetzt noch vereist. Haben Sie sie? Ich war von unten hinaufgestiegen, und dort an der Wand hing ich vier Stunden lang.« – »Herr Minister!«

Der lächelte. »Jeder nach seinem Geschmack, Herr Geheimrat. Ich bin viel, sehr viel in den Bergen und zwischen den Felsen herumgeklettert und darf mir schon etwas zutrauen. Diesmal hatte ich mich überschätzt, obwohl ich Schwereres hinter mir habe. Die Berge sind mein Jungbrunnen. Sie fordern alles und geben alles. Wenn irgendwo die Schlacken abfallen, dann in dieser Erhabenheit. Wenn man sich irgendwo in sich selber zurückschraubt, dann vor dieser Wucht und Größe, und wenn einem andererseits irgendwo ein herrliches Kraft- und Siegergefühl erwächst, dann hier in dem Augenblicke, in dem man eine unersteigbar scheinende Felswand überwunden, einen Berg erklommen hat auf Pfaden, die nicht jedem gangbar sind, und glücklich wieder herunter gekommen ist. Die Berge verlangen Männer und lohnen Männern. Es ist wahr, daß in den Bergen die Freiheit wohnt, es wohnt aber noch etwas anderes da, die Ehrlichkeit. Es geht ehrlich zu, und wenn auch mancher Fels sich anders gibt, als er zu sein schien, so liegt das nicht an ihm, sondern am Menschen, der von einer falschen Voraussetzung ausging. Der Fels trügt an sich nicht, aber der Mensch unterläßt etwas, wenn er nicht von vornherein der Vergänglichkeit Rechnung trägt. Schön ist es, in guter Gemeinschaft zu wandern, und oft ist es unerläßlich, am schwersten und zugleich am schönsten aber ist es, allein zu gehn und zu schweigen.«

Der Minister strich sich über die Stirn. »Ich überschätze die Bergler nichts aber einen Sepp Huber, einen Fabian, einen Brunner und auch einen Alois Schirmer machen wir ihnen drunten nicht so leicht nach. Dafür kann man dann schon ein Lümpchen, wie den Oberlechner, oder einen verstiegenen Brausekopf, wie den Sepp Moosbacher, in Kauf nehmen. Das regelt sich auf natürliche Weise von selbst. Das Geschrei vom ›Heimatl‹ nehme ich nicht so sehr ernst, soweit es sich um das junge Volk handelt, – das war gestern ebensoviel Trotz gegen die Stadtleute im Ganzen als Heimatliebe, – aber auch das junge Volk wächst mit der Zeit in eine wirkliche Heimatliebe hinein, und etlichen wird sie dann so bewußt, wie sie heute denen in St. Thomas bewußt ist, die ich nannte. Es wird niemals eine Herde sein, genügt aber, daß der Sauerteig da ist. Um derer willen, nicht darum, weil mich der Alois Schirmer von der Wand herunterholte, bin ich verpflichtet, St. Thomas zu erhalten, wenn es möglich ist, und wäre im gleichen Falle gegenüber jedem anderen Orte ebenso verpflichtet. Dies ringende, schlichte, starke und harte Menschentum muß erhalten werden, und wenn wir von ihm aus auch nur Tropfen hinab in die Niederungs-Menschheit erhalten, so wiegt doch jeder Tropfen einen Eimer auf, der uns von dorther zuströmt. Darum beide Hände über Menschen, die in sich heute noch mehr harte, unberechnende Natur als weichliche, berechnende Zivilisation verkörpern. – Die Herren der Kommission haben seinerzeit weniger übersehn, daß man St. Thomas zu erhalten vermag, wenn man zehntausend Kubikmeter Stein wegsprengt, als es, Einsatz und Gewinn vergleichend, um des scheinbaren Mißverhältnisses willen, aus der Erörterung ausgeschaltet. Der Alois Schirmer hat es, ich muß schon sagen gefühlsmäßig, erkannt und eingeschaltet, weil – ihm das Geld nicht im Wege stand. Das ist der Unterschied zwischen uns und den Menschen hier. Wir Leute des Büros und der Gesetze sehn Buchstaben, die andern Leben. – Schau, da hätten wir ja den Hauptsünder.«

Der Loisl kam über die Alm daher und pflanzte sich vor dem Minister auf.

»Grüß! Und da bin ich.«

»Das sehe ich, daß du da bist, und was willst du?«

»Leicht, daß der Herr Minister was von mir will. – Ich bin doch der

»Welcher der?« Die Zenzi kam gesprungen und stellte sich neben den Loisl. »Was willst du, Zenzi?« wehrte der Minister ab. »Ich mein, ich hätt's bloß mit dem Loisl zu tun.«

Die Zenzi schüttelte den Kopf. »Nein, Herr Minister Doktor. Wo der Loisl steht, da steht jetzt auch die Zenzi.«

»Schau einer an. Also gehst auch mit ins Zuchthaus?«

»Ja, wenn der Loisl dahin muß.«

»Na ja. Also, Loisl – Hm. – Sag mal, wo hast du denn deine Rettungsmedaille?«

»In der Tasche.«

»Ist sie dir so wenig wert?«

»Das nicht, aber ich hab halt gedacht –«

»Was denn?«

»Der Herr Minister sollt nicht dran denken, wie –«

»Ach so. Anstecken! – Und jetzt sag mir, was du dir eigentlich gedacht hast. Hast du wirklich gemeint, ihr könntet den Felsen wegsprengen?« Der Loisl schwieg. »Na? Hast du das wirklich geglaubt?«

»Herr Minister, ja, das habe ich geglaubt! Ich hab nicht nach den Kubik gefragt, nicht nach blutigen Händen, nach nichts. Bloß nach St. Thomas. Aber da wär halt zweierlei –«

»Nämlich?«

»Das Dynamit wird alle. Und das andere: Ich hab – auf den Herrn Minister gerechnet.«

»Wieso auf mich?«

»Ich hab halt gedacht, der Herr Minister hört das schon, bald dahier geschossen wird, und wenn's durch ein Briefel ist.«

»Was? Wie?« Der Minister stutzte. »Und wenn's durch ein – Briefel ist? Schau an. Und weiter?«

»Und bald's der Herr Minister hört, nachher kommt er her. Fuchsteufelswild kommt er her.«

»Stimmt.«

»Aber nachher, ich müßt doch den Herrn Minister nicht kennen, – ist gleich alles gut.«

Der Minister sah seinen Geheimrat an. »Was sagen Sie nun, Herr Geheimrat? Hatten Sie das erwartet? – Lern einer die Naturkinder kennen – Loisl, du – Zenzi, sag's ihm, was er ist. Hast's ihm schon einmal gesagt.«

Die Zenzi lächelte verlegen und schoß es dann heraus: »Lieber Bub!«

Auch der Minister lachte. »Dagegen ist allerdings nichts zu machen. Wenn's so steht! – Da hock her, du – Lausbub! Die Gemeindevertreter kommen. Du, Zenzi, scherst dich wieder in die Hütte, bis du – vielleicht – gerufen wirst.«

Die Vertreter kamen, mitten unter ihnen, auf einem Pferde sitzend, das der Sepp führte, gebückt, weißhaarig, aber helläugig, Pfarrer Hornberger. Als letzter kam der Toni Oberlechner, hastig, frech und unsicher. Der Minister wandte sich zunächst an den Pfarrer. »Was führt Sie denn herauf, Hochwürden?«

»Bitten will ich. Für meine Gemeinde bitten, mit der ich nun vierzig Jahre Freude und Leid geteilt habe, und die ich in der Stunde der schwersten Entscheidung nicht allein lasse. – Herr Minister, wenn Sie jetzt Ihr Glas nehmen und hinabschauen wollten. Drunten steht ganz St. Thomas und harrt.«

»Auch die Burschen von gestern?«

»Auch die, Herr Minister. Ganz klein sind's, so klein, daß sie in ein Mausloch kriechen könnten. Tragen's doch das den dummen Buben nicht nach. Ich bitt'!«

» Die Bitte ist gewährt, Hochwürden. Mit der zweiten, die Sie auf dem Herzen haben, und die ich natürlich kenne, ist es eine andere Sache. Ist die Erhaltung von St. Thomas möglich, bedarf es keiner Bitte; denn dann haben wir unsere Pflicht zu erfüllen.«

»Ich mein doch des Geldes wegen.«

»Vor dem Gelde stehn die Menschen. – Ist es nicht möglich, die Lawine abzulenken oder wenigstens: Könnte ich es der Kosten wegen durchaus nicht verantworten, dann, Hochwürden, so leid es mir tut, das sagen zu müssen, könnte auch keine Bitte, einerlei, wer sie vorbrächte, etwas ändern. – Wir wollen uns setzen.«

Sie saßen. Der Minister legte seine Arme breit auf den Tisch, sah in die Runde, sah den Toni Oberlechner scharf an. »Sie sind, wie ich vermute, der Oberlechner, der mir den Brief geschrieben hat.«

»Ja,« sagte der Toni, »wenn's halt doch hat sein müssen.«

»Warum mußte es sein?«

»Weil's ein Schmarren ist mit der Arbeit droben.«

Schon wollte der Brunner auffahren. »Stad, Brunner,« wehrte der Minister ab. »So, also ein Schmarren. Darüber reden wir nachher weiter. – Wer hat die Sache finanziert?«

»Wir alle,« bekannte der Moosbacher.

»So. Alle. Sie also mit, Oberlechner?«

»Für Schmarren habe ich kein Geld.«

»Sehr vernünftig.« Der Minister sah wieder in die Runde. »Jetzt versteh ich nur eines nicht, und das möchte ich zunächst geklärt sehn. Heute schickt mir das Bezirksamt in Rauth einen Bericht, nach dem die Gemeindevertretung von St. Thomas mit sieben gegen zwei Stimmen die Umsiedelung beschlossen hat. Hier sind die Stimmzettel,« der Minister entnahm sie der Mappe, die neben ihm lag, »sieben gegen zwei. Ich freue mich und denke: Hat also doch da droben die Vernunft gesiegt. Zwei Tage drauf kommt der Brief des Oberlechner, nach dem bereits am Törle gesprengt wird, und daß Sie alle, die Sie da abgestimmt haben, und mindestens sieben haben doch mit Nein gestimmt, dahinterstehn, also mitmachen. Das ist mir zuviel der Rätsel, und dafür verlange ich zunächst eine Erklärung.«

Der Toni Oberlechner wollte losbelfern, aber der Sepp fuhr ihn an. »Du bist jetzt stad! Grad du. – Herr Minister, die Zettel, die Sie in der Hand haben, sind gefälscht. – Zenzi!« Er rief es nach der Hüttentür zu. Der Oberlechner sprang auf. »Was sagst da, Wirt? Gefälscht? Sakra! Eine Lüge ist's! Grad eine Lüge!«

»Warum bist denn mitten in der Abstimmung mit einem Male hinausgegangen?« fragte der Lieserer hämisch.

»Weil mich's Wasser drückt hat,« schrie ihn der Toni an.

»Schon lang hat's mich drückt gehabt. – Was soll die Dirn? Soll die leicht gefragt werden?«

»Oberlechner,« sagte der Minister schneidend, »die Sache sieht sonderbar aus. Zunächst lassen Sie Ihr Schreien.«

»Ich brüll, wie ich mag. Die Dirn da, das weiß ich eh schon, lügt, was ihr Vater von ihr haben will.« Da rissen der Siebenlehner und der Zweigler den Toni, der zu toben begann, zurück auf die Bank und hielten ihn fest.

»Sag's und zeig's dem Herrn Minister,« wandte sich der Sepp an die Zenzi. Die legte sieben zerknüllte Zettel auf den Tisch und berichtete. Begierig neigten sich die Männer über den Tisch. »Ja, das ist meine Schrift! – Das habe ich geschrieben!«

»Nicht wahr ist's,« brüllte der Toni, schäumte und wollte sich losreißen.

Da sah ihn der Lieserer wiederum höhnisch an. »Jetzt, da es aufs Ausräumen zugeht: Ich hab's gewußt, daß er einen Lumpenstreich vorhat.«

Er erzählte, wie ihn der Toni unterwiesen, den unsinnigen Lärm zu machen, um die Männer abzulenken, daß er aber trotzdem bei dem Stimmzettel des Gerges beobachtet habe, wie ihn der Toni vertauschte.

Da schlug der Toni den Kopf auf den Tisch und heulte. »Umgebracht soll ich werden, weil ich das Meiste hab', und das gönnen sie mir nicht. Grad umgebracht soll ich werden!«

»Der Mann geht,« entschied der Minister. »Lassen Sie ihn los!«

Es geschah, und der Toni lag binnen Ja und Nein vor des Ministers Füßen. »Ich hab doch in Leirach gekauft, und wenn jetzt nicht umgesiedelt wird, nachher bin ich bankrott!«

»Das genügt nicht. Es wird noch einiges mehr folgen,« sagte der Minister. »Ab! Huber, bringen Sie den Lumpen fort!«

Da sprang der Toni auf: »Ich erschieß mich! Ich erschieß mich!« und rannte über die Alm. Den Pfarrer, der ihm nach wollte, hielt der Minister zurück. »Bleiben Sie ruhig sitzen, Hochwürden. Er tut's nicht.«

»Er ist doch auch mein Beichtkind!« jammerte der Pfarrer.

»Das ändert nichts. Im übrigen, Hochwürden, halte ich dafür, daß göttliches und menschliches Gesetz keine Widersprüche sein dürfen. Die göttliche Strafe,« – der Minister zuckte die Achseln, »– befinden Sie darüber. Über die irdische entscheidet das Gesetz. – Also alle neun Stimmen nein. Das gibt der Sache allerdings ein ander Gesicht. – Zenzi, bleib da, du kommst auch noch dran.« Sie wollte in die Hütte zurückkehren. »St. Thomas wird nicht umgesiedelt. Der Weg, den Ihnen der Alois Schirmer gezeigt, ist gangbar, und, ich will das gleich noch sagen: Was da droben geleistet worden ist, nötigt uns, den Herrn Geheimrat und mich, den Hut vor Ihnen abzunehmen, obwohl gegen das Gesetz verstoßen ward, und Sie mit den Ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zum Ziele gekommen wären. Der Alois Schirmer hat Ihr St. Thomas gerettet.«

»Loisl,« sagte der Pfarrer mit tränenschwerer Stimme und umarmte ihn. »Loisl! Mein Bub!«

»Aber ein bissel ist er auch meiner,« sagte der Sepp lachend.

»Gut,« auch der Minister lächelte. »Die grundsätzliche Entscheidung haben Sie gehört. St. Thomas bleibt, die Lawine wird abgelenkt. Die Einzelmaßnahmen werden durch die Sachbearbeiter erledigt werden. Jedes Wort darüber ist heute müßig. Es werden Opfer von Ihnen gefordert werden, keine kleinen, aber auch keine unaufbringlichen. Ich denke, damit sind Sie einverstanden.«

»Ja.« Etliche der Männer fuhren nach den Augen.

Pfarrer Hornberger ergriff des Ministers Hand. »Herr Minister! Herr –«

»Einen Augenblick, Hochwürden. Sie kommen gleich dran. – Zenzi, ich hab deinen Smaragden wieder mitgebracht. Nimmst du ihn an, obwohl er vom Loisl ist?«

»Ja,« die Zenzi glühte über und über.

Der Minister reichte ihr ein Kästchen, das er geöffnet hatte. Darin lag eine Nadel, schlicht und schön, in deren Mitte der Smaragd glänzte. Er wandte sich an den Loisl. »Komm her! – Huber, ich hab mehrfach einen Vogel pfeifen hören.«

»Ich nicht. Vor mir hat er noch nicht gepfiffen.«

»Weil ich's mir halt nicht getraut hab,« bekannte der Loisl, der begriff, worauf der Minister hinauswollte, ungestüm.

»Eben. Weil du halt ein Traumichnicht bist und bleibst.«

»Wirtsvater!«

»Bub, willst denn nicht endlich einmal den Wirt weglassen?«

»Vater!«

»Der Sepp legte dem Loisl beide Hände auf die Schultern. »Loisl, – ich hab schon vor fünfzehn Jahren an den Tag gedacht, die Mutter auch, ich weiß es. Es war dir manches nicht recht, das ich verlangte, aber es mußte sein, weil – sonst der Tag, an dem ich dich sehn wollte, wie ich dich heute sehe, nicht hätte kommen können. So gut es ist, daß dir der Gedanke mit der Lawine kam, mit meiner Zenzi hat er nichts zu tun. Hätt'st sie nunmehr auch ohne das gekriegt, du – Traumichnicht! Aber immer noch besser als ein: Traumichalles.«

»Brav, Huber,« sagte der Minister und reichte dem Sepp die Hand. »Hochwürden –«

Aber Hochwürden war nicht mehr da. Der stand mitten auf der Alm, winkte mit seinem großen roten Taschentuche wild in das Tal hinab und schrie aufgeregt: »Da läut's doch! Herrgott, da läut's doch! St. Thomas bleibt ja!«

Leise trug der Wind das Glockenläuten herauf, und laut krachten dazwischen Böllerschüsse.

»Ohne Schießen geht's nun einmal nicht,« sagte der Minister leise und lächelnd zu seinem Geheimrat.

Der Pfarrer aber kniete mitten auf der Alm, und langsam entblößten auch die Männer vor der Hütte ihre Häupter.

 


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