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1.

Der Pfarrer Paul Matthias Hornberger hatte eben in das Kirchenbuch der kleinen Berggemeinde St. Thomas eingetragen, daß in letzter Nacht die ehrengeachtete Witwe des Alois Schirmer, Maria Walpurga Schirmer, geborene Rix, infolge einer bösartigen Entzündung des rechten Armes, welche auf den ganzen Leib übergegriffen, in Gegenwart und unter den Händen des Wirtes und Bauern Josef Huber und seiner Ehefrau Anna Huber, die sich der Kranken in christlichem Erbarmen angenommen, nach Gottes Willen selig entschlafen sei. Langsam legte er die Feder vor sich hin. »Selig entschlafen.« Wohl, aber man hätte dazu schreiben müssen: Unter großen Schmerzen und vieler Herzensangst, lautem Klagen und erschütterndem Bangen um ihres Buben willen. So hatte es der Wirt erzählt, und wer könnte das nicht verstehn? Sie ist ein blutarmes, geschlagenes Weib gewesen, die Maria Walpurga. Blutarm und geschlagen wie so viele in St. Thomas. Matthias Hornberger selber. Er ist erst reichlich fünfzig, aber wie sieht er aus? Als Hornberger vor fast dreißig Jahren nach St. Thomas kam, war die Maria ein kleines lachendes Mädel mit blauen Augen und einem braunen Lockenköpfchen. Dann ward sie ein blühendes Dirnlein, die Schönste in St. Thomas, und ihre Augen blieben so rein, wie sie in den Kinderjahren gewesen waren. Hernach heiratete sie den Alois Schirmer, und nach zwei Jahren ward der Loisl geboren, der vor reichlich drei Wochen zwölf Jahr geworden ist. Aber was hat das arme Weib in den Jahren, deren Zahl doch so klein ist, alles hinter sich bringen müssen! Eine vaterlose Halbwaise ist sie gewesen, seit sie Hornberger kannte. Kurz nachdem sie sich mit dem Alois versprochen, ward sie zur Vollwaise. Auch die Mutter starb. Seit vier Jahren ist sie Witwe. Der Mann ist bei der Treibjagd abgestürzt und hat das Genick gebrochen. Immer ist sie tapfer gewesen und fleißig und fromm. Und nun hat sie von ihrem Loisl fortgemußt und liegt tot und steif und kalt auf dem Brette. Mit reichlich dreißig Jahren! Was ist denn die bösartige Entzündung des rechten Armes gewesen? Eine Blutvergiftung. Beim Bürgermeister Oberlechner, bei dem sie nahezu, wenigstens den Winter über, um einen Gotteslohn arbeitete, hat sie sich an einem rostigen Nagel gerissen, und die Hand ist angeschwollen und hat ihr große Schmerzen bereitet. Als sie aber den Oberlechner gebeten, sie auf dem Schlitten zum Doktor nach Rauth zu fahren, weil sie bei dem vielen Schnee nicht durchkommen konnte, außerdem schon arg das Fieber hatte, hat der es ihr rundweg abgeschlagen. Um eine lumpige geschwollene Hand zöge er bei dem Wetter kein Roß aus dem Stalle. Sie solle Spinnweben auflegen, dann sei es binnen Ja und Nein wieder gut. Er wolle aber ein übriges tun, rein um Christi willen; denn verpflichtet sei er zu nichts. Obwohl die Maria Walpurga als Arbeitskraft ausscheide, möge sie sich, solange die Sache dauere, das Essen für sich und den Loisl vom Hofe holen. Rein um Christi willen und nur, solange sie wirklich nicht arbeiten könne. Nur so lange! Denn die Faulheit großzuziehn, dazu sei der Bürgermeister nicht da. Einmal hat die Walpurga das Essen selber geholt und hat es mit Tränen gesalzen, zweimal noch hat sie den Loisl geschickt, selber aber keinen Bissen davon essen können, und nun – braucht sie nichts mehr. – Nach – Gottes Willen?

Wo die Dreitausender die Lawinen herabschicken, die Wasser donnern und der Sturmwind die Wälder zerreißt, da hat Gott ein ander Gesicht als da, wo die Straßen tischeben und fest wie Marmorstein sind. Dies Gesicht glauben die Leute, die im Sommer dann und wann von draußen heraufkommen, zu sehn und zu verstehn, wenn die Almen grünen, die Prunellen duften, das Edelweiß am Felsen träumt. Erholung, heißt es, suchen sie. Wovon? Von ihrer Arbeit? Matthias Hornberger meint, es wäre wohl richtiger, zu sagen: Von ihrem Vergnügen. Dabei begegnet mancher dem Herrgott, das ist wahr. Sie sehen aber nur sein lächelndes Altvatergesicht, nicht sein ernstes, forderndes Mannesauge, das die Menschen in Kampf und Not schickt.

Und doch ist er gut, der die Berge gründete, Welten baut und zerschlägt, und man muß ihm vielleicht am meisten für Dinge danken, die man eigentlich als Mängel bedauern müßte. Ist das nicht sonderbar? Anstatt für Tugend und Größe für Mängel und Schwächen danken? Da lebt zuerst einmal eine so tiefe Heimatliebe in den Menschen des Hochtales, daß der nüchterne, rechnende Verstand sie engherzig, verrannt, kurzsichtig nennen müßte, hätte er überhaupt etwas in diesen Dingen zu sagen. Aber er hat nichts zu sagen. Hier, im Hochtale vor den Dreitausendern, regiert nur das Herz. Das empfindet zwar alle Not und Mühsal, Armut und Entbehrung, Abgeschiedenheit und Gefahr, bleibt aber bei seinem: Trotzdem! Das jedoch wiederum nichts mit Trotz zu tun hat. Dann ist zum anderen eine halb kindlich-schuldlose, halb sehr unkindliche und sündhafte Art, das Leben zu »genießen«, um deretwillen in Hornberger der Mensch und der Pfarrer so oft in hartem Widerstreit liegen. Ihr Menschen, die ihr mir all eure Not anvertraut, was seid ihr doch für Kinder!

Wer aber will junges Blut richten? Pfarrer Hornberger kann es nicht; denn es ist das ewig sich wiederholende Schicksal, das mit dem ersten Menschenpaar begann und erst mit dem letzten enden wird. Er hat sich seine eigene Weisheit zurechtgelegt, der Pfarrer. Über das, was das Herz sündigt, brich nicht den Stab. Über dem jedoch, was der eigensüchtige, lügnerische Kopf sündigt, da brich den Stab mitten entzwei.

Aber, aber! Da ist zum Beispiel der Bürgermeister Oberlechner. Er ist der Reichste unter Armen. Der Mann hat an die fünfzig Tagewerke im Tal, hat den größten Viehstand, hat aber eines nicht: Herz. So hat er manches Witwen- und Waisengut an sich gerissen – unter dem Schutze des Gesetzes zwar; denn es ging nach dem Buchstaben alles in Ordnung, aber wider alle Menschlichkeit. Und so liegt hier der Fall vor, daß das Gesetz ja sagt, das fühlende Herz jedoch ein Nein schreit.

Aber es ist merkwürdig. In der dritten Generation steht das Geschlecht der Oberlechner auf zwei Augen, im dritten Geschlecht hat jeder Oberlechner das rechte Auge verloren, im dritten ist einer äußerlich und innerlich dem anderen gleich bis aufs Tüpfelchen, ersteht immer der Gewesene im Kommenden. Christoph Oberlechner, dem Großvater, hatte ein Stier das rechte Auge ausgestoßen. Johann, der jetzige Bürgermeister, hat es schon als Kind in der Wiege durch eine Krankheit verloren, Anton, der einzige Sohn und Erbe, durch einen Unglücksfall, den er im Alter von neun Jahren selber verschuldete. Johann, der Vater, hat damals geflucht, gebetet, getobt und gejammert, ist mit dem Jungen von einem Arzt zum andern gefahren, das Auge war weg. Der dritte! Und der dritte, er ist jetzt achtzehn Jahre, ist äußerlich und wird fraglos auch innerlich wie der erste, den Hornberger kennenlernte, war und der zweite ist. Große, langsame, wuchtige Männer mit niedriger Stirn, strähnigem Haar, hartem Gesicht und hartem Herzen.

Wenn man so ins Sinnieren kommt! Eigentlich ist es so, daß man nicht hinein kommt, sondern immer darin ist. Es kann gar nicht anders sein, wenn eine herrliche und zugleich furchtbare, schöne und zugleich schauerliche Natur die Wesensart der Tage, der Monde, der Jahre bestimmt, dem Menschen gewiß viel in die Hand gegeben ist, noch viel mehr aber auf ihn zukommt, vor dem er ohnmächtig dasteht.

Hornberger, der in sich zusammengesunken war, richtet sich halb auf. Der Ausgang!? Wovon bin ich eigentlich ausgegangen? Richtig. Maria Walpurga Schirmer! Ein Menschenschicksal. Warum so hart? Den anderen zur Lehre, damit sie ihre eigene Zeit besser auskaufen? Sie kaufen sie ja im Sommer aus mit harter Arbeit und saurem Fleiß vom Morgen bis in die Nacht an den Hängen, an den Graten, den Steilwänden und den Wildwassern. Was willst du noch mehr, Matthias Hornberger? Mehr Betens? Arbeit und Entsagung sind nicht die schlechtesten Gebete. Mehr Liebe untereinander? In der Natur gibt es kein Liebhaben. Es gibt eine Fürsorge zur Erhaltung der Art, aber keine Liebe. Die Menschen von St. Thomas sind Natur, die heute jauchzt und morgen grollt, heute ihre heißen Tänze tanzt und morgen bangt vor der furchtbaren Lawine vom Törle her, die wandert und nun bald wieder fallen muß. Von Liebe untereinander wissen sie nichts, aber daß die Wildheuer zum Beispiel die Gefahr miteinander teilen, ist ihnen ebenso selbstverständlich, wie daß sie in den Häusern alle aus einer Schüssel essen. Braucht es da das Wort: Liebe? Gib dich zufrieden, Hornberger. Aber – da ist der Loisl Schirmer, der nun eine Vollwaise ist. Was wird mit dem? Der Wirt müßte ihn nehmen, der Huber Sepp. Der Loisl wäre ein guter und rechter Spielkamerad für der Wirtsleute sechsjähriges einziges Kind, die Zenzi, und die Huberleute wären dem Loisl rechte Eltern.

Hornberger schnellt auf und läuft spornstreichs zum Wirt. Es liegt viel, viel Schnee. Die Stadel draußen sind bis an die Dächer eingeschneit, aber die Dorfstraße ist gut ausgeschaufelt. Der Wirt hat zugleich einen Kramladen. Darin hantiert er, als der Pfarrer mit einem »Grüß Gott!« zur Tür hereinschießt.

»Grüß Gott!« gibt der Huber Sepp zurück und lupft dabei die Mütze. Er ist ein großer, schlanker Mann mit einem hageren Gesicht. Es ist nicht weich, sondern kantig und ein wenig streng, aber in den Augen scheint gern ein Schalk sein Wesen zu treiben.

»Huber«, der Pfarrer ist ein bißchen kurzatmig, »die Maria Walpurga – –«

»Ja, Hochwürden. Hätte es wohl besser verdient, das arme Leut.«

»In des Herrgotts Armen ruht sich's am besten.«

»Schon, wenn – die Zeit dazu da ist.«

»Die ist immer da.«

»Mir will's anders scheinen.«

»Das ist falsch, Huber, und das fällt auf mich.«

Der Wirt lächelt. »Ein Viertel davon vielleicht oder auch bloß ein kleines Achtel. Ich weiß es nicht.«

»Wieso?«

»Da wäre halt noch der Schullehrer.«

»Ja, aber das ist lange her.«

»Dann wär ich selber da, dann mein Weib, die Anna, hernach die Zenzi, die Gemeinde, der Oberlechner, das Steueramt und zuletzt erst Sie, Hochwürden.«

»Die Reihenfolge ist falsch. Ich gehöre an den Anfang. Aber – was wird mit dem Loisl?«

»Was wird, weiß ich nicht. Was ist, weiß ich. Er ist draußen in der Küche, läßt es sich schmecken, und die Zenzi hilft ihm dabei.«

»Er ist ein kluger Bub.«

»Ja, Hochwürden. Wohl derzeit der Klügste in der Schule, wie der Lehrer sagt.«

»Und ein guter und hübscher Bub.«

»Auf und ab wie die Mutter war, aber ich denke, halt auch ein bißchen trotzig, so, wie einer sein muß, der einmal etwas aus sich machen will. Ich meine, ich seh's an seinen Augen.«

»Ihr könnt recht haben, Huber, und dann wäre er bei Euch am besten aufgehoben, und deswegen komme ich.«

»Das ist gefehlt, Hochwürden.«

Hornberger verzog das Gesicht. »Gefehlt? Wieso? Habt Ihr und die Huberin an der Maria Walpurga ein christlich Werk getan oder nicht?«

»Wir haben halt getan, was die Walpurga auch an uns getan hätte, wenn's hätt sein müssen.«

»Redet nicht drum herum, Sepp, sondern tut Euer Werk ganz. – Ich – bitte Euch!«

»Wär nicht nötig, wenn's sein könnte und sein dürfte.«

»Wieso kann es nicht sein?«

»Sie wissen, wie es mit meiner Anna steht. Seit sie die Zenzi auf die Welt gebracht hat, ist sie bresthaft. Alle ihre Gesundheit hat sie dem Kinde mitgegeben. Ich denk, ich hab sie bloß noch vom Herrgott für eine Weile geborgt. Wenn sie aber einmal stirbt – mag's noch recht lange dauern bis dahin – ich – heirate nicht wieder. Was wär dann mit dem Loisl?«

»Huber, so redet man nicht von einem Menschen, der lebt, zumal nicht von seinem Weibe.«

»Hochwürden, ich wollte es gern nicht tun, aber was will ich machen, wenn es doch sein muß? Wie war denn das mit der Maria Walpurga? Die war gesund und –?

»Freilich, freilich. Aber, Huber, wenn – dann nicht wieder heiraten? Ihr seid noch kein alter Mann. Ach was! Die Anna lebt und wird gesund werden.«

»Wieviel Jahre beten Sie denn schon, Hochwürden, daß die Lawine vom Törle nicht weiter auf St. Thomas zurückt? Und –?«

»Sie kommt immer näher. Aber ich lasse das Bitten trotzdem nicht.«

»Ich auch nicht, aber ich stell mich ein, wie sich Euer Hochwürden auf die Lawine einstellen. Es – kommt! Auch wenn es mir nicht zwei Doktoren gesagt hätten, wüßte ich's von mir selber. Ich kann nichts tun, als es ihr so leicht und so gut machen, wie ich vermag; denn sie verdient es. Sechs Jahre schon und vielleicht noch fünf oder zehn Jahre, Gott gebe es, hab ich sie. Und wie habe ich sie? Alle Tage in Angst und – Dank. Das aber, Hochwürden, – ich bitt um Verzeihung, – wenn der Herrgott selber zwei Hände so ineinander legt, so in aller Not und – halt, daß eine die andere förmlich Tag und Nacht nicht losläßt, das ist immer noch mehr, als –«

»Wenn ich es tue. Ich bin nicht böse, Huber.«

»Und dann kann man nicht ein zweites Mal heiraten. Ich wenigstens nicht.«

»Was hat das mit dem Loisl zu tun?«

»Er hätte keine Mutter.«

»Dann – müßt halt eine Hauserin her, wenn – Ich mag's nicht wieder sagen.«

»Das wohl, Hochwürden, aber eine Hauserin ist, auch wenn es ganz gut geht, doch nicht mehr als eine Stiefmutter. – Nein, es kann nicht sein, und es darf nicht sein.«

»Durch Euer ›Kann‹, Sepp, bin ich nicht überwunden. Da ließe sich noch viel sagen. Und das ›Darf‹?«

»Hochwürden, meine Anna war immer gut. Seit sie bresthaft ist, ist sie zu gut.«

»Niemand kann zu gut sein.«

»Vor dem Herrgott nicht, wohl aber vor den Menschen. Hochwürden, mein Weib kennt kein Bösesein mehr.«

»Sollen wir auch nicht kennen.«

»Das wäre gefehlt, arg gefehlt. Die Zenzi ist ein Unband, wenn – sie will, und ich hab ihr erst gestern wieder das Röcklein ausgeklopft, aber ich muß es heimlich tun, daß es die Anna nicht gewahr wird. Die Zenzi ist klein, ist ein Dirnlein und wird als unsere Einzige einmal so viel haben, daß sie ihre Füße nicht unter fremde Tische stecken muß. Es ist zudem auch so viel Gutsein in ihr, daß ich meinen darf, es wird auch gut gehn, obwohl sie ihre Mutter arg verwöhnt. Aber der Bub! Ein rechter Bub muß wild sein. Damit käm die Anna nicht mehr zurecht. Es tät ihr weh. Er muß seine Streiche machen und seine Schläge kriegen. Soll ich das wieder heimlich tun? Es wär doch nicht zu verbergen. Und dann? Nimmt ihn die Anna in die Arme und verdirbt den Jungen, wenn sie's auch ganz und gar nicht will. Hochwürden, ich sagt, ich sähe einen Trotz in des Buben Augen. Den seh ich, aber ich sehe doch noch viel mehr Weichsein.«

»Von seiner Mutter her, Huber.«

»Wohl, aber was ist denn sonst von Vater und Mutter her für ihn da? Ein Hüttlein, vier Ziegen, ein bissel Bergheu, etliche Reihen Kleinholz und ein bissel armer Hausrat. Die Ziegen will ich übernehmen und dem Loisl gutschreiben. Zu dem andern will ich schaun, bis der Bub selber sagen kann, was damit werden soll. Aber – wenn einer einmal ganz auf sich selber stehn muß, dann ist es der Loisl, das Armeleutkind! Wenn einer etwas Rechtes aus sich machen muß, weil er das Zeug dazu hat, – ich mein's wenigstens so zu sehn, – dann wieder der Loisl.«

»Aber ein Kind muß geführt werden und muß Liebe haben.«

»Hochwürden, darin soll es, was an mir liegt, nicht fehlen. Ich mein aber, daß ein Mensch leichter zurechtkommt, wenn es in seinen jungen Jahren vielleicht eine Zeitlang zu hart hergeht, – ein bissel Gutmeinen muß er natürlich daneben haben –, als wenn es zu weich und zu warm um ihn ist. Hochwürden, mein Weib sieht die Welt nimmer recht. Es tut ihr weh, wo nichts weh zu tun ist, sie weint, wo man auf den Tisch schlagen müßte. Hochwürden, der Bub muß durch eine harte Schule gehn, damit er so hart wird, wie er es braucht. Bei mir würde er verdorben. Ich könnt's nicht ändern, aber ich darf und ich mag's nicht zulassen.«

Hornberger nickte. »Daran ist was Wahres, Sepp. Nicht zu weich. Das taugt nichts.«

»Nicht nur in den Bergen nicht. Überall, wo Menschen sind.«

»Richtig, richtig, Sepp. Ich – weiß es. Das ›Darf‹ muß ich also gelten lassen, aber was wird nun? Unterkommen muß er.«

»Grade vorhin war der Oberlechner da.«

Hornberger sprang auf. »Doch nicht etwa zu dem? Das leid ich nicht.«

Huber lächelte. »Was haben Sie gegen den Bürgermeister?«

»Huber!«

»Also viel. Ja, wär's dann nicht gut, ihn anzuzeigen?«

»Wenn man nur könnt, aber –«

»Dann sind wir richtig, Hochwürden. Er ist ein Mann, dem keiner, der ihn kennt, eine Guttat nachsagen kann, und ist doch wer, weil er – reich ist.« Der Wirt sah den Pfarrer an. »Meinen Sie nicht, Hochwürden, daß das der rechte Platz für den Loisl wär?«

»Sepp!«

»Hochwürden, es ist mir blutiger Ernst.«

»Dann redet deutlicher.«

»Ich denk's mir halt so: Der Bub kommt zum Oberlechner. Nicht gleich. Er soll's erst noch ein bissel weich haben. Bis die Almen frei werden, verträgt er das wohl, ohne daß er gleich Schaden nimmt. Der Bürgermeister aber wird es zufrieden sein; denn er mag die unnützen Esser nicht leiden, und Arbeit hat er jetzt nicht für den Buben. Derweile bleibt er bei mir. Wenn die Almen frei sind, schickt ihn der Oberlechner mit den Schafen hinauf. So hat er mir gesagt.«

»Der Bub allein am Berge?«

»Ja, Hochwürden, grad er. Es wird nicht leicht für ihn sein, aber man muß es probieren. Er hat der guten Maria Walpurga ein bissel zu sehr an der Schürze gehangen. Von der muß er los und am besten gleich richtig.«

»Ist hart, Sepp, sehr hart.«

»Muß aber sein.«

»Und wenn ihn droben der Stein erschlägt?«

Der Wirt zuckte die Achseln. »Erschlägt er ihn halt, aber ich denke, er geht ihm aus dem Wege.«

»Und wenn sich ein Schaf versteigt?«

»Holt er es.«

»Und wenn er sich dabei das Genick bricht?«

»Hat er es sich halt gebrochen.«

»Das ist nicht Eure ehrliche Meinung, Huber.«

»Ja, Hochwürden.«

»Dann wäre der arme Bub allerdings schlecht bei Euch aufgehoben.«

»Schlechter als beim Oberlechner halt wohl. – Hochwürden, ich bin nicht hart, hab vielleicht gar ein bissel zuviel Herz, und vermein's dem Loisl gut, aber es muß sein, soll's was werden mit ihm. Er muß allein sein; denn er ist einmal allein, er muß seine Kräfte wagen; denn er hat einmal nichts weiter als die, und, Hochwürden, er muß an den Menschen frieren lernen, um einmal selber wärmen zu wollen und zu können. Hochwürden,« der Wirt war bitter ernst, »fürchtete ich mich nicht der Sünde, würde ich sagen, sie sei für ihren Buben grade zur rechten Zeit gestorben, die Maria Walpurga. Er wär nicht schlecht unter ihren Händen geworden, beileibe nicht, aber wahrscheinlich ein Traumichnicht, ein Rührmichnichtan und ein Rührnichtan. Und – das wäre schade um ihn. So mein ich's, Hochwürden, und jetzt, mein ich, sehn's die Sache mit dem Oberlechner so, wie ich sie sehe. Hab mir's lange und hin und her überlegt, zumal ich doch der Maria Walpurga auf dem Totenbett versprochen, zu ihrem Buben zu schaun, und – bin auf dem Oberlechner hängengeblieben, grad weil er ist, wie er ist. Der Bub soll nicht allein stehn. Wir halten die Hände über ihn. Kein Stein, aber hart soll er werden. Frieren soll er, aber nicht erfrieren. Und zu alledem braucht's den Oberlechner und – uns.«

Hornberger nahm des Wirtes Hand. »Muß Euch abbitten, Sepp.«

»Wär gefehlt. Weiß ja auch noch gar nicht, ob's gut ausgeht; denn der Bub ist einmal kein Bub mehr.«

»Ist mir an sich nicht bange um ihn. Aber, Sepp, wenn die Schule einmal gar zu hart wird, muß er heraus.«

»Dann reden wir wieder drüber, Hochwürden.«

Hornberger ging, der Wirt hantierte weiter. Die Wintersonne lag heiß und schwer auf den Bergen, und das Licht blitzte so scharf von den Bergen herüber, daß es ungeschützten Augen weh tat. Der Pfarrer ging langsam den Weiler hinan, hier gegrüßt, da grüßend, nach dem Schlegeli zu. Es war kein weiter Weg, kaum länger als zehn Minuten. Das Schlegeli war ein Vorposten von St. Thomas. Etliche Häuser standen da, teils im Tale, teils an den Hängen. Am weitesten gegen die Berge vorgeschoben war der Brunnerhof, der außer dem breiten Bauernhause etliche Nebengebäude hatte. Halb links vom Hofe, tiefer gelegen und St. Thomas näher gerückt, das verwaiste Häuslein der Schirmerleute mit zwei anderen. Gegenüber, drüben über der Talsohle, rechts vom Brunner, wohnte der Zwecker und von dem wieder rechts der Terobin. Der Zwecker war Schindelmacher, der Terobin ein kleiner Handelsmann, der selten daheim war.

Das war das Schlegeli, und hinter dem stiegen steil und gewaltig die Berge an. Vom Brunnerhofe rechts, nach Osten zu, waren die Kuppen gerundet, und keine ging über zweitausend Meter hinaus. Links war der Kamm wild gezackt, zerrissen und hoch. Im Sommer ragten die Geröllfelder weit herab, starr und wild drohten die Felsen, grell leuchteten die Gletscher, und nur die grünen Matten, die sich da wie Bänder hinzogen, dort wie breite Pinselstriche hingewischt waren, milderten die Wildheit der Wände. Als erster stand über St. Thomas das Törle. Spitz und steil stieg es von der schmalen Scharte links vom Kugler auf. Der Kugler war nicht gefährlich, aber das Törle war es. Jedes Jahr schickte es zwei Lawinenungeheuer herab, das eine um Weihnachten, das andere, wenn der Schnee im Tale bereits anfing, aper zu werden. Das erstere hatte bislang noch keinen Schaden angerichtet, das zweite dafür um so größeren. Halb links vom Schlegeli hatte vor Jahren noch ein anderer Ortsteil gestanden, der Schachen. Den hatten die Leute aufgeben müssen. Wenn die zweite Lawine vom Törle niederfuhr, dann benutzte sie die erste als Brücke, ritt über sie hinweg, und es kam dann darauf an, ob die Brücke länger oder kürzer war. War sie lang, dann endete die Fahrt da, wo der Schachen gestanden hatte, war sie kurz, hörte sie schon am Sambach auf. Unter der Scharte her kam die Ache aus einer wilden Schlucht, vereinigte aber erst hinter dem Schlegeli die vielen kleineren Wasser in sich, die von den Bergen und aus den Gründen strömten. Die Ache stürmte durch St. Thomas, hatte sich gegen Südwesten, da, wo die Erde kaum handbreit hoch lag, zwischen Blöcken, die nun wie Torhüter rechts und links standen, durchgewühlt und stürzte in drei Stufen ins Rauther Tal hinab. Links von den Fällen wand sich die Fahrstraße gleichfalls hinab nach Rauth. Es war eine schlechte, vielgewundene Straße, aber es wäre für St. Thomas unerschwinglich teuer gewesen, sie auszubauen, weil es zwischen Kuhhorn links und Säger rechts keine andere Möglichkeit gegeben hätte, als entweder den einen oder den anderen Felsen abzusprengen. Das Kuhhorn aber war an die hundert Meter hoch, der Sägerfelsen noch höher. So blieb der Weg, wie er gewesen war, seit sich kühne Männer in St. Thomas angesiedelt, nur daß er jedes Frühjahr nach der Schneeschmelze, manchmal auch im Sommer nach jähem Gewitterregen, wieder hergerichtet werden mußte. Die Sommerarbeit war gewöhnlich nicht schlimm; lang und schwer jedoch die Frühjahrsarbeit, denn während jeder Schneeschmelze polterten Felsbrocken rechts und links herab oder rutschte die Erde weg, so daß dann an solchen Stellen der Weg kaum noch eine Wagenspur breit war. Seit sie draußen eine Eisenbahn um die Bergkette, die vom Törle nach Westen geht, gebaut hatten, war der Weg von Rauth herauf verödet. Es gab aber eine Zeit, da waren schwerbeladene Wagen, sechs, acht Rosse davor, herauf geknarrt, hatte man in St. Thomas die Pferde gewechselt und die Wagen, das Törle links liegen lassend, über die Scharte hinab nach Daplang, jenseits des Gebirges, gefahren. Auch von Daplang her waren die Wagenzüge gegangen. Die Zeit der Wagen züge war schon lange vorüber. Keiner der heutigen Männer von St. Thomas hatte sie mehr erlebt. Seit aber die letzten Einzelwagen gefahren, war es noch keine fünfzehn Jahre her, und seit etwa fünf Jahren zog kaum noch ein Säumer über die Scharte. Wer wollte es den Leuten verdenken? Ungefährlich war der Weg niemals gewesen; denn der Stein war unberechenbar. Kein Mensch wußte, was an den Steilhängen locker geworden war, keiner, wann es fallen würde. Aber es fiel. In den Bergen poltert es immer. Meist erstirbt das Poltern im Gewände. Oft aber saust ein Stein, manchmal auch ein Block, einer Kanonenkugel gleich, herab, und dann ist es Zufall oder Gottes Wille, wenn er weder Mensch noch Tier trifft, sondern mit hohlem Heulen darüber hinweg in die Abgründe kracht. Der Weg nach Rauth wird offen und in Ordnung gehalten; denn was sollte werden, wenn St. Thomas gar keinen Anschluß an die Welt mehr hätte? Der Weg aber über die Scharte nach Daplang ist verfallen. Dazu hätte ein Jahr genügt, und es sind, seit der letzte Wagen hinüberfuhr, viele Jahre vergangen.

St. Thomas liegt in einem alten Seebecken. Da, wo heute seine Häuser stehen und seine Matten grünen, kräuselte der Wind einst die Wellen. Die Ache speiste den See, Wildwasser von rechts und links halfen ihr und füllten ihn, bis er schließlich gegen Westen hin überlief. Am Überlauf aber gaben Felsen und Erde nach, die Ablaufrinne ward tiefer und tiefer, so tief, daß eines Tages der ganze See ausgeronnen war. Nach dieser Zeit grub sich die Ache ihr heutiges tiefes Bett, und wenn sie nun auch zuweilen mächtig tobt, so ist sie doch ungefährlich. An ihr lautes Lied haben sich die Menschen ebenso gewöhnt wie an den Wechsel der Jahreszeiten. Es setzt selten ganz aus, schwillt nur, je nachdem, an und ab. Völlig schläft es zumeist auch im Winter nicht ein. Wenn die erste Lawine vom Törle her etliche Wasseradern abgeriegelt hat, dann ist die Ache eine Weile nicht viel mehr als ein Rinnsal. Eines Tages aber ist sie wieder die alte, obwohl der Winter noch regiert. Die Wasser haben sich in langen Tunneln unter der Lawine durchgefressen. Das wiederholt sich, wenn die zweite Lawine kommt. Dann kann die Ache fast ganz trocken liegen, aber die Zeit ist noch kürzer als die hinter der ersten Lawine her. Einmal, weil die Ache selber, die nun zugedeckt ward – nicht etliche ihrer kleineren Zuflüsse – stärker ist, zum anderen, weil die Tunnel unter der ersten Lawine nur selten einbrechen. Meistens sind die Brücken über ihnen vereist und halten bis ins Frühjahr hinein.

Vor dem See deckten Gletscher den Talboden. Sie trugen Blöcke von den Bergen herab, manche so groß wie etwa heute das Schirmerhäuschen, andere kleiner. Zwei solcher Blöcke sind jetzt die Torhüter vor dem Achedurchbruch, ihrer viele liegen verstreut auf den Matten, einer steht mitten im Friedhof und trägt eine kleine Birke auf seinem Scheitel. Alle sind sie im Sommer übergrünt von Moos und Gras und überblüht von roten Primeln, weißen Anemonen, blau-rötlichen Alpenglöcklein und tiefblauem Enzian. Das Hochtal von St. Thomas steht nur gegen Südwesten offen. Die Sonne kommt also im Sommer wie im Winter zwar spät hinein, geht aber dafür auch spät. Der Ostrand rückt nahe an das Dorf heran. An ihm langen die Wälder bis fast auf die runden Kuppen hinauf, und hier sind die Reviere der Hirsche. Im Norden schließt das Tal ab, und die Einsattelung, die rechts vom Törle liegt, heißt die Scharte. Der Eingang zu ihr ist schmal; denn bis an ihn stößt von rechts der Kugler vor in einer grauschwarzen Felsnase. Die eigentliche Scharte beginnt erst mehr als hundert Meter hinter dem Eingang, und von ihr aus fällt das Gelände sanft nach Daplang zu ab. Hier, am Scharteneingang, hat St. Thomas seine wunde Stelle. Hier stürmen die Lawinenungeheuer vom Törle an, und es muß da oben irgend etwas im Gange sein; denn die Lawinen werden jetzt nach dem Anprall, sozusagen in einer zweiten Geburtsstunde, über das Buckelkar weg immer weiter nach links, auf St. Thomas zu, geschleudert.

Das Törle ist der Anfang der Westkette. Die steht weiter zurück als die im Osten und endet nach dem Hochtale zu in einem breiten grauweißen Geröllband. Außer dem Törle sind da die schauerlichen Wände des Bischkopfes, der hinter der Dreiecksalm aufsteigt, dann der Riese, links von ihm der Zwerg, der Graukogel und schließlich die Tritta. Zwei, das Törle und der Riese, gehen ein wenig über die Dreitausend hinaus, die andern dicht heran.

Es ist eine herrliche Welt, und es ist ein ernstes Wohnen in ihr, eine kurze Zeit in atemraubendem Jubel und eine lange in Abgeschiedenheit, Öde, Mühsal und Entsagung. Die Mühsal ist zwar im Sommer größer als im Winter, aber da ist es eine fröhliche und lichte Mühsal, im Winter dagegen eine stumpfe und dunkle. Und die ist lang.

Die Menschen von St. Thomas sind wie ihre Erde. Niemals kommt hier oben der Frühling leise, heimlich, schmeichelnd, sondern immer im Sturm. Rausch packt die alte Mutter Erde, und im Rausch feiern die Menschen ihre Feste, zugleich Herren und Knechte, wie sie Knechte und Herren ihrer Erde sind, soweit sie sich ihr Herrentum gefallen läßt.

Johann Oberlechner ist der Bürgermeister von St. Thomas, das nicht ganz hundertfünfzig Seelen zählt, sozusagen also der gekrönte König. Der ungekrönte ist der Wirt Josef Huber. Der ungekrönte zwar nur, dennoch aber der eigentliche. Nicht nur, daß er den Bürgermeister an Klugheit und Ansehen überragt, er steht vor allem als Mensch und Charakter turmhoch über ihm. Huber ist etliche Jahre in Rauth auf der Schule gewesen und hätte wohl das Zeug zu mehr in sich gehabt als nur zum Wirt in St. Thomas, aber er hat nicht mehr werden wollen. Und das ist gut für die Gemeinde. An Besitz steht der Oberlechner voran. Er hat vielleicht fünfzig Tagewerke im Tal, die große Dreiecksalm, die Samalm, Holz am Kugler, hält über zwanzig Stück Großvieh, zwei Rosse und, je nachdem, bis zu hundert Schafen. Den Grund zu ihrem Besitz haben die Oberlechner in der Zeit gelegt, da sie den Wagen Vorspann über die Scharte stellten. An dem, was später dazugekommen ist, hängen jedoch viel Tränen. Dann sind da weiter in St. Thomas der Brunner, der Moosbacher, der Siebenlehner, der Zweigler und vielleicht noch fünf oder sechs, die man zur Not Bauern nennen kann. Die anderen sind kleine Leute, Wildheuer, Steinsucher, Holzfäller, Flößer. Von den Frauen sammeln etliche im Sommer Kräuter. Es ist in St. Thomas kein großes Ab und Zu. Manchmal geht eines hinaus, manchmal kommt eines herein. Die hinausgingen, kehren meist wieder zurück, die hereinkamen, bleiben meist nicht lange. Man kann das verstehen. Was hier geboren ward, ist zugleich in die Erde hinein geboren worden wie der Baum oder die Bergblume, die ihren Spalt selbst im Felsen zu finden wissen. Was aber von draußen her kommt, ist eine leichtere Erde gewohnt und kann nun in der von St. Thomas nicht Wurzel schlagen.

Obwohl es bei ihren Festen die Menschen wie ein Rausch überkommt, tragen sie doch sonst, und zwar nicht nur die älteren, eine große Ruhe in Herz und Augen. Schwer und langsam gehen sie in harten Schuhen ihres Weges, aber wenn es sein muß, dann springen sie mit einer so unfaßbaren Gewandtheit beim Driften der Stämme am Steilufer der steinigen Ache von Block zu Block, klettern sie an den Wänden von Kanzel zu Kanzel, daß man sich wundern muß. Ein Fehltritt ist hier wie dort der Tod, aber wenn der auch immer auf der Lauer liegt, auch trotz aller Gewandtheit oft genug einen oder den anderen holt, so wäre doch St. Thomas längst ausgestorben, wären seine Leute nicht die Tatmenschen, die sie sind, und die es als solche zwar niemals lachend quittieren, wenn sie dem Tode eben noch von der Schaufel zu hüpfen vermochten, darin aber auch nicht mehr sehen als eine Selbstverständlichkeit, die zum täglichen Brote gehört. –

Matthias Hornberger steht unterhalb des Brunnerhofes und blickt zum Törle hinüber. Die erste Lawine ging vor etlichen Wochen nieder und liegt nun als ein halb vereistes mächtiges Schneefeld kurz oberhalb des ehemaligen Schachen. Es ist gegen Ende Januar. Die Sonne steigt bereits höher, und die Wasser haben die Lawine untertunnelt. Wann kommt die zweite Lawine? Hornberger ist unruhig. Es ist kein Grund dazu; denn bis das zweite Ungeheuer heranrast, vergeht noch geraume Zeit. Die Unruhe wurzelt wohl auch weniger in der Sorge der Lawine wegen, sondern in dem Gespräch mit dem Wirt. Hornberger hätte nichts tun können, wenn der Gemeinderat beschloß, den Alois Schirmer irgendeinem, meinetwegen auch dem Oberlechner, gegen das Höchstgebot oder, womit eher zu rechnen war, die Mindestforderung, zu übergeben, aber nun bestand ein Komplott zwischen ihm und dem Huber Sepp, er hatte die Hand dazu geboten, daß der arme Loisl einem hartherzigen Menschen ausgeliefert ward, dem die Maria Walpurga, lebte sie, ihr Kind zu allerletzt anvertraut hätte. Mußte das wirklich sein? Der Sepp sagt es, und – der Sepp hat recht. Es muß in Gottes Namen sein. Muß sein! Der Sepp hat recht. Er ist klug und warmherzig zugleich. Bei ihm, Hornberger, überwiegt das Herz. Er gehört eigentlich nicht unter die Tatmenschen, die das Leben mit harten Fäusten anpacken, hat eigentlich nie zu ihnen gehört, aber was für ein Mann würde denn an seiner Stelle besser hierher passen? Ein härterer als er? Die armen Menschen! Wenn sie nun vollends ihrer Mühsal ohne Seelenfrieden nachgehen müßten! Und das könnte nicht anders sein, wenn Stein gegen Stein schlüge. Nein, es ist schon recht mit den Leuten von St. Thomas und recht auch mit dem Loisl. Oberlechner ist nicht allein auf der Welt, der Josef Huber ist stärker, und man muß sich an dessen letztes Wort halten: Wir stehen zu ihm. Hart soll er werden, aber kein Stein, frieren soll er, aber nicht erfrieren.

Indem kommt der Brunner vom Weiler her. Der ist ein angesehener Mann, ernst, wie die Männer hier alle sind, aber gerade er vermag bei allem Ernst fröhlich zu sein, ohne den Rausch zu brauchen. »Hat keine Not, Hochwürden,« sagt der Brunner lächelnd. »Sie kommt noch lange nicht, die Lawine.«

Der Pfarrer nickt. »Weiß ich wohl, aber, Brunner, ist die erste nicht dies Jahr weiter herunter gekommen als früher?«

»Mein ich nicht. Sie geht eher nicht so weit. Vielleicht, daß der Herrgott doch ein Einsehn hat. Da ist in Trettau der Gletscher immer weiter auf den Ort zugekommen, so daß die Trettauer schon gedacht haben, ihr ganzes Dorf sei hin. Und auf einmal hält der Gletscher an, und vom anderen Jahre ab ist er zurückgegangen.«

»Und weiß niemand zu sagen, wie das gekommen ist?«

»Niemand. Wer will in den Bergen überhaupt etwas sagen? Ich hab noch das letzte Haus vom Schachen gekannt, und heute ist er nichts als Stein und Sand. – Schlimm übrigens für den Loisl, Hochwürden, daß die Maria Walpurga sterben mußte. Was wird nun mit ihm?«

» Aus ihm wird werden, was Gott will, mit ihm, was die Gemeinde beschließt. – Brunner, wenn nun einmal eine Lawine –«

»Mir den Hof zusammenschmeißt und mich und meine Leute mit? Hochwürden, wie – Gott will. Ich bleib! Die Lawine selber fürcht ich aber nicht. Höchstens, daß uns einmal der Luftzug packt, weil er dort über das Buckelkar wie in einem Schacht herabfährt, aber das Haus ist fest, und ich halt's instand.«

Hornberger wies mit der Hand nach dem Kamme. Über den scharfen Graten stoben Schneewolken auf und wehten wie feine Schleier über die Wächten herein. »Da droben ist Wind.«

»Schon seit heute morgen. Das Wetter schlägt um.«

»Mehr Schnee?«

»Ich denke.«

»Immer noch mehr? Wird Brot genug im Dorfe sein?«

»Ei freilich. Was haben Sie denn, Hochwürden?«

»Ich? Nicht mehr, als was ich immer habe. Könnten wohl frommer sein, die Leute von St. Thomas, wo sie alle Tage den Tod vor Augen haben.«

»Hochwürden!« Der Brunner schüttelte den Kopf. »Wo ist denn der Tod? Da droben? Da haben wir jetzt nichts zu suchen. Gehn erst wieder hin, wenn er fort ist. Oder da drüben?« Brunner wies auf den verschütteten Schachen und zuckte die Achseln. »Kann überall kommen, der Tod, hier wie draußen, leichter wohl bei uns, das ist wahr. Warum gehn wir ihm dann nicht aus dem Wege, fort von St. Thomas? Weil's halt keiner kann. Keiner. Auch Sie nicht, Hochwürden.«

»Ich? Nein. Ich gehör zu euch.«

»Ist ein Wort. Noch ein Vierteljahr, und das ist kurz, dann haben wir die langen Tage wieder und die Blumen und –«

»Und die Kirchweih.«

Brunner lachte. »Auch, Hochwürden. Muß denn der Mensch nicht mitleben, wo alles lebt? Und was ist denn so schlimm in St. Thomas? Dann und wann ein Ledig's. War vor uns so, wird so bleiben und ist anderwärts nicht besser. Manchmal einen Rausch. War auch immer so, und mancher braucht ihn halt, weil er meint, die Welt wär nachher schöner. Was wär denn, Hochwürden, wenn alles gar so gradeaus ginge? Muß doch auch manchmal ein bißchen krumm gehn, geht ja gar nicht anders. Aber sonst? Wo sind die Leute fleißiger als in St. Thomas? Und wo sind sie mit so wenig zufrieden? – Schaun Sie, Hochwürden, wie es am Riesen stiebt.« Ein dumpfer Donner kam herübergeflogen. »War gar nicht klein, die Lawine. Hätt' gelangt für uns zwei, aber da drüben geht sie nieder, weit von uns und St. Thomas.«

»Mag's so bleiben, Brunner. – Ihr geht doch morgen mit zur Leiche?«

»Ja. Haben eben der Maria Walpurga die Grube gegraben. War ein tüchtig Stück Arbeit, aber sie wird gut schlafen. – Und jetzt muß ich schaun, daß ich heim komme. Sie warten auf mich.«

Die Männer trennten sich. Hornberger kehrte zurück. In der Nacht kam der Wind von den Bergen her in das Tal geflogen. Er heulte und tobte, daß das Balkenwerk knarrte und die Schornsteine fauchten, aber keiner hatte deswegen eine Stunde Schlaf weniger. Sie schliefen tief und fest unter ihren steinbeschwerten Dächern und ließen den Wind sein Wesen treiben, wie er wollte. Der jagte den Schnee in langen Schwaden vor sich her, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, wühlte die Haufen, die er eben getürmt, wieder auf, warf sie weiter, holte sie zurück, wie es ihm paßte.

Und im heulenden Sturm und unter fallendem Schnee trugen sie am anderen Vormittag die Maria Walpurga Schirmer zu Grabe. Als erster ging der Sepp Huber hinter dem Sarge her, und der Loisl ging neben ihm. Der Wirt führte den Jungen nicht und hielt ihn auch nicht am offenen Grabe an der Hand, aber als der Sarg sank, legte er dem Loisl den linken Arm fest und schwer um die Schultern. Und da schrie der Loisl auf wie ein weidwundes Tier. »Mutterle!« Bislang hatte er keine Träne gehabt. Er war die ganze Zeit über nicht aus einem großen Verwundern herausgekommen. Jetzt hatte ihn die gutgemeinte Armbewegung herausgerissen. Da wußte er, daß er nun niemand mehr hatte, und da schrie er auf. Der Schrei aber war so voller Not, daß es den Männern kalt über den Rücken rann und die Weiber die wollenen Kopftücher vor die Augen drückten.

Der Bürgermeister war nicht selber zur Leiche gekommen, sondern hatte seinen Toni geschickt. Er habe das Reißen soviel, hatte er dem Moosbacher gesagt. Es war aber nicht das Reißen, das ihn abhielt, sondern das schlechte Gewissen. Wenn er vor sechs Tagen ein Roß aus dem Stalle gezogen hätte, wär der Loisl heute wahrscheinlich nicht Vollwaise. Aber wer will das sagen? Hat der Oberlechner nicht seinerzeit, als seine Frau, die Steffi, krank lag, die Pferde jeden Tag zum Doktor nach Rauth gejagt? Wohl, wohl, aber – es war halt das erstemal schon zu spät gewesen. Die Steffi hatte lange genug vorher schon über ihren Leib gejammert, und er hatte, genau wie jetzt bei der Walpurga, gesagt: »Wird nicht so schlimm sein.« Die Walpurga konnte eben so mit dem Doktor sterben, wie sie ohne ihn starb. Den Trost braucht der Oberlechner, und wenn es ihn auch trotzdem schüttelt, jetzt hat er einen Hütebuben für die Schafe, einen, dessentwegen ihm niemand dreinredet.

Um den kommt er, wie er sagt, trotz seines großen Wehdams, am Abend zum Huber. Der hat einen fast übermenschlich schweren Weg hinter sich und ist noch nicht lange zurückgekehrt. Trotz Sturm und Schnee ist er in Rauth gewesen. Es mußte sein, denn sonst hatte er nicht die Handhabe, die er brauchte, und der Richter, der Xaver Bertram, hat ihm den Gefallen getan, um den der Sepp bat, und die Sache gleich erledigt. Sie haben einmal ein paar Jahre nebeneinander auf der Schulbank gesessen, der Xaver und der Sepp, aber der Xaver ist ein großer Mann geworden, der Sepp ein kleiner. Schadet nichts. Der Sepp hat's so haben wollen, und der Xaver sagt, er wäre der Gescheitere von ihnen beiden gewesen.

Heute aber hat er gebelfert. Ob denn der Sepp närrisch geworden sei. Bei dem Wetter herab von St. Thomas und auch wieder hinauf? Es hat sein müssen? Wegen dem Schirmerbuben? Das hätte doch Zeit gehabt. Nein, es hat keine Zeit? Der Sepp muß einen Rechtstitel in der Hand haben? Also dann, was ist? Dem Loisl sein Vormund will der Sepp werden? Kann er. Wenn er sich durchaus eine Rute aufbinden will. Andere gehen davon, wenn sie wittern, daß eine Vormundschaft auf sie zukommen will, der Sepp kommt bei dem Wetter und sagt: Ich will's werden! Und der Grund? Weil der Bub zum Oberlechner soll? »Dann tu ihn doch nicht hin, Sepp. Muß sein? Bei dir muß immer alles sein. Laßt doch den Oberlechner laufen, wenn er so einer ist.

Geht nicht? Vielleicht holt ihn einmal der – – – Man nennt ihn nicht gern. – Also, Sepp, da wär's. Nun gibst mir die Hand drauf. Braucht's zwar bei dir nicht, aber es steht halt so geschrieben. – Jetzt scher dich heim, daß dich die Nacht nicht überkommt. Grüß deine Anna, und wenn's bei euch wieder menschlich ist, kommen wir auch einmal hinauf.«

Es ist ein unerhört schwerer Heimgang gewesen, aber der Sepp hat ihn doch noch vor dem Nachtwerden geschafft, weil er wollte, ganz wollte, und wenn der Sepp Huber etwas will, dann will er es immer ganz. So schafft er auch den Weg von Rauth herauf, kommt vor dem Nachtwerden wieder zu seiner Anna und den Kindern, ja, den Kindern, und trägt eine stille große Freude in sich. Schlaf gut, Maria Walpurga. Brauchst dir keine Sorge um deinen Buben zu machen. Im dichten Schneegestöber, in das hinein dünner Lichtschein aus den Stuben fällt, kommt stöhnend der Bürgermeister. Er hat soviel das Reißen, gehört ins Bett, aber die Sorge treibt ihn her, die Sorge um der Schirmerin ihren Buben, den Loisl. Ein armer Bub, ein sehr, sehr armer! Man muß ein christlich Werk an ihm tun, hat ja sonst keine Ruhe vor sich selber. Meint der Sepp nicht auch?

Ja, das meint der Sepp, und er meint weiter, daß er es schon getan habe. Das klingt zweideutig, zumal der Sepp dazu ein Paar Augen macht, die förmlich in den Bürgermeister hineinsehn, und so was macht den unruhig. Weil er selber keinen geraden Blick hat, verträgt er auch keinen. »Halt wohl,« sagt er und reibt sich das Knie, damit der Sepp sieht, daß es weh tut. »Freilich. Hast dich des Buben angenommen, und der Toni hat mir erzählt, wie es bei der Leich zugegangen ist. War schön von dir, Sepp. Wenn ich hätt' mitgehn können, hätt' ich an der andern Seite gestanden.«

»Wär kaum noch Platz gewesen, Bürgermeister. Im Schnee nicht und auf des Buben Achsel auch nicht.«

»Konnt ja auch nicht mitgehn, Sepp. Aber nun möcht ich was für den Buben tun. Bin's der Maria Walpurga schuldig.«

»Dann schick ihn auf die Schule. Er hat das Zeug dazu, sagt der Lehrer.«

»Auf das, was der Lehrer sagt, geb ich nicht so viel.« Der Oberlechner schnippt mit den Fingern. »Von meinem Toni hat er gesagt – –«

»Was hat er gesagt?«

»Ach, was vom Charakter. Einen schlechten soll er haben.«

»Einen schlechten? Lieber gar keinen.«

Der Oberlechner schielt von unten herauf. »Ein Bub kann überhaupt noch keinen Charakter haben. Kommt doch alles erst mit der Zeit.«

»Ja. Die frühen Zwetschen haben den Wurm.«

»Also wegen dem Loisl. Ich will mich seiner annehmen, aber mit der Schule, das wär gefehlt. Hast es doch an dir selber erlebt, Sepp.«

Das ist ein so guter Hieb, daß der Huber hell auflacht. Er treibt aber den Oberlechner in die Enge. »Der Bub heißt Loisl und nicht Sepp. – Ich steh für ihn, Bürgermeister. Gibst ihn auf die Schule nach Rauth, und wenn er nicht guttut oder vor der Zeit davonläuft, so wie ich, nachher zahl ich dir alles zurück.«

»Ich halt nichts von den Schulen. Heute nicht und niemals und bei dem Schirmerbuben schon gar nicht. Laß das Frozzeln, Sepp. Meinst ja gar nicht, was du sagst.«

»So? Und wie meinst du es?«

»Ich brauch einen Hütebuben.«

»Ich auch.«

»Für meine Schafe.«

»Will mir auch Schafe zulegen.«

Oberlechner lachte. »Willst sie Latschen fressen lassen?«

»Vielleicht. Saufen können sie dann das Augenwasser, das die Leute um deinetwillen schon vergossen haben. – Wollen uns nichts vormachen, Bürgermeister. In mir hast einen Feind.«

»Du in mir auch.«

»Dann rechnen wir gegeneinander auf. Kommt drauf an, wer nachher zuzahlen muß.«

»Du gehörst zum Gemeinderat.«

»Gott sei Dank.«

»Warum Gott sei Dank?«

»Ich mein' bloß so.«

»Meinst bloß? Warum soll der Bub nicht zu mir?«

»Hab ich gesagt, daß er nicht zu dir soll?«

»Ach so. Er soll

»Hab ich wieder nicht gesagt.«

»Was hast du denn überhaupt gesagt?«

»Nichts. Hast du was gehört?«

»N–ein. Sepp, was geht denn dich der Bub überhaupt an?«

»Was mich der Bub angeht? So viel und so wenig wie dich, aber ich bin ein Mensch. Außerdem ist er ein guter Bub und ein selten gescheiter dazu.«

»Kann ich gerade brauchen. Also wie ist's?«

»Wie kann ich das wissen? Das muß der Gemeinderat ausmachen.«

»Der Gemeinderat? Der – bist du.«

»Nicht eher du? Du bist doch der Bürgermeister.«

»Laß das! Was hast du gegen mich, Sepp? Red's einmal grad heraus.«

»Daraus hab ich nie ein Hehl gemacht, und das weiß du.«

»Wegen der Nagler Zenz ihrer Wiese?«

»Und wegen der Dreiecks-Alm, die du dem Rupert abgeschwindelt hast.«

»Ist nicht wahr.«

»Ich weiß es besser. Und die Gemeinde hättest du um die Blümlis-Alm gebracht, wenn ich nicht war und – –«

»Weil ihr halt, du und der Bertram Xaver, aus einem Trog gefressen habt, darum hat er dazumal auf deiner Seite gestanden, obwohl ich das Recht für mich hatte.«

»Will ich dem Xaver sagen. Wird ihn freun.«

»Niederträchtig genug wärst du. – Und wegen dem dummen Buben? – Ich krieg doch keinen andern, brauch ihn doch!«

»Das hört sich schon anders an. – Ich hab's nicht allein zu entscheiden. – Was würdest du denn zahlen?«

»Zahlen? Ich – zahlen?«

»Ja, für deinen Hütebuben.«

»Der sonst der Gemeinde aufliegt?«

»Glaub ich nicht. Da wären mehr, die ihn haben möchten.«

»Und keiner würde zahlen.«

»Würde ihn halt auch keiner kriegen.«

»Sepp, Herrgottsakra! Ich hab das Reißen!«

»Im Maul, scheint's, nicht. – Bestell die Gemeinde. Kannst sie gleich auf morgen bestellen, damit es aus wird, aber das sage ich dir: Was Gutes hast du von mir nicht zu erwarten, und bis zum Auftrieb bleibt der Bub bei mir!«

»Hätt sowieso jetzt keine Arbeit für ihn.«

»Ob du oder ein anderer, das ist einerlei. Er bleibt.«

»Mir wär's recht. – Herrgott, das reißt! B'hüt', Sepp.«

Der Oberlechner humpelte davon, Huber sah ihm grimmig lächelnd nach, und es schneite. Es schneite heute und morgen, es schneite, obwohl der Schnee schon meterhoch lag, zehn Tage hintereinander, immer ganz ruhig und gleichmäßig, immer in dichten Strähnen, und als die zehn Tage vorüber waren, guckte sich die Sonne für zwei Tage die Bescherung an, fand, daß es noch nicht genug sei, verkroch sich wieder und ließ es noch vier Tage schneien. Dann war das Elend in St. Thomas groß genug. Keiner der Lebenden konnte sich eines solchen Schneewinters erinnern. Der Siebenlehner sagte im Gemeinderat, seine Urahne, was seiner Mutter ihre Großmutter gewesen sei, hätte ihm von einem Winter erzählt, der ähnlich dem von heute gewesen sein müsse. Dazumal hätte es nachher keine einzige Ziege mehr im Dorfe gegeben, weil die armen Leute zuletzt nichts weiter mehr gehabt hätten als ihre Ziegen.

»Das wäre heut anders,« sagte der Wirt, und als der Brunner nach dem Wieso fragte, meinte der Wirt, weil ein Rind mehr hergäbe als eine Ziege. Als das der Oberlechner hörte, lachte er zwar dazu, aber es schubberte ihn doch gleichzeitig ein bißchen.

Und dann ward über den Loisl verhandelt, und die Männer schimpften auf den Bürgermeister, weil er sie bei dem Wetter um einen solchen Dreck aus ihren Häusern gejagt. Wenn sie nicht Schneereifen unter den Stiefeln gehabt hätten, wären sie alle miteinander steckengeblieben. Der Brunner schimpfte am meisten, und der Huber Sepp und der Zweigler erboten sich, ihn nachher heimzubringen, weil es tatsächlich nicht geraten war, daß ein Mann, jetzt in der stockfinsteren Nacht, allein den Weg ins Schlegeli ging.

Der Bürgermeister knurrte, er habe nicht gewußt, daß sich das Wetter so machen werde, und der Sepp habe verlangt, daß die Gemeinde zusammenkomme, weil er wissen wolle, wie er dran sei. Da lachte der Sepp, daß es dröhnte.

»Na also, dann fang an, Bürgermeister,« sagte er.

Die Männer verstanden nicht, warum er lachte, aber wenn halt der Sepp gemeint hatte, daß es nötig sei, dann war das in Ordnung.

»Ehem,« sagte der Oberlechner und schob sein Mostglas ein wenig zurück. »Da wär jetzt das mit der Walpurga ihrem Buben, dem Loisl, wo auf die Gemeinde gestorben ist durch seine Mutter, und an dem wir jetzt ein christlich Werk tun müssen. Ist brav gewesen, die Walpurga, kann ihr nichts nachsagen, und ist halt Gottes Wille gewesen, daß sie so bald hat fortmüssen von ihrem Buben.«

»Und dein Gutmeinen,« warf der Brunner bitter dazwischen.

»Hab's ihr immer gut vermeint,« verteidigte sich der Oberlechner, »und wenn das Roß nicht gelahmt hätte – –«

»Hat am Ende auch das Reißen gehabt wie du gestern,« spottete der Zweigler.

Der Nägeli, der bei dem Oberlechner in der Kreide saß, kam dem Bürgermeister zu Hilfe. »Wenn das so weitergeht,« sagte er, »dann kommen wir nie und niemals zur Hauptsache. Der Bürgermeister ist der Bürgermeister, das sage ich, und von mir aus ist's gleich ausgestanden, indem daß der Bürgermeister den Loisl als Hütebuben nimmt und die Gemeinde ihm jedes Jahr, solange es sein muß, ein bissel was drauflegt und dem Loisl außerdem ein Sommer- und ein Wintergewand schafft.«

»Hast die Stiefeln vergessen,« spottete der Siebenlehner, »und außerdem leicht noch ein bissel was anderes, etwa die Lebzelter. Aber das denkt sich der Bürgermeister noch aus, wie ich ihn kenne.«

»Wär mir genug mit dem, was der Nägeli vorgebracht hat,« erklärte der Oberlechner, »aber da wär zunächst einmal die Frage, ob ein anderer den Buben haben möcht.«

»Ja,« sagte der Brunner, »ich«.

Und der Zweigler sagte: »Hab zwar schon sechs an der Krippe sitzen, käm mir aber nicht darauf an.«

Und der Simser: »Wenn mir die Gemeinde was draufzahlt, hat er bei mir auch Platz. – Was meinst du, Sepp?«

»Ich?« Der Huber setzte ein neues Glas Most vor den Brunner. »Ich – mein nachher.« Damit schob er sich wieder in die Reihe.

»Ehem,« sagte der Bürgermeister wieder. »Ehem. Muß rein was im Halse haben. Also das wär jetzt nicht so einfach. Ich mein, da wär ich als der Bürgermeister der erste, und ich mein, ich könnt's am besten, wo ich den vielen Grund habe und zwei Rosse.«

»Anderthalbes, wenn eins lahmt,« warf der Siebenlehner ein, »oder – ist's derweile wieder gesund geworden?«

Der Bürgermeister überhörte es. »Und außerdem,« fuhr er fort, »hab ich einmal der Walpurga in die Hand versprochen, daß ich zu ihrem Buben schaun will, wenn – – Es muß ihr da was vorgegangen sein.«

»War das dazumal,« fragte der Huber halb spöttisch, halb grimmig, »wie du ihr angetragen hast, daß sie deine Hauserin werden sollte? Am selben Abend ist sie zu mir gekommen, hat die Schürze vor das Gesicht geschlagen und gesagt: Sepp, hilf mir. Ich schäm mich zu sehr!«

»Ich hab's ehrlich vermeint,« zürnte der Bürgermeister, »nicht so wie du jetzt.«

»Glaubt dir jeder aufs Wort. Hat's ja auch seitdem so gut bei dir gehabt, die Walpurga.«

»Warum ist sie dann geblieben, wenn sie's nicht gut hatte?«

»Ja, das hab ich mich auch so lange gefragt, bis sie mir gestanden hat, daß sie das Geld für ihres Mannes Leich bei dir geborgt hat. – Mach weiter.«

»Kannst jetzt du machen, wenn du alles besser weißt. Außerdem ist das eine Niedertracht, die hier gespielt wird. Wenn ich das gewußt hätte, dann hätt' ich's anders angefangen. – Aus ist's! Ich mach die Sache am Gericht in Rauth.«

»Was willst du denn da?« fragte der Sepp.

»Kann dir egal sein. Du bist der Schlimmste.«

»In Gottes Namen,« sagte der Sepp. »Nehm die Ehre schon an, aber deswegen kannst du mir doch sagen, was du in Rauth am Gericht willst, es wär denn, daß du eine Klage gegen mich vorbringen möchtest. Das brauchte ich dann nicht vorher zu wissen. Aber was den Buben angeht, das wüßten wir halt gern. Leicht auch, daß du dir den Weg sparen könntest.«

»Ein Vormund muß her,« trotzte der Oberlechner. »Das schreibt das Gesetz vor.«

»Wohl, aber was hat das damit zu tun, daß der Bub zu dir oder – zu einem andern kommt?«

»Da hat der Vormund ein Wort mitzureden.«

»Das wärst also nachher du?«

»Ja. Ich bin der Bürgermeister.«

»Und ich,« sagte der Huber Sepp, »bin der Vormund.«

Dem Bürgermeister blieb vorerst das Maul offen stehn, aber als sich sein Spezi, der Nägeli, ausgetobt hatte, brachte er den Mund langsam wieder zu.

Der Nägeli hieb auf den Tisch. »Das wär jetzt eine Schande für die Gemeinde! So was kommt gleich in alle Mäuler. Darüber ratschen sie jetzt schon in ganz Rauth, über die Heimtücke, die der Wirt dem Bürgermeister angetan hat, und es braucht bloß noch in die Zeitung zu kommen, nachher ist's richtig. – Schämen mußt dich, Wirt!«

Huber sah ihn an. »Wieviel bist denn dem Bürgermeister schuldig? Hab die Maria Walpurga dazumal auch frei gemacht. Ich laß mit mir reden, wenn ich auch bloß ein Muli im Stall habe und nicht zwei Rösser.«

Das sagte der Huber Sepp mit einer so eiskalten, überlegenen Ruhe, daß es nicht nur dem Nägeli die Sprache verschlug, sondern auch die anderen verlegen dreinschauen mußten. Inzwischen aber hatte sich der Bürgermeister wieder abgefangen.

»Sepp,« sagte er, »mach keinen Schimmel schwarz. Sieh um dich. Ich brauch den Nägeli nicht, bin schon selber Manns genug, aber was er sagt, denken die andern. Du wärst der Vormund? Schon? Wohl eh die Walpurga die Augen zutat? Wär möglich gewesen, aber dann wüßt ich's. Hahaha. Hast ein As ausspielen wollen, Sepp, und ist bloß eine Sieben, wo nichts wert ist.«

»Wenn die Sieben der letzte Trumpf ist, sticht die das As, das keiner ist. Ich mein, soviel verstündst du auch vom Tarock, Oberlechner.«

Der machte eine abwehrende Handbewegung und lächelte.

»Gestern war die Leich. Vorgestern hat's angefangen zu schnein. Und du wärst in Rauth gewesen? Daß dir der Bertram Xaver den Gefallen getan hätt', will ich glauben, aber wie hätt'st denn hinkommen wollen? Fliegen? Hab dich noch nicht fliegen sehn. Wart, bis du ein Engel bist. Hahaha! Sepp, das müßt ich schriftlich sehn.«

Der Huber war feuerrot, aber er biß sich auf die Lippen, bohrte die Hände in die Hosentaschen, setzte an zum Reden, trotzte ein: »Nachher!« vor sich hin. »Kannst du sehn, Bürgermeister,« sagte er, ging an den Schrank und kehrte mit einem Papier in der Hand zurück. »Da.«

Der Bürgermeister faltete das Papier auseinander, las, und etliche guckten ihm über die Schulter.

»Gut,« sagte der Oberlechner und legte die Urkunde beiseite. »Dann bist du also der Vormund.«

»Ja.« Huber stand breitbeinig und blieb stehn. »Männer, ich hab's tun müssen aus christlicher Nächstenliebe, weil ich wußte, was gespielt ward. Jetzt will ich euch meine Meinung sagen, und wenn ihr es gut meint mit dem Buben, aus dem ich einmal etwas werden sehe, dann geht ihr mit mir. Der Oberlechner will den Buben haben, der Oberlechner soll ihn haben, und, wenn ich an den Loisl selber denk, dann sage ich: Er muß ihn haben. Der Bub muß durch die Schule! Acht Tage hab ich ihn jetzt beobachtet. Ich sag, er muß, und ich würd es sagen, auch wenn sein Vater nicht mein halber Spezi und seine Mutter nicht so brav gewesen wäre, wie sie war. Der Bub ist zu weich. Das taugt nirgends und niemals, erst recht nicht in St. Thomas. Hart soll er werden, aber kein Stein. Frieren soll er, aber nicht erfrieren. Deswegen muß halbpart gemacht werden. Mit dem Auftrieb geht er zum Oberlechner, mit dem Abtrieb kommt er zu mir. Ich will nichts dafür haben und will außerdem alle zwei Jahr ein Wintergewand und ein Paar ordentliche Schuhe zugeben. Oberlechner, du zahlst,« der Wirt nannte einen kleinen Betrag, »für jeden Sommer und außerdem jedes Jahr ein Sommergewand und ein Paar Schuhe. So bleibt es, bis der Bub vierzehn Jahre ist, dann sehn wir weiter. Das ist meine Meinung, Männer, und ich mein, es ist richtig, bald ihr beschließt, wie ich sagte. Das andere, was ich noch auf dem Herzen habe, können wir nachher bereden. Was sagst jetzt du, Bürgermeister?«

»Bis auf das Geld hätt' ich nichts zu sagen. Das zahl ich nicht.«

Er zahlte schließlich doch, der Wirt protokollierte, die Gemeinderäte unterschrieben, das Schicksal des Alois Schirmer war vorerst entschieden.

Der Wirt rückte sich zurecht. »Das wäre aus. Jetzt das andere. Oberlechner, wie lange willst noch Bürgermeister bleiben?«

Das war so viel, daß es dem Oberlechner vorerst wieder die Sprache verschlug. »Ich? Bleiben?«

»Ja. Wie lange du noch Bürgermeister bleiben willst«?

»Willst du es werden?«

»Ich? Hab anderen Kummer. Aber du?«

»Bis meine Zeit aus ist.«

»Das sind noch?«

»Vier Jahre. Steht dir das zu, so zu fragen?«

»Ich denk schon, wenn auch nicht mir allein. – Ich will euch sagen, warum ich so frage.« Er sah kurz in die Runde. »Weil ich es mir zugeschworen habe, als die Maria Walpurga in den letzten Zügen lag. Die hast du umgebracht, Oberlechner. Sie ist bei dir gewesen und hat dir ihren Arm gezeigt, als die roten Striemen anfingen, von der Hand bis an die Achsel zu gehn, weil sie wußte, worauf das zuging, und hat dich um Gottes willen gebeten, sie nach Rauth zum Doktor zu fahren, weil sie nicht laufen konnte; denn sie hatte das Fieber, war vor Wehtun halb tot und konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Wär sie zu mir gekommen oder zu einem andern von uns, auf dem Buckel hätten wir sie nach Rauth getragen, wenn es hätte sein müssen. Sie ist nicht gekommen, weil sie gradezu leutscheu war, das arme, getretene Weib. Wir haben nichts gewußt. Du aber hast es gewußt, hast ebenso genau gesehn, worauf das hinaus wollte, wie das Weib selber und bist hart gewesen wie ein Stein. Das war deine Antwort darauf, daß die Maria Walpurga so auf sich gesehn hat, wie das eine ordentliche Mutter und Witwe tun muß. Ob ihr zu helfen gewesen wäre oder nicht, das zählt hier nicht und danach hattest du nicht zu fragen. Wenn schon nicht um Christi willen, – den hast du bloß im Maule –, so hättest du als Mensch und – als Bürgermeister handeln müssen. Ich frag euch, Männer, ist das ein Bürgermeister, der eines aus der Gemeinde verrecken läßt, weil er sich rächen will für eine Ehrbarkeit, die ihm im Wege stand, wo er sich doch darüber freuen und sie hüten mußte?«

»Bist bald fertig?« fragte der Oberlechner zwar bleich, aber spöttisch.

»Nein, noch nicht,« schrie der Huber Sepp, daß die Scheiben klirrten. »Der Bub ist zu mir gelaufen gekommen: Mein Mutterle stirbt! Wir sind mit ihm gegangen, mein Weib und ich. Habt ihr einmal einen Menschen an Blutvergiftung sterben sehn, Männer, einen jungen noch dazu, der weiß, daß er sterben muß und einen Buben hinterläßt, der schon vaterlos ist und nun auch noch mutterlos wird? Habt ihr das gesehn? Ich hab's gesehn und hab das Schreien gehört, stundenlang, stundenlang! weil das Herz nicht brechen wollte und vor Sorge und Liebhaben nicht brechen konnte! Einen Stein hätte es erbarmt. Und ich hab den Fraß gesehn, den du, Oberlechner, den armen Leuten geschickt hattest. Die Säue, soweit sie einer hat, fressen besser. Ich will jetzt nicht von der Blümlis-Alm reden und von allem anderen, was du der Gemeinde und den armen Leuten angetan hast. Ich rede nur vom Letzten. – Wann willst also dein Amt abgeben, Oberlechner?«

»Wenn meine Zeit aus ist.«

Der Wirt riß sich zurück und sah aufstöhnend in die Runde. »Männer! Hätt' ich's dazumal angenommen, als ihr mich wählen wolltet!«

»Sepp,« sagte der Moosbacher bedächtig, »die Maria Walpurga machst nicht wieder lebendig. Sei stad. Und was das Amt betrifft,« der Moosbacher zuckte die Achseln, »ich weiß nicht, ob da nicht vom Gesetz aus was zu machen ist.«

»Nein,« schrie der Huber in bitterem Schmerz, »dagegen ist kein Gesetz. Keines! Das wär bloß, wenn er der Gemeinde so viel unterschlagen hätte, wie ein räudiges Schaf wert ist. Dagegen wär das Gesetz da, aber gegen einen Mord ist es nicht da. – Oberlechner, gib's Amt ab!«

»Nein!«

»Dann zeig mich an!«

»Das will ich mir überlegen.«

»Ich will dich dazu zwingen. Hör: Lump! Mörder! Jetzt zeig mich an!«

»Vielleicht, vielleicht aber lohnt's mir auch nicht. – Die Sitzung ist aus.«

Dreimal stampfte der Huber Sepp in der Stube auf und ab, vor sich hin murmelnd: »Und doch muß es sein mit dem Loisl! Helf mir Gott, es muß sein!« Er wandte sich jäh wieder zum Tische. »Mag die Sitzung aus sein. Es ist aber noch etwas zu bereden. Männer, wie denkt ihr über das Wetter?«

Da nahm ihn der Brunner am Arme. »Sepp! Das Wetter! Jetzt willst anfangen, vom Wetter zu reden? Komm zu dir, Sepp!«

»Bin ganz bei mir, und darum red ich vom Wetter. Es schneit.«

Der Moosbacher, der mit dem Huber in einem Alter war, fuhr auf den Bürgermeister los. »Jetzt hast gar auch noch den Sepp auf dem Gewissen! Das ist ja grad unheimlich. – Komm, Sepp, sei stad. Ist doch der Leuteschinder nicht wert.«

Da war der Sepp nicht nur ganz nüchtern und die Erregung ganz und gar vorbei, sondern es umrieselte ihn nun das nachbarliche Gutmeinen so wohltuend, daß er einen warmen Blick vom einen zum andern gehn ließ. »Wenn's auch zum Verstandverlieren ist, daß es kein geschrieben Gesetz gibt gegen den unblutigen Mord, so habe ich doch meine fünf Sinne gut beieinander. Eben deswegen muß ich vom Wetter reden, und wenn ihr auch nur ein klein wenig stad seid, dann werdet ihr gleich merken, wie ich's meine. Kann sein, daß ich falsch denk. Ich mein aber, ich denk richtig; denn es sieht alles danach aus. Leute, wir schneien ein. Ich meine nicht so, wie gewöhnlich, ich meine so, wie es vielleicht alle hundert Jahre einmal ist, und wie es von uns noch keiner erlebt hat. Wo ist die Kirchenglocke? Sie hat zum letztenmal zu der Maria Walpurga ihrer Leiche geläutet. Der Mesner hat den halben Tag geschaufelt. Jetzt ist er krank vom Schwitzen und Frieren. Der Pfarrer hat's nach ihm begonnen. Jetzt hat er beide Hände voller Blasen und hat's nicht geschafft. Morgen früh gehn wir heran. Wir werden es schaffen, aber wenn nicht zwei Mann den ganzen Tag schaufeln, schneit's hinter ihnen den Weg wieder zu, daß keiner mehr zur Tür kommt. Und wo ist's anders? Den Brunner müssen wir heimbringen.«

»Ist nicht nötig, Sepp,« wehrte der ab. »Schlimm ist's, das ist wahr, aber hinein in mein Haus komme ich, und heraus will ich bei dem Wetter gar nicht wieder. Setz mich hinter den Ofen und mach Daumendrehn. Tut unsereinem auch einmal gut, wenn man den großen Herrn spielen kann.«

»Laß es gut sein, Franz. Ich weiß, was ich weiß. Ich hab vor Nacht versucht, ins Schirmerhäusl zu kommen. Hin bin ich gekommen, heim bin ich auch wieder gekommen, hinein nicht. Der Wind hat grade auf die Tür zu gestanden. Jetzt fängt das Haus nicht mehr viel unter der Dachrinne an. Im Dorfe werden wir Herr, wenn es auch nicht leicht sein wird, draußen nicht. Das hat acht und zehn Tage, auch vierzehn Tage nichts zu sagen. Was aber wird, wenn der Weg nach Rauth vier Wochen lang nicht zu gehn und zu fahren ist?«

Der Oberlechner schob die Lippen vor und grinste spöttisch. »Vier Wochen!«

Den anderen war es zwar ernst, aber auch sie sahen wohl eine Unannehmlichkeit drohn, jedoch keine Gefahr.

»Vier Wochen nicht nach Rauth oder von da herauf? Ah nein, Sepp, das halt doch wohl nicht,« sagte der Zweigler. »Wär ja ganz etwas Ausgefallenes.«

»Das wär's, Zweigler, aber ist's anders ausgefallen, wenn der Tratschenbach, über den hin du dir sonst im Sommer keinen Fuß naß machst, nach einem Regen, oder war's ein Wolkenbruch, der am Bischkopf niederging, und von dem wir in St. Thomas kaum einen Tropfen abgekriegt haben, den Hannes Krey samt seinem Heufuder und zwei Stieren mitnimmt? Hat das ein Mensch für möglich gehalten, ist das in Menschengedenken erlebt worden? Ist an die acht Jahre her. Braucht in hundert Jahren nicht wieder zu kommen, kann aber auch schon in diesem Jahre sein, daß der Tratschenbach wieder zur Ache wird. Männer, es muß ja nicht sein, was ich fürchte. Nein, durchaus nicht. Aber es kann sein. Der Schnee will mir nicht gefallen. Wir sind in St. Thomas darauf eingestellt, daß jede Woche einmal der Grimm und einmal der Anzinger von Rauth heraufkommt und bringt, was wir brauchen. Zehn und vierzehn Tage können wir's ansehn, auch wenn keiner kommt. Was aber wird, wenn es vier oder gar sechs Wochen dauert? Wer von uns hat so viel Vorrat, daß er das mit ansehn kann? Ich nicht, ihr wahrscheinlich auch nicht. Vielleicht der Bürgermeister. Das könnte möglich sein.«

»Wenn's wäre,« polterte der Oberlechner los, »dann würde ich das für mich und meine Leute brauchen.«

»Wenn wir's litten,« sagte der Sepp. »Wir würden es aber nicht leiden. – Also wir haben wenig, die armen Leute gar nichts. Die leben immer nur von heut zu morgen. Könnten es kaum anders, sind es aber auch nicht anders gewohnt. Siebenlehner, du bist der einzige unter uns, der von der Urahne her etwas von einem solchen Winter wußte. Dazumal, sagtest du, wär nachher keine Ziege mehr im Dorfe gewesen. Ist das ein Ruhm? Und – sollte das wieder so werden, wenn –?«

»Was willst denn machen, wenn's ja so käm, wie du meinst?« fragte der Moosbacher.

»Rinder schlachten! – Sieht schwarz aus, was ich da vor euch aufgemalt hab, aber ich weiß mir nur einen Ausweg. Zusammen halten, zusammen werfen, einer für den andern stehn.« Der Sepp zog einen Zettel aus der Tasche. »Hier steht, was ich habe. Wenn ihr jetzt Männer seid, wenn wir eine Gemeinde sind, wenn ihr Diebstahl und Mord und Totschlag aufhalten wollt, wenn ihr den Herrn Christus nicht bloß im Maule führt, wenn ihr die armen Leute unter uns, die ihr zuzeiten alle braucht, – und wenn ihr sie nicht brauchtet, so wär das auch noch dasselbe, – wenn ihr die ganz fest an euch binden wollt für jede Zeit, gut oder böse, dann – tut, wie ich getan habe; denn wir müssen wissen, was da ist, und müssen, wenn es nottut, damit aus- und haushalten. Kann sein, daß nicht gebraucht wird, kann aber auch sein, daß nicht ausreicht, was wir haben. Aber gerecht soll es zugehn, und einer soll sein wie der andere. – So meine ich es, und jetzt wißt ihr's. Acht Tage können wir uns Zeit lassen. Hört es morgen auf zu schnein, ist der Weg nach Rauth in acht Tagen wieder fahrbar. Schneit es noch drei Tage, kann vor vierzehn Tagen weder der Grimm noch der Anzinger herauf. Schneit es aber noch eine Woche, dann – – Moosbacher, du bist der richtige Mann. Wenn's nottut, mußt du es in die Hand nehmen, und wir alle wollen dir helfen. Den Bürgermeister laßt aus. – So, und wenn dir's jetzt recht ist, Brunner, dann gehst heim. Es ist spät geworden, und der Zweigler und ich müssen auch wieder zurück.«

»Sepp,« wehrte der Brunner abermals ab, »ich dank dir für dein Gutmeinen, aber ich komme allein heim. Hab eine Laterne mit.«

»Red nachher drüber, jetzt nicht. Wir gehn mit. Zweigler, mach dich fertig. Ich bin gleich wieder da.«

Der Sepp Huber hat erst später aus dem Abend gewonnen. An dem Abend selber nicht. Sie waren, bis auf den Bürgermeister, alle keine hartherzigen Männer, aber sie hatten ihre Herzen fest in den Händen, während es mit dem Huber durchgegangen war. So und so durchgegangen. Keiner konnte den Bürgermeister leiden, aber nur einer wagte mit ihm anzubinden, der Sepp. Wegen der Maria Walpurga. Schlimm, traurig, schlecht vom Bürgermeister, dem man das ja auch nicht zu vergessen braucht, aber, du mein, hält halt auch sonstwie sterben können, die Frau, und hat wirklich nicht viel auf der Welt verloren. Dem Bürgermeister sagen, wie schlecht er gehandelt? Schon recht, aber doch nicht gleich so über das Ziel hinausschießen. Anders, nach der Art des Pelzwaschens, ohne den Pelz naß zu machen. Und dabei ist der Sepp dafür, daß der Loisl, der Bub, zum Bürgermeister kommt! Das stimmt doch hinten und vorn nicht zusammen, 's Amt abgeben! Freilich, wär schon schön, aber er ist halt einmal Bürgermeister, ist es noch vier Jahre, und das muß man eben aushalten. Kann es ja so einrichten, dass man nichts mit ihm zu tun hat. Und für die eintreten, die sich nicht wehren können oder zu schwach sind, es auch nur zu wollen? Man hat genug mit sich selber zu tun. Und was der Sepp sonst vom Oberlechner und der Maria Walpurga sagt? Dazu kann man nur die Achseln zucken. Der Oberlechner ist Witwer. Wenn's die Maria Walpurga getan hätte, wär – sie wahrscheinlich besser dran gewesen. Das ist eine Sache, die man so und so ansehn kann. Der Bürgermeister hat fünfzig Tagwerk im Tal, hat die große Dreiecksalm, das Holz am Kugler, zwei Rosse, fast dreißig Häupter Vieh und Schafe. Er ist kein guter Mann, das gewiß nicht, aber er ist ein reicher, und Reichsein ist viel, sehr viel.

Trotzdem, wenn der Sepp oben hinaus brennt, man kann es verstehn und verargt es ihm nicht eigentlich. Er hat der Maria Walpurga ihr Sterben gesehn, das schrecklich gewesen sein muß, und ist schon lange inwendig auseinander durch die Krankheit seines Weibes. Also man kann schon manches verstehn. Wenn er auch zu weit ging, so schadet es doch dem Bürgermeister nicht, daß ihm einer vor die Zähne redete. Aber das mit dem Schnee und dem Aufschreiben, vielleicht sogar Auf teilen, das ist überspannt. Und den Brunner Heimbringen, den gesunden, starken Mann, das ist auch überspannt.

Keiner sagt es, jeder denkt es, der eine mehr, der andere weniger, ein bißchen sogar der Moosbacher und der Brunner, alte Spezies vom Sepp. Man kann nicht grade sagen, daß der Sepp verloren hätte, dazu haben sie alle seine Selbstlosigkeit, sein heißes Herz und seinen Mut zu stark gespürt, achten sie ihn viel zu sehr, haben sie ihn viel zu gern, aber gewonnen hat er auch nicht. Gewonnen, restlos gewonnen, hat er zunächst eine Stunde später beim Brunner und zwei Stunden später beim Zweigler.

Als die drei aus dem Hause traten, langte der Sepp rechts neben die Tür und griff ein Seil, ein starkes, fast neues Seil, so, wie man es braucht, wenn man die Felsen hinabklettert, oder wie es die Wildheuer und Steinsammler haben, wenn sie sich herablassen. Das langt der Sepp und sagt: »Wir müssen uns anseilen.«

Da jedoch wird der Brunner wild. »Sepp,« sagt er, »bist du denn ganz und gar närrisch geworden? Ich denk, über die Saugflasche sind wir hinaus. Anseilen, wenn man aus dem Wirtshaus heimgeht! Dein Most ist doch wahr und wahrhaftig dünn genug. Laß mich aus!«

»Brunner,« bat der Sepp, »ich bitte dich, tu's. Schämen kannst dich nachher, und närrisch kannst mich nachher auch nennen, wenn's dir noch danach ist. Jetzt ist's kein Spaß, jetzt ist's blutiger Ernst. Die Ache ist zu, siehst kaum noch, wo sie geht, und finsterer kann es auch kaum sein. Geh, sei vernünftig. Läufst vornweg, dann ich, nachher der Zweigler. Komm, ich bitte dich.«

Da gab der Brunner, wenn auch kopfschüttelnd, nach, seilte sich an, stapfte voraus und die andern gingen hinterher. Im Dorfe mochte es sein. Da sah man da und dort einen dunklen Klumpen, der ein Haus war, und spürte unter den Füßen, daß geschaufelt worden war. Trotzdem war der Weg schwer und mühselig. Als sie jedoch aus dem Dorfe heraus waren, war es mit Weg und Richtung zu Ende. Von den Stangen, die in jedem Winter vom Schlegeli her als Wegzeichen in den Schnee gesteckt wurden, guckten nur eben noch die Strohbüschel an den Spitzen heraus. Zu sehen waren sie jedoch nicht, höchstens daß man sie spürte, wenn man zufällig mit dem Fuße dagegen stieß. Dann raschelte es, aber keiner wußte, ob es sich um den rechten oder den linken Wegrand handelte.

»Teixel,« sagte der Brunner, blieb stehn und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »wo sind wir denn eigentlich? Wir müßten doch längst an der Schertanne sein.«

»Nein,« sagte der Huber Sepp, »es geht sich zu langsam. Ich denke, noch hundert Schritte, aber ich weiß nicht, ob mehr rechts oder mehr links. Zweigler, schlepp die Füße tief nach, daß wir nachher unsere Spur sehn. Mach zu, Brunner. Ich meine, ein bissel mehr rechts.«

Die Schertanne stand aber nicht rechts, sondern mehr links. Rechts war das Bett der Ache, und auf einmal gab es dem Huber einen Ruck, daß er um ein Haar vornüber gefallen wäre. Er warf sich jedoch zurück. »Ziehn, Zweigler! Ho, ruck!« Der Brunner war über den Rand des Achebettes gelaufen und steckte bis an die Schultern im Schnee. Als ihn die beiden anderen herausgezogen hatten, stand er, schweratmend, da. »Sepp, bei Gott, ich könnt hin sein. – Das Seil ist fest?«

»Ja. Geh gradeaus, nicht rechts, nicht links.«

Geh einer gradeaus, wenn der Laternenschein im fallenden Schnee kaum drei Schritte weit reicht, dahinter die Finsternis wie eine Wand steht, und kein Baum und kein Haus oder auch nur ein Strauch Richtung weist, wenn alles glatt und einförmig ist, höchstens daß da oder dort ein Buckel liegt, den der Wind hinwehte. Mit einem Male schreit der Brunner auf, und es klingt wie ein Jubelschrei, er stehe an der Schertanne.

»Gut,« sagt der Sepp, »hast du zufällig einmal die Schritte bis an den Steg gezählt? Nicht? Dann halt in Gottes Namen weiter. Soll ich vorweggehn? Meinetwegen bleib du vorn, aber sicher mit dem Stocke.«

Der Steg, der über die Ache zum Brunnerhofe hinauf führt, ist die gefährlichste Stelle. Er ist schmal, hat kein Geländer und liegt mit dem Rande des Achebettes in einer Ebene. Aus dem letzten Hause im Schlegeli schimmert ein schwaches Licht. Man ist richtig. Nun vielleicht noch dreihundert Schritte, eine Sache von Minuten im lachenden Sonnenlicht, eine halbe Ewigkeit in der stockfinsteren, weglosen Schneenacht. Dreimal sinkt der Brunner ein. Schließlich sieht er im dünnen Laternenlicht einen Buckel, der geradeaus rechts hinüberweist. Er tastet mit dem Stocke, stößt auf Holz, sie tappen hinüber, halten an und haben ein Singen und Klingen in den Ohren, als ob Glocken läuteten, weil die Herzen stark und schwer hämmern.

»Sepp,« sagt der Brunner, »wieviel Stunden bin ich fort? Vier am Ende. Und so sieht's aus!«

»Mach weiter. Jetzt wirst du ja wohl den Weg leichter finden. Ich mein, ich sehe ein Licht von deinem Hause her.«

Nach dreißig oder fünfzig Schritten ist der Lichtschein so deutlich, daß der Brunner sagt: »Kehrt um. Jetzt finde ich, und ihr habt einen langen Heimweg.«

Der Sepp ist einverstanden, Brunner löst sich vom Seile, Huber und Zweigler nehmen es doppelt zwischen sich.

»Sepp,« sagt der Brunner beim Auseinandergehn, »kannst alleweil auf mich zählen. Das vergeß ich dir nicht.«

Damit tappt der Brunner vorwärts, die andern gehn zurück, aber als der Brunner zehn Schritte weiter ist, da erlischt das Licht in seinem Hause, er läuft wahrhaftig noch eine Weile halb verzweifelt in der Irre, steht schließlich an seiner rückwärtigen Schuppenwand und kriecht förmlich an ihr entlang in den Hof.

Huber und Zweigler haben, wenn auch schwer, glücklich heimgefunden, und am Wirtshaus sagt der Zweigler: »Sepp, ich bitt dir ab. Hast recht gehabt. Unter vierzehn Tagen kommt keiner durch nach Rauth.«

»Wenn es morgen aufhört zu schneien, in vierzehn Tagen. Wenn es aber weiter schneit – –«

»Sepp, um's Himmels willen!«

»Wir verhungern nicht, wenn wir zusammenstehn. B'hüt, Zweigler! Ich dank dir!«

Als der Huber Sepp ins Bett kriecht, beginnt sein Weib neben ihm zu jammern. Er habe sie so lange allein gelassen. Am Fenster knirsche es, und im Hause raschle es. Es sei überhaupt eine unheimliche Zeit. So lange Nächte und so viel Schnee, und die junge, gesunde Maria Walpurga sei so schrecklich gestorben. Wenn ihr selber doch der liebe Gott einmal ein rasches, leichtes Ende bescheren wolle.

Da nimmt der Sepp sein Weib in den Arm, streichelt ihr das Gesicht und tut ganz fröhlich. Den Brunner hätten sie heimgebracht, er und der Zweigler, und es sei ein Spaß gewesen, wie er selten einen gehabt. Wie die Schulbuben seien sie im Schnee hin und her gekugelt, und der Brunner habe aus lauter Übermut ein lustiges Lied nach dem andern gepfiffen. Sogar ein Schnadahüpfel habe er gesungen. »Ein Schnee und ein Bett und ein Weiberl dazu – –«

Er wolle nicht fortfahren, der Sepp, weil die Anna das nicht leiden möge.

»Leiden,« sagte die Frau mit müder, klagender Stimme, »ach! Aber was hast denn an mir?«

»An dir,« sagte der Sepp lachend, »nicht gar viel. Bist arg mager. Aber mit dir hab ich alles.«

»Bist zu gut, Sepp. – Und der Loisl kommt nun zum Oberlechner? Ja? Fürchtest du dich nicht der Sünde?«

»Nein. Der tät ich mich fürchten, wenn er etwa zum Moosbacher oder zum Brunner kommen sollte. Da könnte er nichts lernen.«

»Laß ihn doch bei uns.«

»Mußt nicht wieder davon anfangen, Anna. Ich hab dir's doch gesagt. Es geht nicht. Schau, aus den Kindern wird einmal ein Bub und ein Dirnlein, und auf einmal – – Es brennt schon lichterloh, eh bevor du merkst, daß es überhaupt angefangen hat zu brennen. War's denn bei uns anders?«

»Halt ja. Freilich, aber – Sepp, versprich mir, daß du die Zenzi nicht einmal zwingen wirst, einen zu heiraten, den sie nicht mag.«

»Das versprech ich dir in die Hand und ist so gut wie ein Schwur. Aber warum legst du das mir auf? Du bist doch auch da.«

»Ich werde nicht mehr da sein.«

»Stad, Anna. Hast wieder so viel Wehtun? Das macht das Wetter.«

»Laß gut sein, Sepp. Ich weiß, wie ich dran bin, und du weißt es auch. – Aber zum Oberlechner?!«

»Anna, ich wüßte nicht, wo der Bub so viel lernen könnte, als bei dem, wenn auch ohne ihn. Schau, er muß doch durch die Schule. Ich hab einmal ein Wort gehört, weiß nicht, woher es ist, das heißt: Es ist dem Manne gut, daß er sein Joch in der Jugend trage.«

Das sei ein treffliches Wort, meint der Sepp, wenn es auch für den Loisl nicht ganz zutreffe; denn: Joch tragen? Wo sei denn das Joch? Man könne den Oberlechner zwar nicht grade einen extra guten Menschen nennen, könne ihm aber auch wiederum nicht eigentlich etwas Unebenes nachsagen. Er sei, wie er sei, aber daß er seine Sache verstünde und auf sie sehe, das würde ihm selbst sein Feind, wenn er wirklich einen habe, was der Sepp nicht wisse, lassen müssen. Zuguterletzt seien sie, die Anna, er, der Sepp, und der Pfarrer aber schließlich auch noch da. Nun möge die Anna schlafen, das Dach sei fest, die Mauern seien stark und – so ein Schnee, ein warmes Bett und ein Weiberl dazu – –! »Sepp!« sagt die Anna lachend, kuschelt sich fest an ihn und schläft binnen Ja und Nein ein.

Nicht so der Sepp. Der liegt Stunde um Stunde, ohne ein Auge zutun zu können. Sie hat recht, die Anna. Es ist eine unheimliche Zeit. Wenn etwas da ist, auch wenn es einen plötzlich überfällt, dann setzt man sich damit auseinander und wird fertig. Wenn man aber mit gebundenen Händen dasteht, etwas kommen sieht, das man als grauenhaft fürchtet und als erträglich zu hoffen sich bemühen möchte, obwohl wenig zu hoffen ist, dann ist das eine Vorstufe der Hölle. Sepp Huber macht sich nichts vor. Geschieht das Gräßliche, daß es noch acht Tage schneit, dann steht in St. Thomas eine Handvoll Männer wie vor dem Feinde auf dem Schlachtfeld. Eine Handvoll; denn daß sie freiwillig alle zusammenstehn, voran der Bürgermeister, damit ist nicht zu rechnen. Es ist vielmehr damit zu rechnen, daß Freundschaften in die Brüche gehn, die Eigensucht lügt und betrügt, die Not eines Tages kein Gebot mehr kennt. Der Josef Huber ist kein arger Beter, aber in der Nacht ruft er den Himmel an, sich entweder zu erbarmen und mit dem Schneefall einzuhalten, oder ein Wunder zu tun, das heißt, einen Ring zu schweißen um alles, was in St. Thomas atmet. –

Am Morgen wälzt sich der Jakob Schnack faul in seinem Bett und denkt, so ein richtiger Winter ist nicht die schlechteste Erfindung des Herrgotts. Man kann jetzt wenigstens einmal ordentlich ausruhn. Damit dreht er sich auf die andere Seite. Einmal wird es schon wieder Morgen werden. Ich habe Zeit. Er hat Zeit, schläft, wacht wieder auf, schläft wieder ein, aber es fängt an, langweilig zu werden, wird halb munter, sitzt mit einem Ruck grade, weil er die Uhr schlagen hört, zählt, zählt zehn, und sein Weib neben ihm knurrt: »Will's denn heute überhaupt nicht Tag werden?« und das Jaköble, der Dreijährige, meckert: »Aufstehn will ich. Jaköble hat Hunger.« Und im Stalle schreien die Ziegen und stoßen mit den Hörnern gegen die Bohlen.

Da zündet der Schnack ein Licht an, langt sich die Sackuhr, will es nicht glauben, meint, sie sei gestern abend stehngeblieben, hält sie an das Ohr, sie geht, und er sagt langsam und fremd: »Sophie, es wär zehn.«

»Was zehn?« fragt die ärgerlich, weil es ihr zu dumm vorkommt, jetzt, wo sie doch schon eine ganze Weile geschlafen haben müssen, zu sagen, es wäre erst zehn.

»Vormittag um zehn,« sagt der Jakob.

»Jakob!« schreit das Weib. »Will denn die Welt untergehn, weil's nimmer Tag wird?«

»Das glaub ich nicht,« meint der Jakob, »aber eingeschneit sind wir.«

Sein Häuslein ist niedrig, und sie schlafen noch dazu zu ebener Erde. Also steigt der Jakob die schmale, steile Treppe hinauf und guckt aus dem Bodenfenster. Der Tag ist da, aber sein Licht ist grau und matt und müde, der Schnee reicht bis an die Dachrinne, und – es schneit weiter.

Der Jakob reißt das Bodenfenster auf, weil er etwas ganz Verrücktes zu sehn meint und sich vergewissern will, daß er auch richtig guckt. Ein paar Schritte rechts von ihm wohnt sein Spezi, der Brandl Max, und der – sitzt auf seinem Schornstein obendrauf. Er ist ein lustiger Vogel, der Max, und als er den Jakob sieht, kräht er wie ein Hahn in den Schnee hinaus. »Kikeriki, kikeriki.« Dann wendet er das lachende Gesicht dem Spezi zu. »Wissen ja sonst in St. Thomas heute überhaupt nicht, daß es Tag ist. – Grüß, Jakob. Kruzitürken, sieht nicht gut aus von hier oben. Eingeschneit! Sitzen wie die Maus' in der Falle. Schaufeln müssen wir. B'hüt, Jakob. Ich steig wieder ab.«

+++

Schaufeln! Ganz St. Thomas schaufelt. Erst ist es eine Lust, und jeder Bub schaufelt mit, dann wird es eine harte Arbeit, hernach ein verzweifelter Kampf; denn es schneit nun schon den fünften Tag, und es geht eine böse, unheildrohende Mär durch St. Thomas. Die ewige Lampe war ausgegangen. Der Brock hat es gesagt, aber der Brock fährt jeden an, der ihn darum fragt; denn der Pfarrer hat ihm gehörig den Kopf gewaschen. Es ist wahr, die ewige Lampe war ausgegangen, weil der Mesner krank lag und der Pfarrer nicht in die Kirche kommen konnte, aber so eine Torheit, das den Leuten zu sagen und sie ängstlich zu machen, wo es doch jetzt nur eines geben kann, Besonnenheit! Im übrigen ist alles wieder in Ordnung, die ewige Lampe brennt wieder, und die Glocke klingt auch wieder. Dreimal am Tage klingt sie, früh um acht, mittags um elf und abends um fünf, und jedesmal läutet der Pfarrer eine Weile länger als üblich. Die Straße und die Seitenwege sind ausgeschaufelt und werden ständig ausgeschaufelt. Es sind eigentlich nur Rinnen, die das Dorf entlang und zu den Häusern hin führen, aber man kann wenigstens zueinander kommen, und es sind zwar nur Schächte, die von den ebenerdigen Fenstern herauf führen, aber man weiß jetzt wenigstens in den Stuben, ob es noch immer Nacht ist oder allmählich wieder Tag wird. Eine ganze Kolonne Männer gräbt sich von St. Thomas nach dem Schlegeli hinüber. Aus dem graben sich Männer und Weiber verzweifelt auf St. Thomas zu, und als sie einander treffen, sagt der Sixt vom Schlegeli: »Habt ihr Brot mitgebracht? Wir haben keins mehr.«

»Kein Brot mehr?« sagt der Brandl, der immer noch einen Jux weiß. »Brot haben wir, aber der Branntwein ist alle. Der Sepp ist ausgesoffen.«

Er ist nicht ausgesoffen, das ist nicht wahr, aber der Sepp hat den Branntwein in der hintersten Stallecke verborgen und sagt, er wäre alle. Nun hat auch noch der Pfarrer eine Dummheit gemacht, die unverzeihlich wäre, hätte er es nicht gut gemeint. Aber Gutmeinen hin und her, es war eine Dummheit. Er hat mit dem Sepp gesprochen, und der hat ihm gesagt: »Hochwürden, wenn der Himmel nun nicht bald ein Einsehen hat, dann wird's bös. Wir sind auf den Grimm und den Anzinger eingerichtet, und – wann sollen die wieder kommen können? Was in St. Thomas da ist, das kann nicht arg viel sein.«

Das ist dem Pfarrer Hornberger wie ein Schlag in die Glieder gefahren, und er ist in alle Häuser gegangen, törichterweise zuerst zu den Armen: »Leute, ich bitt euch um aller Heiligen willen, spart, sonst müssen wir verhungern.«

Als ob davon die Rede sein könnte, wenn allein der Oberlechner an die dreißig Stück Großvieh hat, und der Wirt hat zwanzig, der Moosbacher achtzehn, der Brunner dreiundzwanzig, von den Ziegen ganz abgesehn. Der Pfarrer hat es ja auch nicht so gemeint. Er hat gemeint, daß Mehl und Brot alle würden, vom Fleisch hat er nicht geredet, aber die Leute tun auf einmal, als grinse der Hunger schon aus jeder Ecke her, und rennen zum Wirt: »Mein Mehl ist alle. Ich muß Mehl haben.«

Und nun geht der Spektakel los; denn der Wirt merkt den Braten und sagt schon am zweiten Tage, nachdem der Hungerschrei begonnen hatte umzulaufen, das sei nicht wahr. Noch hungerten sie nicht, und damit sie nicht hungerten, gäbe er nichts mehr heraus, sondern das gehe jetzt alles durch des Moosbacher Hand.

Und so ist es. Es waren wohl fünfzehn Männer, die auf des Moosbacher Aufforderung bei dem Wirt zusammenkamen, um zu beraten, aber es war doch recht viel Unverstand und Eigensucht auch unter ihnen. Sie könnten sich noch eine Weile hinhalten, sagten die meisten, und was mit denen werden solle, bei denen es knapp und immer knapper herginge, das könnten sie nicht sagen und nicht hindern. Von ihnen aus falle der Schnee nicht, also könnten sie auch nichts dafür, wenn der Hunger in den Hütten einkehre. Sie wollten und müßten zuerst einmal an sich selber denken. Möchten die Leute erst ihre Ziegen schlachten, und etliche hätten ja auch Schweine. Der Wirt hielt sich zurück. Das einzige, was er sagte, war, daß er von sich aus nichts mehr herausgäbe, möge werden, was wolle, sondern daß er nur noch an den Moosbacher liefere. Der Brunner aber und der Zweigler hieben auf den Tisch. Was der Sepp jetzt sage, habe er von allem Anfang an gesagt, und er habe recht und handle recht. Er habe auch recht gehabt, als er damals darauf bestanden, ihn, den Brunner, mit dem Zweigler zusammen heimzubringen. Da hätte er sich geradezu geschämt, der Brunner, und den Sepp für übergeschnappt gehalten, aber so und so sei es gewesen, und er danke sein Leben dem Sepp und niemand sonst.

Als das der Brunner sagte, wurden die Gesichter lang und nachdenklich, und nun mußte der Sepp selber heraus, ob er wollte oder nicht. Es war ihm unlieb; denn er hatte etwas getan, das er für richtig gehalten, das er nun nicht mehr ändern konnte, das ihm aber in der Stunde doch bedenklich erschien. Er hatte den Loisl hinter den breiten Ofen verstaut. Der sollte hören, was geredet und beschlossen wurde; denn der Sepp rechnete damit, daß der Bub ein Gleiches ein zweites Mal nicht erleben würde. So jung war der Loisl nicht mehr, daß er das vergaß, und so dumm war er erst recht nicht, daß er sich nicht schon von sich aus seinen Vers darauf gemacht hätte. Es sollte aber ein Vers werden, der das ganze Leben lang als eine große und starke Melodie in ihm klang. Erkennen sollte der Loisl, was eine Gemeinde wäre, erleben sollte er, was Manneswort und Mannestat seien, und der Sepp hatte, wenn auch zage, gehofft, daß jeder wisse, worum es gehe und vernünftig sei, er selber sich also zurückhalten könne und höchstens ab und zu mit einem kurzen Wort werde eingreifen müssen. Vornan oder gar über den andern sollte ihn der Loisl ja nicht sehn; denn wenn der gar zuviel von ihm hielte, dann wäre das schlimm für den Buben, weil ein Kind sein Vertrauen leicht übersteigert und einen Mann für einen halben Herrgott hält, wo er das doch niemals ist und niemals sein kann. Das kleine Kind mag den Vater allmächtig wähnen, das größere soll ihn als Menschen sehen lernen, den es verehrt, den es liebt, dem gegenüber aber Verehrung und Liebe nicht die eigene Meinung und das eigene Urteil totschlagen. Der Loisl soll Vertrauen zu seinem Pflegevater haben, aber er soll erkennen, daß auch er seine Begrenzung hat, daß er, selbst wenn seine Ansichten richtig sind, immer erst nur einer ist, und daß andere auch Männer sind und ihre Meinung haben.

So hat es sich der Sepp gedacht, so geschieht es ja schließlich auch, aber es muß zuvor doch mit mehr Torheit und Eigensucht aufgeräumt werden, als der Sepp das in der gegenwärtigen, allen gemeinsamen Not angenommen hat. Die Männer, die zusammengekommen sind, müssen erst einig gehämmert werden. Von sich aus sind sie es nicht. Der Moosbacher ist ein redlicher Mann. Neben ihm sind es die meisten anderen, aber einer sagt, der Bürgermeister habe erklärt, er habe zu essen, und die anderen gingen ihn nichts an. Er käme also nicht zu der Beratung. Die Antwort müsse sein, daß man sich mit Gewalt hole, was er nicht freiwillig gäbe. In die Kerbe hauen sogar einige der Besonnenen.

Daraufhin bleibt dem Sepp nichts weiter übrig, als einzuspringen; denn der Moosbacher kann nichts weiter, als grob werden, und damit ist es nicht geschafft. Ja, sagt der Sepp, das wäre schon eine ganz richtige und gute Meinung, wenn – –

»Herausholen«, wendet er sich an den Sixtus Mayer, »wer?«

»Wer?« fährt der Sixtus auf, »das brauche ich bloß dem Murner und dem Breiter und dem Eisner zu sagen, dann ist's gleich gar.«

»Ja, dann ist's gleich gar,« sagt der Sepp, nickt und hat ein bitteres Lachen um den Mund. »Sixtus, wenn beim Bürgermeister herausgeholt wird, und es kann möglich sein, daß es nötig ist, dann in Ordnung und von uns aus. Ich rechne auch dann damit, daß es nicht ganz im Guten abgeht, aber wir werden es halten können. Lassen wir aber den Murner und den Breiter und den Eisner los, – kannst gleich noch etliche dazu nennen, – dann schießt es von der einen Seite und schlägt tot von der anderen. Hat es aber einmal damit angefangen, dann, Sixtus, gibt es kein Halten mehr und – keinen Unterschied. Sixtus, um aller Heiligen willen, red keine solchen Dummheiten. – Hast du aufgeschrieben, Moosbacher, was da ist? Gut. Geh nachher zum Bürgermeister und stell ihm noch einmal vor, um was es eigentlich geht. Und jetzt, dächt ich, hättest du noch was zu sagen, Brunner.«

»Ja, ich hab noch was zu sagen,« bekräftigte der Brunner. »Das hab ich zu sagen: Der Murner und der Breiter und der Eisner und der Proch sitzen den dritten Tag beieinander und tarocken, und dem Wirt ist letzte Nacht der halbe Branntwein gestohlen worden. Die Agnes Brauer ist zum Hinderer gelaufen und haust mit dem, und beim Andres haben sie die halbe Nacht getanzt und juchheit, und als ich dem Andres die Schande auf den Kopf zusagte, hielt er mir dawider, sie müßten ja doch verrecken, da wollten sie es sich noch einmal wahrnehmen. Das habe ich zu sagen. Und das: Wenn wir die Leute sich selber überlassen, dann braucht sie niemand mehr an den Bürgermeister zu heißen, dann gehn sie von selber zu dem und – zu uns. Darum sage ich: Hier muß ein Mann her, und wenn's der Oberlechner nicht sein kann und der Sepp nicht sein will, womit er recht hat; denn es muß einer da sein, der in der Mitte steht und hierhin und dorthin austrumpft oder zuredet, und das kann bloß der Sepp, dann, sage ich, mußt du her, Moosbacher. Eine Arbeit laß anfangen. Der Weg nach Rauth muß frei werden. Und wenn wir jeden Tag von vorne anfangen müssen, weil es immer wieder zuweht, so kommen wir doch auch gewiß jeden Tag ein Stück vorwärts. Die Hauptsache aber ist, daß sie keine Zeit haben, Dummheiten auszuhecken.«

Das hatte der Brunner zu sagen. Es war eine gute Rede, und es brauchte nun nicht mehr, die Männer den ganzen schweren Ernst der Tage spüren zu lassen und sie einig zu machen. Was nachher gesprochen wurde, betraf das Wie, nicht mehr das Was, und mit dem Wie kam man zu Rande.

Die Männer gingen auseinander, und der Huber sagte, als sie hinaus waren: »Kannst nun wieder vorkommen, Loisl.«

Der kam vor, war weiß wie eine Wand, und der Sepp lächelte. »Hat dir das nicht gefallen, Bub?«

»Gefallen nicht, aber es muß wohl sein.«

»Ja, es muß sein, und das sollst du dir merken: Ein Mann rennt nicht unsinnig mit dem Kopf gegen eine Wand, aber auch eine Wand hindert ihn nicht an dem, was sein muß. Er versucht nicht, sie mit dem Kopf einzurennen, aber er trägt sie ab, wenn sie ihm im Wege ist. Weg kommt sie, weil sie weg muß. Der Brunner hat eine gute Rede getan.«

»Du auch.«

»Ich? Was habe ich denn groß gesagt? Und was ich sagte, hatte ich vom Brunner. Der hat eine gute Rede getan, und der Moosbacher hat sie auch getan, aber erstlich: Reden sind nicht mehr als die knappe Halbscheid, ohne die es zwar nicht geht; denn man muß einander sagen, wie man es und was man meint, aber sie sind nichts, wenn es bei ihnen bleibt. Tun muß man, zugreifen, anpacken, durchreißen. Das ist die größere und bessere Halbscheid. Das iss das eine. Das andere ist: Nichts wird gewonnen, keine Not und kein Elend wird aufgehalten, wenn die Leute nicht zusammenstehn wie ein Mann, nicht die Hände ineinander schlagen, so daß es nachher eine, eine ganz starke, ist, sondern widereinander stehn und gehn. Hast etliches gehört, Loisl, das mir nicht lieb war. Leg's beiseite, geht dich nichts an, aber wissen mußt du, daß überall das Schlechte und Häßliche neben dem Guten und Starken sitzt. Das ist so, und man tut gut, die Leute zu sehn, wie sie sind, nicht, wie man sie haben möchte. Dann wirst du viel sehn, das dich freuen kann, viel mehr, als was dir nicht gefällt. Und noch eins möcht ich sagen: Der Brunner hat dir gefallen. Mir auch. Warum, was ist am Brunner? Hat lange nicht soviel wie der Bürgermeister, und daß sein Hof gar so sicher stünde, wenn die Törle-Lawinen kommen, das will ich auch nicht sagen. Was ist also am Brunner? Er ist ein Mann. Ehbevor er aber auf dem Hofe an seines Vaters Stelle trat, ist er ein Bub gewesen, der kaum besser dran war als du. Der Hof war ihm nicht bestimmt. Der war erst dem Sepp bestimmt, der der Älteste von drei Brüdern war. Und als den Sepp die Ache mit fortriß, da starb der Hof auch noch nicht auf den jetzigen Brunner, sondern auf den Schorsch, den zweiten. Erst als der von Daplang herüber erfror, war der jetzige der Hoferbe. Damit aber war nicht zu rechnen gewesen, und damit hat der Franz auch nicht gerechnet. Dreiundzwanzig Jahr war er, als der Schorsch erfror. Was aber war er bis dahin? Vom elften Jahre ab ein Hütebub der Schafe auf der Brockalm, vom fünfzehnten bis zum achtzehnten Jahre der Senn auf der Firstalm, vom achtzehnten ab ein Knecht bei Vater und Brüdern. Meinst du, daß es der Franz leicht gehabt hat? Ich dächte, man könnt das nicht eben sagen. Aber weil er einen graden Sinn hatte, die Zähne aufeinanderbiß, wo andere gejammert hätten, ist er ein Mann geworden. Keiner wird ein Mann hinter dem Ofen und keiner, der das Schürzenband nicht losläßt. Der Franz wäre ein Mann geworden auch ohne den Hof. – So, Loisl, ich glaub, die Zenzi hat Langeweile, und die Mutter hat leicht auch schon ein Brot für dich zurechtgemacht.«

Ja, die Zenzi hatte Langeweile gehabt, es war der Mutter nicht gelungen, sie ihr zu vertreiben, und so schmollte sie und empfing den Loisl mit einer kleinen Schimpfrede. Er sei kein guter Bub, und der Hansel, ihre Bubenpuppe, habe die ganze Zeit geweint.

»Der Hansel kann nicht weinen,« sagte der Loisl.

Da machte die Zenzi große Augen. »Warum kann er denn nicht?«

»Weil er gar kein Hansel, sondern bloß eine Puppe ist.«

»Das ist nicht wahr. Der Hansel ist der Hansel. Ich sag's.«

»Dann wird's auch noch nicht anders.«

Daraufhin fing die Zenzi selber an zu weinen und wiederholte, daß der Loisl ein schlechter Bub sei, ein ganz schlechter.

»Das bin ich nicht,« wehrte sich der Loisl. »Und wenn halt der Hansel durchaus ein Hansel sein muß, dann soll er's sein. Bloß weinen darfst du nicht. Aber anders ist's schöner.«

»Was ist schöner?«

»Wenn die Mutter erzählt, und wenn wir Bilder ansehn.«

»Ja, die Mutter soll erzählen.« Die Zenzi lief zur Mutter. »Mutter, du sollst erzählen, und wir wollen Bilder ansehn. Der Loisl hat's gesagt.«

»Schau derweile mit dem Loisl an. Ich hab keine Zeit. Nimm dem Buben das Brot mit.«

Das Brot versöhnte die Zenzi. Sie sprang wieder zum Loisl, und sie aßen zusammen. Einmal biß der Loisl, einmal die Zenzi, aber so sehr die sich auch bemühte, sie brachte die Bissen doch nicht so groß fertig wie der Bub. Grade als die Kinder fertig waren, kam die gute, blasse Frau Anna. Der Loisl schob ihr in ungeheißener natürlicher Ritterlichkeit ein Bänkchen unter die Füße und ein Kissen in den Rücken, lief, holte das große Buch, das dem Vater Sepp gehörte, legte es der Mutter in den Schoß, schlug es auf und bat: »Erst vom Hütebuben, nachher vom Murmeltier.«

Da las denn die Anna Huber mit gütiger, singender Stimme: »Am schönsten, vielleicht aber auch am schwersten hat es der Schafhirte der Berge, der Hütebub. Er ist unbestrittener König eines Reiches, das an erhabener Herrlichkeit nicht seinesgleichen hat.« Eine ganze Weile las die gute Frau Anna, und der Loisl hatte leuchtende Augen und eine Falte in der Stirn. Als sie fertig war, sagte der Loisl: »Der Brunner war auch ein Hütebub und ist doch ein Mann geworden.«

»Und du wirst auch beides werden.« Die Frau strich dem Loisl über den Scheitel.

»Ja,« sagte der Bub. »Und jetzt vom Murmeltier. An der Dreiecksalm sind doch Murmeltiere?«

»Da sind viele.« Die Huberin las. Als sie fertig war, bettelte die Zenzi: »Nun das vom Murmeltier singen.« »Aber du mußt mitsingen. Der Loisl auch.« Sie sangen zu dritt erst das Lied vom Murmeltier: Murmeltier kann tanzen, eins und zwei und drei und vier. Murmeltier kann tanzen, scharmantes Murmeltier. Dann sang die Huberin allein das Lied vom armen Savoyardenknaben. Da war es nachher ein Weilchen still, bis der Loisl sagte, im Sommer werde er der Zenzi ein Murmeltier fangen.

»Sag: Wahrhaftig,« drängte die Zenzi.

Da sagte der Loisl: »Wahrhaftig,« und – draußen schneite es. – –

Im Moosbacher hatte sich der Sepp nicht getäuscht. Er war ein grader, aufrechter Mann. Was ihm an Redegabe und Weitblick fehlte, ward ausgeglichen durch einen praktischen Sinn, der das Nahe zu erfassen und zu bezwingen wußte ohne viel Worte, und war gerade das Richtige für St. Thomas.

Vom Wirtshause aus ging der Moosbacher zum Bürgermeister, um noch einmal mit ihm zu reden. Da traf er den Nägeli, und die beiden versuchten, den Spieß gegen ihn herumzudrehn. Erstlich sei der Bürgermeister nicht zu der Besprechung eingeladen gewesen, zweitens hätten Abmachungen, die ohne ihn getroffen würden, keinen Sinn und keine Gültigkeit, drittens würde er die Unruhstifter – jawohl, sie seien Unruhstifter, nichts weiter, – beim Bezirksamt anzeigen, vierten wolle er seine Hände rein halten, mache also den Unfug nicht mit. Der Nägeli nickte zu allem und wiederholte jedesmal die letzten Worte, wobei er, wie immer, mit der Zunge anstieß. Also: »Nift eingeladen, keine Gültigkeit nift, antzeiven, nift mit. Jawohl.«

Da schoß dem Moosbacher die Röte bis in die Haare.

»So,« sagte er, »darauf willst du dich hinausreden? Dann will ich da weitermachen, wo du aufgehört hast. Fünftens bist du eingeladen gewesen durch meinen Seppel, der auch die anderen eingeladen hat. Sechstens werden wir unsere Abmachungen durchsetzen, weil wir ohne die Mord und Totschlag in St. Thomas kriegen. Siebentens werden wir dich anzeigen, achtens wird, wenn Unfug geschieht, er zuerst bei dir geschehen, und der Nägeli wird dir nicht helfen können. Neuntens mußt du dich in dein Herz hinein schämen, und zehntens bist du zu dumm, um überhaupt zu begreifen, was gespielt wird. Mehr wüßt ich jetzt nicht. B'hüt.«

Am anderen Morgen begann die Arbeit am Wege nach Rauth, aber der Murner, der Breiter, der Eisner, der Proch, der Mayer, der Bürgermeister, der Nägeli und etliche andere waren nicht dabei. Mit dem Andreas machte der Sepp Huber kurzen Prozeß. Der war nichts weiter als ein dürrer, feiger Kerl, der es gern mit ehrvergessenen Weibern hielt.

Der Sepp jagte also die Agnes Brauer mit einem Besenstiel aus dem Hause, trat breitbeinig vor den Andreas und sagte: »Willst jetzt oder willst nicht?« Da war es schon ausgestanden. Der Andreas wollte. Etliche andere waren vernünftiger Zurede zugänglich und eigentlich nur deshalb zurückgeblieben, weil sie meinten, man müsse umschichtig an dem Wege arbeiten. Alle auf einmal hätten gar keinen Platz. »Da habt ihr recht,« gab der Sepp zu. »Die Stadel müssen aber auch frei werden. Das Futter wird knapp. Sagt das dem Moosbacher. Der wird euch weisen.« Nichts erreichte der Sepp bei den Tarockbrüdern, während er zum Bürgermeister und zum Nägeli überhaupt nicht ging. Wäre der Sepp nicht gewesen, der er war, die Tarockbrüder hätten ihn geprügelt. Es genügte aber, daß er den Murner, der unflätig ward, aufs Maul schlug, daß ihm die Zähne bluteten. Dabei war der Murner ein einschichtiger, grober und ungeschlachter Mensch mit einem wilden schwarzen Vollbart, mit dem die wenigsten zu tun haben mochten. –

Es schneite zwar noch immer, aber am Rauther Weg ging es trotzdem lebhaft her. Die Arbeit war nicht schwer, und daß sie nicht nur überhaupt, sondern auch klug getan wurde, dafür sorgten der Moosbacher und der Brunner.

Gegen Abend sagte der Moosbacher, daß er morgen ein Rind schlachten werde. Das Fleisch werde zwar nicht umsonst verteilt, sondern gegen gerechten Preis verkauft, aber wer haben wolle, der könne haben, mit Ausnahme derer, die nicht mitgearbeitet hätten. Dem, der zur Zeit nicht zahlen könne, werde es angeschrieben für den Sommer. Nach ihm, dem Moosbacher, werde der Brunner einen Stier stellen, und dann müsse man weiter sehn. »Und der Bürgermeister?« fragte der Brandl Max.

»Geht uns nichts an,« sagte einer.

Da erhob sich Widerspruch. »Oho,« sagte der Trum, der Korbflechter, »oho. So haben wir nicht gewettet, und ich bin dafür, daß vor dem Brunner der Oberlechner dran kommt, und wenn wir uns den Stier holen müssen.«

»Vom Holen ist keine Rede,« zürnte der Moosbacher. »Aber das will ich noch sagen: Es wird keine Ziege geschlachtet, die einer nicht sowieso geschlachtet hätte. Daß ihr's wißt! Und morgen um acht schickt eure Weiber. Es wird Mehl ausgegeben.«

Die Tarockbrüder gingen leer aus, und als sie dem Moosbacher Lärm machen wollten, ließ der vorerst seinen Hofhund los und nahm nachher die Peitsche und jagte sie davon. Da gingen sie wieder zu ihrem Tarock, spielten, soffen und sangen, und dem Breiter sein Weib machte mit. Sie war viel größer und stärker als ihr Mann, und der Murner stach ihr in die Augen. Als der Breiter, der Eisner und der Proch am Abend aus des Murners Hause heimgehen wollten, sagte die Breiterin, sie bliebe. Der Eisner und der Proch brüllten vor Lachen. Breiter wollte sich als Mann zeigen und versuchte aufzutrumpfen, aber der Murner legte seinen Arm um die Breiterin und sagte gemütlich: »Stasi, red doch nicht so dumm daher. Was kannst du denn machen? Geh heim. Nimmst einen Wärmstem. Dann frierst du auch nicht.« Der Breiter ging wie ein geprügelter Hund und heulte vor Wut in sich hinein.

Es war beim Oberlechner gestohlen worden, viel sogar, Würste und Speck und Brote. Jeder kannte die Spitzbuben, aber niemand nannte sie, und als der Bürgermeister, einen Knüppel in der Hand, in des Murners Haus trat, nahm ihm der vorerst den Knüppel ab und zerschlug ihn, und dann warf er den Oberlechner aus dem Hause.

Der beging nun eine große Torheit. Er lief an den Rauther Weg, um Hilfe zu holen, und mußte es sich nicht nur gefallen lassen, daß ihm die Hilfe versagt ward, sondern rührte auch allen Zorn gegen sich, der vom Moosbacher und anderen niedergehalten worden war, derart wild auf, daß der Moosbacher jetzt vergeblich zur Ruhe redete. Er vermochte es nicht zu hindern, daß die Waldarbeiter, die Wildheuer, die Flößer untereinander ein Komplott schmiedeten, obwohl er allerlei Anzeichen dafür hatte, daß etwas im Werden war. Gott sei Dank kam der Brandl Max zum Wirt und vertraute ihm an, was geschmiedet ward.

Es war eine große Last, die dem Sepp aufgebürdet ward, und es war schwer, hier das Rechte zu finden. Die Leute wollten andern Tages mit Gewalt einen Stier aus des Bürgermeisters Haus holen. Des Brunners Stier war aufgezehrt, nun sollte der Oberlechner drankommen, nicht der Zweigler, wie es in Aussicht genommen war, und der Brandl Max sagte, das wäre auch nicht mehr als recht und billig. Drankommen müsse der Oberlechner, aber da die Gefahr bestünde, daß außer seinem Stier er auch selber drankomme, denn er werde sich zur Wehr setzen, darum sage es der Brandl dem Sepp. Aufzuhalten sei nichts. Die Leute verlangten Gerechtigkeit. Was der Max wolle, sei dies: Der Sepp möge zusehn, daß es wenigstens in Ordnung zugehe. Aber etwa die Bauern gegen die kleinen Leute zusammenrufen, das möge der Sepp ja nicht tun.

»Ich dank dir, Brandl,« sagte der Sepp. »Was ich machen werde, weiß ich noch nicht. B'hüt, Max.«

Die Bauern gegen die kleinen Leute aufrufen? Das wäre der Anfang vom Ende gewesen. Bei den Leuten zur Vernunft reden? Es war wenig Aussicht, daß der Sepp etwas erreichte; denn im Grunde hatten die Leute recht, und selbst der Sepp dachte wie sie. Sie gedachten, Gewalt anzuwenden. Es blieb wohl auch kein anderer Weg. Wie weit sie aber mit dieser Gewalt gingen, das hing vom Oberlechner ab. Und hier lag des Sepps Aufgabe.

Er ging zum Moosbacher, sich mit dem zu besprechen, und erreichte, was er wollte. Der Moosbacher würde morgen jeden, der zur Arbeit kam, an der Arbeit festhalten, mochte hinter ihnen im Dorfe geschehn, was wollte. Hier war der Sepp da.

Es war die reichliche Hälfte der Leute im Vergleich zu gestern, die heute am Rauther Weg arbeiteten. Der Moosbacher redete ganz ehrlich mit ihnen, kriegte sie zwar unter und hielt sie bei der Stange, aber es lag eine mächtige Spannung über ihnen, und aus der Arbeit wurde vorerst nicht viel.

Im Dorf lag der Sepp auf der Lauer. Um halb zehn kamen an die zehn Männer im wirren Haufen, entschlossen und unerbittlich, aber ohne Lärm und wilde Reden. Es war nicht der Zufall, für den es die Tarockbrüder ausgaben, daß sie zur gleichen Zeit nach dem gleichen Ziel strebten, sondern der Eisner hatte Wind bekommen, wenn er es auch bestritt. Auch dem Nägeli war ein Lüftlein zugeweht. Der hatte es weiter zum Oberlechner geleitet, und so stand der, eine Flinte in der Hand, im offenen Fenster, die ungebetenen Gäste zu empfangen. Hinter ihm standen der Nägeli und der Toni, jeder auch mit einer Flinte. Sie sollten zunächst nicht schießen, hätten es auch vor Schlottern nicht gekonnt, sondern nur laden. Schießen wollte der Oberlechner, und man muß schon sagen, er war trotz allem ein Mann, wenn auch kein guter und besonnener. Es ist selbstverständlich, daß sich auch Weiber und Kinder herzugesellt hatten. Der Loisl Schirmer war auch darunter, aber dem hatte der Sepp gesagt: »Geh hin, damit du siehst, was in Menschen stecken kann, die sonst keinen Wurm zertreten mögen.«

Der Murner wollte anfangen zu grölen, aber der Brandl Max sagte: »Wenn du jetzt nicht das Maul hältst, stopfen wir es dir. Das ist hier kein Jahrmarkt, und du und deine Sorte, ihr gehört überhaupt nicht her.«

Derselbe Brandl trat vor die andern und schrie zum Oberlechner hinüber: »Tu die Flinte weg, oder es gibt ein Unglück. Was der Moosbacher, der Brunner und der Zweigler können, kannst du erst recht, und mehr wollen wir nicht. Gib einen Stier heraus, welchen du willst. Du kriegst dein Geld dafür, und wir gehn, wie wir gekommen sind. Den Stier aber gib her. Wir müssen ihn haben; denn wir hungern.«

Es war eine gute Rede. Der Bürgermeister aber hörte statt Besonnenheit Furcht daraus und sagte, sechs Schüsse hätten sie in den Rohren. Also noch einen Schritt, und sechs seien vorerst geliefert. Er auch, das wisse er, aber das sei ihm egal. Hier wäre er der Herr, und nachdem, wie man ihm mitgespielt, gäbe er den Stier weder im Guten noch im Bösen, und wenn ganz St. Thomas verrecke.

In dem Augenblick kamen zwei gelaufen und drängten nach vorn, der Pfarrer von links und der Sepp von rechts.

»Hochwürden, Sie bleiben!« gebot der Sepp. Mehr zu sagen, war keine Zeit; denn es stand alles auf des Messers Schneide. Mit drei langen Sätzen hatte sich der Sepp über den Hof geschnellt. Der Bürgermeister hatte weder Zeit zum Denken noch zum Handeln. Einen Gedanken hatte er: Du mußt die draußen im Auge behalten. Mit dem Sepp werden die hinter dir, der Nägeli und der Toni, fertig. Sie wurden es aber nicht, konnten es gar nicht, sondern ehe noch einer von ihnen die Flinte auch nur heben konnte, flog der Nägeli rechts, der Toni links gegen die Wand. Dabei ging des Tonis Gewehr los. Beide Schüsse fuhren in die Decke, und in dem Augenblicke, als der Schuß krachte und sich der Bürgermeister umwandte, hatte der Sepp auch schon dessen Gewehr umklammert. Der Oberlechner aber ließ es sich nicht so leicht entreißen. Da blieb dem Sepp nichts weiter übrig, als ihm die Faust gegen den Magen zu rennen. Der Oberlechner sackte zusammen, der Sepp sprang an die Tür, durch die die Männer von draußen herein wollten und brüllte: »Zurück! Hier ist's aus. Ich brauche niemand.« Den Oberlechner ließ er liegen, der Toni reichte ihm seine Flinte: »Da, nimm sie mit. Es ist besser.« Dem schlotternden Nägeli riß sie der Sepp aus der Hand. »Mach, daß du heimkommst, du Lapp!« Die drei Flinten in der Hand stand der Sepp, als der Toni vor ihn trat: »Ich will euch den Stier herausgeben. Es war nicht recht vom Vater.« Der Sepp stutzte. »Ist gut, Toni.« Sie standen dicht vor dem Fenster, und der Sepp sah, wie eben ein Stier draußen über den Hof geführt wurde. »Halt!« schrie der Sepp. Und zum Toni: »Ist es der richtige? Ja? Dann wieder hinaus zum Fenster: »Ihr habt euer Teil, 'runter vom Hofe!«

Keiner machte Miene, weiter vorzudringen. Am Tore aber entstand ein Zusammenstoß. Der Brandl war mit dem Murner und seinen Kumpanen zusammengeraten. Der Murner hetzte, sie sollten gleich noch einen zweiten Stier mitnehmen. Es sei nun ein Aufwaschen. Da schrie ihn der Brandl an, er sei ein Saufaus, und er solle sich nicht einbilden, daß sie auch nur ein Lot Fleisch kriegen würden. Der Murner, der Eisner und der Proch brüllten zwar auf, aber zwischen ihr Gebrüll erscholl eine schrille Stimme, die, so dünn sie war, die andern übertönte.

»Recht ist's,« schrie der Breiter, »verrecken muß er, der Hund!« Dabei stand der Breiter da, blaß, kümmerlich, heulend. Und weil jeder wußte, was eigentlich war, und warum sich der Breiter lossagte, löste sein Haßgekeife die Spannung, der Haufe lachte, als habe der Kasperle im Theater einen Witz gerissen, selbst der Murner grinste verlegen, das drohende Unheil war gebannt, die Menschen verliefen sich. Ruhig kehrten die Männer wieder an den Rauther Weg zurück und arbeiteten, und wenn über die Dinge auf des Bürgermeisters Hofe gesprochen ward, so in allem Ernst als über eine bedauerliche Notwendigkeit, die, Gott sei Dank, durch des Sepps Eingreifen so erledigt worden war, daß sie nicht jetzt alle mit dicken Köpfen und hängenden Schultern dastanden. Aber der Sepp, der Sepp! Ran, die Schaufeln geschwungen, wir müssen den Weg frei kriegen! Um das hinter uns brauchen wir uns nicht zu kümmern. Da ist der Sepp. Der meint es gut, und der Sepp wacht.

Das erste, was der Murner tat, als er heimkehrte, war, daß er die Breiterin prügelte. Das Weib schrie nicht einmal dabei; denn daß ein so bärenstarker Kerl wie der Murner sein Weib prügelte, das war selbstverständlich. Aber in dem Augenblick steckte der Breiter seinen Kopf durch die Tür und keifte, der Murner habe kein Recht, seine Frau zu schlagen. Wenn es sein müßte, dann sei er, der Breiter, dazu da, und sie möge nunmehr machen, daß sie heimkomme. »Du mich prügeln?« keifte das Weib, die Rechte auf den schmerzenden Rücken pressend. »Im Sacktuch trägt dich der Murner auf den Riesen hinauf, du –« Der Murner lachte, daß es dröhnte, war versöhnt, riß das Weib in seine Arme, und der Breiter taumelte heulend davon. Eisner und Proch ließen sich an dem Tage nicht sehn. Sie waren schwankend geworden. Es war am Ende doch besser, mit der Gemeinde zu arbeiten, als ohne die Gemeinde zu verhungern und die Schande obendrein zu haben. Gut, der Mumer entbehrte sie nicht. So konnte er ihr Teil mit essen und trinken. Was wurde es für eine herrliche Völlerei! Der Murner saß und lag wie ein verrückt gewordener König, nahm gnädig alles Umdienen und Umschmeicheln durch seine Sklavin entgegen und vergalt es, je nachdem ihm die Laune stand. Immer wie ein grober Bär. Gegen elf abends war der Mumer so betrunken, daß er dalag wie ein Stück Holz und kein Glied mehr rühren konnte. Das Weib lag auf der harten Pritsche ebenfalls im tiefen Schlafe. Auch sie hatte mit getrunken, und so hörte sie nichts von dem, was im Hause vorging.

Am selben Abend war beim Wirt ein Fest. Der Sepp hatte mit dem Moosbacher, dem Brunner und etlichen anderen, darunter auch Pfarrer Hornberger, gesprochen. Der milde Mann war erschüttert. Er kannte sich in seinem St. Thomas nicht mehr aus, beugte sich unter den Sepp und gab ihm recht, als der sagte, wenn die zweite Törle-Lawine gnädig niedergegangen sei, dann halte Hochwürden einen Dankgottesdienst. Heute sei auch eine Lawine gnädig niedergegangen, und es wäre recht, dafür zwar nicht einen Gottesdienst, wohl aber ein kleines Fest zu feiern. Daraufhin kam der Pfarrer, um teilzunehmen. Aber es geschah etwas noch viel Merkwürdigeres. Der Toni Oberlechner kam auch, und wenn auch die Leute darin irrten, daß sie in seinem Erscheinen eine Absage gegenüber seinem Vater sahen, – denn das war es nicht, sondern der Toni war nur schlauer als sein Vater, – so war doch auch damit wieder eine Spannung gelöst, die über St. Thomas gelegen hatte.

Es ging nicht gar hoch her bei dem Feste. Das hatte auch der Sepp nicht gemeint und gewollt. Er wollte weiter nichts, als daß die Leute einmal ein wenig von ihren Sorgen loskamen und von etwas anderem redeten als vom Schnee und vom Hunger. Die Huberin hatte einen ganzen Kessel Kaffee für die Weiber gekocht und der Sepp seine letzten zwei Flaschen Branntwein für die Männer zurechtgestellt. Das war so wenig, daß sich keiner Schaden tun konnte. Aber etwas anderes hatte der Sepp noch getan. Er hatte mit dem Brandl gesprochen. »Max,« hatte er gesagt, »heute tu, was du kannst. Mach allen Jux, der dir einfällt. Unflätig wirst du nicht. Das wär nicht am Platze. Aber sonst hol alles aus dir heraus. Tu mir die Liebe. Die Leute sollen lachen. Das ist jetzt so nötig wie ein Stück Brot.«

Eingangs hielt der Pfarrer eine kurze Rede, eine ganz kurze, aber eine gute, obwohl er den Namen Gottes auch nicht ein einziges Mal in den Mund nahm. Er sprach zunächst vom Notwinter. Der Name ist übrigens geblieben. Die heute Kinder waren, haben den Winter noch als Greise so genannt, und St. Thomas hat in hundert Jahren keinen gleichen wieder erlebt. Dann sprach er vom Segen der Not. Jetzt hätten die Leute von St. Thomas begriffen, was eine Gemeinde sei. Sie sei etwas ganz anderes als ein zufälliges Nebeneinanderwohnen. Sie sei kein Nebeneinander, sondern ein Miteinander, Ineinander, Füreinander. Nur in der Gemeinde sei der einzelne geborgen, werde er erhöht, indem er erhöhe. Nicht ein Für-sich-sorgen-Lassen – natürlich mit Ausnahme der Alten, der Schwachen und Kranken – sei sie, sondern aus ihr erwachse für jeden einzelnen die Verpflichtung, so zu handeln, zu leben, seine Kräfte zu steigern, als stünde er allein. Die Summe dieser erfüllten Verpflichtungen bezwinge die Not, und die Summe der aus der Gemeinschaft erblühenden Menschlichkeit breche der Not die Spitze ab und reiße ihr den Stachel aus. Möge St. Thomas von nun an immer sein, wozu es die Not gehämmert, eine Gemeinde.

Das war des Pfarrers kurze Rede, während der der Sepp den Loisl neben sich stehn hatte, und nach deren Verklingen er ihm die Hand auf den Scheitel legte und sagte: »Merk's Bub. Daran liegt's. Und nun geh, kriech ins Nest, schlaf und denk dem Heute nicht weiter nach. Vorbei braucht's in dir nicht zu sein, aber verstehn wirst du es erst später. B'hüt, Bub!«

Der einzelne hat in den Tagen wahrlich kein Lachen aufgebracht. In der Gemeinschaft blühte es auf wie die Bergblume nach dem Schnee aufblüht. Keiner sagte ein dankendes Wort etwa gegen den Sepp oder den Moosbacher, keiner aber auch ein unebenes gegen den Bürgermeister oder den Murner. Das verhinderten die Männer, die das Geschick der Gemeinde in die Hand genommen, und denen als Dank die Freude, die hellen Augen und das Vertrauen, das ihnen entgegengebracht ward, genügte. Der Max Brandl war der Spaßmacher, aber seine ganze Art, mochte er sagen, singen, anstellen, was er wollte, wirkte nicht kasperlich, weil stets ein leiser Ernst dahinter steckte. Immer einmal griff er auch zur Zither, und, bei Gott, während draußen die Welt verriegelt, St. Thomas ein Reich für sich war, nur letzter Opfersinn, Klugheit und In- und Füreinanderleben die Not meistern konnten, brachten es die Leute fertig, zu tanzen, sogar einander Schnadahüpfel an den Kopf zu werfen. Und beides war recht und war gut. Mit dem Beginn des neuen Tages sollte das Fest aus sein. Kurz vor Mitternacht, es fehlte kaum noch eine halbe Stunde, flammte mit einem Schlage am Rande von St. Thomas gegen den Riesen hin, eine rote Lohe auf, gellte wie aus einem Munde im Saale der Feuerruf, stob alles hinaus, der Sepp als erster mit seinen langen Beinen vorweg. Des Murners kümmerliche, verwahrloste Hütte brannte, und sie brannte wie Zunder.

Den ganzen Abend hatte der Breiter die Hütte umkreist wie ein Hund den Fuchsbau. Er hatte gerufen, gebettelt, geheult, war plötzlich zum Psalmodieren übergesprungen, hatte schüchtern da und dort, am Fensterladen, an der Tür, vom leeren Ziegenställchen aus, angeklopft. Es war umsonst gewesen. Nicht das geringste Wort hatte er von drinnen vernommen. Da hatte die Wut den verstörten, halb irrsinnigen Menschen gepackt, er war heimgelaufen, hatte sich die Zündhölzer aus der Ofenecke gelangt, war zurückgekehrt und hatte das Haus an drei Stellen angezündet, zuerst im Ställchen, dann an zwei Stellen auf dem Boden. An der letzten Stelle hatte es nicht brennen wollen. Breiter hatte Zeit gebraucht, und als er zurückkehrte, loderten ihm aus dem Stalle schon die Flammen entgegen. Da raste er wie ein Tier, schreiend und in toller Angst, in die Stube, sah den Murner liegen, sah sein Weib liegen, riß sie hoch, schleifte sie hinaus in den Schnee, und da erst erwachte das Weib. Breiter aber hatte den Verstand verloren, kicherte, streichelte sein Weib, umtanzte es.

»Ha,« kicherte er, »ich kann's. Das hast du nicht gedacht. Ich kann's.« Der Irre dachte nicht an den Murner, und das halb betrunkene Weib dachte erst an ihn, als es zu spät war. Das war, als der Sepp vor ihr stand, etwas fragen wollte, aber nicht konnte, weil er zur Seite springen mußte; denn eben in dem Augenblick brach die Hütte prasselnd in sich zusammen. Gefahr für die anderen Häuser bestand nicht; denn die Hütte lag abseits, brannte im Handumdrehen nieder, und die Funken erloschen im Schnee.

Der Sepp war zur Seite gesprungen, auf des Breiters feuchtem Gewand starben ein paar Funken ruhig in sich ab, das Weib aber, das mitten im Funkenregen gestanden hatte, wälzte sich im Schnee und schrie: »Der Murner ist drin!«

Inzwischen waren die Leute herangekommen, sahen, wie der Sepp die Halbentblößte packte und ihr zuschrie, sie möge sich heimscheren und ihren Mann mitnehmen, und hörten ihn hart und streng sagen: »Ist er halt drin. Hinein kann niemand mehr.«

Vom Murner selbst hat man nichts gefunden, und was etwa im Schutt lag, ein paar Tiegel, Pfannen, Messerklingen, blieb liegen. Die ausgeglühte Sackuhr schickte der Brandl dem Bürgermeister.

Beim Oberlechner ging es hart her. Er hatte seinen letzten Freund, den Nägeli, hinausgeworfen, weil er nicht auf den Sepp geschossen. Den Toni konnte er nicht hinauswerfen, hätte es auch nicht fertiggebracht, denn der war sein Herzblatt, aber die zwei standen sich derzeit wie Hund und Katze. Der Toni ging seinen eigenen Weg, und der lief dem des Vaters entgegen. Er war nicht besser als der Vater, aber er war schlauer. Man könne ein paar Feinde haben und im Recht sein, sagte er. Wenn man aber nicht einen einzigen Freund, sondern nur Feinde habe, eine ganze Gemeinde zu Feinden, dann sei man im Unrecht. Der Vater habe alles so dumm wie möglich angefangen. Er möge über den Sepp, den Moosbacher, den Brunner denken, wie er wolle, aber er sei ein Narr, wenn er sie das merken lasse. Auf seinen Besitz poche er. Schön und gut der Besitz, wenn man ihn zu brauchen wisse, aber nichts, wenn man sich anstelle wie ein Ochse, der das Tanzen lernen solle. Der Vater wolle anzeigen? Wenn er sich vollends um den letzten Rest Ansehn bringen wolle, möge er es tun. Hätte er aber nur ein wenig Grütze im Kopfe, dann zöge er ein Schwein aus dem Stall und sage: »Da. Ich will nichts dafür haben.« Er, der Toni, ginge jedenfalls jetzt mit an den Rauther Weg; denn er gedenke in St. Thomas zu bleiben und sich nicht übrigzumachen.

Das Schwein zog der Oberlechner nicht aus dem Stalle, damit, daß der Toni an den Weg ging, war er nicht einverstanden, aber zum Sepp ging er. »Sepp, ich habe in der Hitze gehandelt.«

»In der Hitze?« sagte der Sepp spöttisch. »Du kannst doch gar nicht in Hitze kommen.«

»Nicht, Sepp, nicht,« wehrte der Oberlechner heuchlerisch ab, »ich hab genug hinter mir. Denk an mein Weib und wie der Toni das Auge verlor. Mußt nicht, Sepp. Ich hab auch den Toni an den Weg geschickt, hab keine ruhige Nacht mehr seit dem Murner –«

» Deiner Hauserin wegen zündet dir niemand das Dach über dem Kopfe an.«

»Sepp, ich sag's zu keinem anderen, zu dir sage ich's: Mach Frieden!«

»Wüßte nicht, daß ich Unfrieden gemacht hätte. Hab nur getan, was ich tun mußte.«

»Morgen, sagt der Toni, wird der Weg frei. Die Rauther haben von unten auf euch zu gearbeitet. Ich will übermorgen die Rosse anspannen und nach Rauth fahren, wenn es dir recht ist.«

»Das wirst du nicht!« wehrte der Sepp hart ab. »Versuches auch nicht. Wir spannen dir sonst die Rosse aus. Mitgehn, wenn du willst, magst du, aber mitten in der Reihe, nicht als der erste. Der erste ist der Moosbacher. Ich mache den letzten.«

»Ihr wollt alle nach Rauth gehn?«

»Ja. Jeder Mann aus St. Thomas nimmt seinen Rucksack auf den Buckel. So gehn wir nach Rauth hinab. Eine heilige Wallfahrt soll es sein, wenn wir das erste Brot wieder nach St. Thomas holen. Kalt soll es den Leuten drunten über den Rücken laufen, wenn sie uns sehen. In ihre Bücher sollen sie es schreiben, in den Blättern soll man es lesen. Sechs Wochen war eine arme Gemeinde vom Winter eingeschlossen und ist niemand verhungert, ist keine Armeleuteziege geschlachtet worden, ward niemand totgeschlagen, geschah keine Gewalttat.«

»Keine?«

»Nein! Dein Stier ist dir auf Heller und Pfennig bezahlt worden.«

»Aber –«

»Soll sich der Bürgermeister als der einzige von St. Thomas schämen müssen, wo das ganze Land sich ein Beispiel an unserer Gemeinde nehmen kann?«

»Sepp! Ich will es ja begraben sein lassen.«

»Du? Wir wollen es begraben sein lassen, damit kein Dreck auf eine heilige Sache fällt. – Ein heiliger Zug wird es werden, und wenn wir heimkommen, dann werden unsere Weiber und Kinder da sein, und der Pfarrer wird einen Segen sprechen. Was heute lebt, soll den Tag nicht vergessen. Wir wollen es dir nicht antun, daß wir dich ausschließen. Wenn du mitgehn willst, dann geh. Als der erste aber geht der Moosbacher.«

Der Weg nach Rauth war frei. Erst hatte es zehn Tage hintereinander geschneit, dann drei Tage ausgesetzt, dann noch einmal vier Tage geschneit. Von keinem Hause guckte in der Zeit mehr heraus als der Schornstein, bis die Leute ihre Häuser frei gemacht hatten. Wie eine Festung mit tiefen Laufgräben sah St. Thomas aus. Mehr als zwei Mann hoch standen die Mauern hüben und drüben, die ewige Lampe war erloschen, die Glocke verstummt gewesen. Leidenschaften schwelten und wurden, bis auf einen Fall, niedergehalten. Gewalttat drohte und ward gebannt. Der Totschlag lauerte, und es ward ihm die Waffe entrissen. Keiner war verhungert, es hatte nicht einmal einer eigentlich gedarbt. Wenn man auch auf manches hatte verzichten müssen, das das Leben angenehmer macht, so war doch das Unerläßliche und Notwendige immer dagewesen. Und was das Höchste und Beste gewesen war: Es hatten die Opfer gebracht, die in der Lage gewesen waren, sie zu bringen. Die hatten sich vor die Armen, die von der Hand in den Mund lebten, vor die Schwachen, die, allein stehend, ohnmächtig waren, gestellt. Alles Gute und Starke war in den Menschen aufgerüttelt und aus ihnen herausgeholt worden, und in lichtlosen Tagen hatten sie tapfer das Licht in Gestalt des Frohseins vom Himmel gerissen. Männer hatten es getan, Männer! Ohne diese Männer wäre das Entsetzen über die arme, verlassene Gemeinde gerast, wären die Leidenschaften als verzehrende Flammen aufgebrochen, hätten Haß und Neid und Feindschaft ein Hochtal zur Hölle gemacht, das nun still und dankbar der Zeit entgegenging, da es wieder ein Paradies war. Ein kluger, starker und warmherziger Mann aber hatte es immer wieder in ein Bubenhirn gehämmert: »Bub, merk's,« »Bub, vergiß das nicht,« »Bub, lern daraus.«

Nach siebzehn Tagen, die nur von drei stillen Tagen unterbrochen gewesen waren, hatte es endgültig aufgehört zu schneien, hatte es nicht einmal mehr ein Schneegeriesel gegeben. Damit war die Not zwar noch nicht behoben gewesen, noch lange nicht, aber mit der Sonne stieg die Hoffnung über die Berge her, und das Licht der sonnigen Wintertage ging als breiter, verheißender Strom in die kommenden Wochen hinein. Es war alles leichter, das Entbehren, das Arbeiten, das Glauben, auch das Miteinanderleben.

Der Schnee sank zusammen, die Dächer begannen zu tropfen. Eines Tages sah man ganz deutlich das Bett der Ache. Wieder eines Tages mußten die Buben schon einen Meter hinab auf den Achenschnee klettern, und wieder eines Tages sah und hörte man das Wasser plätschern.

Die Berge aber standen in einer unerhörten, überirdischen Herrlichkeit da. Sie schleuderten ganze Lichtmeere, nicht -wellen nur, zurück, und wenn die Sonne unterging, dann waren sie von einer feierlichen weichen Röte umflossen wie von einem gütigen Strom. Nie hatten die Wächten derart vielgestaltig und ungeheuer übergehangen, nie war es so still an den ewigen Mauern, nie war das reine Weiß des langen, riesenhaften Bergzuges so ungebrochen gewesen. Es tauchte dann und wann ein scheues Wort der Furcht wegen der Törle-Lawine auf; denn es war anzunehmen, daß sie bei dem ungeheuren Schnee doppelt ungeheuer werden würde, aber es hatte nach all dem Erleben der letzten Wochen keine rechte Kraft. Vielleicht wird es leichter, als wir denken, sagten die Leute. Gott gebe, daß es so ist. Vorläufig jedenfalls brauchen wir uns der Törle-Lawine wegen noch keine Sorgen zu machen. Jetzt laßt uns Brot in Rauth holen. Die Lawine kommt im März, und jetzt haben wir Mitte Februar.

Es war ein langer Zug, der hinab nach Rauth ging, Brot und Mehl und Salz und was sonst fehlte, zu holen. Kein Bursche dabei, sondern lauter Männer, jeder einen Rucksack auf dem Buckel. Als letzter ging der Sepp, und sein Muli trottete hinter ihm her. Der Bürgermeister war auch darunter, und wenn ihn auch niemand freundlich behandelte, so war doch auch keiner hämisch gegen ihn. Das war gleicherweise dem Toni zu danken, weil er sich eingereiht gehabt hatte, wie dem Moosbacher und dem Sepp, die beide gefordert hatten, daß nach der schweren Not Friede sei.

Als die Männer in Rauth einzogen, standen die Leute ernst und schweigend am Wege, und als sie den Marktplatz des Städtchens betraten, läutete der Mesner ungeheißen die Glocken. Indem drängte sich einer, halb lachend, halb ernst, an den Sepp. Das war der Amtsrichter Xaver Bertram. »Sepp,« sagte er, »lebt ihr denn wirklich und wahrhaftig noch alle?«

»Ei freilich,« sagte der Sepp lachend, »ist nicht einmal einer vom Fleisch gefallen. Sieh uns an.«

So leicht kamen nun die Männer nicht fort aus Rauth. Es gab zuviel zu fragen und zu erzählen. Ein Zeitungsschreiber schlängelte sich durch die Wirtshäuser, lauschte da, notierte dort, und es dauerte eine ganze Weile, ehe der Sepp seiner habhaft wurde. Als er ihn endlich erwischt hatte, sagte der Sepp: »Herr, ich weiß nicht, was Sie schreiben werden –«

»Nur Gutes, Großes, Bewundernswertes, und Sie, Herr Huber –«

»Stad mit dem Herrn Huber. Mein Name wird nicht genannt.«

»Er ist in aller Munde.«

»Dafür kann ich nichts. Kann den Leuten das Maul nicht zubinden. In die Zeitung kommt er nicht.«

»Wenn Sie durchaus wünschen.«

»Ja, das wünsche ich durchaus. Es kommt auch nichts in die Zeitung vom Murner. Der Breiter hat den Verstand verloren, und einen Irren kann man nicht verantwortlich machen. Und wenn Sie etwas vom Bürgermeister gehört haben –«

»Wieso vom Bürgermeister?«

»Ist gut. Den Moosbacher und den Brunner mögen Sie nennen, wenn überhaupt Namen nötig sind. Besser ist, Sie schreiben von der Gemeinde. Da ist was zu schreiben. B'hüt! Wir müssen heim.«

Es war nicht ganz leicht, die Männer alle wieder auf die Beine zu bringen, und als sie aus Rauth hinausgingen, schritt mancher doch nicht ganz so strack und fest mehr, wie er gegangen war, als sie einmarschierten. Aber schon am Kuhhorn war der letzte Dunst ausgeschwitzt, und als sie im roten Abendschein ihr Hochtal betraten, waren sie alle wieder so gesund wie nur je.

Da stand der Pfarrer Hornberger im feierlichen Ornat, alle Weiber und Kinder standen um ihn, und hinter ihnen klang die Glocke.

»Seid gegrüßt, ihr braven Männer von St. Thomas.« begann der Pfarrer. Es sei ein großer Tag, sagte er weiter, ein Tag, der bislang seinesgleichen nicht gehabt und, so Gott gnädig sei, auch nicht wieder haben werde. Er, der Pfarrer, könne ihnen die frohe Kunde bringen, daß die Törle-Lawine heute vormittag um elf ohne Schaden zu tun niedergegangen sei. Damit sei eine Sorge gebannt. Die andere hätten sie, die treuen und tapferen Männer, gebannt, indem sie das Brot, das zuletzt doch arg knapp gewesen sei, geholt hätten. Nun möchten sie das Letzte und Beste empfangen, das Brot des Lebens, in Gestalt des Segens des Herrn.

Da knieten sie alle in den Schnee, vor dem Pfarrer die Männer, hinter ihm die Frauen und Kinder, der Pfarrer hob segnend die Hände, die Glocke klang, und die Berge standen in jubelnden Flammen. Die Not war vorüber, die Törle-Lawine nicht. Sie hatte nur einen Vorläufer gehabt. Zum erstenmal schickte das Törle drei Lawinen herab. Die eigentliche kam, wie immer, erst im März, aber sie tat keinen Schaden, weil ihr etwa ein Drittel der ungeheuren Schneemassen, die am Törle hingen, vorausgegangen war, die nun, mit der ersten Lawine zusammen, einen Wall bildeten, über den die dritte nicht hinauskam.


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