Joseph Schreyvogel
Samuel Brinks letzte Liebesgeschichte
Joseph Schreyvogel

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16.

Das Dach meines Landhauses blinkte mir im Strahl der Abendsonne entgegen. Ein armer Hirtenknabe blies, so gut er konnte, den Kuhreihen, indem ich vorbeifuhr, und wiederholte sein Kunststück zum Dank für die Scheidemünze, welche Paul ihm zuwarf. Aus der Ferne klang die Weise ziemlich angenehm und stimmte harmonisch zu den Gefühlen der Sehnsucht, die meine Brust bewegten. Als wir zu der Wasserfurt nahe an meinem Hause kamen, sahen wir Bauersleute aufwärts am Bache stehen, noch mehrere am Steg oberhalb der Mühle. Der Steg, wie wir bemerken konnten, war zur Hälfte eingebrochen. Ich erinnerte mich augenblicklich an den gefährlichen Gang, den ich vor ein paar Tagen darüber gemacht hatte. Vor meinem Hause, in dessen Tor wir eben fahren wollten, standen auch Landleute, meist Weiber und Kinder. Eine meiner Mägde kam weinend zu ihnen heraus.

»Da ist ein Unglück geschehen!« rief Paul; und ich, von einer plötzlichen Ahnung ergriffen, sprang aus dem Wagen, eh' er noch still hielt. »Was ist's? Was ist's?« rief ich, mich durch die Leute drängend. – »Ach!« hörte ich jemand sagen, »Mamsell Gretchen ist mit dem Steg in den Bach gestürzt.« – »Und ist doch gerettet?« stammelte ich; – meine Knie brachen mir, ich war auf dem Punkt niederzusinken. – »Herr Max«, sagte die Magd weinend, »hat sie mit Gefahr seines Lebens herausgezogen, eh' der Schwall des Wassers sie in die Mühlräder riß. Wir haben sie hinauf in ihr Bett gebracht, aber sie gibt kein Lebenszeichen seit einer Viertelstunde schon.«

Paul und ein junger Bauer führten oder trugen mich vielmehr über die Treppe nach Gretchens Zimmer, wohin ich verlangte. Sie lag ausgestreckt auf ihrem Bette, in warme Tücher eingeschlagen, farblos und ohne sichtbares Lebenszeichen. Max stand am Haupte des Bettes, ihre Gesichtszüge mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtend und ihre Schläfe sanft streichelnd, während zwei Mägde damit beschäftigt waren, ihr die Füße zu reiben. – »Sie ist nicht tot«, sagte Max, da er mich, auf Paul gestützt, leichenblaß vor sich stehen sah. »Sie kann nicht tot sein«, setzte er leiser hinzu; »ihre Hände und Schläfen sind warm und ich glaube von Zeit zu Zeit eine leise Regung ihres Pulses zu fühlen.«

In diesem Augenblicke trat der Arzt aus dem nächsten Marktflecken in das Zimmer. Er bestätigte nach der ersten Untersuchung Maxens Vermutung und ordnete einiges zur weiteren Behandlung der Scheintoten an. Ich hatte mich auf einen Stuhl niederlassen müssen und erwartete mit unbeschreiblicher Bangigkeit den Ausgang der Sache. Plötzlich hörte ich Max aufschreien: »Sie lebt! Sie schlägt die Augen auf.« – Ich stürzte auf ihn zu und drückte ihn sprachlos in meine Arme.

Der Arzt bedeutete uns, still zu sein, weil die Kranke noch nicht ganz zur Besinnung gekommen wäre. Wir zogen uns behutsam zurück, indem wir unsere Freude so viel als möglich unterdrückten. Gretchen lag eine Weile mit offenen, gerade aufwärts sehenden Augen; ihre Wangen fingen an sich zu färben; endlich wandte sie Gesicht und Blicke nach unserer Seite. – »Max!« rief sie, ihm ihre Hand freundlich entgegenstreckend. Der junge Mensch eilte auf sie zu und küßte die ihm dargebotene Hand mit großer Innigkeit. Auch ich war nähergetreten; sie wurde mich gewahr und reichte mir die andere Hand hin. »Er hat mir das Leben gerettet«, sagte sie, mit dem Kopfe gegen Max nickend; »es war ein grauser Tod, der mir drohte, lieber Herr Brink!« – »Sie leben«, sagte ich, ihre Hand an meine Lippen drückend, »Sie sind uns wiedergegeben, teures Gretchen! Er hat Anspruch auf alles, was ich besitze; nie kann ich ihm lohnen, was er heute tat.« – Gretchen wurde wieder blässer; ihr Atem schien noch nicht frei. Der Arzt verlangte, daß wir uns entfernten; eine Stunde Ruhe sei für Gretchen nun das Nötigste. Ich nahm Maxen mit mir und ließ den Arzt mit den Mägden bei der Kranken zurück.

Von Max erfuhr ich jetzt, wie der Unfall begegnet und durch welches Wunder er selbst imstande gewesen sei, das holde Geschöpf zu retten. Die Mäher waren seit Tagesanbruch auf der großen Wiese beschäftigt, welche jenseits des Baches, ein paar hundert Schritte über der Mühle liegt. Max hatte den Arbeitern verboten, über den Steg zu gehen, von dessen gebrechlichem Stande er neuerdings überzeugt worden, und hatte dem Müller, wie vorher schon oft, noch heute früh dringend angelegen, den gefährlichen Bau sogleich abtragen zu lassen. Nachmittag war Gretchen über die obere Brücke auf die Wiese gekommen und dort geblieben. Später hatte indessen Max, von einer unerklärbaren Unruhe getrieben, die Wiese verlassen und war noch einmal in die Mühle gegangen, wo er den fahrlässigen Mann endlich vermochte, ihm zu folgen, um den Schaden selbst in Augenschein zu nehmen. Als sie aus der Mühle traten, erblickte Max zu seinem Schrecken Gretchen auf dem schwankenden Steg und einen Moment nachher sah er sie mit den morschen Brettern in die Tiefe stürzen. Einige Augenblicke war Gretchen, welche Maxen noch im Fallen bemerkt zu haben schien und der er, nur den Rock von sich werfend, schnell nachsprang, über dem Wasser sichtbar: aber bald riß der Strudel sie hinab, so daß sie Max, der sich selbst nur mit großer Anstrengung über dem Strom erhielt, ein paar Minuten gar nicht sah und schon verloren glaubte. Endlich tauchte unfern von ihm eine Hand empor; mit Mühe erreichte er sie, und seine letzten Kräfte aufbietend, gelang es ihm, sie schwimmend ans Ufer zu ziehen. Hier halfen ihm die Knechte des Müllers, dessen Geschrei sein ganzes Haus um ihn versammelt hatte, Gretchen auf einen nahen Rasenplatz bringen, bis sie später, noch ganz leblos, von Max und den herbeieilenden Mägden auf ihr Zimmer getragen wurde.

Ich fiel dem wackeren Jungen noch einmal um den Hals und überhäufte ihn mit Lobsprüchen und Liebkosungen. Aber meine eigenen Kräfte waren durch die furchtbare Gemütsbewegung erschöpft; ich mußte mich auf mein Ruhebett legen, um mich zu erholen. Nach einer Stunde ungefähr sagte man mir, daß Gretchen nach mir und Max verlangt habe. Ich traf den letzeren schon an ihrer Seite, ihre Hand in der seinigen haltend. Gretchen rief mir zu, als sie mich eintreten sah, und nötigte mich freundlich, auf ihrer anderen Seite Platz zu nehmen. Die ganze Heiterkeit und Energie ihrer himmlischen Seele waren zurückgekehrt, aber ihre körperlichen Kräfte schienen noch etwas schwach und niedergedrückt, was besonders an dem öfteren Wechsel ihrer zarten Gesichtsfarbe merkbar wurde. Mit großer Ruhe sprach sie von dem erlittenen Unfalle und entwickelte sehr deutlich den Gang ihrer Vorstellungen und Empfindungen, so weit sie sich derselben bewußt war. Sie glaubte, ihre volle Besinnung erst verloren zu haben, als sie an das Ufer gebracht wurde. »Ich war gewiß«, sagte sie, »daß mir Max nahe sei und daß er mich retten würde.« Das furchtbare Brausen der Mühlräder habe sie übrigens auch unter dem Wasser vernommen und dies sei der letzte Eindruck vor ihrer Ohnmacht, dessen sie sich erinnere. Ehe sie ihrer äußeren Sinne wieder mächtig gewesen, sei sie sich bewußt geworden, daß sie gerettet sei und in ihrem Bette liege; es sei ihr vorgekommen, Max stehe über ihrem Haupte und sie höre ihn von Zeit zu Zeit sprechen; auch meinen Eintritt habe sie bemerkt und sei durch meinen stummen Schmerz sehr geängstigt worden, aber sie habe sich weder regen noch ihre inneren Anschauungen mit Worten oder Zeichen ausdrücken können. »Lieber Herr Brink!« sagte sie, indem sie meine Hand ergriff, »ich habe auch nachher gesehen, wie tief Sie von meinem Unfalle ergriffen waren. Sie sind so gut; bin ich denn Ihrer Teilnahme wert?« – Ich konnte nicht sprechen, sondern ließ mein Angesicht auf ihren Arm sinken, den ich unbemerkt mit zärtlichen Küssen bedeckte.

Nach einer Weile stand ich auf. »Das alles«, sagte ich, »greift Sie zu sehr an, liebes Gretchen! Wir wollen Sie für heute der Ruhe überlassen. Morgen früh, wenn Sie gut geschlafen und sich ganz erholt haben, werde ich Sie besuchen. Ich habe allerlei für Sie aus der Stadt mitgebracht, was ich Ihnen zeigen will. Gute Nacht, liebes Kind!« Zugleich gab ich Max einen Wink, mir zu folgen, und verließ mit ihm Gretchens Schlafgemach.


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