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2.

Es gibt ein Sprichwort, das heißt: Viel Schnee, wenig Wasser. Nun, über zu wenig Wasser brauchte man sich nach dem Schneefall in St. Thomas wirklich nicht zu beklagen, aber es tat droben keinen Schaden. Die Ache tobte Tag und Nacht, und doch war sie nicht eigentlich wild wie etwa nach starken Gewitterregen am Kugler oder am Törle. Sie hatte es nur eilig, mußte es ja auch eilig haben, denn es gab ungeheuer viel Wasser ins Tal hinabzutragen. Und wenn sie aufbrüllte, wer wollte es ihr verdenken? Nicht genug, daß sie sich selber nicht vor dem Andrang der Fluten retten konnte, alle Wildbäche führten von rechts und links so viel heran, als wäre die Ache vor Wasserarmut schwach und kränklich, und sie müßten ihr auf die Beine helfen. Das konnte wohl im regenarmen Sommer vorkommen, aber jetzt? Es war viel, es war zu viel, und wenn man sich auch in St. Thomas behaglich damit abfand, drunten im Tal war es anders. Da war Hochwasser. Die Rauther kriegten den Nachklang der Not von St. Thomas, und die Zeitungsschreiber brachten Spalten um Spalten, ohne daß sie ihnen die Schriftleiter zusammenstrichen. Aber so ist es. Erst hatten sie in dicken Überschriften von den »braven Männern von St. Thomas« geschrieben, so lange von ihnen geschrieben, bis alle Welt glaubte, da droben wohne ein Volk beinahe sagenhafter, vorbildlicher Helden, und heute jammerten sie über das »unheilvolle Reservoir« von St. Thomas.

Nach vierzehn Tagen war das Reservoir leer gelaufen. Die Sonne hatte eine Arbeit vollbracht, die hundert, meinetwegen auch tausend Schmelzöfen in der Zeit nicht hätten bewältigen können. An den Bergen traten erst einzelne Felsen wieder heraus, dann sah man die Wände wieder grau und düster drohen, und damit die freundliche Note nicht fehle, brachen die Krokusse durch die Grasnarben der Wiesen, bohrten sich sogar durch die flachen Schneebreiten, die da und dort in den Mulden langsam hinsiechten. Die Luft war herb und dennoch lind, und wenn Pfarrer Hornberger spazierenging, dann verschmähte er den Hut und ließ sein weißes Haar im Winde flattern.

Der Winter hatte Schaden getan – damit hatten die Leute rechnen müssen –, aber er war doch nicht so groß, als sie gefürchtet hatten. Am Kugler fand man einen verendeten Hirsch, am Brecher zwei, im Geröll unter der Tritta ein paar Gemsen, und am Ostrande des Hochtales hatte der Wald eine Anzahl Bäume opfern müssen, die unter dem Schnee zusammengebrochen waren. Das war zwar ein Schaden, aber dennoch kein allzu großer. Und der Oberlechner, den es betroffen, fluchte und behauptete, er hätte am meisten hergeben müssen. Es war nicht wahr, was der Bürgermeister sagte, sondern der Zweigler war schlechter weggekommen, aber dafür gab es halt nun auch Arbeit für Leute, die sonst in der Zeit nicht recht gewußt hätten, was sie anfangen sollten.

Weil es dem Oberlechner an Händen fehlte, und weil er außerdem nur die billige Arbeitskraft begehrte, kam er am frühen Vormittag zum Sepp gestürmt. »Der Bub muß jetzt her.«

»Was,« sagte der Sepp, »willst du schon die Alm bestoßen?«

»Kruzitürken,« fluchte der Oberlechner, dem der Mut mit der Sonne gewachsen schien, »willst den Buben etwa einwickeln?«

Der Sepp zuckte die Achseln. »Vielleicht habe ich einen Fetzen vom letzten seidenen Kleid meiner Frau übrig.« Die Anna Huber hatte in ihrem Leben noch kein seidenes Kleid gehabt, nicht einmal, als sie Braut war.

»Sepp,« sagte der Bürgermeister, »übertreib's nicht! Ich bin der Bürgermeister!«

Das war dem Sepp denn doch ein bißchen viel. Er bohrte die Hände in die Taschen der Gamsledernen. »So, der Bürgermeister bist du? Stimmt. Ein Bürgermeister, wie er sein muß. Hast's im letzten Winter gezeigt. Und nun mach die Tür von draußen zu. Schleun dich, sonst passiert was. Den Buben kriegst als Hütebuben. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Raus – Bür – ger – meister!«

Dabei sah der sehnige Sepp mit seinem weißen Haar über dem braunen Gesicht so drohend aus, daß der Oberlechner davonging, ohne noch ein Wort zu sagen. Eine Stunde später aber kam der Toni, und der fing es gescheiter und geschickter an. Es wär ihnen eine rechte Hilfe, wenn sie den Loisl jetzt kriegen könnten, sagte er. Sie müßten die gefallenen Stämme wegschaffen, und es werde nichts weiter von dem Buben verlangt, als daß er die Äste auf Haufen beiseitetrage. Das sei wahrlich keine schwere Arbeit. Ungeästet aber könnten sie die Stämme nicht den Berg herablassen. Dann, wenn sie so weit wären, solle der Loisl helfen, die Wiesen abrechen, die beiden Dreiecksalmen, die untere und die obere, ein wenig instand bringen, schließlich mit Hand anlegen, die Zäune auszubessern, alles bloß ein wenig und um Gottes willen nicht über des Buben Kräfte. Davon könne ja bei den leichten Hantierungen überhaupt keine Rede sein, das wisse der Sepp selber. Hernach wäre es Zeit zum Auftreiben.

»Hm«, sagte der Sepp und sah den Toni überlegen lächelnd an, »gescheiter als dein Vater fängst du's an, das muß ich sagen.«

»Ach,« wehrte der Toni ab, »der Vater! Weißt doch, daß er das nicht so meint. Und er hat soviel Ärger. Schier alle Tage ein Schreiben vom Amt. Den Schaden soll er jetzt angeben, den der Schnee gemacht hat.«

»So, den soll er angeben?«

»Ja. Hat doch niemand Schaden gehabt.«

»Hat er so geschrieben?«

»Freilich. Er wird sich doch nicht die viele Arbeit machen.«

»Hm.« Der Sepp krauste die Stirn und sah den Toni so scharf an, daß der das Auge, mit dem er sah, niederschlug. »Also Äste schleppen soll der Loisl?«

»Schleppen! Wie weit denn? Immer drei, vier Schritte.«

»Und Haufen bauen. Weiß schon. Und Zaunscheiter schleppen.«

»Doch nicht. Bloß zulangen.«

»Als was ist der Bub verdingt?«

»Als Hütebub für die Schafe, aber –«

»Stad, Toni. Als Hütebub, als nichts weiter, und was du mir da aufgezählt hast, ist keine Hütebubarbeit. Trotzdem –«

»Sepp, die Walpurga fehlt uns, die Kreszenz ist nach Rauth gezogen, und was die Burgel ist, die ist nicht die Halbscheid. Der Ignaz ist faul und –«

»Der Vater hat das Reißen. Weiß schon. Also mit dem Loisl. Wir wollen es probieren. Ein Anfang muß gemacht werden.«

»Ich dank dir, Sepp. Mußt es dem Vater nicht nachtragen. Trägt dir ja auch nichts nach.«

»Nicht? Das g'freut mich. B'hüt, Toni! – Da fällt mir ein: Hab ja noch was mit dem Vater zu reden. Wär mir lieb, wenn er nachher noch einmal zu mir kommen könnte.«

»Freilich. In einer Stunde etwa?«

»Nein. Ich muß jetzt grad noch einmal nach Rauth. War im Begriff. Der Grimm hat mich aufsitzen lassen. Rein aufsitzen. Ist kein Brösel Salz mehr im Hause und – Auf den Abend vielleicht?«

»Desto besser. Auf den Abend. B'hüt, Sepp.«

»B'hüt.«

Der Toni Oberlechner ging. Der Sepp aber rief den Loisl.

»Magst mit mir nach Rauth gehn?«

»Ei freilich, Wirtsvater.«

Er nannte den Huber Sepp Wirtsvater und die Huberin Wirtsmutter. Das hatte ihn niemand geheißen, aber es war den Wirtsleuten recht und freute sie. Eine kleine Weile später gingen die beiden, der Sepp und der Loisl, und das Muli trottete gemächlich hinter ihnen her. Das hatte der Sepp mitgenommen, weil es aussehn sollte, als wolle er wirklich einkaufen, – und er kaufte ja dann auch ein paar Kleinigkeiten, – traue aber dem Muli nach dem langen langen Winter nicht recht, sondern fürchte, es könne irgendwohin abseits gehn, weil es mit dem Weg noch nicht wieder zurechtkam. Im Sommer ging der Sepp nie mit. Da genügte es, daß er dem Tier einen Bestellzettel in einen der beiden Tragkörbe legte, es vor die Haustür führte, ihm einen Klaps gab und sagte:

»Lauf zu, Jakob.«

Zweimal in der Woche ging das Tier getreulich und zuverlässig hinab nach Rauth, hielt vor der Tür des Grimm, der belud es, führte es auch wohl, wenn es so auf dem Zettel stand, noch zum Anzinger, und zuverlässig und getreulich kehrte das Muli wieder nach St. Thomas zurück.

Sie waren noch nicht weit aus St. Thomas hinaus, da sagte der Sepp: »Also morgen fängst du bei dem Oberlechner an.« Er sah aber dabei gradeaus, weil er ein erschrockenes Kinderauge, in das die Tränen getreten waren, fürchtete. Der Loisl schwieg. Da fragte der Sepp:

»Magst etwa nicht?«

»Mag schon,« sagte der Bub, und es klang genau so, wie es der Sepp erwartet.

Da riß sich der Mann zusammen. »Schau,« sagte er, »es ist unnütz, noch darüber zu reden. Einmal muß es sein, und ist dir ja auch nichts Neues, daß du zum Bürgermeister sollst.«

»Nein, aber er treibt doch noch nicht auf.«

»Das nicht. Es gibt halt etliches mehr zu tun, das auch gemacht werden muß. Du weißt, Loisl, daß ich und die Wirtsmutter immer da sind, aber – Wie soll ich dir das sagen? Hast den harten Winter miterlebt und war wahrlich nicht schön, die Zeit. Aber gelernt haben wir etwas. An mich brauchst du nicht zu denken, aber an das denk, was der Moosbacher und der Brunner und der Zweigler und die andern alle getan haben. Vom Brunner hab ich dir überdies genug erzählt. Hinter dem Ofen wachsen keine Männer. Dein Vater war ein redlicher Mann, schad um ihn, und was deine Mutter war, die hast du selber gut genug gekannt. Hätte den letzten Bissen Brot für dich gegeben, wär lieber selber verhungert, als daß sie dich hätte hungern lassen. Willst du den beiden Schande machen?«

»Nein, Wirtsvater, wahrlich nicht.«

»Gut, Loisl. Ich will dir nichts vormachen. Hast nichts, bist nichts. Beides ist kein Fehler, wenn – du so bist, wie ich denke. Ist eine bedenkliche Sache, wenn einer gleich mit dem Schmalztopf auf die Welt kommt. Kann gut gehn, geht auch viele Male gut, geht aber auch leicht bös aus. Wenn's gut geht, noch so gut, dann ist es trotzdem immer noch lange nicht soviel, als wenn einer, wenn er einmal alt ist, sagen kann: Was ich hab und worauf ich schau, das hab ich erworben. Verstehst, Bub, wie ich's meine?«

»Ich denk schon, Wirtsvater.«

»Und jetzt schau weiter: Wenn das Jahr alt und müde ist, dann kommt der Winter. Ist es jung, kommt die liebe, schöne Frühjahrszeit. Wehe, wenn es beim Menschen nicht umgekehrt ist, wenn der kalte, harte Winter über ihn kommt, wenn er alt ist. Was kann er dann tun? Soll er von dem leben müssen, was ihm andre etwa um Christi willen geben? Das ist ein saures Brot, Loisl, und das: Um Christi willen – Wenn's nur wahr, wenn's nur nicht die Bitternis wäre, die man den armen Leuten noch extra auf Brot streicht. Nein, wenn der Mensch schon durch einen Winter muß, dann, solange er noch jung ist. Versteh recht, Bub, wenn ich sage: Bist nichts und hast nichts. Ich will dir nicht weh tun, will weiter nichts, als dir helfen, schon vor der Zeit ein bißchen was vom Manne zu kriegen. Wohinein einer geboren wird, darauf kommt's nicht so sehr an, aber wohinaus einer einmal stirbt, darauf kommt's an. Hast, wie ich wohl glauben darf, ein helles Köpfel. Möcht'st etwa Pfarrer werden?«

»Nein, Wirtsvater, nicht einmal bei uns dahier.«

»Was möcht'st denn dann werden?«

»Werden? In St. Thomas möcht ich bleiben und will ich bleiben.«

»Dazu wär nicht grad viel nötig und ließe sich wohl manches drüber reden, aber – das ist halt so, und die Zirbel gedeiht auch bloß in den Bergen. Na, das sieht man dann schon. Ein helles Köpfel kannst überall brauchen, wenn was drin ist zum Herausholen. Sonst nutzt es noch nicht viel. Aber das, was du herausholen willst, muß zuvor hineingebracht sein. – Also Äste sollst du lesen beim Oberlechner, Almen aufräumen und Zaunscheiter tragen. Sind alles keine schweren Arbeiten, können aber schwer gemacht werden. Dann wehr dich, aber vergiß nicht, daß du vorerst nur noch ein Bub und der Oberlechner ein Mann und der Bürgermeister ist. Immer aber, Loisl, beiß die Zähne zusammen und ruck an, auch wenn du nachher auf der Alm bist. Kennst die Berge und weißt, daß da Himmel und Hölle beieinander hausen. Den Himmel halt fest, die Hölle schlag tot. Wenn's dir bange werden will, dann geh gleich auf das zu, was dir Angst macht, etwa die Wände oder die Wasser. So weit darauf zu, daß du es richtig in die Augen kriegst, und dann wirst sehn, daß nichts da ist, und der Mensch bloß was hineinträgt. Stein bleibt Stein und wird in Ewigkeit kein Gespenst, und Wasser ist Wasser. Und wenn es brüllt und gurgelt, daß du meinst, Stimmen zu hören, es ist immer nur Wasser. Bloß eins ist da, das – vielleicht zum Fürchten ist, die Törle-Lawine. Bub, die Törle-Lawine!! Da muß was geschehn können. Und wenn du der wärst –. Das bind ich dir auf! Daran denk! Tag und Nacht sollst dran denken! – Schau, da wären wir ja schon in Rauth. Jetzt geh zum Grimm, nachher zum Anzinger und laß dir geben, was da auf dem Zettel steht. Zahlen tu ich nachher selber. Ich muß noch was anderes besorgen, wird aber nicht lange dauern. B'hüt, Bub.« –

Als der Sepp nachher vom Bezirksamte zurückkehrte, hatte er ganz schmale Lippen und ein böses Licht in den Augen. Der Loisl hatte alles gut besorgt, das Zahlen dauerte nicht lange, Tratsch liebte der Sepp nicht, und so waren sie bald wieder auf dem Heimwege. Der Sepp setzte seine Unterweisung fort. Anfangs fiel ihm das Reden ein bißchen schwer, aber als er hernach auf die Berge und die Almen zu sprechen kam, floß es ihm wie ein freudiger Strom vom Munde.

»Bub,« begann er, »hat etwa der Hinderer seinen Stadel schon wieder aufgebaut, den ihm der Schnee eingedrückt?«

»Nein, und der Sager auch nicht, und die Wagnerin ihren Stall auch nicht, und der Platzer hat sein Dach bloß vorerst ein bißchen geflickt. Ich hab gestern den Platzer sagen hören, er hätt' kein Geld. Da müßt das Amt zugreifen.«

»Leicht gesagt, aber das Amt kann auch bloß auszahlen, was es zuvor eingenommen hat, und einnehmen tut es bloß Steuern. Wenn es also den armen Leuten, die nichts haben, helfen soll, dann müssen wir, die wir was haben, mehr Steuern zahlen.«

»Wär denn das nicht recht, Wirtsvater?«

»Recht vielleicht schon, aber weh tut's halt.«

»Wieviel kam denn auf jeden, wo es doch viele sind?«

»Leicht nicht viel, und ist ein guter Gedanke, Bub. Grad so wie im Winter. Zusammenstehn, hat der Pfarrer gesagt. Bringst mich da wirklich auf etwas, das ich gradezu übersehn.«

Dazu lächelte der Sepp ein bißchen und fing nachher an, von den Bergen und den Almen zu erzählen. Es gab keine Alm, die er nicht kannte, und keinen Berg, den er nicht erstiegen. Er war ein tüchtiger Jäger, und seine schönste Zeit war es, wenn er, die Büchse in der Hand, im flammenden Herbst allein in den Bergen streifte, zwar nicht häufig, und dann nur gute Tiere schoß, dafür aber viel durch das Glas beobachtete. Das Spiel der Murmeltiere – es waren nicht mehr viele am Bischkopf, wie die Wirtsmutter gesagt, vielleicht noch drei oder vier Paar –, das Treiben der Gemsen, das Ziehen der Hirsche und die Flugübungen der jungen Adler. Zwei Paare wohnten noch an der Westkette, eines am Bischkopf, eines an der Tritta, und nie blieben junge Tiere da, sondern die wurden entweder von den Alten fortgejagt oder zogen selber davon, weil das Jagdrevier für mehr als vier Tiere zu klein war. Das alles erzählte der Sepp und baute vor dem Jungen einen richtigen Himmel auf, aber, das ließ er ihn zugleich deutlich spüren, einen Himmel, der nur den Starken beschieden war, die sich nicht vor der Einsamkeit fürchteten. Auch mancherlei für den Alltag wußte er zu sagen. Wie man die Schafe behandeln müsse, daß Salz ein Leckerbissen für sie sei, wie man ein Tier, das sich verstiegen, herabhole, wie man, ebenso wie in der Ebene, lernen müsse, mit der Schleuder umzugehn. Drei Bücher wolle der Sepp dem Loisl mitgeben, und er möge sie gut halten, das dicke Buch über die Berge, ihre Tiere und Pflanzen, ein Buch, in dem die Geschichte des Landes stünde, und ein Gebetbuch.

»Wirtsvater,« sagte der Loisl, »das Gebetbuch ist nicht nötig.«

»Was,« der Sepp tat erschrocken, »willst etwa nicht beten?«

»Das schon, aber dazu brauch ich kein Buch. Die Mutter hat auch keins gebraucht.«

»Was betest dann?«

»Halt was ich weiß.«

»Und weißt du immer etwas?«

»Immer.«

»Dann halt meinetwegen, aber der Mutter und der Zenzi wirst das nicht sagen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich mein, es ist nicht nötig. Man soll nicht lügen, aber man braucht halt auch nicht alles zu sagen.«

Kaum war der Sepp heimgekehrt, lief er schon wieder zum Moosbacher und besprach sich mit ihm. Der tat wild, wollte die Gemeinde zusammenrufen und den Oberlechner vor eine Art Gericht stellen. Das schien dem Sepp verkehrt, einmal, weil der Bürgermeister so schlau gewesen wäre, zu schreiben, er wolle dem Staat Kosten ersparen. Die Schäden seien nicht so groß, daß der einzelne sich nicht selber helfen könne, und die Gemeinde werde auch von sich aus zugreifen. Zum anderen meinte der Sepp, daß, wenn man die Sache an die große Glock hinge, jeder mit jedem Dreck kommen, einer dem andern vorrechnen werde, daß er zuviel erhalten habe, und der Neid Feindschaften, mindestens Unfrieden zeitigen werde.

»Was dann?« sagte der Moosbacher. »Sagen muß man es doch dem Bürgermeister.«

»Das wohl, und das will ich auch tun, aber im übrigen will ich die Kugel im Rohre halten. Ist ein Lumpenstreich, was der Bürgermeister getan, und ist bloß gut, daß ein Lump den anderen verriet, denn sonst hätten wir nichts davon gewußt. Aber willst jetzt Mord und Totschlag haben, wo wir im Winter mit knapper Not dran vorbeigekommen sind? Kam ja auch nichts dabei heraus, Moosbacher; denn einig wären die Leute doch nur gegen den Oberlechner. Untereinander wären sie uneinig. Entweder also die ganze Gemeinde greift zu oder, was ich für richtiger halte, ein paar. Würdest du den Sager auf dich nehmen? Ja? Gut. Dann nehm ich den Hinderer, der Brunner nimmt die Wagnerin, und der Oberlechner mag den Platzer nehmen. Bei dem fehlt's am meisten, aber der Oberlechner hat auch das meiste.«

Da lachte der Moosbacher. »Wenn du es fertigbringst, Sepp, ist es recht.«

»Ich denke. Hab ja doch für den Notfall die Kugel im Rohre.«

»Bist ein ganz Schlauer, Sepp. Möcht nicht im Unfrieden mit dir leben.«

»Ich auch nicht mit dir, aber wenn's ja einmal wär, Gott verhüt's, dann wär's eine ehrliche Feindschaft, und wir würden über die hinaus wieder einig. Der Oberlechner tut allen freund und ist allen feind. Das ist nicht ehrlich, und dabei kann man selber nur von hinten kommen, so schlecht einem das taugt. Am meisten ist er sich selber feind. – B'hüt, Moosbacher. Ich will sehn, was ich tun kann.« –

Es gab eine harte Auseinandersetzung mit dem Bürgermeister, und der Sepp schien unterlegen zu sein. Er lächelte aber in sich hinein; denn er wußte, wie er dran war, und sagte nur zuletzt noch, als der Oberlechner schon die Türklinke in der Hand hatte: »Bürgermeister, was du jetzt tun wirst, weiß ich, aber das sage ich dir: Wenn du einmal dem Buben heimzahlst, was du mir nicht heimzahlen kannst, dann – fliegt die Kugel und – trifft. B'hüt!«

Getobt hat der Bürgermeister nachher daheim, daß es sogar dem Toni, der doch allerlei gewohnt war, zuviel ward und die beiden böse aufeinanderprallten, aber seine Vermutung, daß er der Schuldige sei, behielt der Toni für sich und lenkte dafür des Vaters Zorn auf das Amt.

Der Alte schwur bei allen Heiligen, es dem Sepp und, sobald er könne, auch dem Bezirksamt heimzuzahlen. Als jedoch der Platzer, den er hatte rufen lassen, vor ihm stand, floß er über von Gutherzigkeit um Christi willen. Der arme Platzer tue ihm in der Seele leid, und er könne es nicht über das Herz bringen, ihn ohne Hilfe dasitzen zu lassen. Also das Holz für den neuen Dachstuhl wolle er dem Platzer schenken, wolle es ihm sogar vom Kugler anfahren. Schöne Stämme, jeder sein gutes Geld wert. Allerdings – eine Hand wasche die andere. Er, der Bürgermeister, sei dies Jahr ein bissel knapp dran mit Arbeitskräften und – Der arme Platzer hat das Holz auf Heller und Pfennig mit seiner Hände Arbeit bezahlen müssen.

In dem Loisl hatte sich sowohl der Bürgermeister wie auch der Toni verrechnet. Der Bub tat, was er konnte, und Knecht und Magd des Oberlechner bestätigten das nicht nur untereinander, sondern der Knecht nannte die Arbeit eine Viecherei. Als es aber dem Loisl zu bunt ward, sagte er nein.

»Was sagst,« des Toni Stimme klang, als hätte er einen öligen Brei im Munde, »zu schwer? Zu schwer! Du mein, du mein! Armer Bub! Dann geh halt schön stad, nimm einen Ast nach dem anderen, ja nicht zwei oder gar drei auf einmal. Könntest dir Schaden tun, und was würde hernach die Wirtsmutter sagen oder leicht gar die Zenzi, wenn du ihren Puppenkasper nicht auf die Achsel nehmen könntest vor Wehtun. Weis' deine Patscherln her. Du mein, du mein, die armen Patscherln, die armen!«

Da schossen zwar dem Loisl vor Scham die Tränen in die Augen, aber er tat aus Trotz, wie der Toni gesagt hatte, er nahm einen einzigen Ast und schleppte ihn langsam hinter sich her. Als er jedoch mit dem zweiten loszog, loderte es bei dem Toni oben hinaus. Er fluchte wie ein Fuhrknecht, riß einen starken Knüppel an sich, ging damit auf dem Loisl los: »Totschlagen tu ich dich,« schlug aber nicht zu, sondern schleuderte den Knüppel über den Buben weg und – traf die Magd. Die schrie auf, wälzte sich auf der Streu und jammerte, ihr Bein sei hin, ihr ganzes Bein.

»Daran ist der verfluchte Bub schuld,« brüllte der Toni.

»Wo ist der Hund?«

Der Loisl ging bergab, Oer Toni sprang ihm nach. »Wo willst hin?«

»Zum Wirtsvater.«

»Noch ein Wort, wenn du sagst! Dann kenn ich mich nicht mehr. – An deine Arbeit gehst! Nimmst, was du halt tragen kannst. Will nicht, daß du dir Schaden tust, aber schleun dich!«

Der Loisl kehrte zurück, der Toni ging zur Magd. »Mußt nicht, Burgel. War dir ja doch gar nicht vermeint. Bloß: Der stinkete Bub hat einen ja rein um den Verstand gebracht mit seiner Faulheit, und das große Maul hat er auch noch dazu.«

»Der Bub ist weder faul, noch hat er ein groß Maul gehabt. Der Bub ist recht, aber du bist ein Leuteschinder, daß du's weißt.«

»Schad, daß dich das Scheit nicht aufs Maul getroffen hat, du –«

»Es langt am Bein. Ich schlepp mich heim. Dein Vater muß mich zum Doktor fahren.«

»Burgel,« der Toni bettelte, »sei doch gescheit. Weißt doch. Wenn du auf der Alm bist –«

»Läßt dich ja nicht sehn, sag ich dir!«

»Burgel! – Was glotzt denn, Lausbub? Soll ich etwan doch noch hinkommen? – Burgel!«

»Geh aus dem Weg. Will nichts mit dir zu tun haben. Ich geh an meine Arbeit.«

So ging es dem Loisl. Es waren schwere Wochen. Er war zu stolz, sich beim Huber Sepp zu beklagen, aber der brauchte auch keinen Bericht. Er sah genug an des Buben Augen, die ihn hart und beinahe ein bißchen feindselig anblickten. Und es ist wahr, der Loisl verstand seinen Wirtsvater nicht. Lernen sollte er beim Oberlechner? Was denn lernen? Etwa Leuteschinderei und Grobheit und falsches Getue? Das alles ist ihm zwar etwas Neues, aber daß es nun gerade nötig wäre, das zu erleben, das kann der Loisl nicht einsehen, und lernen will er das wahrhaftig erst recht nicht.

Er stutzt jedoch, als ihm der Sepp – es ist am Abend vor dem Auftrieb auf die untere Dreiecksalm – forschend in das Gesicht sieht und fragt: »Hast dich gewehrt, Bub?« – »Ja.«

»Ordentlich?«

»Was halt nötig war.«

»Mußt dir merken: Wenn man sich überhaupt wehrt, weil man muß, dann so, daß es ausgibt. Sonst lieber nicht. Ist gut. Hast gesehn, wie man es nicht zu machen braucht. – Da sind die beiden Bücher. Wirst Zeit genug zum Lesen haben, aber die Schafe gehn vor. B'hüt! Wir schaun auch einmal nach dir.«

Das Wetter war schön, die roten Primeln blühten in Haufen, an den Latschen spitzten die jungen Triebe, und die Falter flogen. Johanni war gar nicht mehr weit. Die untere Dreiecksalm gefiel dem Loisl nicht übel, aber sie war weder noch Tal, noch schon eigentlich Berg, und eines oder das andere ganz wäre ihm lieber gewesen. Bis auf die Lämmer machten die Schafe wenig Arbeit. Sie sprangen zwar manchmal mit allen Vieren zugleich in die Luft, aber nach solch einem Übermutsausbruch kehrten sie immer bald wieder zur gemächlichen Schafsvernunft zurück und ließen sich die Kräuter schmecken oder kauten wieder. Schwerer, dafür aber auch lustiger, war es mit den Lämmern, und der Loisl konnte ein bißchen Lustigkeit gebrauchen. Wenn er auch nunmehr den Wirtsvater zu verstehn glaubte, so konnte er ihm doch noch nicht recht geben. Da hatten Sonne, Wind, bunte Alm und übermütiges Schafsjungvolk vorerst noch eine tüchtige Arbeit mit dem Buben. Und die Böcklein taten gute Arbeit. Hierhin und dahin mußte der Loisl sausen, und wäre der Tyras nicht gewesen, der graubärtige Schafhund, er wäre kaum zurechtgekommen. Bald stand eines der Lämmer auf einem Stein, war zwar hinaufgekommen, kam aber nun nicht wieder herunter und blökte jämmerlich, bald hatte sich eines rettungslos in den Latschen verfilzt, und der Loisl mußte es heraustragen. Immerhin aber wechselte der Lämmerverstand allmählich wenigstens zum Schafsverstand hinüber, und die Tiere wurden ruhiger. Mag sein, daß auch der Loisl besser nachzuhelfen gelernt. Die Schleuder war unter den Hütebuben nicht üblich, aber der Wirtsvater hatte gesagt, sie wäre gut, und dem Buben selber einen Stab in die Hand gedrückt, in den er einen Spalt geschnitten und in den wieder einen Stein gesteckt hatte. Damit vertrieb sich der Loisl die Zeit, und wenn er auch vorerst weder vor noch hinter ein Schaf zielte, sondern sich Steinbrocken oder eine Birke oder Lärche als Ziel auserkor, so machte doch das Werfen Spaß, und das Treffen einen noch größeren, und mit der Zeit sparte er sich durch die Schleuder manchen Weg hinter den Schafen her. Dreimal hatte ihn der Sepp schon aus dem Holze beobachtet und war nicht unzufrieden gewesen. Beim vierten Male sah er, wie der Bub, sich auf den langen Bergstock mit der scharfen Spitze stützend, versuchte, auf einen Stein zu springen, so lange versuchte, bis es ihm gelang. Da war der Sepp zufrieden.

Ein paar hundert Meter, vielleicht deren drei, über der unteren lag die obere Dreiecksalm. Als der Loisl aufgetrieben, hatte noch viel Schnee droben gelegen. Nunmehr war sie zu zwei Dritteln frei, und eines Tages kam die Burgel, die ihm immer das Essen brachte und ihn auch gelehrt hatte, sich eine Brennsuppe und etliches andere selber zu kochen, und sagte: »Wir wollen morgen die obere Alm bestoßen. Richt dich. Ich bin am zeitigen Vormittag wieder heroben.«

Der Loisl sah hinauf zu den Bischkopfwänden, an deren Fuß die Alm lag, und kratzte sich hinter den Ohren. Da lachte die Burgel und fragte, ob es ihm etwa grauslich sei.

»Ein bissel schon,« bekannte der Loisl.

»Mußt nicht,« sagte die Burgel in gutmütigem Ernst. »Gewöhnst dich und ist viel schöner, wenn man die Berge um sich hat und die guten Tiere, als wenn man drunten unter unguten Menschen hausen muß. Schau, du hast keinen Vater und keine Mutter mehr, aber du hast die Huberleute, und die stehn zu dir. Ich hab zwar eine Mutter, eine himmelgute, aber ich bin eine Dirn, und ich bin ein Lediges. Verstehst leicht noch nicht, was das heißt, aber ich muß arg zu mir schaun, viel ärger als du. In acht Tagen treib ich auf die Samalm. Ich freu mich drauf, und wenn ich einmal Langweile hab, obwohl's damit knapp hergehn wird, oder du hast sie, dann laufen wir halt rasch einmal zueinander aus ein: Grüß Gott. Und – wenn ich leicht einmal in Not wär –«

»Wie könnt'st denn du in Not sein?«

»Weiß nicht, aber es könnt halt doch einmal sein, dann – ruf ich dich. So ruf ich.« Die Burgel stieß einen Schrei aus, daß es dem Buben kalt durch die Glieder rann. »So ruf ich, und dann kommst gleich und bringst deinen Stock mit. Wenn ich dir aber bloß ein: Grüß! sagen will, dann mache ich's so.« Die Burgel jodelte lustig. »Kannst das noch nicht, Bub? Dann lern's. Wir hören einander. Ist lange keine halbe Stunde zur Samalm hinüber. Und jetzt: B'hüt! Morgen vormittag also. Soll ich den Wirtsleuten etwas bestellen?«

»Der Zenzi einen Gruß, wenn du magst, und – den anderen auch. Hat aber noch niemand nach mir geschaut. Das Blümel bring der Zenzi.«

»Hast sie gern, das Dirnlein?«

»Freilich.«

»Ist recht, Bub. Wenn man gar keins gern haben kann, friert man.«

»Ich habe den Wirtsvater und die Wirtsmutter auch gern, aber – zum Oberlechner hätt' ich nicht gebraucht.«

»Bub, der Oberlechner ist nur einer. Gibt viele von der Art und wenige von der guten. Wie willst denn einmal zurechtkommen, wenn du dich nicht auskennst? – Also ich richt das Grüß! schon aus.«

Die Burgel sprang den Berg hinab und jodelte etliche Male glockenrein herauf. Der Loisl versuchte es nachzumachen, und obgleich es ihm vorerst nur schlecht gelang, so daß er sich ein wenig schämte, war es ihm doch an dem Abend selbst dann froh ums Herz, wenn er an den Wirtsvater dachte.

Sie war eine gute und kluge Dirn, die Burgel Klausner. Nicht grade arg hübsch, aber frisch, von guter Gestalt und brav. Der Saubub, der heuchlerische Toni Oberlechner, der, obwohl er erst achtzehn Jahre war, keiner Lehre mehr bedurfte, erreichte sein Ziel bei ihr nicht. Aber arg hart ging es her, sehr arg.

Der Loisl schlief gut im Stadel auf seinem Schragen, und als die Morgensonne kam und er unter seine Schafe trat, hielt er ihnen eine Rede. Jetzt werde es ernst. Er hoffe jedoch, daß seine Unterweisung, die er ihnen herunten gegeben, nicht umsonst gewesen sei. »Du, Springer, läßt mir deine Faxen. Du, G'scheckter, stößt nicht mehr alleweil hin und her. Schmeißt mir sonst leicht ein Kleines herab. Schwarzer, dich hab ich auf dem Strich. Das weißt. Ich trau dir nicht. Und ihr, ihr dummen Kleinen, paßt auf. Ich hab's euch gesagt. Da droben sind die großen Vögel, die Adler, und mit Ja und Nein ist eins von euch hin. Wär mir leid um jedes von euch, und ich denk dabei nicht einmal an den Toni oder gar an den Bürgermeister selber. Ihr kennt mich. Ich treff mit dem Stein, aber ich treff nicht gern. Das wißt ihr. So, und nun nehmt euch jedes noch ein Maul voll auf den Weg. Ich richt derweile mein Zeug.«

Die Burgel kam gegen neun. »Hast gut geschlafen, Bub? Ja? Dann wollen wir auftreiben.«

Die obere Dreiecksalm war völlig anders als die untere. Sie war eine Hochfläche, ähnlich der von St. Thomas, aber viel kleiner und schlechter. Etwa sechshundert Schritte in der Breite und dreihundert in der Tiefe groß, lag sie unmittelbar am Geröllfelde des Bischkopfs und stieß rechts an die Schrunden des Törle. Von beiden, vom Bischkopf wie vom Törle, kamen Wasseradern. Stellenweise vereinigten sich mehrere kleine Rinnsale zu einem etwas stärkeren, stellenweise gingen größere von vornherein ihren eigenen Weg. Wenige erreichten den Rand der Hochfläche, versickerten dann im Zirbenholze, und nur bei stärkeren Regenfällen oder bei Schneeschmelze überquerte der und jener Bach das Tal von St. Thomas und ging in die Ache. Die Dreiecksalm selber wirkte wie ein Schwamm. Sie wäre herzurichten und gut zu machen gewesen, aber dazu hatte der Oberlechner weder Lust noch Geschick. Außerdem scheute er das Geld; denn er hätte starke Drainröhren legen, mindestens Gräben ziehen und die offen halten müssen. So ließ er die Alm, wie sie war. Anstatt sie zur Viehweide umzuwandeln, nutzte er sie nur als Schafweide, aber selbst für die Schafe kam eigentlich nur ihr Rand in Frage. Der ganze innere Teil war moorig, und das Gras war sauer. Die Narbe trug wohl einen Buben, wie den Loisl, aber ein Mann sank an den meisten Stellen bis an das Knie ein, an anderen wäre er vielleicht sogar bis an den Leib oder noch tiefer eingesunken. War die Alm an sich also ziemlich wertlos, so waren die grünen Zungen, die von ihr aus hinauf zum Törle und zum Bischkopf langten, um so wertvoller. Hier war jeder Halm ein Leckerbissen für die Schafe, und hier weideten sie dann auch in der Hauptsache.

An der linken Seite der Alm, nahe den Bischkopfwänden, stand ein Steinhaus. Man konnte es nicht eine Hütte, man mußte es schon ein Haus nennen. Seine Mauern waren meterdick aus groben, schweren Steinen gefügt, das Dach war breit und mit Felsbrocken beschwert. Das Haus hatte nur rechtsseitig, nach der Alm zu, ein kleines Fenster. Hier war der Verschlag für den Hütebuben. Im übrigen war es fensterlos, im Inneren ungegliedert, kahl, öde und dunkel. Der leere Raum war so groß, daß die ganze Herde bei schwerem Unwetter darin unterkriechen konnte.

Obwohl der Loisl in St. Thomas geboren war, kannte er die obere Dreiecksalm noch nicht. Sie reizte in ihrer schauerlichen Einsamkeit nicht einmal einen der Buben aus St. Thomas. Die waren gewöhnt, an den Wänden zu klettern, suchten auch wohl die freundlicher und freier gelegenen Almen auf, aber was sollten sie in der weglosen Wildnis des Bischkopfes und im Sumpf der Dreiecksalm? So erschrak denn der Loisl bis ins Herz, als er die Öde und Wildnis vor sich sah, die Einsamkeit ihn erschauern machte und die kalte Luft des Steinhauses ihm entgegenschlug.

»Burgel,« sagte er und nahm ihre Hand, »Burgel, da kann man nicht bleiben.«

Das Mädchen aber lachte. »Da kann man nicht nur bleiben, da kann es einem sogar gefallen. Mußt nur erst die richtigen Augen haben. Schau,« sie wies rechts hinab, »da siehst das Dach von der Samalm. Gleich da unten liegt sie, und wenn der Wind richtig steht, hörst unsere Kuhglocken. Und wie schön das Gras in die Wände hinaufgeht! Wirst freilich aufpassen müssen, daß sich keines von deinen Tieren versteigt. Aber wenn schon, das holst leicht herab. – Da schau die Schafe an. Der Schwarze, den du auf dem Strich hast – er sieht schlimmer aus, als er ist – hat's noch in seinem Köpfel, wo das beste Gras ist. Grad aufs Törle zu führt er. Schau doch bloß, Bub, wie sie rennen.« Die Schafe sprangen in langen Sätzen einer breiten Graszunge zwischen dem kleinen Ruchen und dem Törle zu. »So, jetzt sind s', wohin sie wollten. Da brauchst dich nun gar nicht mehr zu kümmern. Unter acht Tagen kommen sie nicht herab. Und jetzt richt ich noch ein Essen. Einen Schmarren, wenn du magst. Schau,« die Burgel lachte hellauf, »ich hab gut eingepackt. Das magst glauben. Ich laß dich schon nicht hungern. Soll dich von der Samalm aus versorgen, hat der Bürgermeister gesagt. Will's schon machen. Sollst keine Not leiden. – Wie das brutzelt! Das Rohr da mußt ein wenig mit Dreck verschmieren. Gleich heute oder morgen. Kriegst sonst zuviel Rauch in die Kuchel.« Nach einer Weile: »Sag doch was, Bub.«

»Was soll ich denn sagen? Leicht, daß du mir was zu sagen hast. Du warst drunten, ich nicht.«

»Ich, ich hab dir nichts zu sagen,« sprach die Burgel und kniff dabei die Augen halb zu.

»Mußt doch was vom Wirtsvater –«

»Der war nicht da.«

»– und der Wirtsmutter –«

»Och.«

»– und der Zenzi zu sagen haben.«

»Höchstens von der, daß sie auf die Nase gepurzelt war.« – »Sehr?«

»Die halbe Nase war hin.«

»So,« sagte der Loisl, »wenn du mich frozzeln willst, nachher kann ich ja auch zum Tyras gehn.«

Er machte Miene, hinauszutreten, aber die Burgel packte ihn am Arm, und sie hatte einen festen Griff.

»Jetzt wird erst gegessen.«

»Hab keinen Hunger.«

»So, dann geh und denk dir, was ich zu erzählen gehabt hätte. Sagen tu ich's nicht.«

»Burgel!«

»Nichts zu burgeln. Erst wird gegessen und ordentlich, sonst ist's immer noch gefehlt. Bist noch ein kleiner Bub und willst einem schon Not machen? Was soll denn dann werden, wenn du erst ein Großer bist? – Schau, es läßt sich also mit dem Herrn Loisl reden? Bub, sei gescheit. Essen muß man alleweil, mag sein, was mag. – Also sie lassen dir alle ein: Grüß Gott! sagen, Wirtsvater, Wirtsmutter und die Zenzi. Die läßt dir schön danken für das Blümel. War unterwegs ein bissel matt geworden, aber die Zenzi hat's gleich in ein Glasel getan, und jetzt steht's wieder grade. Ein Blümel könnt sie dir nicht wiederschicken, hätt' keins, hat sie gesagt –«

»Mach mir auch nichts aus den Blümeln.«

»Sollst dir aber was draus machen, weil sie so arg viel schön sind.«

»Das schon.«

»Und weil's die Zenzi freut. Also ein Blümel könnt sie dir nicht schicken, aber ein Bändel schickt sie dir. – Wo hab ich denn gleich das Bändel hingebracht?« Die Burgel tat, als suche sie vergeblich. Indes hielt der Loisl den vollen Löffel vor dem Munde, ohne ihn hineinzuschieben. »Willst gleich essen,« fuhr ihn die Burgel in gemachtem Zorn an. »So ein dummes Bändel! War doch überhaupt nichts wert. Schau, da ist's ja. Gefällt dir das etwa?«

Der Loisl nahm es der Burgel rasch aus der Hand. Es war blau und rot und grün. »Ob mir das gefällt?« sagte er. »Hab noch nie ein so schönes Bändel gesehn.«

»Aber ein Bub und ein Bändel!« neckte die Burgel.

»Recht hast,« sagte der Loisl schamhaft.

»Dann will ich das Bändel lieber wieder mitnehmen.«

»Ich bring's dir, bald du auf der Samalm bist.« Der Loisl schob das Band in die Tasche.

»Wird bald sein. In acht Tagen.«

»Und der Wirtsvater?«

»Hat gesagt, er käm einmal zuschaun, bald er Zeit hätt'. Vielleicht käm die Wirtsmutter auch mit auf dem Muli. Läßt dich übrigens extra schön grüßen.«

»Zuschaun hat der Wirtsvater schon auf der unteren Alm wollen, aber gekommen ist er nicht.«

»So? Wie hat er denn dann sehn können, wie du auf den Stein gesprungen bist? Dreißigmal, hat er gesagt. Nachher hätt'st du's geschafft gehabt.«

»Dann hat er im Holze gestanden.«

»Freilich, und hier wird er halt anderswo stehn; denn Holz ist nicht da, wenn er will, daß du ihn nicht siehst.«

»Warum will er das?«

»Weil er sehn will, wie du's allein anfängst.«

»Ich fang's schon an.«

»Desto besser. – Jetzt hat der Wirtsvater aber keine Zeit. Was meinst, wie das im Dorfe zugeht. Lauter Fremde. Werden alle reiche Leute, die braven Männer von St. Thomas.«

»Wieso, brave Männer?«

»So hat's doch in den Blättern gestanden. Hast denn das nicht gelesen, dazumal, Bub?«

»Nein. Das hat mir der Wirtsvater nicht gegeben.«

»Ja, also die arg, braven Männer von St. Thomas', die dazumal, so steht es im Blatt, eine ganze Gemeinde,« die Burgel dozierte mit spitzem Munde, als lese sie vor, »eine ›ganze Gemeinde vor dem Verhungern‹ bewahrt, kriegen ihren Lohn dafür. Haufenweise sind die Stadtleute da, kommen, gehn, kommen. Kein Bett ist mehr zu haben in St. Thomas. Schlafen im Heu, unsere Leute, und vermieten ihre Betten.«

»Wie kann man denn sein Bett vermieten?«

»Das kann man schon. Hast etwa auch Lust dazu? Gehörst doch auch zu den braven Männern von St. Thomas.«

»Ich bin ein Bub.«

»So? Aber ein bissel was vom Mann bist doch auch schon.«

Die Burgel ward mit einem Male fuchsteufelswild, so wild, wie es ihr der Loisl nie und nimmer zugetraut. »Einer, dein Wirtsvater, der wirklich ein braver Mann war, vielleicht der bravste von allen, hat mit Recht was davon, weil er ja auch der Wirt ist und die Leute bei ihm ab- und zugehn müssen. Ich gönn's ihm. Andere fangen schon an, es ihm nicht zu gönnen. Also über den Sepp Huber kann niemand was sagen, und er läuft auch den Fremden nicht nach. Die andern braven Männer, der Moosbacher, der Brunner, der Zweigler, der Siebenlehner, haben nichts davon. Sie wollen die Fremden nicht und verkaufen ihre Betten nicht. Aber der Bürgermeister, auch ein – Braver, ein sehr Braver, der verkauft den letzten Schragen, und der Toni hat im Winter jeden Tag drei, die am Verhungern waren, aus dem Schnee gegraben. Dem Brandl Max und dem Schreck gönn ich's, wenn sie ein Geld einnehmen, die waren, wie sie sein mußten, aber, Kruzi – –, ich will nicht fluchen, steht schon einem Mann schlecht genug –, wo bleiben denn die wirklichen braven Männer von St. Thomas jetzt? Ich weiß nicht, ob sie nicht sehn oder nicht sehn wollen. Kruzi – ist zwar eine andere Not, als die vom letzten Winter, die jetzt in St. Thomas umgeht, aber – leicht ist's eine größere. – Verstehst mich nicht, Bub. Schaust mich so an. Ist recht, wenn du's nicht verstehst. Kommt ja noch alleweil viel zu früh. – Hat's geschmeckt? Jetzt komm.« Die Burgel trat vor die Tür und zog den Loisl hinter sich her. »Da schau um dich. Das ist dein. Da bist König. Siehst da droben das Pünktlein? Das ist einer von den großen Vögeln, die Adler heißen. Wohnen dort in den Wänden. Mußt keine Angst vor den Wänden haben. Bald du sie von weitem siehst, schaun sie wohl grauslich aus, und ich will dir gleich sagen, daß sie auch grauslich sind für den, der nichts von ihnen versteht. Der aber, der sich nicht fürchtet und seinen Verstand und richtig schaun kann, findet alleweil noch die Stufen, auf denen er aufsteigen kann. Der Bastian, weißt, der beim Zweigler ist, hat gesagt,« die Burgel ward ein klein wenig rot und verlegen, »daß er schon zweimal in den Wänden gewesen ist, aber an das Adlernest ist er doch nicht gekommen. Du, Bub, kletterst mir nicht hinauf, das sag ich dir. Aber anschaun sollst die Wände. So lange anschaun, bis sie dir sind wie des Wirtsvaters Gesicht. Und jetzt sag ich: B'hüt Das Grüß! für drunten brauchst mir nicht erst aufzutragen. Das richt ich so schon aus. – Und – das Bändel,« die Burgel kicherte, »das bringst mir auf die Samalm.« Damit sprang die Burgel den Berg hinab, und der Loisl war allein.

Er hatte aber vorerst keine Zeit, an sich zu denken; dafür hatte sie gesorgt, die schlaue Burgel, und hätte sie gehört, daß der Bub sie eine Schlampete nannte, dann hätte sie gelacht. Ja, eine Schlampete war sie schon, die Burgel. Hatte keinen Hafen, keinen Teller, keinen Löffel aufgewaschen, hatte nichts aufgeräumt, nicht einmal dem Buben die Bettstatt hergerichtet. Alles mußte der selber machen, und als er fertig war, da stand der halbe Mond am Himmel, die Wände lagen grauschwarz da, rundum war es totenstill, und nur die Wasser gurgelten. Tyras kam und bettelte um ein paar Brotbrocken und Käserinden und trollte, als er satt war, wieder hinaus zu seinen Schafen. Der Loisl kroch auf seine Bettstatt, redete ein Weilchen allerlei kunterbuntes Zeug mit dem Herrgott, sann ein wenig der Burgel ihrem Zorn auf die »braven Männer von St. Thomas« nach, kam mit beidem nicht weit, schlief ein.

Als er am Morgen erwachte, schien die Sonne zur weit offenen Tür des Schafstalles herein. Zwar traf sie da nur ein buckliges, grauschwarzes Stück Erde, aber es sah doch so warm und golden und schön aus, daß der Bub barfüßig mitten hineinspringen mußte. Und so stand er denn ein Weilchen, jung, froh, ohne zu wissen, wohinaus das Frohsein wollte, von junger Glut umloht und erwärmt. In den Augenblicken sah alles leichter aus als gestern. Er ging hinaus, das Gras war taufeucht, die Blumen hingen die Köpfe, aber die Bischkopfwände lagen in einem so scharfen und klaren Licht, daß man jeden Vorsprung und jeden Riß in ihnen erkennen konnte. Es waren fürchterliche Wände, da wohl fünfhundert Meter hoch, dort dreihundert. Halb rechts drüben fielen sie so senkrecht ab, als hätte einer grauschwarze, himmelhohe Bretter aufgestellt. Da war wohl ein Aufstieg überhaupt nicht möglich. Weiter links waren viele Schrunden, in denen es sproßte und grünte, und sie waren so zerschlitzt, daß sich da wohl einer durchwinden konnte. Noch weiter links waren die Steinmauern klotzig und scheinbar geschlossen. Man sah aber deutlich mindestens zwei Kamine, die wie Schornsteine von gewaltigen Herdstätten aufwärtsführten. Nach links war der Blick durch einen zackigen Felsbuckel verriegelt, auf den das Haupt des Riesen wie auf Schultern aufgesetzt schien. Dabei lag der Riese gewiß mehr als zwei Stunden weiter links. Rechts warf das böse Törle seinen Schatten zur Hälfte nach dem Bischkopf hinüber, zur Hälfte hinter sich. Der Schatten nach dem Bischkopf zu ward schmäler, je weiter die Sonne nach Süden wanderte, und mußte, wenn sie am Abend im Westen stand, ganz auf die Scharte fallen.

Das war das Reich des Loisl, ein eng umgrenztes Reich, das den Blick nur gegen Südosten auf die Kuglerkette frei gab und ihn auf St. Thomas freigegeben hätte, stünde das nicht zu nahe an der Westkette, so daß das Auge drüber hinausschweifen mußte. Einzig der Brunnerhof war ein wenig sichtbar. Vom Zwecker sah man den linken Dachgiebel. Das war beides wenig, aber es waren immerhin zwei Heimstätten von Menschen, die man kannte, und man brauchte am Morgen nicht ganz und gar jedes Grüß! und am Abend jedes B'hüt! in die seelenlose Steinwildnis hinauszuschicken. Seelenlos! Das wohl und gewiß, aber nicht tot. Schon die Morgensonne löste Steine an den Bischkopfwänden, die polternd niedergingen. Und war es nicht die Sonne, dann waren es Gemsen, deren eine ganze Zahl an der Westkette wohnte und hin und her zog.

Der Loisl kehrte in seinen Verschlag zurück, zog sich die schweren, genagelten Schuhe an, aß, nahm den Bergstock und ging wieder hinaus, sein Reich näher zu erkunden. Konnte ein Mensch glauben, daß die Dreiecksalm so viel Wasser hatte! Die Adern, kleine und große, schienen gar nicht zu zählen zu sein. Alle hatten sie zweierlei gemeinsam. Sie rannen alle rasch und waren alle so klar, daß man jedes Steinchen in ihnen erkennen konnte. Über die meisten kam man mit einem Schritt, höchstens einem kurzen Sprung hinüber. Zwei waren breiter, obwohl man eine von den beiden zur Not auch noch hätte mit einem Sprung überqueren können. Über die beiden führten Brücklein, über das breitere und tiefere Wasser aus drei schwachen, geschälten Stämmchen, über das schmälere aus zweien. Die Stämmchen waren ausgetreten und halb vermorscht, trugen aber den Loisl. Einen schweren Mann hätte wahrscheinlich keines mehr getragen. Und doch mußte jeder, der die Alm überqueren und dahin wollte, wo derzeit die Schafe weideten, entweder über die Brücklein balancieren oder die Wasser durchwaten. Die klare Flut aber, die von den Schneefeldern und Gletschern herkam, war einmal eiskalt, zum anderen in dem breiteren Arme so reißend, daß es fraglich war, ob der Loisl darin hätte stehn können. Ertrunken wäre er nicht, dazu waren die Gletscherbäche nicht tief genug, aber hin und her wäre er geschleudert worden, und es ist gar nicht sicher, ob er sich nicht an einem Felsbrocken den Schädel eingeschlagen hätte. Wenn auch die Ufer meistens von gelbbrauner Moorerde gebildet wurden, so gab es doch noch genug Stellen, an denen die Wasser gegen Steinbrocken oder hereinstehenden Fels stießen. Man durfte also den Wassern nicht trauen. Wiederum war es schön, daß der Loisl in fast zweitausend Meter Höhe einen zweiten Frühling erlebte. Was drunten längst abgeblüht war, war hier am Aufbrechen. Die Vergißmeinnicht, da und dort auch eine gelbe Butterblume. Weithin wuchs das grünweiße Sumpfherzblatt.

Der Loisl hatte das breitere Wasser überquert und ihm bei sich den Namen: Die Wilde, gegeben, als er auf eine merkwürdige Stelle stieß. Es war ein Loch, wohl, weil das Wasser goldklar war, tiefer, als es schien, aber trotzdem nicht etwa einem Brunnenschacht auch nur vergleichbar. Silbern glitzernde große Blasen, jede etwa so groß wie eine Bubenfaust, stiegen ununterbrochen vom Grunde herauf und platzten an der Oberfläche oder zerfielen dicht darunter. Der Loisl nannte die Stelle den Kartoffelbrunnen, weil jede Blase etwa so groß wie eine Kartoffel war. Am Kartoffelbrunnen vorüber wanderte der Bub über schwankenden Boden seinen Schafen zu. Als das Moor hinter ihm lag, ward die Erde steinig, warm und fruchtbar. Die gefransten, blauvioletten Alpenglöcklein blühten, der kurzstenglige Enzian lachte herauf, das Alpenwindröschen, das in seinem krausen, feinarmigen Fruchtstand hernach Teufelsbart hieß, schaukelte auf schwankem Stengel, und von den Felswänden prallte die Sonne zurück, ohne lästig zu werden.

Tyras kam in langen Sätzen gesprungen, und hinter ihm her sprangen die Lämmer. Die alten Schafe kamen im gemächlichen Trott herab, der Schwarze aber blieb liegen und blinzelte faul vor sich hin. Zu dem trat der Loisl: »Kannst denn nicht wenigstens ein Grüß! sagen, wie die andern auch?«

»Mäh,« sagte der Schwarze und noch einmal: »Mäh.«

»Mäh,« giftete der Loisl, »das kann jedes. Dazu braucht man nicht ein so großer schwarzer Bock zu sein wie du. – Na, aber wenn du nur deine Sache machst, dann ist's schon recht.« Und, sich umwendend, zur Herde: »Gefällt's euch da? Will ich schon glauben. Aber daß mir keins da hinaufgeht. Bleibst liegen, wo du liegst, Schwarzer, und du, Tyras, paßt mir auf. Jetzt bleib ich bei euch. Fort geht ihr. Marsch!«

Der Loisl warf sich in das Gras und sah zum Himmel hinauf. Da zogen weiße Wolken im behaglichen Schlendergang nach Süden. Sie kamen teils über den Bischkopf, teils links von ihm her, und wenn sie diesseits der Kette waren, dann sah man ihre Schatten an den Wänden entlang wandern. Es war ein lebhaftes Spiel zwischen Hell und Dunkel, das merkwürdige Bilder und Gestalten schuf. Was im Licht wie eine luftige Kanzel aussah, wandelte sich im Schatten zum plumpen Klotz, und was unter Wolkengrau einem Stier ähnelte, entpuppte sich unter der Lichthand als langmähniges Roß.

Der Loisl sah dem Spiel, ohne viel zu denken, so lange zu, bis er einschlief. Er erwachte durch das laute Gebell seines Hundes und sah nicht gar hoch über der Herde einen breiten Schatten hineilen. Ein Adler revierte und beobachtete die Ankömmlinge, ohne jedoch herabzustoßen. Die Schafe hatten sich auf einen Klumpen gedrängt, schrien und zitterten. Der Loisl sprang zwar rasch auf die Beine, aber ehe er noch einen Stein aufheben konnte, war der Adler nach den Bischkopfwänden zu abgestrichen, ließ sich auch den ganzen Tag über nicht wieder sehn. Die Schafe hatten sich abermals verteilt. Tyras hatte die Schnauze zwischen die Vorderpfoten gelegt und tat, als schliefe er. Er blinzelte jedoch des öfteren nach den ihm anvertrauten Tieren. Da keines zu hoch zu steigen gewillt schien, erachtete er es nicht als nötig, seine Ruhe aufzugeben.

Der Loisl war inzwischen über das Grasband hinaus geklettert, einmal weil es ihm zwischen den Tieren langweilig geworden war, zum anderen, um sein Reich näher kennenzulernen, endlich, um festzustellen, was er sich zutraun könne. Dazu war nun die Halde nicht recht der geeignete Platz. Sie stieg langsam nach dem Törle zu, war aber kein Felshang, sondern ein mit üppigem Grase durchsetztes Geröllfeld. Einzelne Blöcke waren zwar so groß wie halbe Häuser, die meisten jedoch viel kleiner, und der Steine von der Größe eines Kinderkopfes bis zu der etwa eines Tisches gab es Tausende. Viele von ihnen waren kahl und rauh, andere von Moos überwuchert, bald grün, bald rötlich. Baum und Strauch hatten aufgehört, selbst die Alpenrosenbüsche blieben zurück.

Hier, zwischen Törle und Bischkopf, jedoch dem Bischkopf näher, setzte sich der Loisl auf einen Block und übersah sein Reich. Er mochte an die vierhundert Meter gestiegen sein, die Dreiecksalm lag tief unter ihm und sah recht klein aus. Seine Herde erkannte er mehr aus der Bewegung des unruhigen Haufens, als im einzelnen. Das Tal von St. Thomas lag zu steil unter ihm, so daß der Blick darüber hinauswanderte. Dagegen war die ganze Westkette bis an die Tritta vor ihm aufgebaut. An den Wänden des Bischkopfes hingen noch grauweiße Eisbänder, und der Loisl sah deutlich, daß dauernd ein feiner Regenschleier von ihnen niederging. Die Sonne räumte ab. Die Bischkopfspitze lag in tiefem Schnee und leuchtete weiß herüber. Auch das Törle, links von ihm, trug noch seine Schneehaube. Noch vielleicht zweihundert Meter zog sich die Halde nach dem Törle zu hinauf. Dann begannen dessen Steinwände, die zwar eben so wild waren wie die des Bischkopfes, aber nicht so hoch. Gefährlich war die Westseite des Törle nicht. Um so gefährlicher dagegen die Ostseite, die sich in gleichmäßiger Schräge hinab zur Scharte zog. Von ihr her kamen die Lawinen, die gegen den Felsvorsprung des Kugler anrannten, um dann mit erneuter Wucht nach St. Thomas abzubiegen.

Der Loisl stutzte. Von rechts gellte ein kurzer, scharfer Pfiff. Ein Mensch war nicht zu Wege. Also konnte der Pfiff nur von einem Tier kommen, und das wiederum konnte nur ein Murmeltier sein. Er freute sich unbändig, daß er gleich am ersten Tage das Reich der Murmeltiere gefunden, aber so sehr er auch lauschte, und so scharf er auch äugte, er sah keines der Tiere. Dagegen flog nicht weit von ihm ein Vogel auf einen Stein, und weil sich der Loisl nicht rührte, jubelte das Tier seine klingenden Strophen in die Sonne hinaus. Es war ein bescheidenes Lied, aber es war ein reicher Wechsel der Melodie, so reich und so schön, so unerwartet und fremd hoch über den Wohnstätten der Menschen, daß das Lied alle Einsamkeit, alles Unheimliche, alle Düsternis davonjagte.

Es war ein merkwürdiger, großer, bunter Vogel mit kurzem Schwanz und kurzen, festen Beinen, ein Märchenvogel gradezu, ein Vogel, den der Loisl nie und nimmer hier oben zwischen den Steinen gesucht. Aus seinem Alpenbuche schloß der Loisl nachher, daß das Tier ein Steinrötel war, und der Bastian, des Zweiglers Knecht, mit dem der Loisl später zusammentraf, bestätigte ihm seine Vermutung.

Es war also allerlei, was der Bub gleich am ersten Tage gesehn, gehört und entdeckt hatte, und als er, als die Schatten länger wurden, mit dem Tyras nach dem Steinhause wanderte, hätte er, wenn ihn einer etwa gefragt, wohin er ginge, wahrhaftig geantwortet, er ginge heim.

Acht Tage waren rasch vergangen. Der Loisl war jeden Tag wieder hinauf in seine Geröllhalde gestiegen und hatte gestern endlich, hinter einem Felsblock liegend, die Murmeltiere belauschen können, aber so schlau er es auch anzufangen geglaubt, und so vorsichtig er geschlichen, die Tiere hatten ihn eräugt, eines hatte gepfiffen, und – weg waren sie gewesen. Am neunten Tage, als der Wind von Südwesten her einstand, hörte der Loisl in aller Frühe deutlich die Kuhglocken von der Samalm herauf, und nun war überhaupt alles gut. Er war nicht mehr allein.

Des Buben Mundvorrat ging auf die Neige, er hätte also eine Ausrede gehabt, konnte jedoch nicht, wie er es gern getan, stehenden Fußes nach der Samalm hinabgehn, sondern mußte dem Hieronymus Fabian standhalten, und kam nachher überhaupt nicht mehr dazu, die Samalm aufzusuchen. Der Fabian war Steinsucher. Er war einschichtig geblieben, lebte in einer Welt, in die er niemand hineinschauen ließ, war vernarrt in seine Steine und zumeist wenig freundlich gegenüber den Leuten. Es gab, nachdem der Murner tot war, in St. Thomas keinen, der so lang und so stark gewesen wäre wie der Fabian. Viele Tage war er oft in den Bergen, und kein Mensch wußte, ob er noch lebte oder abgestürzt war, tauchte für ein, zwei Tage in St. Thomas auf, verschwand wieder, machte auch zuweilen lange Reisen in ferne Städte zu den Händlern und Liebhabern, mit denen er in Verbindung stand. Man hatte ihn sogar im Verdacht, daß er Bücher lese. Hieronymus Fabian hatte eine laute, tiefe Stimme und lief wie ein Bär. St. Thomas hatte zwei Männer, die aus dem Steinsuchen ein Gewerbe machten. Einer davon war der Fabian, der andere der Mitterer. Etliche andere machten nur gelegentlich Jagd auf Steine. Zu denen gehörte der Bastian, der beim Zweigler war.

Das Hornbachtal hatte die meisten guten Steine, sogar Smaragde, wenn man auch bislang noch nicht einen einzigen gefunden, der etwa den ausländischen gleichwertig gewesen wäre. Der Mitterer, ging die Mär, sollte einen gefunden haben, der nach dem Schleifen noch über zwölf Karat wog, aber der Mitterer war ein Prahler, und so wußte man nicht, was wahr und was übertrieben war. Die Smaragde saßen als Kristalle ohne Spitze am Glimmerschiefer, und wer sie suchte, mußte das Gestein förmlich abtasten. Trotzdem blieb es immer noch bei Zufallsfunden. Fast eben so selten waren die Olivine, die als glänzende Scherben im Bergleder, einer weichen, dem Asbest ähnlichen Masse, klebten. Häufig waren dagegen die Rauchtopase, noch häufiger die Bergkristalle. Beide, der Fabian wie der Mitterer, hatten schon große Rauchtopase gefunden, die klar und wolkenlos waren. Der Fabian wußte außerdem einen, der aus zwei Stücken zusammengewachsen war. Eines sollte waagrecht liegen, das andere von ihm aus schräg aufwärts stehn. Er hatte ihn in vorigem Herbst, kurz vor dem Einschneien, in einem Riß der östlichen Bischkopfwand entdeckt und wollte ihn heute holen. Dazu war er ausgerüstet mit Steigeisen, Seil, Strickleiter, Meißel und Hammer. Das Steinsuchen war, wenn auch ein überaus gefährliches, so doch zugleich auch ein lohnendes Gewerbe. Die Sammler hatten ihre festen Abnehmer und waren keineswegs nur darauf aus. Edel- oder Halbedelsteine zu suchen, sondern stellten ganze Mineraliensammlungen zusammen. Sie kannten den Wert seltener Stücke recht gut und ließen sich bei deren Verkauf nicht so leicht übers Ohr hauen, eher, daß der Mitterer die Unkenntnis der Liebhaber ausnutzte. So sagte man wenigstens. Der Fabian dagegen war ein ehrlicher Mensch.

»Da bist du also?« sagte der Fabian, als er des Loisls ansichtig wurde, und lachte. »Da? Bist hoch gekommen, Bub. – Schön, wenn einem die Leute alle am Buckel abrutschen können. – Was schaust denn? Bin immer noch der Fabian. Sakra, was ist denn an mir?«

»Weil – du halt gar soviel aufgeladen hast.«

»Zum Blümerlbrechen braucht man das freilich nicht, aber zum Steinebrechen halt.«

»Steine willst brechen? Wo denn?«

»Da drüben.« Der Fabian wies in die Bischkopfwände.

»Aber da – da,« stotterte der Loisl, »kann doch kein Mensch hin.«

»Nicht? In zwei Stunden wirst mich droben sehn.«

Der Fabian zog ein Fernglas aus der großen Tasche seines Flausches, es war ein sehr gutes, teures Glas, richtete es auf die Wände und prüfte sie. »Hahaha,« lachte er, »seh ihn schon. Muß von rechts kommen, Sakra, sakra, wenn halt der Sims hält. Da stürzt einer bloß einmal ab, Bub, aber – der Ronymus stürzt nicht ab.« Er nahm das Glas von den Augen. »Hast schon einmal durch so ein Spektiv geschaut? Nicht? Da schau. Siehst was? Nicht ordentlich? Dreh einmal da.« Der Loisl drehte, riß das Glas herab, war blaß. »Ronymus!«

Der nickte, und sein gutmütiges Bärenlachen kollerte über die Alm. »Was hast denn?«

»Muß noch einmal schaun.« Wieder riß Loisl das Glas rasch von den Augen, sah hinauf zu den Wänden, setzte das Glas wieder an. »Da sind sie, da grad vor mir und sind doch –«

»Sakrisch weit.«

»Und da hinauf –.« Er schrie auf. »Ich hab den großen Vogel, den Adler! – Zu meinen Lämmern muß ich. Neun Tage ist er nicht da gewesen. Jetzt kommt er wieder.«

»Bleib, wo du bist. Dies Jahr sind die Lämmer schon zu groß. Hast zu spät auftreiben können.« Der Fabian nahm das Glas und blickte hindurch. »Ist das Weibchen, das reviert. Sucht sich vielleicht ein Murmel.«

»Sind da droben auch welche?«

»Glaub's nicht. Da drüben,« Fabian nahm das Glas herab und wies nach der Halde rechts, »da sind sie noch.«

»Ich – möcht gern eins haben.«

»Fang dir halt eins.«

»Wie denn?«

»Graben oder mit der Falle. Was willst du denn damit?«

»Möcht halt gern eins haben. Kannst du mir nicht helfen?«

»Vielleicht einmal. Jetzt muß ich hinauf, sonst komm ich in den Steinschlag.«

»Fabian,« der Loisl hatte Tränen in den Augen, »geh nicht hinauf!«

»Warum denn nicht? Weil ich abstürzen könnte?«

»Ja. – Guter Ronymus!«

»Hohoho,« der Bär lachte wieder, »das hat mir lange keiner gesagt. Und Wasser hast in den Augen wegen meiner? Wasser?! – Bub, ich fang dir ein Murmel. Aber jetzt ist's Zeit. Mußt keine Angst haben. Sieht schlimm aus, das ist wahr, aber ich hab schon Schlimmeres gemacht. Da hast das Glas. Ich brauch's nicht. Kannst schaun, wie ich steig. B'hüt! Ich komm wieder.«

Der Loisl beobachtete den ganzen Tag und vergaß darüber seinen Hunger und seine Schafe. Denen geschah nichts. Tyras wachte, und der Adler war nach dem Riesen zu abgestrichen.

Es dauerte ein Weilchen, ehe der Bub den Fabian wieder ins Glas kriegte. Dann aber ließ er ihn nicht mehr los, ob ihm auch die Augen des öfteren tränten. Ganz hoch war der Fabian gestiegen, weit über den Platz hinaus, an dem die Kristalle in einer Nische saßen. Es schien dem Loisl eine ganz unmögliche Kletterei. Jetzt zog sich der Mann an einer Wand empor, tastete erst mit den Händen, dann mit den Füßen, fand Halt, klebte am Stein wie eine Fliege an der Wand, kroch rechts, kroch links, ließ sich herab, kletterte wieder hinauf. Über ihm ragten die Felsen in den Himmel, unter ihm war der Abgrund so tief, daß man an die acht oder zehn Kirchtürme hätte aufeinander setzen müssen, um zu dem Kletternden zu kommen. Jetzt mußte der Ronymus etwas Besonderes vorhaben. Er hockte nieder, hantierte, stand auf, schlug ein Eisen in den Fels, hockte wieder nieder, band sich ein Seil um den Leib, knotete es an dem Eisen fest, kramte eine Strickleiter aus dem Rucksack, hing sie an ein zweites Eisen, das er neben dem ersten eingeschlagen, warf das freie Ende die Wand hinab. Und jetzt! Und jetzt! Heiland! Der Fabian stieg auf der Strickleiter an senkrechter, kanzelloser Wand herab bis an einen Riß, förmlich ein Loch im Stein. Hier hielt er an, hatte vielleicht noch drei oder vier Sprossen der Leiter unter sich, kramte in den Taschen, zog Werkzeuge heraus, hieb mit mächtigen Schlägen auf den Stein los. Er mochte eine Stunde gearbeitet haben, da schwang er sich den Rucksack vom Buckel und schob einen großen Stein hinein. Dabei hatte er den rechten Arm durch die Strickleiter gesteckt und das linke Seitenseil der Leiter um den linken Fuß geschlungen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schien ein wenig zu verschnaufen, kletterte die Leiter hoch, löste Haken, Leiter und Seil, verstaute alles wieder im Rucksack, trat den Rückweg an. Dabei schlug er einen anderen Weg ein als hinauf, kletterte fast senkrecht herab, verweilte, hämmerte, stieg weiter abwärts. Inzwischen hatte das alltägliche Poltern im Gewände längst eingesetzt gehabt und hielt den ganzen Tag über an. Der Bischkopf und die Tritta waren um ihres Steinschlags willen verrufen. Von den Leuten in St. Thomas hatten nur wenige den Ehrgeiz, in den Bergen herumzuklettern, ohne daß sie dazu gezwungen waren, etwa daß sie auf der Jagd Treiberdienste taten oder, wie die Burschen, ihren Dirnlein Edelweiß suchten. Keine zehn aus der Gemeinde, abgesehn von den Steinsuchern, waren auf dem Törle gewesen, keine fünf auf dem Bischkopf. Sie hatten da droben nichts verloren, zumal es schon im Tale mühsam genug war und die paar Sommertage kaum ausreichten, die notwendige Arbeit im Heu und etwa am Hause hinter sich zu bringen. Die Arbeit der Wildheuer war, ähnlich der der Steinsucher, gefährlich, aber sie brauchten wenigstens nicht zu den höchsten Gipfeln emporzusteigen; denn da droben wuchs kein Halm mehr. Der Steinschlag war unberechenbar, und der klügste und vorsichtigste Bergsteiger konnte hineingeraten, aber bei einiger Vorsicht vermochte man dennoch die Gefahr auf ein geringeres Maß herabzusetzen. Man stieg nicht, wenn die Sonne das Gestein gelockert hatte, sondern stieg vor der Sonne, und man mied die Hänge, die ausgesprochene Rinnen fallender Steine waren.

Soweit es angängig war, handelte auch der Fabian danach. Paßte es ihm jedoch nicht in sein Vorhaben, an ein bestimmtes Ziel zu gelangen, dann fragte er dem Steinschlag nicht nach, sondern verließ sich auf sein Glück, und er hatte bislang auch immer Glück gehabt.

Als der Tyras von der Herde kam, um sich sein Abendfutter zu holen, kam auch der Fabian. Er war ernst und schien müde zu sein.

»Hast mich gesehn, Bub?« fragte er.

»Ja.« – »Und?«

»Ich – hab ein Vaterunser gebetet.«

Da riß der Fabian die Augen weit auf und legte dem Loisl die schwere Linke auf den Scheitel. »Für mich – hast ein Vaterunser gebetet? Für den – Ronymus – Fabian? – Ist lange her, daß einer für den ein Vaterunser gebetet hat, sehr – sehr – lange, am Ende – überhaupt noch nicht.« Er nahm den Filz vom Kopfe und strich mit der Rechten durch seinen schwarzen Haarwust. »War zwar ein redlich Stück Arbeit, das muß wahr sein, ging aber doch nicht viel über das hinaus, womit unsereiner alle Tage rechnen muß, und hat wenigstens gelohnt. – Ich könnt leicht noch hinab, aber ich bleib auf die Nacht bei dir, weil's – mir da gefällt.« Er wollte nicht sagen: Weil mich dein Vaterunser so gerührt hat.

»Wär schon recht,« sagte der Loisl, »und tät mich freun, hab aber nichts zu essen.«

»Hab selber und reicht auch für zwei, aber warum hast denn du nichts zu essen?«

»Weil ich halt zur Burgel auf die Samalm hinab gemußt hätt', um mir was zu holen. Hab aber nicht los gekonnt, wie du so umeinander gestiegen bist.«

»Also dann hab ich die Schuld?«

»Nein,« wehrte der Loisl ab, »ich hätt' auch so keinen Hunger gehabt, und leicht kommt die Burgel nun selber herauf.«

»Um so besser,« sagte der Fabian. »Dann wird's ein schöner Abend. Ich mag die Dirn leiden. Ist das Beste vom ganzen Oberlechnerhause. – Lang zu, Bub! Redet sich besser, wenn eins satt ist.«

Die beiden waren noch nicht fertig mit dem Essen, da kam die Burgel den Hang herauf. Sie keuchte ein wenig. Ihr Rucksack war schwer. Und sie schien auch ein bißchen schlecht gelaunt zu sein; denn sie belferte gleich los. »Da hast was zu essen, aber warum bist du denn nicht selber gekommen? Hab den ganzen Tag auf dich gewartet, und nun jagst mich noch da herauf, wo ich vor lauter Arbeit kaum aus und ein weiß. Pack aus! Muß gleich wieder hinab. – Was will denn der Ronymus da?«

»Heimgarten will ich, bei dem Buben heimgarten,« sagte der Fabian und blinzelte schelmisch.

Noch ehe die Burgel den Scherz zurückgeben konnte, berichtete der Loisl mit heißen Wangen, daß der Fabian Steine gesucht, und er, der Loisl, ihn den ganzen Tag beobachtet habe. Er habe ihn gut sehn können, weil ihm der Fabian sein Glas da gelassen. Grauslich sei es gewesen. An der Wand gehangen habe der Fabian, und der Loisl habe ein Vaterunser nach dem anderen für ihn gebetet.

»Für den?« sagte die Burgel schnippisch. »Das hättest dir sparen können. Der stürzt nicht.«

»Na, na,« sagte der Fabian, »sind schon andere Leute abgefallen als ich.«

»Ach,« wehrte die Burgel ab, »der Bub ist halt noch nicht einmal selber droben gewesen. Ist ja überhaupt kein rechter Bub, hat alleweil Angst. – Und jetzt muß ich schaun, daß ich wieder hinabkomme. Wird mir sonst finster.«

»Mein ich auch. Wenn Vollmond ist und keine Wolke am Himmel steht, wie heute, dann sieht man die Hand nicht vor den Augen,« spottete der Fabian.

Die Burgel aber war nicht auf den Mund gefallen. »Ist grad im Vollmond schon mancher irr gegangen.«

»Freilich. Grad im Vollmond. Haben's an sich, solche Nächte.«

»So nicht, wie du meinst. Für mich nicht. Das sag ich dir. Ich bin keine solche.«

»Nein, eine solche bist du nicht. Bist eine andere. Aber wie ich heut in der Früh beim Zweigler vorbeiging, hat er grad die Ochsen angeschirrt und hat gesagt: Bald du etwa an der Samalm vorüberkommst, es sind Kohlen da in Rauth. Der Zweigler und der Wirt und der Brunner und der Moosbacher haben welche bestellt. Wir müssen fahren. – Werden modisch jetzt in St. Thomas, mußt wissen. Kohlen bestellen's jetzt! Hahaha.«

»Lügst jetzt oder ist's wahr?«

»Ich werd wohl lügen.«

»Warum hast mir das dann nicht gleich gesagt?«

»Weil ich halt nicht an der Alm vorübergekommen bin.«

»Das war schlecht von dir.«

»Wieso? Ich hab gemeint, was bildet sich denn der Bastian ein? Eine so schmucke Dirn wie die Burgel, fragt doch so einem nicht nach.«

»Ich bin keine schmucke Dirn. Ein Ledig's bin ich.«

»Bin ich auch.«

»Siehst auch danach aus. Und so einer ist der Bastian nicht, das sag ich dir.«

»Ist er halt ein anderer, grad wie du eine andere bist. – Hock nieder, Burgel. – Schau den Buben an. Jetzt weiß der gar nicht, was er aus uns machen soll. Hat halt ein gar zu gutes Mutterle gehabt, wird's aber schon noch lernen.«

»Der Bub ist recht, da sag nichts.«

»Ich denk, er ist überhaupt kein Bub, weil er nicht in den Wänden umeinander klettert.«

»Das – kann ihm der Bastian einmal zeigen.«

»Burgel,« sagt der Fabian ernst, »das überlaß mir. Für mich hat er ein Vaterunser gebetet, nicht für den Bastian. – Aber nun hock endlich nieder. An solch einem Abend geht der Herrgott selber über die Berge, und wär doch wohl nicht recht, wenn man ihm nicht wenigstens ein: Grüß! sagen wollte. Hock nieder!«

Da hockte die Burgel nieder und fragte, ob denn der Fabian wenigstens etwas gefunden habe.

»Schon,« sagte der. Und zum Loisl: »Lang einmal den Rucksack her, Bub.«

Der wollte ihn mit einem Griff aufheben, aber der Rucksack war so schwer, daß ihn der Bub nur schleifen konnte. »Mein,« sagte er, »den hast auf die Berge hinaufgetragen?«

»Hinauf und wieder herab, und das ist schwerer.« Der Fabian ergriff den Rucksack und streckte ihn mit einem Arme gradeaus. »So mußt werden, Bub. Sorg dafür, Burgel.«

»Will ich schon, aber es kommt halt nichts vor der Zeit.« –

»Wohl, aber man kann schon was dazu tun.«

Der Fabian knotete den Rucksack auf und zog den Rauchtopaskristall heraus, den er heute erbeutet. Es war so ein schönes Stück, daß es der Burgel und dem Loisl, sogar dem Fabian selber, die Sprache davor verschlug. Etwa vierzig Zentimeter lang war der waagerecht liegende, armstarke Kristall, dessen Spitze abgebrochen war, und der in fast seiner halben Länge noch am Muttergestein saß. Im unteren Drittel wuchs aus ihm ein zweiter Kristall, nicht ganz so stark wie der erste, aber mit scharfer, fast gleichmäßig ausgebildeter Spitze, herauf. Der waagerechte schon war nicht schlecht. Der senkrechte jedoch war von wolkenloser Klarheit, durchsichtig wie Glas. Hieronymus Fabian hielt das Stück mit beiden Händen vor sich, hob es dem Mondenlicht entgegen, drehte es rechts, drehte es links, und wie ein mildes, braunrotes Feuer warfen die fast glatten, poliert scheinenden Seiten des Kristalls das Licht zurück.

Es war ganz still, nur die Wasser rauschten. Da fragte der Fabian mit dunkler, schwerer Stimme: »Spürst den Herrgott, Bub?«

Der nickte, und wieder war es ein Weilchen still. Die Burgel wollte wissen, ob denn viele solche Steine in den Bergen wüchsen.

»Ob viel solche,« antwortete der Fabian, »weiß ich nicht. Leicht wohl mehr, als man denkt, aber man findet sie nicht oft. Ein paar andere habe ich noch gefunden.« Er kramte im Rucksack und holte etliche kleinere Stücke Rauchtopas, Goldtopas, der aber war unrein, und ein paar Bergkristalle, doppelt so dick wie ein Daumen, heraus. Sie waren alle schön, aber nicht vergleichbar dem großen Rauchtopas.

»Das verkauft sich leicht,« sagte der Fabian und wies auf den Kleinkram. »Daran hängt man nicht. An so was aber,« er wies auf den großen Topas, der zu seinen Füßen lag, »hängt man. Wenn man das verkauft, geht ein Stück Herz mit. Nicht, weil es ein saures Stück Arbeit war, den Stein zu holen, sondern weil er einen freut und man sich was dabei denkt. Und ein Stück hab ich, das geb ich überhaupt nicht her. Jeden Abend leg ich's neben mich, und jeden Morgen wickle ich's ein. Grad wie eine Mutter ihr Kind einwickelt.«

»Ronymus,« sagte die Burgel scheu, »hast das Stück etwa bei dir? Leicht täten wir's auch gern einmal sehen.«

Der Fabian starrte ein Weilchen verloren vor sich hin, und sein verwittertes Gesicht war merkwürdig schön und andächtig. Langsam, ohne eines der rechts und links von ihm Sitzenden anzusehn, langte er in die Tasche, holte einen wollenen Lappen heraus, wickelte ihn auf, entnahm ihm einen Bergkristall und hielt ihn gegen das Licht. Weder die Burgel noch der Loisl konnten jedoch den Fabian zunächst verstehn. Sie fanden nichts an dem Stein, der gar nicht einmal groß, höchstens handlang und so schmal und schlank wie ein zierliches Jüngferlein war. Der Fabian aber fragte den beiden nicht nach. Er sprach gradeaus, als rede er mit sich selber. »Kein Tadel dran,« sagte er. »Hab mehr als tausend Bergkristalle in den Händen gehabt, war aber keiner drunter wie der, und wird auch keiner wieder drunter sein, soviel ich noch finden mag.« Langsam und zärtlich strich der Mann an dem Stein auf und nieder. »Kein Tadel dran. Eine Seite wie die andere bis in die oberste Spitze. Klar, wie das klarste Wasser. Und jetzt schaut,« der Fabian zündete ein Streichholz an und hielt es hinter den Kristall. Durch den ganzen Stein gingen rote Adern, so fein wie Filigrandraht, ein köstliches Gewirr, wie fliehende Funken herausspringend aus den Seitenflächen, da gradlinig, da im Zickzack, da von einer Seite zur anderen reichend, da sich gegen die Spitze hin mitten im Stein verlierend. Der Loisl bat, ein zweites Streichholz anzuzünden, dann bat die Burgel um ein drittes, und der Fabian tat ihnen den Willen, lächelte freundlich und sagte, indem er den Stein schließlich wieder einwickelte: »Da kann man sich was denken.«

»Was kannst denn dabei denken?« fragte die Burgel.

»Was? Wirst's leicht nicht verstehn, Burgel.«

»Ich versteh wohl mehr, als du denkst. Bin ein Ledig's, und das heißt viel.«

»Hast recht. Dann ist's halt so: Das meiste, was die Leute vom Herrgott reden, ist ein Schmarren. Haben den Heiland im Maule und den Teufel im Herzen. Wenn's anders wär, wär das andere anders. Und: Ein Dreck ist's, wofür sie meinen, da sein zu müssen. Ein Dreck!« Der Fabian schwieg. Aus dem tiefen Schweigen heraus hob er die Hand und deutete auf die Wände vor ihnen. »Da schaut hin und sagt dem Herrgott ein: Grüß!« Dabei nahm er selber den Filz ab und legte ihn neben sich.

In unirdischer Erhabenheit standen die Berge da. Das Mondlicht lag darauf, Schatten schwangen sich in die Risse, wanderten und gaben da Spalten frei, dort andere dafür einhüllend. Matt leuchtete die Schneehaube des Bischkopfs. »Schaut,« sagte der Fabian dumpf und immer wieder: »Schaut!« Eine feierliche Ruhe über Alm und Bergen, nicht zerrissen durch das Rauschen der Wasser, sondern geheimnisvoll lebendig gemacht. Die rechte Seite des Törle lag vorerst im schwachen Halbschatten. Er wuchs jedoch und vertiefte sich, so daß schließlich die linke, scharfgratige Seite ganz im Lichte lag und die rechte in der Dunkelheit versank.

Der Fabian hatte wenig gesagt, und doch war er zur Offenbarung geworden für die zwei, die rechts und links von ihm saßen.

»Ronymus,« sagte die Burgel leise, »hab gemeint, ich kenne dich. Ist aber nicht wahr gewesen.«

»Mein,« der Fabian lachte ein wenig, »kannst mir nichts Lieberes sagen, Dirn.« Und zum Loisl: »Bub, reden alle nicht extra viel, die Leute in den Bergen, ist aber leicht immer noch zu viel. Still mußt sein können, nachher bist richtig. Was willst auch groß sagen vor dem da droben? Ich müßt mich arg in dir verrechnen, und dein Wirtsvater müßt's auch; denn ich weiß, daß er grad so denkt wie ich. Die Berge haben es mir angetan, könnt woanders gar nicht sein, sie werden es dir auch antun. Aber die Berge leiden keinen, der nicht ein Ganzer ist. Halb, dann erschlagen sie ihn. Ganz und er – er – hat seine Hand immer in des Herrgotts Hand. Müßt euch nicht verwundern, ihr zwei, daß ich so red. Bin nichts weiter als der Steinsucher Fabian und will nichts anderes sein. Will meine Steine suchen, meine schönen, lieben Steine, und wenn eines Tages das Seil reißt, dann –. Den Hieronymus Fabian braucht keiner zu suchen. Der liegt, wenn auch nicht in Gottes Acker, so doch in Gottes Hand. Da laßt ihn liegen, er liegt gut. Bis dahin aber will ich leben, und der Ronymus heißt bloß das ein Leben, wenn er auf die Berge lauschen und sich den Tag erzwingen kann. Nichts geschenkt will der Ronymus haben, aber wenn er den Stein losschlägt, der vor einer Ewigkeit gewachsen ist, dann –. Manchmal werden ihm halt die Augen naß. Heute auch. – Bub, die Berge und der Himmel über dir und ein Herz da drin, ein richtiges –. Schau, Bub, jetzt ist das Licht grad da, wo die alten Stollen liegen, in denen sie früher einmal nach Gold gegraben haben. Sollst nicht nach Gold graben. Lohnt nicht. – Hast viel von deiner Mutter. Siehst grad so aus, wie sie einmal ausgesehen hat. Dazumal, ehe ich – Steinsucher wurde. Hab vorher Holz geschlagen grad wie dein Vater. Hat – halt – nicht sein sollen. – Burgel, kannst nicht ein schönes Lied singen?«

Wer will sagen, wann die Dreiecksalm unter abtauendem Gletschereis herausgrünte, wer, wie lange schon die Wasser rauschten, Blumen auf Moorgrund wuchsen und starben! Es ist lange, lange her, lange, bevor die Menschen zu den Bergen aufschauten, im Tale werkten, ihr Vieh auf die Matten trieben. Manche Vollmondnacht ist feierlich über sie hingegangen, eine solche aber wie die heutige noch nicht. Noch nie strömte ein Lied aus so tief erschauerndem Herzen über die Alm hin, noch nie saß ein Bub mit so weit offenen Augen, Höchstes und Letztes ahnend, unter den Bischkopfwänden, noch nie auch lächelte ein Mann, dem das Schicksal sein schönstes und liebstes Hoffen grausam zerschlagen, so still und dankbar vor sich hin, indes die graue, stumpfe, unheimliche Dreiecksalm leise atmend in des Mondlichtes stillem Glanze lag.

Die Burgel ging hinab nach der Samalm – es war ein kurzer, ungefährlicher Weg –, der Fabian schickte den Loisl auf seine Bettstatt, er selber blieb sitzen, den großen Rauchtopas zu seinen Füßen, sah bald zu den Wänden empor, bald auf das sanfte Strahlen vor sich nieder, legte sich, als es ihm an der Zeit schien, um.

Nach einem Weilchen stand der Loisl wieder neben ihm. Fabian war verwundert. »Was willst du denn noch, Bub?«

»Was sagen möcht ich.«

»Dann sag's halt.«

»Wegen der Törle-Lawine.«

»Wegen – der Törle-Lawine? Bist denn narrisch, Bub? Was ist denn mit der?« Der Ronymus setzte sich auf.

»Die Bischkopfwände muß ich immer anschaun und das Törle.«

»Schau sie halt an.«

»Vor den Bischkopfwänden – fürcht ich mich.«

»Und vor dem Törle nicht?«

»Nein.«

»Umgekehrt wär's richtiger.«

»Schon, aber ich fürcht mich doch nicht, wenn auch der Wirtsvater sagt, daß die Gemeind einmal an der Törle-Lawine vielleicht sterben könnt.«

»Mag schon sein, Bub.«

»Aber sie soll eben nicht dran sterben!«

»Dann halt die Lawine auf.«

»Ronymus!«

»Was denn?«

»Darfst nicht. – Kannst mir denn nichts sagen?«

»Nein.«

»Gar nichts?«

»Hock daher.« Der Loisl setzte sich neben den Steinsucher, und der legte ihm den Arm um die Schultern und zog ihn an sich. »Schau, Bub, g'spürst, daß der Herrgott nahe ist? Ja? Und kannst ihn doch nicht sehn. Wär gefehlt, wenn einer den Herrgott sehn wollt, und ist gefehlt, bald einer meint, er müßt ihn verstehn. Zweierlei gibt's. Entweder die Torle-Lawine wandert ab oder St. Thomas geht ihr aus dem Weg. Abwandern? Nach dem Kugler in die Ache nicht mehr; denn da hat sie sich selber eine Mauer gebaut. Ins Holz hinein? Wenn ein Wunder geschieht, sonst nicht. Und ein Wunder? Wunder genug, schon, grad in den Bergen, bald einer nicht verlangt, daß der Himmel mit einem Male unter und die Erde über uns ist. So ungefähr wär das halt mit der Törle-Lawine. Bleibt nur noch eins, wenn die Gemeind nicht hin sein soll. Ein Mensch müßt kommen, der eine Hilfe sähe. Ich bin der Mensch nicht, ob ich schon die Berge kenne wie meine Tasche, und der Wirtsvater ist's auch nicht, von den anderen gar nicht zu reden.«

»Aber die Gemeind darf doch nicht sterben!«

»Wenn's der zuläßt, der um uns ist, gibt's kein Reden über das Dürfen. Leicht aber zeigt er doch einmal einem Menschen, was keiner von uns sieht, und wenn er sich die Augen aus dem Kopfe schaut. Geh schlafen, Bub. Mußt loskommen vom Törle.«

»Möcht schon, komm aber nicht los. Mußt mir nicht bös sein, Ronymus.«

»Bin ich dem Stein da vor mir böse, weil er halt gar so schön gewachsen ist – Gute Nacht, Bub.«

Hieronymus Fabian legte sich abermals um, aber er konnte lange nicht einschlafen. So ein Bub! Aber – er ist halt seiner Mutter Kind. Gute Nacht, Maria Walpurga! Hab dich viel gern gehabt, und wenn mich dein Bub einmal braucht, nachher bin ich da. Schau nicht bös, alter Spezi, Alois. Fürs Denken kann einer nichts. Hast ein gutes und treues Weib gehabt. War dein ganz allein, ganz allein! Aber von dem Buben, da laß mir halt ein bissel was.

Der Morgen weckte ihn, ein kalter, taufeuchter Morgen, und als der Loisl aus dem Steinhause trat, war der Fabian eben dem kalten Gletscherwasser entstiegen, in dem er sein Bad genommen. Der Loisl sah ihn betroffen an, als der Steinsucher forderte, der Bub möge nun auch ins Wasser steigen und es sich über Brust und Schultern rinnen lassen. Es sei zu kalt, meinte der, und davon werde man krank. Als ihn jedoch der Hieronymus, halb spöttisch, halb mitleidig, ansah, stieg der Loisl doch in den Bach, klapperte, war aber nun trotzig und blieb im Wasser, bis der Fabian streng sagte, mancher bilde sich ein, tapfer zu sein, und sei dabei nichts weiter als unvernünftig. Da stieg der Loisl heraus und aß nachher so viel, daß der Oberlechner entsetzt gewesen wäre, wenn er es gesehn hätte. Gegen sechs, als noch in den Tälern die Nebel brauten und am Bischkopf die ersten Steine kollerten, sagte der Fabian: »Es wird Zeit für mich. Die Steine laß ich da. Hab sie versteckt. Brauchst nicht zu wissen wo.«

»Such sie auch nicht,« wehrte der Loisl ab.

»Weiß schon. Es – könnt aber leicht ein anderer seine – Freud dran haben wollen, ich mein am Geld dafür. Wenn – Bub, ich sag, die Notlüge kann manchmal geradezu eine Guttat sein und ist selten eine Sünde. Versiehst mich, Bub? Komm, ich will über den Ruchen ins Hornbachtal. Kannst eine Weile mit mir gehn, bald bei den Schafen alles in Ordnung ist, und kannst gleich ein bissel was lernen.«

Es war bei den Schafen alles in Ordnung. Sie waren nur ein wenig höher gestiegen, aber der Fabian meinte, die Tiere wüßten schon, was sie täten, der Bub möge sich keine Sorge machen. Sie würden auch bald wieder zurückkehren. Solange die Tiere hier weideten, habe der Loisl überhaupt eine geruhsame Zeit. Wenn sie jedoch die Alm selber aufsuchten oder gar nach den Bischkopfwänden kletterten, müsse er aufpassen, daß sich keines im Moore ein Bein breche oder an den Wänden abstürze. Sie seien zwar längst nicht so dumm, als die Leute meinten, seien aber halt doch bloß Tiere.

Die beiden waren dabei über den Weideplatz der Tiere hinausgekommen und hatten zur Rechten einen grauen, zernarbten Felsen, der stark überhing. »Der kommt einmal herunter,« sagte der Fabian, »aber ich rechne, daß das noch eine ganze Weile dauert, und daß es einmal im Frühjahr sein wird. Mußt wissen, Loisl, daß es nicht wahr ist, wenn einer sagt, die Berge wären tot. Bald die Sonne den Schnee weggetaut hat, werden die Berge lebendig. Das, was da drüben liegt, da und dort,« der Fabian wies nach den Geröllfeldern an den Bischkopfwänden und am Törle, »das hing einmal droben, und an keinem Berge, am Riesen, an der Tritta, wo du magst, ist es anders. Hörst ja auch den ganzen Tag den Steinschlag. Die Berge sind nicht tot. – So. Nun wollen wir da hinauf.« Sie standen vor der zerklüfteten Felswand des kleinen Ruchen, und der Loisl fragte, ob das denn sein müsse, ob es keinen anderen Weg ins Hornbachtal gäbe.

»Gibt schon einen anderen,« sagte der Fabian freundlich, »aber uns ist halt grad der der rechte. Lupf an! Ich steig hinter dir her. Mußt dir merken: Vier Stellen fest, die Hände und ein Bein oder die Beine und eine Hand. Eines davon in der Luft zum Steigen oder zum Langen und ein festes Herz dadrin.« Er wies auf seine Brust. »Selten einmal zwei in der Luft, ein Bein und eine Hand. Hat durchaus nicht immer was zu sagen, taugt aber für den Anfang nicht. Und kein Fürchten nicht. Das über dir und unter dir geht dich nichts an. Das über dir hast du dir vorher angesehn, das drunten liegt hinter dir. Steig!«

Der Loisl stieg geschickt und behende, wenn auch nicht eben klug, und der Fabian stieg genau hinter ihm her. Als sie droben standen, sagte er: »G'freut's dich, Bub?«

»Schon.«

»Hast's nicht ungeschickt gemacht. Nun schau um dich.«

Es war eine neue Welt, die sich dem Buben auftat. Wände, die von unten aus ungegliedert schienen, erwiesen sich als zerrissen und zerfetzt. Wasseradern rannen wie feine, silberne Bänder über das Gestein oder zerstoben im Fallen zu Staub. Weit, weit über das Hochtal von St. Thomas hinaus lag die fruchtbare Niederung offen. Rauth, die Stadt, schien ein Kind aufgebaut zu haben, und unendlich weit, am grau verhangenen Horizont, meinte man mächtige Schlote qualmen zu sehn.

»Ein bissel was,« sagte der Fabian, »war leicht. Und jetzt steigst da rechts hinab. Kommst gleich auf einen Weg. Ist ein ganz kommoder Weg, und in zwei Stunden bist du wieder auf der Alm. Jetzt: B'hüt, Bub! Ich muß da hinüber. Schau schon einmal wieder nach dir.«

Der »ganz kommode« Weg war nichts weiter als ein schmaler Steig, der da auf scharfen Graten, dort zwischen Geröll hinführte, da an einer steilen Felswand zu enden schien, schließlich aber doch links weiterging.

Es war dem Fabian nicht so recht wohl, als er den Loisl auf den Steig geschickt, aber er rechtfertigte es vor sich. Der Bub muß wagen. Trotzdem blieb er sitzen, wo er saß, und als er den Buben drunten auf der Alm sah, jagte er ein lautes Juhu den Berg hinab und schwenkte den Hut. Der Loisl stutzte, er hatte den Fabian längst jenseits des Kammes vermutet, sah empor, erkannte den Fabian, warf beide Arme in die Luft und schleuderte nun seinerseits ein Juhu gegen die Wand, so stark es seine Lunge hergab. Der Ronymus juhute noch einmal zurück und stieg gegen das Hornbachtal zu ab. –

Viel Arbeit hatte der Alois Schirmer nicht erwartet, als er auf die Alm ging. Mit gar so wenig, wie sich als nötig erwies, hatte er jedoch auch nicht gerechnet. Die Tage waren heiß, die Schafe zu faul zum Klettern, ja selbst zum Spielen, Tyras war zuverlässig, die Adler flogen ab und zu einmal ganz hoch droben vorüber, und die Gefahr, daß sich ein Tier verstieg, bestand so wenig, wie daß eines ins Moor geriet. Das Gras an der Lehne schien nicht alle zu werden, Nahrungsmangel trieb also die Tiere nicht fort, und der Bub hatte eine so faule Zeit, wie sie sich ein Tagedieb nicht fauler hätte wünschen können. Da jedoch der Loisl nicht eben darauf versessen war, dem Herrgott nur die Tage zu stehlen, vertrieb er sich die Zeit, wie es ihm paßte, und so gut, wie er es für richtig hielt. Er las und lernte seine Umwelt verstehn und in ihr mit offenen Augen zu schauen, las in der Geschichte des Landes und verglich die Männer, deren Art und Taten vor ihm erstanden, etwa mit dem Wirtsvater oder dem Moosbacher oder auch dem Hieronymus Fabian, der sich lange nicht hatte sehn lassen und dessen Steine irgendwo versteckt lagen. Um den machte sich der Loisl zuweilen ein bißchen Sorge, aber er hatte daneben doch das Empfinden, daß der Fabian, wenn überhaupt je einmal, so jetzt noch lange nicht abstürzen würde. Das Baden hatte der Bub beibehalten, das Klettern geübt, um dem Fabian, wenn er wiederkam, zu zeigen, daß er, der Loisl, auch wer sei, wenn auch natürlich noch lange kein Hieronymus. Der wäre übrigens mit des Jungen Kletterei nicht einverstanden gewesen; denn es war nach seiner Meinung sinnlos, einen Felsen zu erklettern, der gar nichts bot, keinen Kristall, keine Blume, nicht einmal ein bißchen Aussicht. Dem Loisl genügte es aber, daß er hinauf- und wieder herabkam. Das hatte nach seiner Ansicht Sinn und Wert genug. Er streifte die Nähe ab. Seine Kletterei war zwar nicht unbedenklich, man könnte schon fast sagen, sie war zuweilen leichtsinnig, führte ihn aber nicht eben hoch und nicht weit abseits. Die Bischkopfwände wurden ihm, da er sie jeden Tag vor sich hatte, vertraut, aber er mochte sie trotzdem nicht, mied sie und spürte immer noch ein leises Grauen von ihnen herüberwehn. Die Murmeltiere blieben nach wie vor scheu, und wenn ihm der Fabian nicht half, dann konnte der Loisl das Versprechen, das er der Zenzi gegeben, nicht einlösen.

Sie rückte übrigens ein bißchen in die Ferne, die kleine Zenzi. Die Burgel Klausner hatte den Loisl kürzlich neckend gefragt, wann er ihr denn nun das bunte Bändel, das ihm die Zenzi geschickt, bringe, und der Bub hatte, im Gedenken dessen, was ihm der Fabian über die Notlüge gesagt, die Achseln gelupft: Das Bändel? Was für ein Bändel? Ach so, das. Das – habe er verloren. Am Ende habe es der Wind fortgeweht, als es einmal auf der Fensterbank lag. Er war rot dabei geworden, und die Burgel hatte hellauf gelacht, aber wenn er auch dazumal gelogen, so, wie es gewesen, war es doch nicht mehr. Er hatte das Bändel nicht mehr im Schlaf unter seinem Kopf liegen, sah es nicht mehr alle Tage an und ließ die Sonne darauf scheinen, es lag in einem Kasten, und er holte es nur dann und wann einmal hervor.

Die einzige, deren er mit der alten Innigkeit gedachte, war die Wirtsmutter. Die war gut und mild und – immer so müde und krank. Man hätte ihr gar zu gern geholfen, wenn es nur gegangen wäre. An den Wirtsvater dachte er zur Zeit als an einen großen, starken, herrischen Mann, – der der Huber Sepp gar nicht war, – der getan hatte, als käme bei dem Schafhüten auf der Alm etwas heraus, was man sonstwo nicht fand und lernte. In Wirklichkeit kam nichts, gar nichts heraus, außer, nun ja, daß man ein bißchen kletterte und ab und zu ein bißchen las. Im übrigen wußte man nicht, was man mit sich anfangen sollte, weil nichts von einem gefordert ward. Die Berge standen heute da wie morgen, die Wolken zogen hoch darüber hin, allenfalls daß sie zuweilen für kurze Zeit die Spitzen einhüllten, die Wasser sangen kein ander Lied, als sie es immer gesungen, und selbst an den Steinrötel, den kecken, bunten Gesellen, gewöhnte man sich. Wäre die Burgel nicht in der Nähe gewesen, man hätte vor Langeweile sterben können. Aber selbst mit der Burgel war es so eine Sache. Der Bastian heimgartete bei ihr – so viel hatte selbst der dumme Loisl allmählich gemerkt –, und wenn man dann zufällig hinabkam, dann war die Burgel anders als sonst. Nicht so freundlich und zum Erzählen geneigt, sondern, wenn auch nicht unfreundlich, so doch kurz angebunden, und man hatte das Empfinden, daß man im Wege sei. Jetzt war dem Buben schon der liebste Mensch der Hieronymus Fabian, aber der Herrgott mochte wissen, wo der herumkletterte.

Als der Loisl – es waren wohl vierzehn Tage vergangen – eines Morgens aus der Tür schaute, brauten kalte, graue, dichte Wolken über der Alm. Er sprang zwar trotzdem in den Bach und prustete und plantschte ein Weilchen, aber es war so heidenmäßig frisch, daß er nachher hin und her rennen mußte, um wieder warm zu werden. Indem er noch so rannte, trat einer gespenstisch aus der grauen, nassen Wolke heraus und fragte, ob der Bub etwa den Verstand verloren habe. Das war der Mitterer, und er ging mir nichts dir nichts in des Loisl Kammer und sagte, er wolle hier rasten, bis man sehe, ob sich die Wolken verzögen oder Regen brächten.

Der Besuch freute den Buben nicht. Mit dem Mitterer ließ sich nicht plaudern. Er hatte die Augen immer in den Ecken, und was er von drunten, von St. Thomas erzählte, war in Gift und Galle getaucht. Kurze, gehässige Geschichtlein, die der Bub zwar nicht verstand, die er aber als schmutzig erfühlte. Mitten hinein in sein hämisches Gekeife fragte der Mitterer auf einmal, wann der Fabian da gewesen sei. »Er war nicht da,« sagte der Loisl und rechtfertigte die Lüge vor sich selber damit, daß sich ja der Fabian wirklich seit vielen Tagen nicht hatte sehn lassen. Er ward aber rot dabei, und das genügte dem Mitterer.

»Nicht?« sagte der heuchlerisch. »Dann weiß ich nicht, was der Ronymus von mir will. Er liegt drunten in Rauth. Der Wirt – hat jetzt auch zwei Rösser, der Herr Huber – hat ihn hinabgefahren. Ist am –«, der Mitterer stockte eines halben Atemzuges Länge, und das war gut; denn nun kannte sich auch der Loisl seinerseits aus, »am Bischkopf ein bissel abgestürzt. Ein bissel bloß und hat sich bloß die rechte Haxe gebrochen oder verstaucht, hat sich hinabschleppen können, muß aber doch jetzt etliche Wochen liegen, und derweile schneit's ein. – Was glotzt du denn? Glaubst mir etwa nicht?«

»Schon. Freilich. Ich – wollt bloß fragen, wann das war.«

»Wann? Wann war er denn bei dir?«

»Er war gar nicht da.«

»Kreizteifi, wo er mir doch gesagt hat, ich soll heraufgehn zu dir und die Steine holen.«

»Ich hab keine Steine.«

Da war der Mitterer mit einem Satze am Loisl, so flink, als wenn ein Marder zuspringt, und umklammerte des Buben rechtes Handgelenk. »Die Steine will ich!«

»Ich hab keine Steine,« wiederholte der Loisl, und seine Augen loderten.

Der Mitterer aber fluchte schlimmer als ein Holzknecht und drohte, den Loisl zu erschlagen, wenn der ihm nicht die Steine ausliefere. Da kniff der Bub die Lippen fest zusammen und sprach kein Wort mehr. Der Mitterer aber war rasend. Den Knaben an der Hand haltend, riß er mit der Rechten dessen armseliges Lager auseinander, schleuderte Heu und Decken hierhin, dorthin, stieß mit dem Fuße suchend in die Ecken, fluchte, geiferte, zerrte den Loisl keuchend hinter sich her, hinaus vor die Tür. »Wo sind die Steine? Ich will's wissen!« Dabei lockerte er gedankenlos den Griff um des Buben Handgelenk. Der Loisl spürte es, riß sich mit einem Ruck los, sprang hinaus auf die Alm, mitten in die graue, schwere Wolke hinein, sprang kreuz und quer und – wußte auf einmal nicht mehr, wo er war.

Schwer und unbeweglich lastete die Wolke auf der braungrünen Alm, dumpfer und damit tückisch rauschten die Wasser, der Boden schwankte, und stellenweise trat selbst der Knabenfuß durch. Ein Weilchen lief der Loisl und versuchte, die Richtung nach der Herde zu einzuschlagen, ein Weilchen stand er, um zu überlegen. Anstatt ruhiger Überlegung, die ihn geheißen hätte, an einer der Wasseradern entlangzuwandern, kam jedoch das Grauen über ihn. Kein Felsblock war ihm mehr vertraut, kein Wasser bekannt, alles war anders, neu, drohend, einer fremden Welt entstiegen. Noch nie in seinem Leben war der Bub so einsam gewesen. Das Herz begann zu hämmern, und die Füße begannen zu jagen. Zehnmal hätte der Loisl die Alm schon überquer haben müssen, statt dessen stand er zum dritten Male am Kartoffelbrunnen. Wenn ihn der Mitterer suchte! Heiland! Der Loisl rannte wieder, stand, lauschte.

Links drüben fluchte einer. Das – war nicht der Mitterer, das war Fabians Stimme. Der fluchte, und einer rannte davon, keine zehn Schritte am Loisl vorüber. »Ronymus!« schrie der Bub, und: »Alsdann hier!« kam es zurück. Der Loisl sprang darauf zu, stand vor dem Steinhaus, stand vor dem Fabian. Der grollte, er sei grade noch rechtzeitig gekommen. Drei Schritte weiter links, und der Mitterer hätte den großen Topas gefunden gehabt. »Erzähl, Bub,« befahl der Fabian. Und als der Bub erzählt, lachend: »Bis sich die Wolke verzogen, ist der Hund aufgehoben. Kann lange dauern. Ich bin am Geröll lang gekrochen, aber so gescheit ist der Mitterer nicht. Um die Schafe brauchst keine Sorge zu haben. Komm von ihnen her. Hast leicht was zu essen? Ich bin fertig mit meinem. – Horch, hörst nichts?« Der Fabian meinte, einen schwachen Hilferuf gehört zu haben. Nein, sagte der Loisl, er höre nichts.

»Jetzt ist's still. – Da! Hast es gehört?« – »Ja.«

»Ist der Mitterer. Steckt leicht im Morast. Laß ihn. Schaff was zu essen.«

»Das tu ich nicht. Der Mitterer muß erst heraus.« »Hast Erbarmen mit ihm? Hat er es mit dir gehabt?«

»Nein, aber leicht hat er sich ein Bein gebrochen.«

»Soll er. Jetzt wird gegessen. Nachher kann man meinetwegen sehn.«

»Nein. Erst muß man sehn, nachher kann man essen.« Und dazwischen hinein immer ängstlicher der Hilferuf. Da sprang der Loisl mitten in die Wolke hinein. Der Fabian fluchte: »Lausbub, sakermenschter! Kann dich doch nicht verrecken lassen. – Bub! Hallo! Loisl! Stehn tust, verrückter Bub! Ist doch kein Verstand dabei!« Da stand der Loisl, meldete sich, und der Fabian trat zornig neben ihn. »Hast eine Tracht verdient, Lausbub, dummer. Willst denn in Ewigkeit nichts lernen? Tu, was du magst, meinetwegen auch einem Lumpen helfen, aber Verstand muß dabei sein. – Hallo!«

Der Hilfeschrei ward so deutlich, daß es nicht schwer war, ihm nachzugehn. Mitten hinein in den Kartoffelbrunnen war der Mitterer, den der Fabian beim Graben überrascht, gerannt, stand bis an den Hals im Wasser und konnte sich nicht heraushelfen. Der Loisl wollte auf den Mann zustürzen, aber der Fabian hielt ihn fest. »Stad! Jetzt bin ich da.« Und vor dem Mitterer stehend: »Dem da hast du's zu danken, daß ich gekommen bin. Von mir aus könnt ruhig ein Spitzbub weniger in der Welt sein.«

»Hilf mir um Jesu willen heraus, Ronymus.«

»Hast leicht auch um Jesu willen stehlen wollen? – Stad, Bub! Zappel, wie du magst. Ich laß dich nicht los, ehbevor ich mit dem da ausgeredet hab.«

»Ronymus, mein Tod ist's.«

»Nachher bist halt ein Selbstmörder. Hat dich ja niemand auf die Alm geheißen. – Woher weißt das mit dem großen Stein?« – »Vom Bastian.«

»Aha. Und der hat's von der Burgel. Aha. Schön. – Was hast mit dem Buben vorgehabt?«

»Nichts. Gar nichts.«

»Ist nicht wahr. Hätt'st ihn totgeschlagen.«

»Das nicht, Ronymus, heilig nicht. Hilf mir doch, ich erfrier ja.«

»Stad! – Willst Ruh halten, Lausbub! – Also totschlagen nicht. Was dann?«

»Eine Tracht vielleicht.«

»Schau, Loisl, eine Tracht. Ist ein guter Mann, der da. Meinst nicht? Hast immer noch Erbarmen mit ihm?« – »Ja.«

»Sollst aber nicht. Heiliges Kreuz, wo kommst denn damit hin, Bub!«

»Ronymus,« jammerte der Mitterer, »ich erfrier.«

»Stad! Die Hand hoch. So.« Der Fabian reckte die Schwurfinger, der Mitterer tat es ihm nach. »Schwörst bei Gott und allen Heiligen.«

»Bei Gott und allen Heiligen.«

»Der Bub ist nicht mehr für dich da, nicht im Guten, nicht im Bösen.«

»Nicht im Guten, nicht im Bösen.«

» Wir zwei rechnen ein andermal ab. Wird schon einmal passen. Dann sieh dich vor, Mitterer.«

Der Fabian legte sich auf den Bauch und packte den Mitterer am Kragen. »Ho ruck!« Der Mitterer lag schlotternd neben ihm. »Einen Branntwein, wenn ich jetzt hätt!«

Der Fabian zog ein Fläschchen aus der Tasche. »Sauf! Behalt die Flasche. Ich trink aus keiner mehr, aus der du getrunken. – Zurück, Bub, hast hier nichts mehr zu suchen.«

Der Loisl ging mit dem Fabian zurück, der aß und hielt dabei dem Buben eine ausgiebige Strafrede. Soweit es sich um sein sinnloses Herumrennen auf der Alm handelte, ließ sich der Loisl die Kopfwäsche gefallen, stimmte zu und versprach Besserung. Soweit es sich aber um den Mitterer drehte, wehrte er sich.

Der Fabian sah ihn groß an und schüttelte den Kopf. »G'freut mich auf der einen Seite und ärgert mich auf der andern, was du da sagst. Bist wie deine Mutter, aber auch die hat halt einmal – hart sein müssen. Jetzt merk auf.«

Der Fabian gab dem Loisl Anweisung, die Alm trotz der Wolke zu überqueren. Er müsse es, sagte er, der Schafe wegen. Das war nicht ganz ehrlich. Der Fabian wollte nichts weiter, als daß der Loisl des Grauens Herr wurde.

»Tust dich am Ende jetzt fürchten?« fragte er zuletzt.

»Das nicht, aber –«

»Bub, wenn du dich fürchtest! Hab einmal in solchem Nebel zwei Tage in den Wänden gehangen und wär verloren gewesen, wenn ich meinen Verstand nicht behalten hätte. Willst etwa deiner Mutter Schande machen?«

»Nein.«

»Oder dem Wirtsvater?«

»Dem? Der fragt nicht nach mir. Aber dir will ich keine Schande machen.«

»Meinetwegen, wenn du halt meinst. Dem Wirtsvater aber tust unrecht. Der kann nicht kommen. Hat das Haus voller Leute.«

»Voller Leute?«

»Ja. Wie sagt die Burgel? Ist berühmt geworden durch seine braven Männer, St. Thomas. Kriegen ihre Bravheit jetzt bezahlt, am meisten der Bürgermeister, der Bravste von allen. Der Toni macht sich selber bezahlt. Sei froh, Bub, daß du da heroben bist. Bist besser aufgehoben als drunten. Alsdann: B'hüt! Wird heller draußen, aber ich rechne, daß es etliche Tage regnen wird. Dann kannst schlafen wie ein Murmel. Die Jungen fangen übrigens an, herauszukommen. Will sehn, was sich machen läßt. B'hüt! Ich grab fix meine Steine aus. Hätt' dem Mitterer so passen mögen.« –

Es regnete drei Tage. Zwar lugte die Sonne ab und an kurze Zeit heraus, und dann kam zumeist ein rasches Gewitter, nachher aber regnete es wieder. Es war kein gleichmäßiger Regen. Einmal war es ein feines Rieseln, dann ein Schütten. Zweimal ging der Loisl jeden Tag zur Herde. Er wunderte sich, daß die Tiere nicht den Stall aufsuchten, aber sie schienen sich nicht viel aus der Nässe zu machen, weideten, lagerten, ließen sich, wenn die Sonne durchkam, wohlig den Pelz trocknen. Einmal kam in der Zeit auch die Burgel herauf, und weil, grade als sie wieder hinabgehn wollte, der Regen zu schütten begann, blieb sie zur Nacht auf der Dreiecksalm. Der Loisl quartierte in den Stall um und ließ der Burgel seinen Bettschragen. Am Morgen ging die Burgel wieder zurück zur Samalm. Der Mitterer, der grade ins Geröllfeld des Riesen hatte aufsteigen wollen, um zu sehn, ob der Regen etwas herabgeschwemmt, das er brauchen konnte, sah sie. Er selber ließ sich jedoch von der Burgel nicht sehn, sondern kehrte grinsend nach St. Thomas zurück, weil es wieder anfing zu gießen. Wenn es blitzte und krachte war es dem Loisl unheimlich. Das hatte jedoch mit dem Gewitter selber nichts zu tun. Das fürchtete er nicht. Dagegen war es ihm, als müsse der Donner eine der Bischkopfwände einreißen, weil er so hart dagegen prallte. Dann, erwog der Bub, würde die Wand stürzen, herniederprasseln, die Alm verschütten und ihn mit. Es war ein ganz törichter Gedanke, aber der Loisl wehrte sich umsonst gegen ihn und ging niemals in der Nähe des Geröllfeldes über die Alm, sondern immer im weiten Bogen daran vorbei.

Nach drei Tagen war die Sonne wieder da, aber der Morgen war heiß und angstvoll. Ein glühheißer Wind blies von Süden herein und ward kaum durch die Höhe gemildert. Zwei Adler zogen wilde Kreise und schrien, daß es von den Wänden zurückgellte. Wohl schlief der Wind nach kurzer Zeit ein, aber die Stille war nun doppelt unheimlich. Langbeinige, klebrige, schwarze Fliegen schwirrten, der Himmel war schwefelgelb, die Lungen brannten, und selbst die Sumpfblumen hingen wie erschlagen die Köpfe. Am Bischkopf polterte es ärger und lauter als sonst, und bis um neun am Vormittag zählte der Loisl fünf Steinlawinen, von denen mindestens zwei schwer gewesen waren. Der Bub wußte nicht aus noch ein und war im Begriff, zur Samalm hinabzusteigen. Da hörte er von der Schafweide her ein dumpfes Galoppieren und starrte erschrocken hinüber. Wie ein rasender Sturmwind kam die ganze Herde schreiend quer über die Alm gejagt, voraus der Schwarze in langen Sprüngen. Und selbst der Schwarze schrie, als wäre der Tod hinter ihm. Ohne anzuhalten, raste die Herde an ihrem Hüter vorüber in den Stall, schrie, konnte sich nicht beruhigen. Eine wilde Angst stieg wie ein Brodem von den Tieren auf. Tyras kroch winselnd zu des Buben Füßen, und auf der Alm jammerten etliche Lämmer, die durchgebrochen und liegengeblieben waren. Der Bub sprang hinüber. Nur kein Tier verlieren! Eines rettete er aus dem Wasser, aus dem es sich nicht selber helfen konnte, dreien half er aus dem Morast. Keines der Tiere aber tat einen Schritt. Nicht mehr schreiend, nur noch kläglich wimmernd, standen die Tiere, wo sie standen. Der Loisl mußte jedes einzelne zum Stall tragen. Tyras trottete mit eingezogenem Schwanze lechzend neben ihm her. Er jappte, als müsse er sich jeden Atemzug erkämpfen, und seine Flanken flogen.

Grade hatte der Loisl das letzte Schaf auf die Arme genommen, da hörte er vom kleinen Ruchen her ein dumpfes Murren und Knirschen. Er schrie auf. Die Steinwand über der Schafweide, aus der ein Felsklotz ragte, wankte. Undenkbares ward Wirklichkeit. Ein Berg stand nicht mehr fest. »Nein,« schrie der Loisl, »nein! Er kommt nicht! Es ist nicht wahr!« Keinen Fuß konnte der Bub vor den andern setzen, er drückte das Lamm an sich, stand wie angeschmiedet. Seine Glieder schlugen, aus den Augen schrie das Entsetzen, und der Mund lallte und keuchte: »Nein! Heiland, Heiland! Nein!« Aber der Stein kam. Das Knirschen ging über in ein rauhes Murren, das Murren in ein Donnergetöse, unter dem die Bischkopfwände aufbrüllten. Es war rasch vorüber, hatte kaum ein paar Minuten gedauert, aber selbst in St. Thomas hatten die Leute die Köpfe gereckt. Der Huber Sepp, der mitten unter seinen Gästen gestanden, hatte erklärt, das sei keine Steinlawine gewesen. Es müsse ein Stück Berg eingefallen sein. Und eiskalt war es ihm über das Herz gelaufen: Der Loisl! Es ist die Richtung.

Seit Menschengedenken war kein so schwerer Felssturz um St. Thomas niedergegangen, und der Alois Schirmer hatte ihn vom Beginn bis zum Ende erlebt. Blöcke, größer als ein Tisch, polterten, kollerten, prallten an, zerflogen in Stücke, blieben liegen. Und ein Heer kleiner Stücke begleitete sie und folgte ihnen nach. Vom Trümmerfelde aber brauste ein Sturmstoß herüber, der den Loisl in die Knie warf, an den Bischkopfwänden zerbarst und dort ein paar schwere Steinlawinen auslöste.

Langsam richtete sich der Loisl auf und starrte hinüber nach der Unheilstätte. Der Berg war zur Ruhe gekommen. Was noch nachsickerte, war harmloses Geröll, mit Erde untermischt. Braunrot leuchtete die breite, steile Abbruchstelle. Mit einem Schlage aber schien der Tag verändert zu sein. Tyras jappte nicht mehr, sondern sprang bellend an seinem Herrn hoch; es war noch warm, aber nicht mehr angstvoll; die Adler hatten sich verflogen, die Blumen reckten die Köpfe. So meinte es der Loisl zu sehn und zu spüren, und wenn er auch einiges aus seinem entlasteten Herzen hinaus in die Umwelt trug, es war doch vieles wirklich so, wie er es empfand.

Vom Stalle her kam ihm die Herde mähend entgegen, voran im behaglichen Schlendergange der Schwarze, und auch das Lamm, das der Loisl auf dem Arme trug, strebte zu seinen Gefährten zurück. Tyras umkreiste die Herde, aber der Schwarze hatte heute keinen Respekt vor ihm. Zielsicher führte er seine Herde wieder dahin, woher sie vor zwei Stunden mit Angstschreien gestürmt war. Wohl lagen jetzt ein paar schwere Blöcke auf der Matte, die vorher nicht da gelegen hatten, im ganzen aber war dort wenig Schaden angerichtet worden. Die weit überwiegende Masse des niedergegangenen Gesteins lagerte in einer breiten Halde oberhalb.

Erschüttert setzte sich der Bub vor seinem Steinhause nieder. Noch immer rann ihm ab und zu ein Zittern durch die Glieder, aber weder das, noch der Bergsturz an sich machte ihm noch sonderlich zu schaffen. Zu schaffen machte ihm das Verhalten seiner Tiere. Er fand keine Deutung, er erschauerte vor etwas Unbegreiflichem. Tiere wußten, was er, der Mensch, nicht einmal geahnt.

Am frühen Nachmittag kam der Wirtsvater und hatte den Loisl, der ihm ein bißchen grollte, im Handumdrehen wieder. Der Mann ließ sich seine Sorge nicht anmerken, tat auch, als hätte er nichts von dem Bergsturz vernommen, sondern plauderte munter drauflos. Daß St. Thomas jetzt von Fremden wimmele, er, der Sepp, alle Hände voll zu tun habe und manchmal ein bißchen grantig werde, weil es gar zuviel sei. Darum sei er heute einmal für ein paar Stunden davongelaufen, um Luft zu schnappen, und habe gedacht, ist egal, wohin du läufst, also schau einmal nach dem Buben.

»Gefälltes dir denn?« fragte er.

»Schon. Freilich.«

»Und hast noch keinmal Angst gehabt? Ich mein halt, weil du allein da heroben bist.«

»Heut Vormittag.«

Der Sepp tat verwundert, »Wieso heut Vormittag?«

»Schau einmal da hinüber, Wirtsvater.« Der Sepp hatte den Abbruch längst gesehn.

»Was ist denn da?«

»Siehst denn nicht, daß ein Stück Berg eingestürzt ist?«

»Heilig! Und du hast zugeschaut?«

»Zuschauen müssen.«

»Schad, daß ich nicht da gewesen bin. Das hätt' ich sehn mögen. Muß schön gewesen sein.«

»Schön war's nicht. Hab Angst gehabt.«

»Loisl! Angst! Ein Dirndel mag Angst haben, die Zenzi meinetwegen, aber ein Bub hat keine Angst.«

»Wenn du dich nicht wehren kannst.«

»Ach, red nicht, Bub. Gefällst mir sonst. Kriegst schon das richtige Geschau, so, wie ich's gern mag, und wie es sein muß, aber Angst darfst du nicht haben. Na, übers Jahr bist auch darüber hinaus.«

»Muß ich übers Jahr wieder herauf?«

»Ich denk schon. Möcht'st etwa nicht?«

»Schon. Halt ein bissel mehr Arbeit müßt man haben.«

Der Sepp lachte. »Hab oft die Leute über zuviel Arbeit schimpfen hören, aber noch keinen über zu wenig. – Wird sich abhelfen lassen. Jetzt muß ich mir aber die Sache da drüben einmal näher anschaun. Kommst mit.«

Unterwegs erzählte der Loisl die Flucht seiner Schafe und wollte wissen, was der Wirtsvater dazu zu sagen habe.

Der Sepp ging nicht um die Sache herum, sondern gab zu, daß in den Tieren etwas wohne und lebendig sei, das den Menschen zwar wahrscheinlich auch einmal innegewohnt habe, ihnen aber verlorengegangen sei, weil sie es in ihren gesicherten Wohnsitzen und ihrem behüteten Leben nicht mehr brauchten. Das Verhalten der Schafe sei also wohl zum Verwundern, jedoch kein Wunder, wie man denn überhaupt mit dem Wort Wunder vorsichtig sein müsse. Aber, fuhr der Sepp fort, vielleicht sei hier gar nicht einmal ein Verwundern am Platze. Man könne es sich doch so denken: Da drüben seien vielleicht fünf- oder sechstausend, vielleicht auch noch mehr Zentner Steine niedergegangen. Bevor die niedergehn konnten, mußten sie erst los werden. Es habe also wahrscheinlich lange in dem Stein gemurrt und gegrollt, bevor er niederging. Vielleicht, daß das die Tiere, deren Ohren doch viel feiner seien als die der Menschen, gehört hätten, vielleicht, daß sogar ein leises Beben unter ihren Füßen durch den Boden gegangen sei. Das alles, den Tieren völlig fremd und ungewohnt und darum unheimlich, habe ihnen eine solche Angst eingejagt, daß sie sich nicht mehr ausgekannt und Zuflucht in dem Steinhaus gesucht hätten, das ihnen ja auch bei schweren Gewittern und starkem Regen Schutz böte.

»Ist eine Deutung,« schloß der Sepp, »mag nicht ganz, mag aber meinetwegen auch ganz zutreffen, ändert aber nichts daran, daß man still sein muß. Nicht drüber reden, Bub. Wird doch bloß ein Geschwätz. Besser, man nimmt manches, wie es ist, und sagt: Ich sehe es wohl, aber meine fünf Sinne reichen nicht aus, es zu verstehn, als daß man des Herrgotts Hand und Willen davon wegredet. Ist es denn mit den Steinen, die der Ronymus sucht, etwa anders? Er hat mir den großmächtigen Topas gezeigt, den du, wie er sagt, ja auch gesehn hast. Hab in der Schule manches darüber gehört, wie so ein Stein wurde. In Höllenglut ist was geschmolzen und ist nachher zum Kristall zusammengewachsen. Gut. Damit weiß ich etwas, viel nicht. Wer hat denn die Höllenglut angeblasen, warum hat er sie angeblasen, wie kommt es, daß das Geschmolzene grade so, in der Durchsichtigkeit, in der Farbe, in den Säulen mit einer Spitze drauf, zusammenwuchs? Schau doch die Berge an. Warum sind denn dort die Steine grob und haben keine Farbe, und warum wo anders so bunt und wie wenn sie einer geschliffen hätte? Warum sind von den einen so viel, von den andern so wenig da? Kann das ein Mensch sagen? Keiner kann es, und darum ist es am besten, man hält das Maul, freut sich und denkt: Es ist halt doch einer da, der mehr kann als du. – Schau, da ist ja auch der Ronymus schon.«

Sie waren am Bergsturz angekommen und sahen den Hieronymus Fabien zwischen den Steinen hantieren.

»Findst was?« rief ihm der Sepp zu.

»Nicht viel,« gab der zurück, »aber da droben,« der Fabian wies nach einem Loche in der abgebrochenen Wand, »da könnt was sein.«

»Da kommst doch nicht hinauf,« sagte der Sepp.

»Hinauf, wenn's sein müßt, auch, aber von oben her ist's leichter,« kam es zurück.

»Und wenn du abstürzt?«

»Brech ich halt das Genick, aber wie soll ich denn da abstürzen?«

Der Fabian kam heran. Er blickte dem Loisl prüfend in das Gesicht und schien zufrieden zu sein.

»Hab dir erst dieser Tage den Stein gezeigt,« sagte er. »Ich rechnete wohl damit, daß er einmal kommen würde, aber nicht damit, daß es mitten im Sommer und so bald sein würde.«

Ja, bestätigte der Sepp lachend, es komme oft einmal anders, als man denke.

»Ist mir auch schon so gegangen,« sagte der Fabian. »Im übrigen, Sepp, liegt die Sache nach meiner Meinung immer noch anders, als es aussieht. Von der Nässe ist der Stein nicht gekommen. Der Frost hätt's fertiggebracht. Das bissel Nässe langt nicht aus. Es ist gewesen, wie es immer einmal in den Bergen ist. Hat alles ein bißchen gewackelt, hab's auch drüben am Törle gespürt. Komm von da her. Hast du dir heute morgen den Himmel angesehn? So sieht er in Menschengedenken bloß einmal aus. Und keine Luft hat man kriegen können, war förmlich jeder Schnaufer eine Arbeit, und die Vögel haben sich geduckt, und auf allen Almen hat das Vieh geschrien. Am Kugler sind die Hirsche wie närrisch hin und wieder gerannt und am Bischkopf die Gemsen. Konnt's deutlich durch das Spektiv sehn. Rein verrückt ist alles gewesen.«

»Hm,« sagte der Sepp, zum Loisl gewandt, »da siehst, was meine Erklärung wert ist. Ein bissel ein Erdbeben halt. Und du hast's gesehn. – Ich muß wieder hinab, Bub. B'hüt.«

Der Fabian ging mit hinab, und die Männer sprachen unterwegs allerlei, das den Loisl betraf, und der Fabian blieb dabei, der Sepp möge mit dem Buben versuchen, was er wolle, er sei den Bergen verfallen. Ein Talmensch oder gar ein Stadtmensch werde er nie werden. Als der Sepp fragte, woher das der Ronymus wissen wolle, vermochte der nichts weiter zu antworten als, er wisse es halt. Der Bub habe es in den Augen. Damit war nichts anzufangen, und dagegen war nichts einzuwenden, und so kam denn die Rede auf St. Thomas, seine Einheimischen und seine Fremden. Der Sepp sprach nicht hämisch, aber spöttisch vom Bürgermeister und seinem Toni. Daß sich der Alte aufplustere wie ein Pfau, und der Toni vor lauter Schlauheit gar nicht merke, wie dumm er sei. Ein Geld werde verdient, gab der Sepp zu, sogar ein schönes Stück Geld, aber – es komme halt auch manches nach St. Thomas herein, das man nicht gradweg gutheißen könne, obwohl –. Nun, das stoße sich schon wieder ab.

Ob denn der Ronymus etwas mit dem Mitterer gehabt habe, fragte der Sepp. Erstlich laufe der, als habe er beide Haxen gebrochen, sage aber, es sei das Reißen, zweitens mache er den Fabian nicht schlecht, nein, rede im Gegenteil beinahe arg gut von ihm, aber eben das sei verdächtig, zumal es der Mitterer mit schiefem Maule und tückischen Augen sage.

»Ho,« sagte der Fabian, »hab nichts weiter mit ihm gehabt, hab ihn bloß ein bißchen zuwarten lassen,« und erzählte, was gewesen war.

Der Sepp unterbrach ihn ab und zu mit einem kurzen Wort, zuletzt lachte er.

»Bist schon einer, Ronymus. Hätt'st ihn nicht ein bissel eher herauslupfen können? Jetzt hat er das Reißen.«

»G'freut mich nicht grade, tut mir aber auch nicht leid. Ist ganz allein selber schuld, der Mitterer. Und was das Zugreifen betrifft: Meinst du, er hätte das Reißen nicht gekriegt, wenn ich ihn fünf Minuten eher herausgelupft hätte?«

»Nein. – Ronymus, ich hätt' einen Gedanken.«

»Na?«

»Wär's nicht gescheit, wenn du deine Steine bei mir in einem Schranke ausstelltest? Könntest ein gutes Geschäft machen.«

Der Fabian wiegte den Kopf hin und her. »Mag schon sein, Sepp, aber – Was sind denn das für Leute, die Steine kaufen möchten?«

»Was sollen es für Leute sein? Halt solche, die eine Freud an den Steinen haben.«

»Stad, Sepp. Freud kann nur dran haben, wer etwas von ihnen versteht. Verstehn sie was?«

»Das weiß ich nicht und kann dir doch auch egal sein, wenn du nur dein Geld kriegst.«

»Das ist gefehlt, weit gefehlt. Ich verkauf meine Steine nur an solche, die sie oft einmal wieder in die Hand nehmen müssen, weil sie sich etwas dabei denken. So im Winter, wenn die Lampe drauf scheint, oder im Sommer, wenn sie in der Sonne funkeln, oder – Halt, wenn's drin in der Brust einmal arg rumort vor Herzeleid, dann nehmen sie einen solchen Stein in die Hand und schaun darauf nieder und –. Halt ja, so.«

»Ronymus!«

»Mag ihnen der Mitterer seine Steine verkaufen.«

»Das ist's ja. Er ist mich angegangen, aber ich hab's ihm abgeschlagen. Jetzt will er eine Bude hinstellen.«

»Soll er. Ich behalt meine Steine.«

»Ronymus, du wirst's nie zu etwas bringen.«

»Zu Geld nicht, das ist wahr. Zu etwas anderem –. Leicht hab' ich's schon dazu gebracht. – B'hüt, Sepp. Ich geh da hinab.«

+++

Der Loisl hatte die Erschütterung vom Vormittag her zwar überwunden, aber er sah doch immer wieder einmal scheu zu dem Abbruch hinter sich und den Bischkopfwänden vor sich hinauf und schüttelte den Kopf. Was steht denn fest, wenn nicht einmal die Berge feststehn?

Um auf andere Gedanken zu kommen, stieg er links hinauf in das Reich der Murmeltiere. Heiland! Auch da war etwas geschehen. So viele Tiere hatte er nie beisammen und so hatte er sie nie arbeiten sehn. Und – und – da waren eins, zwei, fünf, acht, zwölf Junge! Klein wie Spielbälle, wollig wie winzige Schäfchen und flink wie die Wieselchen. Alte Tiere gruben und scharrten, daß die Erde flog. Kein Wächter war ausgestellt, die Tiere schienen alles vergessen zu haben und nur darauf bedacht zu sein, unter die Erde zu kommen. Eine Erklärung suchte der Loisl nicht, obwohl sie leicht gewesen wäre. Durch das Beben, das die Felswand herabgeworfen, waren die Baue der Murmeltiere zusammengebrochen. Keines war wohl zu Tode gekommen, denn was die Schafe gespürt, hatten die Murmel erst recht gefühlt, aber nun mußten sie sich neue Heimstätten bauen, und manches steckte bereits ganz im Gange, manches halb. Die Kleinen aber schossen hin und her, weniger im harmlosen Spiel als in Angst, oder verkrochen sich hinter Steinen. Deren eines beobachtete der Loisl. Es gelang ihm, sich heranzuschleichen. Da wurden ihn die Großen gewahr, pfiffen, zischten, stoben davon. Das Kleine aber saß da, zusammengeduckt wie eine Maus, seine Äuglein funkelten, und grade, als es neben dem Buben davonschlüpfen wollte, konnte der rasch seinen Filz darauf werfen. Es biß ihn zwar, als er es darunter hervorholte, aber er stieß vor Freude einen lauten Juchzer aus. Er hatte ein Murmeltierchen für die Zenzi. Juhu!

Der Loisl rannte heim, stieß das Tierchen mit der Nase in den Milchnapf, zwang es zu trinken, barg es in seiner kleinen Lade, dünkte sich ein König. Es schauerte ihn nicht mehr, obwohl der Tag so voll bangen Erlebens gewesen war und nun eine dunkle, schwere Nacht sank. Der König und sein Murmel! O weh! Der arme kleine König!

Der Bastian kam. Er kam in heller Empörung förmlich den Berg heraufgestürmt und stürzte in des Loisls Verschlag. »Saubub, verfluchter!« Mit funkelnden Augen, geiferndem Munde, geballten Fäusten stand der Bastian da und schrie: »Red!«

»Was soll ich denn reden, was willst du überhaupt von mir?« Der Loisl war völlig verdutzt.

»Red, Saubub, sakermenschter!«

»Saubub? Bin keiner! Du – du –. Wie ein Teifi siehst aus.«

Der Zorn stand dem Buben nicht schlecht. »Ich hab nichts zu reden.«

»Was sagst? Teifi sagst? Und grad zu mir? Heiliges Kreuz –. Ist die Burgel bei dir gewesen oder nicht?«

Der Bub riß die Augen weit auf. »Die Burgel? Bist denn du narrisch worden, Bastian? Freilich ist die Burgel bei mir gewesen. Oft.«

»So, auch noch oft.«

»Sie bringt mir doch mein Essen.«

»Kannst dir das nicht holen?«

»Manchmal hol ich's mir auch.«

Der Bastian schien unsicher zu werden, aber er stampfte mit dem Fuße auf. »Der Mitterer hat's doch gesagt.«

»Was hat der Mitterer gesagt?«

»Red nicht so dumm daher. Die Burgel ist auf die Nacht bei dir gewesen.«

Dem Loisl schoß die Röte in die Wangen. Er ahnte, was die Frage bedeutete, und begann zu stammeln. »Auf – ja – nein, auf die –«

Da schlug ihn der Bastian in das Gesicht, daß der arme kleine König gegen seine Bettstatt flog. »Saubub, miserabler! Ich will's dir weisen!«

»Gar nichts wirst mir weisen, du selber bist ein Saubub, ein miserabler! Ein Trum wie du und einen Buben wie mich schlagen! Aus dem Weg gehst oder ich hau dir den Schaffen da in dein großes Maul.«

»Wildkatz,« grollte der Bastian, »jetzt reden wir erst noch einmal richtig miteinander. Alles will ich wissen.« Damit trat er breitbeinig auf den Loisl zu. Der aber schoß, grade wie heut das Murmel, wie der Blitz an dem langsamen und grobknochigen Knecht vorüber und zur Tür hinaus. »Der Burgel sag ich's!«

In langen Sätzen sprang der Bub zur Samalm hinab und berichtete, glühheiß vor Zorn und vor Scham.

»So,« sagte die Burgel, »also weil ich bei dir auf die Nacht geblieben bin? Und in das Gesicht geschlagen hat er dich? Ja, dir ist er am End noch gewachsen. Mir nicht. Da ins Eck setzt dich, Bub, und muckst dich nicht. Der Bastian kommt. Ich hör ihn.«

Die Burgel empfing den Bastian vor der Hütte, kampfbereit die Hände in die Seiten gestemmt. Der Bursche war zwar vor ihr mehr verlegen als zornig, aber er versuchte eine grobe Männlichkeit.

»Ist grad recht von dir,« begann er. Die Burgel schwieg und funkelte ihn. an »Grad recht ist's. Hab's dem Toni nicht glauben wollen.«

»Stad. Dem Toni? Dem kannst alles glauben. Ist einer von den Braven in St. Thomas.«

»Wenn's aber der Mitterer auch sagt –«

»Sagt's auch ein Braver.«

»Und ein Bub! Solch ein Bübele!«

»Meinst also den Loisl?«

»Hast gut geraten. Bei mir tust immer, als warst du die heilige Jungfrau selber, und solch einem Buben – Bist auf die Nacht bei ihm gewesen oder nicht?«

»Freilich war ich auf die Nacht bei ihm, und wenn's einmal wieder paßt, bin ich's wieder.«

»Heiliges Kreuz! Du –« Der Bastian ward unflätig, aber die Burgel sprang auf ihn zu und zischte ihn an: »Still bist! Der Bub ist drin. Soll er's hören?«

»Ja. Er soll's hören.«

»Soll er's,« sagte jetzt die Burgel stark. »Tut mir leid für den armen Buben, hätt's ihm gern noch erspart, aber soll er's hören! Hat leicht auch sein Gutes.« Und nun überfiel die entrüstete Burgel den Bastian, daß es wie Sturzbäche über ihn niederging. Ein solcher sei er? Akkurat so schlecht wie der Toni, der der Schlechteste in St. Thomas sei. Ob er sich denn nicht in sein Herz hinein schäme? Was sei der Loisl? Einer guten Mutter guter Bub, sauber wie ein Wasser am Berge. Und sie, die Burgel? Weil sie ein Ledig's sei, darum müsse sie schlecht sein, aber sie sei es nicht. Sollte sie sich etwa in der stockfinsteren Regennacht von der Alm herunter die Glieder brechen? Sei das eine Sünde, mit einem Kinde Wand an Wand zu schlafen, mit einem Kinde, das sie ein so schönes Abendgebet habe sprechen hören, daß ihr völlig das Wasser in die Augen gekommen sei? Aber weil er, der Bastian, schlecht sei, darum seh er die andern schlecht. Wenn er sich schon nicht schäme –

»Tu's ja alleweil schon,« jammerte der Bursche.

Die Burgel achtete nicht auf ihn – schäme sie sich für ihn, und mit einem, für den sie sich schämen müsse, wolle sie nichts mehr zu tun haben. Aus sei es. Ein für allemal aus. Sei jetzt eine schöne Zucht in St. Thomas. Kein Bursch hielte mehr etwas auf sich.

»Ich wohl,« barmte der Bastian.

»Du?« keifte die Burgel. »Wärst nicht arg, dächt'st du nichts Arges. Bist grad ein Seisonstenz (Saisonstenz) geworden wie die andern auch und wie sie überall sind, wo die Stadtfratzen hinkommen. Grad so einer.«

»Burgel,« der Bastian hatte wieder Boden unter den Füßen; denn er meinte, durch den Zorn den Schmerz zu spüren, »Burgel, das ist nicht wahr. Hab dem Mitterer geglaubt –«

»Schämen mußt du dich. Ganz in dein Herz hinein. Geh. Ich kann keinen gernhaben, der das von mir denken mag.«

»Burgel! Ich will's gutmachen.«

»Das geht nicht gutzumachen.«

»Geht alles gutzumachen, solange eins lebt. Dem Mitterer zahl ich's heim, das sag ich dir. Und dem Buben – Ich fang ihm ein Murmel. Er möcht gern eins.«

Indem schoß der Loisl aus der Tür. »Brauch dein Murmel nicht. Hab lang schon eins. Und von dir will ich nichts mehr wissen, und von dir auch nichts, Burgel. Brauchst nicht wieder auf die Nacht zu kommen.«

Da – lachte die Burgel trotz aller Betrübnis und umhalste den Loisl. »Bub! Bist schon ein Rechter. Aber wenn du nicht willst, komm ich halt nicht wieder auf die Nacht. – Halt schon still. Laß dich ruhig ein bissel gernhaben, Bub. Und nun paß auf: Da hat einer eine mordsgroße Dummheit gemacht, weil er – eins gernhat. Kannst das verstehn? Nicht? Dann –. Wo ist denn dein Bändel? Wann bringst mir denn das?«

»Das bring ich dir überhaupt nicht.«

»Schau, Bub,« die Burgel lachte abermals herzlich, »bei dem Bastian ist's akkurat so, wie bei dir. Bloß bei dir tut's ein Bändel, und bei dem Bastian ist's halt ein bissel mehr, weil er grad noch einmal so alt ist wie du. So mußt dir das denken, aber eine Dummheit ist eins wie das andere. Sag dem Bastian, er sei ein Grobian, und nachher bist wieder gut.«

»Das sag ich nicht.«

»Und bist auch nicht wieder gut?«

»Das – weiß ich noch nicht.«

»Und auf die Alm darf ich nicht wiederkommen?«

»Meinetwegen schon.«

»Auch auf die Nacht?«

»Meinetwegen auch.«

»Aber vom Bastian aus –«

»Auch,« sagte der und wandte sich an den Loisl. »Sei gescheit, Bub. G'spürst das Brennette noch nicht. Trag's mir nicht nach. – Also ein Murmel hast schon? Kannst es denn auch abrichten?«

»Was soll ich da abrichten?«

»Tanzen lernt's und am Stock gehn und schön bitten.«

»Denk,« sagte die Burgel, »wenn du so eins der Zenzi bringen tätst.«

»Wär schon recht.«

»Ich zeig's dir,« versicherte der Bastian. »Also ist's wieder gut?«

»Heimgehn tu ich.«

»Burgel, müssen wir nicht mitgehn?«

»Nein,« sagte die Burgel, »der Bub geht, und du gehst auch. – B'hüt, Bübel. – B'hüt, du dummer Bub!« Das war leise zum Bastian gesagt. Drin war die Burgel in der Hütte, und der Riegel schnappte laut hinter der Tür.

Obwohl der Loisl vielem nachgrübeln mußte, schlief er dennoch nicht schlecht. Daran war das Murmeltier schuld. Weil er nun ein Murmel hatte für die Zenzi!

Am anderen Morgen waren die Schafe ausgewandert. Sie weideten vorerst am Rande der Dreiecksalm, aber es war damit zu rechnen, daß sie an die Bischkopfwände steigen würden. Dagegen war nichts zu machen. Wenn der Tyras auf dem Posten war, und auch der Loisl aufpaßte, dann konnte es gut sein, daß am Bischkopf genau so wenig geschah wie vor dem kleinen Ruchen. Überdies war jetzt sein Weg zur Herde nicht mehr so weit.

Der Tag war grau und schwer. Die Berghäupter waren eingehüllt, die Wolken zogen an den Wänden entlang zum Törle hinüber, wanderten auch ab und zu quer über die Alm, und dann sickerte ein feiner Regen herab, und es war kalt.

Etliche Tage hielt das dunkle Wetter an, und es waren Tage, an denen sich der Mensch hoch in den Bergen wohl von Gott und aller Welt verlassen fühlen kann. Keine Stimme rundum, während sonst die Sonnenstrahlen förmlich singen und klingen, ein dumpfes kaltes, hohles Wehen, das die Wolken rascher vor sich her jagt und rascher neue hinter sich drein zieht. Fratzenhaft die aus den Wolken durchstoßenden Felshäupter, dumpf der Steinschlag, der seltener geworden ist. Kein Klang von der Samalm herauf, und kein Mensch, nicht die Burgel, nicht der Ronymus, nicht einmal der Bastian. Und so folgsam, wie der Loisl gemeint hat, sind die Schafe gar nicht. Schon am zweiten Tage weiden sie auf einer Graszunge am Bischkopf, und als der Bub am Morgen des dritten hinüberkommt, steht ein Lamm auf einem kurzen Grat, auf dem es wahrhaftig nichts zu suchen hat; denn da wächst nicht ein einziger Halm, steht, wagt sich nicht wieder herab, blökt zum Gotterbarmen, und unten steht der Tyras und bellt eine Strafrede nach der anderen. Es hilft nichts, der Loisl muß selber hinauf. Dabei wäre nicht viel, wäre die Erde nicht naß und rutschig. Sie ist es aber, und es ist kein leichtes Stück Arbeit, das Lamm herabzuholen. Der Bub holt es aber, und als er es glücklich unten hat, schimpft er wohl den Schwarzen, den Tyras, das dumme Lamm, aber er hat doch zugleich eine warme Freude in sich. Am Abend treibt er die ganze Herde in den Stall, und sie widersetzt sich nicht.

Immer einmal beschäftigt er sich dazwischen hinein mit dem Murmeltierchen. Es ist gut, daß er es hat, denn mit ihm hat er etwas Lebendiges, dem er von drunten erzählen kann, ohne daß es ihn alleweil durch ein Mäh unterbricht, aber aufpassen muß der Loisl. Das kleine Tier ist zwar nicht mehr grad wild und scheu, aber dreimal hat es schon versucht, auszureißen.

Endlich am Abend des dritten der trüben Tage kommen gleich zwei, die Burgel und der Bastian, und der Bastian hat ein feines Kettchen mitgebracht. Das schlingt er dem Murmel hinter den Vorderbeinen um den Leib, und nun ist's gewonnen. Der Abend vergeht rasch mit Unterweisungen. Jetzt weiß der Loisl, worauf es mit dem Murmel hinaus soll. Der Bastian bringt auch ein Stück Kuchen von der Wirtsmutter mit und berichtet, daß sich die Zenzi unbändig auf das Murmel freue. Kommen jedoch könne die Wirtsmutter nicht. Sie habe ganz und gar keine Zeit und könne auch den Berg nicht mehr erschnaufen. Der Loisl werde, wenn er hinabkomme, manches verändert finden. Die Gemeinde lasse den Weg nach Rauth verbreitern, am Kuhhorn werde gesprengt, der Wirtsvater habe eine lange Veranda mit großen Fenstern, die in den Ecken buntes Glas hätten, bauen lassen, der Mitterer stelle eine Bude auf, in der er den Fremden Steine verkaufe, und der Brandl Max gar habe ein neues Gewerbe aufgetan und führe die Fremden für Geld auf die Berge. Er habe allerdings bis jetzt nur die leichten gewählt, weil er den Fremden nicht traue, aber mit der Zeit kämen vielleicht auch der Bischkopf, der Riese und die Tritta dran. Der Max habe aber gesagt, die müsse er selber erst noch besser kennenlernen, übers Jahr werde es wohl so weit sein. Am Abend schlage der Schreck in des Wirtsvaters Veranda die Zither, der Brandl spiele auf der Ziehharmonika, manchmal sängen die beiden dazu, jeden Abend werde getanzt und –

Die Burgel fiel ein: »Die Buben sein narrisch, und die Stadtfratzen sein verrückt und – Bub, ich sag dir: Bleib da heroben!«

»Übers Jahr noch einmal, hat der Wirtsvater gesagt, und ich mag's wohl. Dann – Vielleicht – Der Wirtsvater hat ja selber eine Alm.«

»Das sieht man dann schon,« sagte der Bastian. »Jetzt B'hüt, Loisl! Ein Grüß! richt ich drunten aus.«

Etliche Tage später steckte der Toni Oberlechner die Nase über den Rand der Alm, kam aber nicht an den Loisl, der grade zu den Schafen gehn wollte, heran, sondern sagte, er habe gar keine Zeit und wolle nur wissen, wieviel Schafe der dumme Lausbub verweile eingebüßt habe.

»Bin kein Lausbub,« trotzte der Loisl, »und Schafe eingebüßt habe ich keins.«

»Wollt's dir auch nicht geraten haben,« sagte der Toni und stieg zur Samalm hinab. Von da kam er nachher mit ein paar blutroten Striemen im Gesicht nach St. Thomas und fluchte auf die Äste, die ihn grad ins Gesicht geschlagen hätten, als er quer durchs Holz gegangen sei, um den Weg zu kürzen. Die Burgel wußte es zwar anders, aber da sie niemand fragte, hatte sie auch nicht nötig, etwas zu sagen.

Im übrigen taten die Striemen dem Toni bei seiner Freundin keinen Abbruch. Er hatte eine Freundin, der Toni, eine extrafeine, und verschafft hatte sie ihm, wenn man es richtig nimmt, der Huber Sepp. Der wiederum hatte sich, als er gesehn, was er angerichtet, über das hagere, schmale Gesicht gestrichen, so, wie es seine Art war, wenn er ein Lachen unterkriegen wollte. »Alsdann –« hatte er gesagt und war auf einen Sprung zu seiner Anna gegangen, die trotz ihrer Bresthaftigkeit mit in der Küche arbeitete. Er nannte sie Mammeli.

»Mammeli,« sagte er, »jetzt gehst ein bissel mit hinaus. Ich leid das nicht, daß du den ganzen Tag da mit schaffst. Dazu bist nicht da, und die Berta und die andern machen ihre Sache schon. Sind alle zufrieden, die Gäste. Komm!«

Da war denn dem Mammeli nichts weiter übriggeblieben, als mitzugehn, und die Zenzi nahm die Gelegenheit wahr, sich anzuschließen. Veranda und Garten saßen voller Leute. Es waren mehr Frauen als Männer unter ihnen. Der Sepp ging zwischen ihnen hindurch und hatte den linken Arm auf die Schultern seiner Frau gelegt. Man sah ihn eigentlich immer so, wenn seine Frau neben ihm ging, und das hatte seinen Grund.

St. Thomas hatte eine Reihe stattlicher Männer, den Brunner, den Schreck, den Brandl, auch den Siebenlehner – der Moosbacher und der Zweigler waren kleiner –, aber der Sepp war der stattlichste unter ihnen. Es kam noch mancherlei dazu. Der Sepp war ein schöner Mann, ein ausgesprochen schöner, und ein interessanter Mann war er. Er ging lässig, aber jedes Gelenk federte, und jeder Schritt verriet verhaltene Kraft. Seine gamslederne Kurze war so abgewetzt, wie eine Berglerhose sein muß, wenn man Achtung vor ihr haben soll. Die weißen, schön gestrickten Strümpfe über den schweren Halbschuhen reichten bis kurz unter das Knie und ließen das Knie selber und ein Stück des stark behaarten, aber schlanken Schenkels frei. Das langärmelige Hemd war blütenweiß – dreimal in der Woche zog der Sepp ein frisches Hemd an –, die rote Sammetweste mit den buckligen Silberknöpfen stand offen, und vom Hemdkragen mit dem ziemlich breiten, spitzeckigen Umschlag hing ein roter Schlips herab. Über dem schmalen, braungebrannten, ein wenig faltigen Gesicht mit den graublauen, lebendigen, treuherzigen und zugleich pfiffigen Augen stand üppiges, weiches, schneeweißes Haar. Der Mann war jung, sechsunddreißig war er kürzlich gewesen, und hatte schneeweißes Haar. Das kam nicht von schweren Sorgen und Schicksalsschlägen. Von denen war der Sepp bis auf die Krankheit seiner Frau verschont geblieben. Es lag im Huberstamme. Des Sepps Vater war auch schon in jungen Jahren grade so weiß gewesen und der Großvater auch.

Das alles aber, die schlanke, sehnige Gestalt, das schneeige Haar über jungem Gesicht, vor allem auch des Sepps zwar freundliche, aber zugleich selbstbewußte Art machte ihn interessant. Den Männern so, daß sie sich gern mit ihm in ein Gespräch einließen, den Frauen so, daß sie für ihn schwärmten, ihn umgirrten, leicht auch zu mehr bereit gewesen wären als nur, ihn offen und meuchlings, je nachdem, zu photographieren. Über das Photographiertwerden lachte der Sepp, seine Unterschrift kritzelte er gern auf Ansichtskarten, aber – mehr mochte der Sepp nicht. Darum legte er vor den Leuten meist den Arm um Mammelis Schultern. Mammeli verstand ihn, lachte glücklich und sagte: »Sepp, ich tät dir auch so trauen.«

»Na,« sagte der Sepp »sind schon etliche Saubere dabei, du.«

»Ach, geh zu. – Aber was hast denn schon an mir?«

»Alles. Darum zeig ich's ja den Leuten. Sollen mich in Ruh lassen.«

Übrigens hätte der Sepp den glücklichen Mann nicht zu markieren brauchen. Die Leute hätten auch so gesehn, daß er es war. Manche aber hofften dennoch stärker zu sein als die Anna, und dann wehrte sich der Sepp auf seine Weise. Er war klug und aus Klugheit selbst dann höflich, wenn er nahe daran war, grob zu werden. Die Höflichkeit aber endete leicht einmal in Spott.

Da war z. B. das Fräulein Angelika Fischer, die sich jeden Tag auf jugendlich arbeitete, weil sie jeden Tag auf Männerjagd war. Die wußte dem Sepp in den unmöglichsten Ecken zu begegnen und die unmöglichsten Fragen zu stellen, nur damit ihr der Sepp nicht gleich wieder entwischte. Also ob es noch Bären hier gäbe. Leicht, daß einer vom vorigen Jahr übriggeblieben sei, sagte der Sepp. Sie hätten drei ausgesetzt, aber nur zwei wieder geschossen. O Gott, wenn man nun dem begegnete! Macht nichts. Er heißt Hieronymus und frißt aus der Hand. Am liebsten ein gut gebratenes Schweinernes. »Herr Sepp! – Aber Gemsen gibt es doch noch?« Gemsen die schwere Menge, und wenn das Fräulein etwa im Winter wiederkomme – »Soll ich? Würde Ihnen dran liegen?«

Ei freilich. Der Sepp kann auch im Winter Geld brauchen. »Ach – so. Des–we–gen!« – Hirsche? »Ja, Hirsche sind auch da. Wieviel? Etwa neunzig Stück.« – »Die bleiben natürlich auch im Winter hier. Ist's denn dann den Tieren nicht zu kalt?« – »Wieso zu kalt? Am fünfzehnten Dezember werden Decken verteilt. Kriegt jeder eine.«

Das war dem Fräulein Angelika doch zu stark, und sie tröstete sich mit dem Lindner, der immer schon ein weiches Herz gehabt hatte, ohne jedoch den Sepp vergessen zu können.

Dann war da Fräulein Marie Klug, die wirklich war, wie ihr Name besagte, klug. Die stand neben dem Sepp, als gerade der Oberlechner Toni vorüberging und herübergrüßte. Grade gewachsen war der Toni, das wohl, wenn nur sein Gesicht nicht gewesen wäre, das infolge des zerstörten Auges noch garstiger aussah, als es ohnedem ausgesehn hätte, und es hätte wahrlich schon mit zwei gesunden Augen zugereicht. Also das Fräulein Klug fragte den Sepp, wer der ekelhafte Kerl sei, der da eben vorüberging und der ihr gestern abend schon aufgefallen wäre.

»Ho,« sagte der Sepp, »das ist leicht der künftige Bürgermeister. Sein Vater ist der jetzige. Der reichste Mann in der Gemeinde, weitaus der reichste, und der Toni ist sein Einziger, dem er jeden Willen tut. Wär keine schlechte Partie.«

Das mußte wohl das kluge Fräulein nach einigem Nachdenken auch gefunden haben; denn am selben Abend machte sie dem Toni gehörig heiß. Dem gefiel das wohl, langte ihm aber nicht, und so legte er von sich aus ein paar trockene Scheite zu. Da brannte es denn lichterloh. Beim Toni wirklich, so daß er sich gebärdete wie ein kollernder Truthahn, bei dem klugen Fräulein nur scheinbar, weil – sie klug war. So geizig der Toni war, er zahlte. Das Fräulein blieb sogar drei Wochen über die Zeit hinaus, die sie vorgehabt zu bleiben, auf des Toni Kosten. Da ward der Toni fleglig; denn so hatte er es nicht gemeint. Er tat ein übriges, hetzte den Martin Weiler auf das kluge Fräulein, sagte, sie wäre so eine, und er brauche den Martin, wenn etwa – – Aber das Fräulein brauchte den Martin nicht, dazu – hätte sie den Toni zu lieb, klagte sie dem Martin. »Sakra,« sagte der Toni, kratzte sich hinter den Ohren und holte sich die Striemen auf der Samalm. Die »Kluge« lachte, aber sie ließ es den Toni nicht entgelten, und drei Tage drauf war sie fort. Der Sepp präsentierte dem Toni die letzte Rechnung, und weil sie nicht hoch und der Toni froh war, das Fräulein los zu sein, zahlte er. »Gut,« sagte der Sepp, »geht in Ordnung. Weißt du übrigens mehr von dem Fräulein?«

»Ich? Nein. Weißt du was?«

»Viel nicht. Ich weiß bloß, daß die funkelnden Steine in den vielen Ringen, die sie hat, lauter Glaseln waren.«

»Glaseln? Und das Mensch sagt Edelsteine.«

»So? Sagt sie? Der Sepp zog etliche Zettel aus der Tasche. »Das hat sie liegen lassen. Muß es ihr nun nachschicken, wenn – die Adresse stimmt. Schau. Summiert sich schon.«

Lauter unbezahlte Rechnungen über Kleider, Stoffe, Schuhe, Wäsche. Der Toni kriegte einen Kopf wie ein Puter, und der Sepp sagte: »Hast doch nicht etwa Dummheiten gemacht?«

»Ich?« entrüstete sich der Toni, »da kennst mich schlecht.«

»Um so besser. – Bin froh, daß nun wieder Ruhe bei uns ist.« Das Fräulein Klug war einer der letzten Gäste gewesen. Es war Herbst, und auf den Bergen war der erste frische Schnee gefallen. »Mit dem Loisl kannst übrigens zufrieden sein. Kein einzig Stück hat er verloren.«

»Dazu gehört auch was.«

»Mein ich auch. Hast allein du, als du vor fünf Jahren droben warst, in einem Sommer vier Stück verloren.«

»War grad ein unglücklich Jahr. Wenn der sakermenschte Adler nicht gewesen wär –«

»Der war dies Jahr auch da.«

»Ist er halt grad satt gewesen.«

»Ja, noch von den vier Lämmern, die er dir vor fünf Jahren weggeholt. – Also über acht Tage ist Abtrieb. Bald der Bub die Schafe abgeliefert hat, kommt er wieder zu mir.«

»Wär ein schönes Fressen. Wenn's einschneit, nicht eher.«

»Stad, Bub!« Der Toni riß die Augen weit auf, als der Sepp so hart und kurz: Bub, sagte. »Auf die Stunde! Richt's aus.«

Damit ließ der Sepp den Toni allein sitzen.

+++

Des Loisls Zeit auf der Dreiecksalm war für dies Jahr aus. Frischer Schnee reichte weit herab, das Gras war jeden Morgen gefroren, der Wind stieß rauh und kalt. Man konnte, wie in jedem Jahr so auch in diesem, sicher noch mit schönen, goldenen Herbsttagen drunten rechnen, aber die Almweide lohnte nicht mehr.

Der Loisl führte die Schafe zur Samalm hinunter, blieb da zur Nacht und trieb am andern Tage mit der Burgel zusammen ab, so daß sie kurz vor dem Mittagessen in St. Thomas waren. Es war ein festlicher Abtrieb; denn auch die Burgel hatte kein Stück verloren. Sie trieb voraus, hinterdrein kam der Loisl und hatte den schweren Rucksack auf dem Buckel und das possierliche Murmeltier auf dem Arme. Er hatte den Schwarzen, das Scheckete und etliche andere schön mit Kränzen geschmückt, die ihm die Burgel geflochten. Der ihre Kühe aber waren besonders schön ausstaffiert, und die Leitkuh trug am Halse die große, voll tönende Glocke und zwischen den Hörnern einen bunt bebänderten Reifen, in dessen Mitte bei jedem Schritt des Tieres ein großes goldenes Kreuz aus steifem Papier schwankte.

Als die Herde am Wirthaus vorübermarschierte, standen da die Wirtleute mit der Zenzi, lachten und nickten dem Loisl zu, und die Zenzi war ganz aus dem Häuschen, als sie das Murmeltier sah. Sie wollte gleich neben dem Loisl herspringen, aber der Vater sagte: »Hier bin ich eher am Platze. Du bleibst!«

Der Bürgermeister hüpfte zwar auf und nieder, als der Sepp sagte, er nähme den Loisl gleich mit, aber der Sepp ließ sich auf kein Verhandeln ein. »Was ausgemacht ist, ist gehalten,« sagte er. »Der Bub kommt jetzt in sein Winterquartier. Ob im nächsten Frühjahr wieder zu dir, müssen wir sehn. – Das Gewand hab ich in Rauth bestellt. Ich hol's bei Gelegenheit. Die Rechnung kriegst du. Komm, Bub!«

Das Wetter war wieder schön geworden. Die Schneedecke auf den Bergen ward größer und dichter, auf den Wiesen von St. Thomas aber blühten die Herbstzeitlosen zu Tausenden, die Almen waren zwar verlassen, die Talwiesen jedoch dafür um so lebendiger. Eine klare Luft rückte die Berge greifbar nahe, und aus den Wäldern der Ostkette drang der Brunftschrei der Hirsche. Das war die Zeit, da der Huber Sepp die Büchse schulterte und den Gemsen nachstieg. Bislang war er allein gegangen, dies Jahr nahm er den Loisl mit. Meist kamen sie am Abend heim, blieben jedoch auch dann und wann in einem der offenstehenden Almstadel über Nacht.

»Zeit laß,« sagte der Sepp, als der Loisl voranstürmen wollte. »Wer da bei uns herum rennt, kommt nicht voran, aber wer sich Zeit läßt, kommt sicher, wohin er will.« Langsam und stetig stiegen sie nach dem Törle zu, durchquerten den Wald, in dem niemand fällte und niemand pflanzte. Was gefallen war, das war entweder morsch gewesen vor Alter oder der Sturm hatte es umgeworfen. Es war ein förmlicher Urwald, das Holz, das westlich vom Törle bis nahe an des Loisls Schafweide stand. Zwischen grauen Steinbrocken lagen geborstene Bäume, aus deren verfaulendem Stamm Modergeruch stieg. Allenthalben war der Boden feucht, allenthalben von Steinbrocken übersät, die einstmals von den Bergwänden heruntergekommen waren. Auch die freundlichste Herbstsonne drang nur selten zwischen den Bäumen hinab auf die Erde. Es war nicht Tag, nicht Nacht, es war still, und es war wild. Wer nicht gewandt und zugleich vorsichtig zu schreiten wußte, brach sich leicht Fuß oder Bein, und wer Wildnis und Einsamkeit fürchtete, blieb besser draußen. Langsam und sicher wanderte der Sepp mit federnden Knien, langsam und vorsichtig lernte der Loisl neben ihm her schreiten. Als sie an den östlichen Rand des Holzes gekommen waren, hockte der Sepp nieder, nahm das Glas und suchte die Hänge ab. »Einer ist dabei,« sagte er dem Loisl und reichte ihm das Glas. »Den schwarzen mußt suchen, der auf dem Stein steht. Hast ihn? Der ist richtig, aber wir können uns Zeit lasten. Entweder sie äsen auf uns zu, und dann kann ich von hier aus schießen, oder sie wechseln nach der Scharte, dann muß ich da hinauf.« Er wies zu den Steilwänden des Törle, die links von ihnen lagen. »Schau, Bub,« fuhr der Sepp fort, »das ist unsere wunde Stelle, und wenn nicht ein Wunder geschieht, dann – ist St. Thomas verloren. Nicht heute und morgen, aber auch nicht in zu langer Zeit. Da kommt die Lawine her, von der Schräge des Törle. Sieht aus wie ein großes Dach. Früher ist sie gradaus gefahren und unter dem Kugler in der Acheschlucht zusammengeschmolzen. Mein Vater hat's in jungen Jahren noch so gekannt, ich schon nicht mehr. Die ganze Wand unter der Steinnase hat die Lawine mit der Zeit abgetragen. Die Steinnase kommt immer mehr heraus, und die Lawine biegt immer mehr nach links ab. Der Schachen ist verschüttet und – – Sie wechseln also doch nach der Scharte zu, die Gemsen. Dann muß ich hinauf. Du gehst rechts hinüber. Solange du kannst, bleibst du im Holze. Wenn es nicht mehr geht, kriechst du auf dem Bauche über das Kar, ja nicht aufstehn, bis du hinter den Gemsen bist. Wenn ich droben bin, pfeife ich. Bald du das Pfeifen hörst, stehst auf und steigst langsam an. Ganz stad und keinen Lärm. Dich sehn und dir aus dem Wege gehn, sollen sie, jagen sollst du sie nicht. Alsdann: B'hüt! und: Zeit laß!«

Der Loisl machte seine Sache gut. Als er des Wirtsvaters Pfiff hörte, verhoffte der Bock, und die Tiere traten unruhig hin und her, hielten aber noch. Da richtete sich der Loisl auf und begann langsam auf dem Geröllfelde hinanzusteigen. Die Gemsen hatten ihn rasch eräugt, machten etliche lange Fluchten, stiegen rasch, aber nicht flüchtig zur Scharte hinan. Als sie nicht mehr weit davon waren, knallte es, der Bock überschlug sich, kam, um sich schlagend, auf dem Geröll herabgerollt, blieb liegen. Zugleich polterte es im linksseitigen Gewände, der Sepp stieg ab. Er traf den Loisl an dem Bock und lachte. »Es ist nicht immer so leicht. – Schau, der lohnt.«

Drei gute Böcke schoß der Sepp in dem Herbst, und der Loisl trug nachher stolz einen starken Gemsbart auf seinem Hute.

Anfang November war St. Thomas eingeschneit. Es war ein milder Winter, aber kein schöner. Der neue Geist wollte in St. Thomas einbrechen. Ein Sepp Huber hätte es wohl zufrieden sein können, war es aber nicht. War der Winter für ihn früher eine fast tote, mindestens eine recht stille Zeit gewesen, so war er jetzt laut und dem Sepp allzu lebendig. Aber was wollte er machen? Er hatte das Wirtshaus, es war sein Gewerbe, auszuschenken, und mehr als vernünftig zureden, auch ab und an verweigern, konnte er nicht. Leute, wie der Moosbacher, der Brunner, der Zweigler, kamen, wie sie früher auch gekommen waren, eher etwas seltener als öfter. Die ständig kamen, das waren die kleinen Leute, denen das Geld etwas Ungewohntes war, und mit dem sie deshalb nichts Besseres anzufangen wußten, als es zu vertrinken und zu verspielen. Dabei prahlten sie damit, daß sie die Leute ordentlich gerupft hätten, und im kommenden Jahre würden sie es noch ganz anders machen.

Die Prahlerei war den paar Bauern lästig, und wenn früher alles friedlich durcheinander gesessen hatte, bildeten sich jetzt getrennte Gruppen. Eine Art Brücke zwischen ihnen bildeten Leute wie der Brandl und der Schreck. Sie hatten beide gut verdient, gönnten sich auch was, hielten aber doch ihr Geld zusammen, um Pläne, die sie hatten, durchführen zu können. Sie wollten bauen, wollten ihre Häuser erweitern, um mehr Gäste aufnehmen zu können. Das wollte mancher der anderen auch, aber als der Brandl den Anderl Lind fragte, wovon er denn bauen wolle, wenn er sein ganzes Geld versaufe, da drehte der Lind den Spieß um und sagte, das wäre es nicht, er hätte bloß nicht so gut verstanden, die Leute zu begaunern wie der Brandl. Der Sepp konnte zwar diesmal eine Prügelei verhindern, aber immer gelang es ihm nicht, und mancher ging grollend hinaus und schwur, des Sepps Gaststube nicht wieder zu betreten. Die meiste Not hatte der milde Pfarrer Hornberger. Er glaubte, seine Leute gekannt zu haben, hatte gelernt, über manche Unzulänglichkeit hinwegzusehen, und war nun tief traurig, daß die Schale um den guten Kern derer von St. Thomas immer dicker, immer rauher, immer stacheliger wurde. Dabei tat der Sepp wirklich, was er konnte, und schon Mitte Februar war es ja denn auch ausgestanden. Das Geld war alle, und der Sepp borgte nicht einen Pfennig. Es war nun nicht so, daß sich die Leute damit abgefunden hätten, sondern sie murrten, weil sie nun »nichts mehr vom Leben hatten«, und keiner besaß so viel Verstand und guten Willen, die Schuld bei sich zu suchen.

Ganz selten einmal kam der Hieronymus Fabian, selten der Toni Oberlechner, außer wenn der Gemeinderat zusammentreten mußte, der Bürgermeister. Etwas anderes tat er, etwas, das kein Mensch erwartet und wofür man keinen Grund sah, denn der, den der Bürgermeister angab, war erlogen. Das spürte jeder. Anfang Februar kam der Oberlechner zum Moosbacher und sagte, er lege nieder, weil er vor Reißen die Feder nicht mehr halten und keine Nacht mehr schlafen könne. Sie möchten einen anderen wählen. Das wäre glaubhaft gewesen, hätten des Bürgermeisters Leute nicht erzählt, daß er daheim arbeite wie ein Wilder.

Die Wahrheit sah anders aus, als es der Oberlechner darstellte. Er war zwar nicht eben klug, nicht einmal so schlau wie sein Toni, aber er wollte einer Möglichkeit vorbeugen, die immerhin einmal eintreten konnte; denn es ist ein Unterschied, ob man nur seine Privatehre oder auch zugleich seine Amtsehre zu vertreten hat. Der Oberlechner hatte einen Vorgeschmack bekommen, der ihm noch gallenbitter im Halse hing. Irgendwie war dem Bezirksdirektor die Wahrheit über die »braven Männer von St. Thomas« zu Ohren gekommen. Daraufhin hatte er den Oberlechner zu sich bestellt, nicht viel Gutes an ihm gelassen und ihm zuletzt bündig erklärt: Über einen Privatmann urteile man mit Recht hart, wenn er eigensüchtig und ohne Menschenliebe handle, aber das, was eine Amtsperson tue oder auch nicht tue, wöge doppelt schwer, und hier böte sogar das Gesetz eine Handhabe, gegen ihn vorzugehn.

Der Oberlechner wollte also eine Privatperson werden, weil er vorhatte, die Fremden im kommenden Jahre noch ganz anders zu schröpfen als im vergangenen. Er würde bauen, eine Köchin nehmen, die Leute sollten nicht mehr nur bei ihm wohnen, sondern auch essen und trinken, eine kleine Konzession kriegte er bestimmt, und – den großmäuligen Huber Sepp wollte er schon kleinkriegen. Die Zukunft war also der eine Grund dafür, daß der Oberlechner zurücktrat. Der andere lag in der Vergangenheit, und wenn er breitgetreten ward, dann war das erst recht nicht mit der Amtsehre zu vereinbaren. So tat wenigstens der Vater dem Sohne gegenüber. Als er vom Moosbacher zurückkam, brüllte er den Toni an: »So, jetzt ist's gar. Ich bin der Bürgermeister gewesen, und du Haderlump bist schuld dran.«

»Alsdann ist's halt auch gut,« gab der Toni grinsend zurück. »Deswegen schlaf ich.«

Es war so gewesen: Als Weihnachtsgeschenk hatte Fräulein Marie Klug dem Toni Oberlechner die Nachricht beschert, daß sie ein Kind von ihm erwarte, und daß er sie nun entweder heiraten oder daß er zahlen müsse. Diesen Brief hatte der Toni zwar beantwortet, aber seinem Vater verheimlicht. Die Antwort war so ausgefallen, wie sie einer schreibt, der sich schuldig fühlt und etwas zu erreichen glaubt, wenn er den Spieß umdreht. Also nicht der Toni war schuld, sondern das verdorbene Weibsstück, das sich mit Glaseln behänge und behaupte, es seien Edelsteine, das bei Gott und aller Welt Schulden habe, aber mit seinem Vermögen prahle, und dem es der Toni anstreichen werde, wenn es noch einmal mit solch einer Lüge komme. Das alles hatte der Toni bekräftigt mit Ausdrücken, die in keinem Wörterbuch zu finden, der Marie Klug und ihrem »Freunde«, die beide auf dem Trockenen saßen, aber höchst willkommen waren. Der Herr Rechtskonsulent Biedermann – ein Name, der für ihn paßte wie die Faust aufs Auge – hatte gegrinst: »Den haben wir. – Sag mal, Marie, also wahr ist's nicht?«

»Nein, wahr ist's nicht, aber er hat Geld.«

»Gut.«

Daraufhin schrieb denn der Herr Rechtskonsulent selber an den Toni Oberlechner. Ganz biedermännisch und zugleich satanisch niederträchtig schrieb er. Ein gebrochenes Menschenkind sitze vor ihm in Trauerkleidung und mit hohlen Augen. Ihr Bestes, ihre Unschuld, ihre Frauenehre habe das arme Fräulein Klug einem Menschen geopfert, den sie liebgehabt habe. Die Liebe sei allerdings nach dem unflätigen Briefe vom soundsovielten erloschen, und nun werde das Gesetz mit seiner ganzen Härte angewandt werden.

Diese Anwendung verstand der Herr Biedermann, das mußte man ihm lassen. Den Martin Krüger habe der Herr Oberlechner auf das unschuldige Mädchen zu hetzen versucht, um einen Eideshelfer zu haben, minderjährig sei er, so daß der Vater für ihn eintreten müsse, und nach Paragraph soundso und soundso – Kurz, es blieb nun dem Toni nichts weiter übrig, als den Brief seinem Vater über den Tisch zuzuschieben: »Da, lies einmal.« Der alte Oberlechner las, riß die Augen auf, stemmte die Fäuste auf den Tisch. »Ist das wahr?«

»Wahr? Wird schon wahr sein.«

Der Bürgermeister sprang auf seinen Sohn zu, um ihm ein paar gehörige Watschen zu geben, aber es gelang vorbei, weil der Toni seine Handgelenke festhielt. So trat denn der Oberlechner zurück, ganz enttäuschter, armer, weinender Vater, den der ungeratene Sohn in Schande und ums Geld bringe, und der seinem Kinde doch wahrlich immer ein gutes Beispiel gegeben habe.

Da grinste der Toni, lupfte die Schultern und sagte: »Ich hab halt Pech gehabt, du Glück. Das ist der Unterschied.«

Der Oberlechner weinte heftiger. Das sei eine Sünde, und eine Schande vor Gott und Menschen. Wieviel denn das Fräulein habe?

»Einen Dreck hat sie. Belogen hat sie mich. Edelsteine sollten es sein, und Glaseln sind's gewesen.«

»Auch das noch! Dann zahl halt.«

»Ich? Wovon denn?«

»Von deinem Mütterlichen.«

»Da bist arg auf dem Holzwege. Von mir aus – Mir ist's egal.«

Dem Bürgermeister war es nicht egal. Er fuhr also fort, ziemlich weit fort, und als er wiederkam, wußte er, daß das kommende Jahr sehr gut werden müsse, wenn er seinem Schaden wieder beikommen wolle. Und der Burgel hatte er auch zulegen müssen, viel sogar, sonst wäre sie zu Lichtmeß gegangen, und eine solche kriegte er nicht wieder und einen Schafhirten wie den Loisl auch nicht. Ach, es war eine traurige Welt, und grade immer die Guten und Unschuldigen kamen dran. Immerhin: Der Oberlechner hatte es schriftlich in der Tasche, daß die kluge Marie kein Wort laut werden lassen dürfe bei einer hoch angesetzten Konventionalstrafe. So hatte der Herr Biedermann bereitwillig geschrieben, und der Oberlechner tat sich etwas darauf zugute, daß er so schlau gewesen war, das Schriftstück zu fordern. Als er daheim war, kam zwar die Ernüchterung über ihn: Was soll die Konventionalstrafe, wenn sie die Bagage nicht zahlen kann? Er brauchte sich jedoch keine Sorge zu machen. Die kluge Marie und ihr Biedermann waren froh, wenn nichts verlautete; denn schließlich ist es ja nicht grade im Gesetz verankert, daß einer für ein Kind zahlt, das gar nicht da ist und auch nicht kommt.

+++

Der Loisl durfte einen schönen und fruchtbaren Winter verleben. Die Wirtsmutter war so lieb und gut, daß die eigene Mutter nicht hätte besser sein können, und daß, wenn ihr der Bub allein überlassen gewesen, genau das eingetreten wäre, was der Sepp durch seine scheinbare Härte verhinderte. Scheinbar hart war er auch jetzt. Er jagte den Loisl so oft von der Zenzi, ihrem Murmeltier, ihren Schularbeiten und ihren Puppen mit den Brettern hinaus zu den anderen Buben, bis es ihm keiner mehr zuvortat, sondern er sich mit jedem messen konnte. Außerdem mußte er am Vormittag in die Schule und am Nachmittag zum Pfarrer Hornberger. Der sollte weder einen Gelehrten, noch einen extra frommen Menschen aus dem Buben machen. Von Sprachen war also z. B. überhaupt keine Rede, von Religion wenig. Aber für die Welt sollte der Pfarrer dem Loisl die Augen öffnen, für die Welt und die Menschen, sollte ihm Schönes und Wahres zeigen, aber ja nicht an den Widersprüchen vorübergehn. Weil der Sepp in dem letzteren dem Pfarrer trotz aller hohen Meinung von ihm nicht ganz traute, half er selber nach.

Dabei wurden denn die Tage allmählich länger, die Törle-Lawine ging nieder und war ganz deutlich wieder ein Stück nach Westen auf das Schlegeli zu gewandert, so daß sich der Huber Sepp ausgiebig hinter den Ohren kratzte. »Noch etliche solche Lawinen, und der Brunner ist hin und das Schlegeli auch. Nachher kommen wir dran. Die unbarmherzigen Berge! Was sie vor unserer Zeit gebaut haben, müssen sie in unserer Zeit zugrunde richten und – uns mit.« Nun, noch war es nicht so weit. Noch stand St. Thomas. Der Oberlechner baute und – baute zum ersten Male in seinem Leben mit Schulden. Der Brandl und der Schreck bauten auch, der Mitterer erweiterte und verschönerte seine Bude und bezog Steine von weither, wenn er auch später immer sagte, sie wären alle hier gefunden worden. Der Fabian ging wieder, wie er sagte, Steine klopfen, und eines Tages war der Loisl wieder auf der oberen Dreiecksalm und die Burgel auf der Samalm. Es fiel dem Loisl in diesem Jahre anfangs schwerer als im vorigen. Erstlich waren die Schafe unruhiger. Den Schwarzen hatte der Oberlechner verkauft, und der Unruh, wie der Loisl seinen Nachfolger nannte, verstand es nicht, sich Respekt zu verschaffen. Zweitens erschienen dem Buben nach dem behaglichen, weichen Winter die Bischkopfwände noch wilder und düsterer, schien ihm die Einsamkeit noch größer und drohender. Drittens waren die Adler viel dreister als im vorigen Jahr, so daß er eine Zeitlang höllisch aufpassen mußte, um kein Lamm zu verlieren. Es war Mitte Sommer, ehe der Bub das alles überwunden hatte und auf seiner Alm wieder heimisch war. Inzwischen hatte sich der Unruh in seine Aufgabe gefunden und nahm sie ernst, der Fabian kam dann und wann, breitete seine Steine vor dem Buben aus und hielt förmliche Predigten über sie, auch die Burgel und der Bastian kamen. Die Burgel kam sogar oft, aber sie blieb nicht wieder zur Nacht da, obwohl das der Loisl nicht verstand. Die Burgel jedoch verstand es. Der Bub war um einen Kopf gewachsen, und wenn sich auch seine Stimme zuweilen überschlug und er einen rechtschaffenen Juchzer überhaupt nicht mehr fertigbrachte, sondern nur noch kickste, so war es doch nicht zu leugnen, daß des Buben Stimme nach der eines Mannes hinüber wollte. Es war ein schöner Mondenabend im Juli. Der Loisl saß vor seinem Steinhause, träumte zu den Bergen hinauf und lauschte dem geheimnisvollen Lied der Wasser. Da hörte er von der Samalm herauf einen so entsetzlichen Schrei, daß es ihm eiskalt durch alle Glieder rann. Er wußte aber im Augenblick, woran er war, und daß die Burgel in Not sein mußte. »Burgel,« schrie er auf und immer wieder: »Burgel!« und sprang, seinen Bergstock mit der scharfen Spitze in der Hand, zur Samalm hinab. Er fand die Burgel vor der Hütte sitzend. Sie weinte. Als er sie jedoch fragte, warum sie so geschrien, wußte sie weiter nichts als, es sei ihr so arg bange gewesen. So sei es ihr gewesen, als ob die Berge auf sie niederstürzen wollten. Sie wisse gar nicht, daß sie geschrien. Der Schrei müsse ihr ganz von selber herausgefahren sein, aber der Loisl sei ein guter Bub. Gleich sei er gekommen, und nun stünden auch die Berge wieder fest, aber sie wisse doch nicht, ob sie bleiben könne. Wenn sich das noch einmal wiederhole! Es sei zu schrecklich gewesen.

Der Bub tröstete die Zitternde und Weinende. Die Berge? Ja, die kämen freilich einmal, aber nicht so, wie sich das die Burgel gedacht, sondern nur in Geröll und Brocken, und das dauere, na, eine Million Jahre würde es wohl dauern, habe Pfarrer Hornberger gesagt, und um die Zeit täte weder ihm, dem Loisl, noch ihr, der Burgel, noch ein Zahn weh. Da lachte zwar die Burgel ein wenig, aber sie sagte, der Loisl möge heimgehn, sie sei so müde, als würde sie krank, und wolle sich darum lieber gleich niederlegen. Sie legte sich nicht nieder; denn sie erwartete den Bastian. Der kam denn auch, als der Loisl kaum ein paar Minuten fort war. Die Burgel klagte ihm ihre Not. Sie hatte sich zwar des Toni noch eben erwehren können, aber es war heiß hergegangen, und sie war ganz zerschlagen. Der Bastian wollte den Berg hinabspringen, den Toni einzuholen, aber die Burgel jagte ihn hinter dem Loisl her, ohne jedoch zu verraten, daß auch der Toni bergan gestiegen war. Der Toni hatte von ihr abgelassen, als er den Buben rufen und springen gehört, und es war gar nicht zweifelhaft, daß er dem nun droben auflauerte, um ihm heimzuzahlen. Dem Bastian flogen alle Glieder. »Ob er morgen noch lebt, weiß ich nicht,« knirschte er, indem er davonsprang, aber die Burgel war so innerlich zerbrochen, daß sie nicht antworten konnte.

Als der Loisl auf sein Steinhaus zuging, schrie ihn der Toni, der droben war, an, er werde ihm seine Luderei heimzahlen und das gleich. Noch nicht aus der Schule und schon so ein Saubub! Und um die Schafe kümmere er sich nicht. Der Toni war feige, und der Loisl breit und kaum noch einen Kopf kleiner als er. Also ein bißchen hart würde es wohl hergehn, aber Herr würde der Toni, und seine Wut mußte er auslassen. »Wo kommst du her?« brüllte er.

Dem Loisl aber war mit einem Schlage die Not der Burgel klar. So gescheit war er im letzten Winter unter den Buben doch geworden. »Wo du auch herkommst,« gab er zurück.

Es war wie bei den Helden des Altertums, von denen die Sagen zu erzählen wissen. Bevor sie aufeinander losschlugen, brüllten sie sich erst in Wut. Das heißt, in Wut geriet nur der Toni. Der Loisl nicht; denn der wußte von vornherein, daß er sich auf keine Prügelei einlassen konnte, wenigstens jetzt noch nicht. In ein paar Jahren vielleicht, jetzt nicht. Der Kräfteunterschied war zu groß und auch nicht durch Gewandtheit wettzumachen, obwohl sich der Loisl auf seine Wendigkeit verlassen konnte. Er geriet nicht in Wut, aber er schleuderte dem Toni so viel Hartholz an den dicken Schädel, daß der schließlich wie ein Stier auf den Buben los brauste. Damit hatte der Loisl gerechnet, aber nicht damit, daß der Bergstock, den er dem Toni zwischen die Beine schleudern wollte, fehlgehn könne. Er ging aber fehl, und im Handumdrehn lag der Bub auf der Erde, und der Toni drosch brüllend so lange auf ihn los, bis ihn der Bastian selber im Genick hatte, ihn hochzerrte und ihn zwang, ihm in das Gesicht zu sehn. Der Bastian gedachte die Sache in aller Ehrlichkeit und Offenheit, nicht etwa von hinten, abzumachen, und er wollte auch was davon haben; denn er hatte lange genug auf die Stunde gewartet.

Als jedoch der Toni dem Bastian in das harte Gesicht und die lodernden Augen sah, war es ihm, als breche das Jüngste Gericht über ihn herein. Er dachte gar nicht daran, sich ehrlich zu wehren, das Messer, wenn er es zur Hand gehabt, wäre ihm recht gewesen, aber er schrie in förmlicher Todesangst: »Eine Lüge ist's!«

»So,« sagte der Bastian und wies auf den Buben, der noch an der Erde lag, »das wohl auch?«

Der Loisl stand inzwischen wieder auf, aber dafür lag nachher der Toni so kreuzlendenlahm da, daß er meinte, er habe überhaupt keinen ganzen Knochen mehr im Leibe, und er dem Buben dankbar war, als der sich schließlich über ihn warf und ihn deckte; denn sonst hätte ihn der Bastian wahrscheinlich zuletzt doch tot oder mindestens zum Krüppel geschlagen.

Er wollte nicht wieder aufstehn, der Toni Oberlechner. Kein ganzes Glied habe er mehr, und der Bastian sei ein Tier und die Burgel eine Lügnerin und der Bub – –

»Stad,« sagte der Bastian. »Bub, du scherst dich ins Haus. Gleich! Auf der Stelle, sonst muß ich dich hineinbringen. Willst machen?«

»Schlag ihn nicht tot,« bettelte der Loisl.

»Geh! Ich will bloß noch ein Wörtel mit dem Herrn Oberlechner reden. Leicht auch, daß ich ihn gleich hinabtrage und mitten in dem Wirtsvater sein Glashaus setze, damit die Leute sehn, wie's bei uns zugehn kann, wenn's sein muß. Scher dich!«

Da ging der Loisl, und der Bastian ging mit bis an die Tür.

Als der Bastian zurückkehrte, stand der Toni bereits auf seinen zwei Füßen.

»Schau,« höhnte der Bastian, »bist also noch zu gut weggekommen. Wenn du dich noch einmal drunten auf der Samalm oder da heroben sehn läßt, hol ich nach, was heute noch fehlt.« –

Am anderen Tage fragte der alte Oberlechner den Sohn, was er denn habe, weil er so daher latsche. Das Reißen kriege er, grollte der Toni. So, sagte der Alte, davon sei wohl auch sein Maul so schief und geschwollen. Nun ja, manchmal kriege einer auch im Maul das Reißen, das wisse er wohl, aber – ein zweites Mal zahle er dem Haderlumpen seine Ludereien nicht, er habe schon bereut, soviel er Haare auf dem Kopfe habe, daß er es einmal getan. Ein zweites Mal, und er verstoße den Toni so gewiß, wie da drüben die Ache flösse.

Der Bastian blieb nicht lange bei dem Loisl. Er fragte ihn nur, ob er wisse, um was es sich gehandelt habe. Das könne er sich denken, sagte der Bub.

»Gut.« Der Bastian nickte. »Bist nunmehr auch alt genug dazu. Merk's dir, und wenn dir's ja einmal ebenso gehn sollte wie mir, das Gericht laß draußen. Das ist nichts für uns. Aber Fäuste mußt kriegen. So.« Der Bastian hielt ihm seine Fäuste unter die Nase. »Jetzt: B'hüt! Ich muß noch einmal nach der Burgel schaun. Dauert mich soviel. B'hüt!«

Der Bastian konnte nicht gar arg nach der Burgel schaun; denn sie machte das Fenster nur einen Spalt auf, ließ sich kurz berichten und erklärte, sie überlege sich, ob sie nicht dem Oberlechner auf Knall und Fall aufsage. Als der Bastian sagte, das sei nicht nötig; denn der Toni komme so gewiß nicht wieder, wie jetzt nicht Tag, sondern Nacht sei, rief ihm die Burgel ein B'hüt! durch den Fensterspalt zu, schloß das Fenster und kroch wieder in ihr Bett.

Das war des Loisl schlimmstes Sommererlebnis. Ein anderes war wohl auch schlimm, ging aber gut ab, weil der Bub sich zwang, seine fünf Sinne beieinanderzuhalten. Er hatte einen Zorn auf die Bischkopfwände, und weil er ihnen zürnte, wollte er ihnen zeigen, daß er stärker sei als sie. Er stieg also trotzig an einer der Wände empor, immer höher, immer höher, nicht aus freudigem Kraftbewußtsein, nicht um sieghaft hinaufzukommen, sondern aus Trotz. Ganz hinauf wollte er gar nicht. Er wollte nur so hoch, wie es ihm paßte, aber auf einmal gab es kein Passen und kein Trotzen mehr. Es war alle. Die Wand war, zumal ohne Seil und Patschen und allein, unersteigbar. Zwölf Jahre später holte übrigens der Loisl einen von derselben Wand, der sich gleich ihm verstiegen hatte. Der Loisl hatte sich verstiegen, stand auf einer schmalen Kanzel, hatte die mitleidlose Wand über sich und den ungeheuren Abgrund unter sich. Da packte ihn das Grauen, das geheimnisvoll in den dunklen Schluchten wohnt und um die Felswände geistert. Er zitterte, schloß die Augen, riß sie wieder auf, schrie um Hilfe und vernahm keine andere Antwort als die des höhnenden Echos. Da begann er zu weinen. Nichts sah er mehr als Tod und Grauen, nicht die Herde, nicht das Steinhaus drunten, das ihm, hätte er es beachtet, als Paradies erschienen wäre, nichts als Tod und Grauen. Es schien ihm unmöglich, hinauf, und es schien ihm noch unmöglicher, wieder hinab zu kommen. Entweder hockenbleiben, bis ihm die Kräfte versagten und er abstürzte, oder hinabzusteigen versuchen und dabei abstürzen. So oder so, es war der Tod. Da versuchte der Loisl ein Gebet, und es gelang nicht. Er versuchte, sein Mutterle zu rufen, und er spürte, daß sie nicht da war. An den Wirtsvater dachte er, die Wirtsmutter, die Zenzi, zuletzt an den Fabian. Der half ihm; denn auf einmal sah er dessen ruhiges, bärtiges Gesicht mit den klugen, tiefen Augen deutlich vor sich, und seine Stimme hörte er: Bald du den Kopf verlierst, bist verloren. Da sagte der Bub laut und klar und entschlossen in den Abgrund hinaus: Zuschaun muß man! Und er schaute zu, schaute ohne Grauen, nicht über sich, nicht unter sich, rechts und links schaute er. Und da, links, da war ein Halt, und wenn man stetig drei feste Punkte mit Händen und Füßen und den vierten im Herzen behielt, dann mußte es gehn. Aber drei feste Punkte mit Händen und Füßen und den vierten im Herzen. Zwei Stunden später war der Loisl wieder unten, aber er erzählte vorerst niemand von seiner Kletterei. Er wußte, daß ihn keiner loben, sondern eher schelten würde, weil es ja eigentlich sinn- und ziellos gestiegen war. Hätte er hinaufkommen wollen, wäre er zwar unterlegen gewesen, aber es hätte Sinn gehabt. Das jedoch hatte er nicht gewollt. Eines war trotzdem gewonnen: Er hatte dem Grauen unmittelbar in die starren, mitleidlosen Augen gesehn, war gewiß zunächst davor hilflos in die Knie gesunken, hatte dann aber den Blick mutig zurückgegeben, und da hatte sich das Grauen verkrochen. Von nun ab erschauerte er nicht mehr vor den Bischkopfwänden, aber er achtete sie. Für Schwächlinge waren sie nichts. Dem Starken beugten sie sich. Der Loisl war noch nicht stark genug, aber er würde es werden, weil er es werden wollte. So hatte denn der Bub, als er im Herbste von der Alm zurückkehrte, den Träumer in sich so gut wie ganz überwunden.

St. Thomas hatte kaum weniger Fremde als im vorigen Jahr, aber der Oberlechner kam nicht auf seine Rechnung. Die Gäste waren nicht so dumm, als er sie sich wünschte. Entweder mußte er sich also entschließen mehr und besseres Essen zu geben oder weniger zu fordern. Da er jedoch keines von beiden tat, war sein Haus nicht viel mehr als ein Durchgangslager, und so rettete er sich denn schließlich dahin, wohin sich die Unzufriedenen immer retten, die nicht zugeben wollen, daß sie selber an den Mängeln schuld sind, über die sie sich beklagen, er schimpfte. Und um sein Schimpfen gerechtfertigt erscheinen zu lassen, hing er ihm ein moralisches Mäntelchen um. Der Geist der Lauterkeit werde in St. Thomas verfälscht, sagte er. Weder Buben noch Dirnlein nähmen es noch ernst mit der Moral, die St. Thomaser würden raffgierig, und die Berge seien überhaupt zu schad für solchene, die wo in Lackschuhen daher liefen und so schamlos seien, in der Ache zu baden. Dazu stimmte es nur nicht, daß der Oberlechner die Badenden vom Bodenfenster aus mit dem Perspektiv beobachtete. Als ihm das der Sepp lachend unter die Nase rieb, sagte er, er wolle nur sehn, wie weit es die Fremden trieben, um seiner Anzeige Nachdruck geben zu können. So, sagte der Sepp, anzeigen wolle er? Aber er warte doch wohl, bis die Fremden wieder fort seien? Nun ja, erklärte der Oberlechner, da wolle er mit sich reden lassen, dem – Sepp zuliebe.

»Bin dir grad dankbar dafür,« sagte der Sepp, »grad dankbar. Hahaha.«

Unter den Fremden, die erst beim Oberlechner gewohnt hatten und dann zum Sepp gegangen waren, war einer, der sich kurz und schlicht Dr. Wenzel nannte. Er war in vielem dem Sepp ähnlich. Grade so groß, so sehnig, so freimütig in Blick und Art, auch ungefähr so alt. Neununddreißig war er. Der Sepp war achtunddreißig. Er hatte volles, kurzgehaltenes, dunkles, schon ein wenig grau meliertes Haar. Die beiden, der Sepp und der Doktor, unterhielten sich oft, während der Doktor den anderen gegenüber ein bißchen zugeknöpft war. Der Sepp hätte gern gewußt, was der Fremde eigentlich war, erfuhr aber nichts weiter, als daß er am Auswärtigen Amte sei, und viel im Ausland gelebt habe und lebe. Dr. Wenzel war einer, dem seine Mitarbeiter wie seine Vorgesetzten eine große Zukunft voraussagten, und er war denn auch acht Jahre später Minister, aber das erfuhr man in St. Thomas erst, kurz bevor er dessen Schicksal entschied.

Dr. Wenzel suchte, wie er einmal gelegentlich sagte, nichts weiter als »grandiose Einsamkeit«. Einsamkeit, weil er das zermürbende Vielerlei des Alltags, das so unbedeutend war, wie es sich wichtig gab, und das, lieb oder leid, doch erledigt werden mußte, satt hatte. Grandiose Einsamkeit, weil ihm die platte, faule zu wenig war. St. Thomas, sagte er, gefiele ihm wie kein zweiter Platz, und so sehr er sich für die armen Leute, die hier wohnten, freue, daß Fremde einträfen, so sehr würde er es bedauern, wenn St. Thomas etwa in Mode käme.

Der Sepp war der Meinung, daß es damit gute Weile habe. Nicht ein Drittel derer, die heute da seien, käme wieder. Dazu biete St. Thomas zu wenig und stelle zu große Anforderungen. Ja, einmal auf einen Husch herkommen, um dagewesen zu sein, solcher Leute gäbe es eine ganze Anzahl, aber, dafür sei der Sepp gut, in fünf, sechs Jahren wäre der Haufe zu einem Häuflein zusammengeschmolzen. Er ließe zwar abends ein bißchen Musik machen, weil ihm nichts anderes übrigbliebe, aber erstens werde er darin niemals ein Mehr eintreten lassen als heute, zweitens würde das, was er biete, den Fremden bald langweilig. Es sei ihm recht so, obwohl sein Geldbeutel dabei zu kurz komme. In den Bergen gehöre man früh ins Bett, früh wieder heraus. Spaziergänge, d. h. also Wege, die man in Stöckelschuhen gehen könne, biete St. Thomas so gut wie gar nicht, und die Berge sähen die weitaus meisten lieber von unten als von oben.

Da sie nun einmal bei den Bergen seien, meinte der Doktor, wüßte er gern einen zuverlässigen Mann, mit dem er gehn könne. Ob der Herr Huber einen kenne. Ja, sagte der, den Brandl Max, aber – hat denn der Herr selber wenigstens ein bißchen Bergerfahrung? Ganz ohne sei die Sache nicht unbedenklich, wenn auch der Brandl zuverlässig sei. Die Berge um St. Thomas seien zwar keine Viertausender oder gar Sechstausender, sie ließen sich der Reihe nach bezwingen, wenn man nicht grade unsinnige Wege wähle, aber – spaßen ließen sie halt auch nicht mit sich. Also zuerst das Törle, dann den Ruchen, den Zwerg, den Riesen, die Tritta, zuletzt den Bischkopf, aber den vom Hornbachtale, ja nicht von der Dreiecksalm aus.

»Sie sind auf allen gewesen, Herr Huber?«

»Auf allen, aber ich bin noch keinmal von der Dreiecksalm auf den Bischkopf gestiegen. Es ist ein einziger in St. Thomas, der es vielleicht fertigbrächte, das ist der Hieronymus Fabian, der Steine sucht, aber er führt nicht, und Sie können sich jedes Wort an ihn ersparen. Er führt nicht, und vom Brandl wäre es ein Unrecht, wenn er sich etwa bereden ließe und es auf den Bischkopf von der Dreiecksalm aus wagen wollte.«

»So. Könnten Sie denn nicht wenigstens selber mit mir auf einen der Berge gehn?«

»Leicht nicht. Bin hier nötig, aber auf das Törle, wenn Sie zeitig genug aufstehn – –«

»Wann?«

»Um drei.«

»Gut. Morgen früh um drei. Braucht's Steigeisen?«

»Ist nicht nötig.«

»Alles andere habe ich.«

»Das Törle möchte ich Ihnen schon zeigen. Von dort aus – stirbt St. Thomas.«

»Was?«

»Ja. Von da aus. Nicht heute und morgen. Vielleicht in zwanzig oder dreißig Jahren, vielleicht auch mehr.« –

Als die beiden am andern Morgen ihren Weg antraten, sagte der Sepp: »Zeit laß,« und Dr. Wenzel antwortete, als wäre ihm, was halb Gruß, halb Mahnung ist, längst vertraut: »Zeit laß!«

Er stieg besser, als der Sepp angenommen. Durch das Buckelkar hoch an der Kugler-Nase vorbei zur Scharte am Fuße des Törle-Kegels. Da stand der Sepp und erläuterte. Da oben vom Dache des Törle her kämen die Lawinen. Links drüben wiche das Gestein, rechts stünde die Kugler-Nase fest. Je mehr aber das Gestein links wiche, um so mehr wende sich die Lawine nach Westen. Das Buckelkar sei lang und breit genug, um die Lawine massenmäßig und damit auch in ihrer Stoßkraft zu verdoppeln, und so sei der Schachen verschüttet worden, käme das Schlegeli dran und dann – St. Thomas. Nicht, daß das grade gleich verschüttet werden würde, aber erstens würde die Nutzflur von St. Thomas immer kleiner, zweitens sei die Lawine an sich schon gefährlich, erst recht aber der Luftdruck, der auch die festesten Häuser zusammenschmeiße, als hätte man sie aus Kartenblättern aufgebaut. Dr. Wenzel war ernst, sprach von unaufhaltsamen Naturgewalten, und zum ersten Male fiel aus seinem Munde das Wort, das hernach zwar nicht die Alten, wohl aber die Jungen zu denselben »braven Männern« werden ließ, als es ihre Väter im Notwinter gewesen waren, das Wort: »Umsiedeln.«

Als das der Sepp hörte, war es ihm, als risse einer einen schweren Vorhang vor der Zukunft herab, und als fiele dieser Vorhang mit Donnergepolter vor seinen Füßen nieder. Er hat, solange es nur ging, das Wort nie gegenüber einem aus seiner Gemeinde gebraucht, auch nicht dem Moosbacher, dem Zweigler, dem Brunner gegenüber, so sehr er die Männer achtete, aber es war von dem Tage ab der steinerne Gast, der mit ihm am Tische saß, der Alp, der ihm in den Nächten die Brust einengte, die Galle in jedem Löffel Suppe, der Dämon, der neben ihm herschritt, wenn er auf der Gemsjagd war und sein Herz ganz weit offen stand. Umsiedeln!

»Umsiedeln!« wiederholte der Sepp das Unheilswort und ließ sich mit wankenden Knien auf einem Stein nieder. »Wüßten Sie einen anderen Ausweg?« fragte der Doktor. »Nein,« sagte der Sepp. »Gibt leicht keinen andern. Aber schauen Sie da hinab. Liegt die Gemeind nicht da, als hält' sie der Herrgott selber hingestellt? So schön, so still, so stark. Haben ihre Fehler, die Leute von St. Thomas, wie sie alle Menschen haben, sind aber dennoch alle stark und gut, verlangen viel von sich und wenig oder nichts von anderen. Hab sie immer gern gehabt, hab sie aber im Notwinter vor zwei Jahren doch erst richtig kennengelernt. Was ihnen jetzt etwa angeflogen ist, Herr, das hat keinen Bestand, sondern fliegt auch wieder davon. Dafür sorgen die Berge schon. Umsiedeln! Es ist unsere Heimat, und mag man leicht drunten vergessen haben, was Heimat ist, wir da heroben wissen es noch. Das sind nicht die Berge nur, wie sie dastehn, sondern da wohnt uns der Herrgott, und das sind nicht die Wasser und die Steine und die Blumen in dem, was sie sind, sondern in dem, was sie uns sind. Es gibt keinen Weg, den nicht einer in Not gegangen wäre, und es gibt wenig Flecke da heroben, an denen nicht einer in Angst oder in großem Freuen gestanden hätte. Wir sind, was da ist. Herr, wie soll einer von uns leben können, wenn das Törle nicht mehr mit ihm redet? Ich hab einen Buben, ist nicht mein eigener, ist aber wie mein eigener, dem hab ich's hart gemacht, damit er hart werde. Weiß nicht, was einmal aus ihm werden wird, ist auch einerlei, aber mir ist, als stecke was in dem, hab's so im Gefühl, ohne daß ich sagen kann warum. Das will ich herausholen für St. Thomas. Wenn einer hier wissend gehn soll, soll er's sein. Wenn einer alles geben und tun und leiden soll für seine Heimat, soll er's. Was wir bloß halb fertig bringen, soll er ganz fertigkriegen, eine Gemeind schaffen, für die höchste Not, wenn – sie einmal kommt. Und: Umsiedeln? Dahinten lassen, versteinen lassen, vom Wasser fressen lassen, bloß weil das Untier, das da herkommt, nicht zu bändigen ist? Umsiedeln?« Der Sepp ließ den Kopf sinken. »Umsiedeln,« sagte er dumpf. »Wird – leicht sein müssen, aber ehbevor möcht ich mich am liebsten da droben – schlafen legen.« Er schnellte auf. »Packen wir's halt wieder an. – Zeit laß!« Damit ging er über den kleinen Plan und hielt an dessen linkem Schmalrand an. Seine Stimme war wieder wie sonst. »Schaun's daher, Herr Doktor. Das ist die steinerne Leiter. Auf der steigen wir sonst herauf, hab aber heute gedacht, ist leicht ein bißchen viel für den Anfang.« Der Doktor schaute hinab »Sakra,« sagte er, »das ist kein ganz leichtes Stück da herauf.«

Eine Rinne, eigentlich nur ein Riß, führte dachsteil hinab. Sie war nicht breiter, als daß grade ein Mann in ihr Fuß fassen und stehn konnte. Die Ränder waren fast senkrecht.

»Ich bin noch in keinem Krieg gewesen,« sagte der Sepp, »aber ich denk mir, da reichte ein Mann hin, um ein ganzes Regiment aufzuhalten. Ein Stein da hinab, und er kämmt die Aufsteigenden Mann für Mann weg. – So. Und jetzt lupf'n wir wieder an. Scheint mir nicht nötig, daß wir anseilen. Hab schon gesehn, daß Sie was können, Herr Doktor. Steigen Sie voraus. Ich komm nach. Stad. Ein bissel mehr links. So. Und jetzt rechts. Ist gar nicht schwer.«

Als sie droben waren, meinte der Sepp, der Herr Doktor habe sich brav gehalten. Der lachte. »Freut mich, wenn Sie das sagen, Herr Huber.«

»Lassen Sie den Herrn weg.«

»Na, na. Ich kann Sie doch nicht mit dem Maß messen, mit dem ich Hinz oder Kunz in St. Thomas messe.«

»Hinz oder Kunz haben wir nicht, aber das Maß ist für uns alle gleich. – Schaun's da hinüber und nehmen Sie Ihr Glas. Das sind die Bischkopfwände. Die Alm drunter ist die Dreiecksalm, und da ist der Bub, von dem ich vorhin redete.«

Dr. Wenzel sah lange und aufmerksam hinüber. »Es sind Wände,« sagte er dabei, »wie ich sie selten gesehn habe. Höher sah ich sie oft, aber nicht so brettkahl und steil. Das ist ein Stück Arbeit, das reizen könnte. Heuer versuch ich's nicht, und vor drei oder fünf Jahren kann ich nicht wiederkommen. Dann allerdings verrede ich nichts.« Er nahm das Glas herab. »Huber, ich bin kein Neuling in den Bergen. Hab sowohl in Europa wie im Ausland manches Stück hinter mich gebracht, gegen das das heutige ein Kinderspiel war.« Er setzte sich behaglicher, der Sepp packte den Rucksack aus. Sie aßen. Während des Essens plauderte der Doktor weiter. »Wissen Sie, warum ich in die Berge gehe? Weil – ich zu viel Menschen kenne und mit zu vielen zu tun habe. Was ich treibe, nennt man Diplomatie. Sie ist ein interessantes Gewerbe, aber nicht immer ein schönes. Es bleibt leicht etwas hängen, das man – nicht mag. Ich habe aus manchem, das ich so nebenbei hörte, geschlossen, daß selbst im Notwinter, wo doch wirklich einer auf den andern angewiesen war, bei Ihnen hier etliches zu wünschen übrigblieb. Jetzt vergleichen Sie das, was Sie erlebten, mit einem Hügel, etwa mit dem da drunten. Dann entspricht das, womit wir uns herumschlagen müssen, den Bergen rundum. Es ist im Grunde dasselbe, hier wie dort, aber dimensional bleibt es bei meinem Vergleich. Wer auf die Berge will, muß durch Schluchten, über Grate und Wände hinauf, aber die stehn, wie sie stehn, verändern sich nicht wesentlich, er weiß, womit er zu rechnen hat, richtet sich danach, und stürzt er ab, dann ist einer verloren. Wir ahnen wohl auch Schluchten, Grate, Wände, ja, wissen, daß sie da sind, aber wir kennen sie nicht. Sie tun sich mit einem Male auf, oft da, wo wir sie am wenigsten erwarteten, verändern sich manchmal von Stunde zu Stunde, und wenn unsereiner abstürzt, dann kann er Millionen mit reißen. Hier komme ich mit Ruhe, Wagemut und Erfahrung aus. Dort nicht. Da muß noch etwas ganz anderes heran, etwas, das man nicht immer gern angreift. Wenn ich hier siege, dann habe ich gesiegt. Dort muß ich mir im besten Falle sagen: Na, bis zum nächsten Mal. Hier geht's ehrlich zu. Dort – nicht immer. Sehn Sie, darum muß ich in die Berge. Heute geh ich noch mit einem. Ich sehe aber den Tag kommen, an dem ich allein gehe. Und das ist dann das ganz Wahre und Große. – Ihre Heimat ist schön, ist herrlich, und vielleicht irren Sie sich bezüglich der Lawine. Wenn nicht, Huber, es gibt Schlimmeres als ein Dorf umsiedeln.«

»Für uns nicht, Herr Doktor. Da ist ein Wort soviel wie tausend.«

»Warten wir es ab. – Also da drüben ist Ihr Bub. Ich würde ihn mir gern einmal ansehn. Junge Menschen interessieren mich immer.«

Da sandte der Sepp dem Doktor einen dankbaren, warmen Blick zu. »Das wär mir grad ein großer Gefallen, ein ganz großer.«

Schon am andern Morgen war der Doktor bei dem Loisl auf der Dreiecksalm. Er fand einen Buben, wie er ihn zu finden gehofft hatte, hager, zähe, braun wie eine Haselnuß, zunächst wortkarg, aber mit freiem, selbstbewußtem Blick und klugem Gesicht. Der Loisl war anfangs mißtrauisch. Als sich aber der Doktor durch einen Gruß vom Wirtsvater einführte, hatte er bei dem Buben gewonnen.

»Was möcht'st halt da heroben?« fragte der Loisl.

»Schauen möcht ich.«

»Gibt nicht viel zu schauen. Da,« er wies auf die Bischkopfwände, »ist's gleich alle. Aber wenn du etwa den Kartoffelbrunnen sehn willst und die Murmeltiere und wo der Berg abgestürzt ist, das kann ich dir zeigen.«

»Gehn wir halt.«

Sie schweiften den ganzen Tag umher, und der Loisl hing an des Doktors Lippen. Was der alles kannte, und was der alles gesehn haben mußte! Dabei spürte der Bub nicht, wie ihn der Doktor aushorchte. Immer von sich ausgehend, brachte er den Loisl zum Reden. Wie es ihm gewesen sei, als der Berg einstürzte und die Schafe wie irrsinnig gerannt kamen, wie es sei, wenn die Gewitter tobten und die Wolken über die Alm zögen, wie der Fabian droben in den Bischkopfwänden gehangen habe. Von der Mutter erzählte der Loisl, von den Wirtseltern, der Burgel, dem Bastian und dem Toni.

»Das kannst leicht glauben,« sagte er, »wenn ich den Toni getroffen hätt', wie ich wollte, wär er hingehaun auf einen Schlag. Wenn ich's auch nicht sag, ich weiß doch, daß der Bastian die Burgel soviel gern hat. Ich hab sie auch gern, das muß wahr sein, aber ich bin bloß noch ein Bub.«

Und mit einem Male, der Loisl wußte nicht, wie es zugegangen, sprachen sie von dem, was der Bub einmal werden solle, und der Doktor fragte, ob er denn schon etwas wisse.

O ja, der Loisl wisse schon etwas. Er wolle entweder Steinsucher werden oder die Leute auf die Berge führen, vielleicht beides miteinander vereinen, aber – beides hätte noch Zeit, viel Zeit, und – was solle er bis dahin machen? Das – wisse er nicht, und damit käme er auch nicht zurecht.

»Zweierlei gibt's,« sagte der Doktor. »Kannst Bub auf einer Alm werden, später Senn. Wär das was für dich?«

»Nicht ganz. Dazu braucht's nicht viel, und ich –«

»Du möchtest ein bissel mehr einheimsen. Dann das andere. Lernen.«

»Lernen? Hab eh schon genug gelernt. War letzten ganzen Winter bei dem Pfarrer –«

»Hat's dir gefallen?«

»Schon, hab auch die Bücher gern, aber –«

»Halt nicht nur Bücher. Möchtest von St. Thomas fortgehn?«

»Ich geh nicht fort.«

»Auch nicht einmal für eine Weile?«

»Auch nicht für eine Weile. Keinen Tag, keine Stunde.«

»Ja, was machen wir dann? Schau, ich will dir etwas erzählen. Die Leute von St. Thomas sind arm.«

»Der Wirtsvater nicht und der Oberlechner, der Brunner, der Zweigler, der Moosbacher, der – –«

»Gut, Bub. Die sind vielleicht nicht ganz arm. Aber wieviele sind denn das? Brauchst du wirklich alle zehn Finger, um sie herzuzählen? Ich glaub's nicht. Und die andern? Das sind vielleicht dreißig oder zwanzig Männer und ebenso viele Buben. Die?«

»Hab noch nicht drüber nachgedacht, wüßt aber nicht, daß denen etwas fehlte.«

»So. Und der Notwinter?«

»Da war der Wirtsvater da.«

»Das ging einmal, sagte der Wirtsvater selber. Und er sagt weiter: Es sind noch nicht viele Winter gewesen, in denen die Leute nicht beim Wirtsvater hätten Schulden machen müssen, die sie im Sommer abzahlten, um im Winter neue zu machen. Ist das etwa ein Leben? Und ist es nicht schade, wenn die Leute sechs Monate im Jahr nichts zu tun haben, wenigstens so gut wie nichts? Müßt das nicht anders werden?«

»Wohl, aber wie?«

»Das ist es ja eben, worauf ich hinaus will. Und, Bub, wär denn das nichts, wenn es durch dich anders würde? Hast einen so guten Wirtsvater. Möchtest du dem nicht etwas zuliebe tun?«

»Alles.«

»Dann paß auf.« Der Doktor erzählte von den Holzschnitzern und ihren Dörfern, die er kannte, und wußte ihre Kunst so schön, so verlockend, glücklich machend und nährend darzustellen, daß des Loisl Herz in raschen Schlägen ging. Und alles brach zusammen, als es hieß, von St. Thomas fortgehn. Das nicht.

Dr. Wenzel war bitter ernst. »Bub, ich weiß ja noch gar nicht, ob du Begabung für die Holzschnitzerei hast. Hast du sie aber, dann darf es am Fortgehn nicht scheitern, zumal es nur für ein paar Jahre sein würde. Du sollst ja wiederkommen. Wer nur für sich da sein will, ist nicht wert, daß er überhaupt da ist. Schau mich an. Ich hab noch eine alte, liebe Mutter, hab einen Bruder und zwei Schwestern, und hab ein schönes Gut mit viel Pferden und Kühen und Bäumen. Könnt ich nicht daheim bleiben? Doch wohl. Aber was nützte ich den Menschen, täte ich eine Arbeit, die ein anderer ebenso gut machen kann, und versäumte dafür eine, die mich braucht, ausgerechnet mich. Drei Jahre war ich jetzt fort, weit fort über dem Meere drüben. Meinst du, ich hätte keine Sehnsucht nach daheim gehabt? Ich hab ausgehalten, weil es hat sein müssen. Jetzt bin ich für ein paar Monate daheim. Wenn die Sonne wieder höher kommt, muß ich wieder hinaus. Vielleicht für drei, vielleicht auch für fünf Jahre. Es muß sein, so schwer es mir wird. Und was wird derweile daheim? Vielleicht – sehe ich meine Mutter nicht wieder. Bub, dein Wirtsvater erwartet etwas von dir. Viel erwartet er, und er würde es nicht um dich verdienen, wenn du ihn enttäuschtest. Ich weiß keinen anderen Weg für St. Thomas, als daß man es zu dem macht, was ich sagte und was andere Dörfer auch sind. Ihr habt eure Heimat lieb, und sie ist es wahrhaftig wert. Jetzt müßt ihr dafür sorgen, daß ihr auch in ihr leben könnt. Beiß die Zähne zusammen, Bub. Wenn dir der Herrgott das nötige Geschick in die Wiege gelegt hat, – das weiß man noch nicht und muß man sehn, – dann hast du die Pflicht, darauf aufzubauen für dich und für St. Thomas. Alles andere, des Wirtsvaters Art – du möchtest doch werden wie der –, das Steinesuchen, das Führen auf die Berge, das geht nebenher, und keines braucht zu kurz zu kommen. Schau die Wände an,« Dr. Wenzel wies auf die Bischkopfwände, »sehen sie nicht aus, als wäre es ganz unmöglich, sie zu ersteigen? Ich sage dir: Wenn ich wiederkomme, gehe ich da hinauf, da grad hinauf, nicht über den Kamm drüben. Wenn man will, gibt es so leicht kein Unmöglich.«

»Ich – war droben.« sagte der Loisl leise.

Der Doktor riß die Augen auf. »Du warst droben?«

»Nicht ganz.«

»Bis wohin?«

»Bis dahin.« Der Loisl wies mit dem Finger auf die anscheinend schwierigste Stelle.

»Allein und ohne Seil?«

»Ja.«

»Wer hat dich geheißen, hinaufzusteigen?«

»Niemand.«

»Warum bist du dann gestiegen?«

»Weil ich wollte.«

»Und warum wolltest du?«

»Weil mich halt die Wände geärgert haben.«

Da leuchteten des Doktors Augen. »Gib mir die Hand, Bub. Sollst dich so an deiner schönen, ach, so schönen Heimat ärgern, daß du ihr helfen mußt. Jetzt: B'hüt! Wenn du einmal etwas brauchst, dann schreib mir. Hier, das steck ein. Dann weißt du, wer ich bin, und wenn du schreibst, wie es drauf steht, dann kommt's in meine Hände, einerlei auf welchem Umweg.« Der Doktor reichte dem Loisl eine Karte und ging nach St. Thomas hinab.

Dem Wirt gab er sie nicht. Der las sie erst, als der Winter eingezogen und der Loisl längst wieder daheim war. Es stand darauf: Dr Herbert von Wenzel, Botschaftsrat.

Der Doktor und der Huber Sepp haben noch viel miteinander über St. Thomas und den Loisl gesprochen. Nicht, daß der Sepp grade begeistert gewesen wäre von des Doktors Plänen, aber er mußte zugeben, daß etwas Gutes dabei herauskommen könne, wenn der Loisl die nötige Begabung habe.

»Begabung,« sagte der Doktor, »macht den Künstler, Fleiß den Handwerker. Ob in dem Buben ein Künstler steckt, weiß Gott allein. Aber nehmen wir ruhig an, es stecke keiner in ihm, dann langt es, wenn er will, unter allen Umständen zum achtbaren Handwerker. Das wäre schon genug, und ich müßte mich ganz und gar irren, wenn er in St. Thomas damit allein stehn bliebe. Das gibt es nicht. Vielleicht, daß nachher unter den andern der oder jener zum Künstler wird, aber anfangen muß man. Und wiederum: Wenn man etwas anfangen will, dann mit der Jugend.« –

Der Doktor hatte mit dem Brandl Max zusammen die Berge der Reihe nach bestiegen, auch den Bischkopf, aber vom Hornbachtale aus. Dann war er abgereist. Als der Sepp später durch den Loisl erfahren, wer und was der Doktor sei, sagte er zu seiner Frau, es habe ihm wohl geschwant, daß er etwas Besonderes sei, aber so hoch habe er doch nicht gegriffen. Wiederum sei es kein Wunder, daß er es schon in jungen Jahren so weit gebracht, und es wahrscheinlich noch weiter bringen werde. Er sei aus dem richtigen Holze geschnitzt, sei klug für zwei, habe Herz für zwei, sei schlicht, mache gar nichts aus sich, sei aber an jedem Platze und in allen Dingen mehr, als er scheine. Er habe gesagt, wenn er wiederkomme, steige er von der Dreiecksalm aus auf den Bischkopf. »Und,« schloß der Sepp, »der tut's!«

Am selben Tage neckte der Sepp sein Mädel. Sie stehe nun im achten Jahre, sagte er, und müsse doch langsam ans Heiraten denken. Ob sie sich denn schon überlegt habe, wen sie etwa heiraten wolle. Die Zenzi sah von ihrem Spiel auf. »Ich weiß noch nicht genau, wen ich heirate, dich oder den Loisl.«

»Mich?« neckte der Vater weiter, »was würde denn dann die Mutter sagen? Ich hab doch schon die Mutter geheiratet.«

»Dann halt den Loisl,« entschied die Zenzi kurz.

Sepp Huber und seine Frau sahen sich an und lachten, aber – das Lachen war beiderseits ein wenig nachdenklich.

»Ist kein Fehler, wenn der Bub für eine Weile fortkommt,« sagte der Sepp.

»Freilich nicht,« bestätigte sein Weib, »aber, – Sepp, zwingst sie einmal nicht. Gehst nicht nach Geld.«

»Ich nach Geld? Ich wär der Richtige dazu. Und, Anna, ich dächt, du wärst auch noch da. – Stad, nicht wieder dumm Zeug daherreden. Schau, wie schön der Winter ist. Wenn bloß die sakermenschten Buben nicht so viel karten wollten! Hab ich dir schon erzählt, daß der Oberlechner auch ein Wirtshaus aufmachen möcht? Nicht? Den Antrag hat er gestellt, aber er ist ihm abgelehnt worden. Der Toni hält sich gut. Das muß man sagen. Gefallen tut er mir so wenig wie früher, aber nachsagen kann man ihm jetzt nichts. Was ich noch sagen wollte, hätt's wahrhaftig bald vergessen, die Burgel ist bei mir gewesen. Ob wir sie mögen.«

»Die Burgel? Lieber heut als morgen.«

»Will ich's ihr halt sagen. Wird den Oberlechner arg freuen, wenn sie jetzt zu uns kommt.«

Zu Weihnachten kam von Dr. Wenzel ein Paket an den Alois Schirmer und ein Brief für den Sepp. In dem Paket waren allerlei Holzschnitzereien, ein Heilandskopf in ein Stück eines Birkenstämmchens geschnitten, ein Kruzifixus, eine Madonna, daneben allerlei neckische Figuren. Der Loisl war nachdenklich, die Wirtsmutter andächtig, die Zenzi aber jubelte hell auf. Das müsse einer können! Soviel schön sei es, so gar arg viel schön! Da sah sie der Loisl an. »Das könnt man schon. Halt lernen müßte man es.«

In dem Briefe an den Sepp stand, daß der Antonius Mayer in Ripp, ein bekannter Meister, den der Doktor seit vielen Jahren gut kenne, bereit sei, den Loisl Ostern in die Lehre zu nehmen. An ihm werde es nicht fehlen. Wenn dann der Bub recht sei und recht wolle, dann werde die Zeit nicht verloren sein. Ripp, schrieb der Doktor weiter, erinnere in vielem an St. Thomas, so daß also zu hoffen sei, der Loisl werde dem Heimweh nicht erliegen.

+++

In St. Thomas war es, wie es letzten Winter auch gewesen war. Ein bißchen sparsamer vielleicht, und das war des Sepps Zureden zu danken. Das Schuldenmachen war trotzdem noch groß genug, und so beschloß denn der Sepp, wenn es nicht im Guten ging, einen Riegel vorzuschieben. Der Laden paßte längst nicht mehr zu seinem Betrieb. Er trat ihn also an den Schreck ab, aber der mußte sich schriftlich verpflichten, einen großen Zettel auszuhängen, daß er nur verkaufe, was bar bezahlt werde. Der Schreck tat das, und im nächsten Winter liefen die Leute nach Rauth und machten da Schulden. Im übernächsten war es schon besser; denn der Weg nach Rauth war eine böse Zugabe zum Schuldenmachen. Im dritten Winter war es ausgestanden. Vor dem Bier und dem Tarock standen Brot und Schmalz.

Im Frühjahr war der Zweigler zum Bürgermeister gewählt worden. Sie waren zwar alle auf den Moosbacher aus gewesen, aber der hatte ablehnen müssen. Er war selber krank und hatte eine kranke Tochter. Sie starb denn auch im Sommer mit siebzehn Jahren. Der Zweigler war ein bedächtiger, redlicher Mann, nicht weitblickend, nicht unternehmend, in keiner Weise führend, aber zuverlässig und hilfsbereit.

Am dritten März ging die zweite Törle-Lawine nieder. Sie richtete zwar im Tale nicht viel Schaden an, ein Heustadel ward eingerissen, aber um so mehr droben am Berge. Da riß sie eine förmliche Furche nach dem Buckelkar zu, streifte sogar weiter unten den Wald. Als das der Brunner nach dem Schnee sah, sagte er zum Sepp: »Sepp, Sepp, sieht bös aus. Hätt's wahrlich nicht gedacht, daß es einmal so weit kommen würde.«

Der Sepp beruhigte ihn gegen seine Überzeugung. »Wo ist's denn bös? Ist ja kaum ein Fußbreit weitergerückt und leicht, daß in zehn Jahren kein solcher Mordstrum wiederkommt.«

Ostern gab es im Wirtshaus in St. Thomas viel Wasser. Der Loisl zwar hielt sich so tapfer, als er nur irgend vermochte. Er weinte seine Tränen erst in Ripp richtig. Die Zenzi aber schluchzte zum Gotterbarmen, und auch der Wirtsmutter rannen die Tränen über die Wangen. Sie legte dem Buben beide Hände auf den Scheitel. »Werd recht, Loisl. Bist nicht allein. Dein Mutterle ist bei dir, und ich werd auch für dich beten. Daran denk, wenn es einmal schwer ist.«

Der Sepp knallte mit der Peitsche, die Pferde zogen an, es ging nach Ripp, und um den Mittag waren sie dort.


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