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Drittes Stück:
Die Taktik im Geisteskampfe

 

1.

Die Kampfesweise des angeblichen Geisteskampfes, den wir wirklichen Menschen untereinander ausfechten, ist oft sehr ungeistiger, oft falschgeistiger, im besten Falle nur halbgeistiger Art.

Von alten Zeiten her hat man es sehr praktisch gefunden, um den widerspenstigen Geist gefügig zu machen, einen Druck auf sein Gehäuse und Organ, den Körper, auszuüben. Die Bedrohung mit Haft, Folter und Tod sollte den Glauben und Mut des Christen, den Wahn des Ketzers, den Eigensinn des Sektierers brechen; und konnte man durch die blosse Drohung und den Ansatz zur Ausführung einen solchen vollständigen Geistessieg nicht erreichen, so machte die Vollziehung der Strafe den Schädling wenigstens unschädlich. So grobe Mittel werden heutzutage nicht mehr beliebt; dafür sind auch die Menschen soviel schwächer geworden, dass schon feinere genügen. Man hängt den Brotkorb etwas höher; man erschwert die Karriere; man chikaniert, so gut man kann – und andererseits lockt man sachte durch die Aussicht auf Ehren und Beförderung und einflussreiche Verbindungen und behagliche Verhältnisse: das macht manchen »grossen« Mann recht »klein«. Analoge Mittel stehen dem Pöbel zur Verfügung, um den unbequemen Geist zu ersticken. – Nur um einem sentimentalen Missverständnis vorzubeugen, will ich bemerken, dass die rohe und feine, durch Druck oder Reiz ausgeübte Vergewaltigung des Geistes nach göttlicher Weltordnung eines der wichtigsten Mittel ist, den Geist zu erziehen und fortzupflanzen. –

Als pseudogeistige Methoden des Geisteskampfes möchte ich die Hypnose nennen und die Lüge. Was man heutzutage religiöse Erziehung heisst, ist zum guten Teil nur hypnotische Suggestion gewisser Vorstellungen, die der loyale Bürger von Staat und Kirche in die Welt hineinsehen sollte. Oder werden unsere Kinder etwa angeleitet, mit hellen, wachen Augen die Welt zu nehmen, wie sie ist? den wirklichen Wert der Dinge schätzen zu lernen und sich um wirkliche Werte zu bemühen? Nur wird die Kunst der Hypnose meist recht leicht genommen und schlecht ausgeübt; deshalb hält der suggerierte Glaube oft kaum an, so lange die Kinder auf der Schulbank sitzen. Erwachsene hypnotisiert man durch monotone, pathetische Anwendung der hohlen, glänzenden Phrase. König und Vaterland, Thron und Altar, göttliche Autoritäten, heiliger Glaube, Gewissen, Volkstum, nationale Würde, Freiheit, Wahrheit, Realismus, sozial, international: das sind so einige der glänzenden Knöpfe, worauf Schönredner ein gutmütiges Publikum hinstarren machen, bis es in schlafwachem Zustand jeden Unsinn als alleinseligmachende Wahrheit hinnimmt. Oder werden diese schönen Dinge bei unseren Fest- und Wahlreden wirklich als die Realitäten behandelt, die sie für uns wirklich sein sollten? Wer nimmt denn das Gewissen heute als Realität, womit man rechnen muss? Wer bedenkt im Ernste, dass ein Volk kein blosser weicher Teig ist, den man beliebig kneten und formen kann? Wo wird die Freiheit ernstlich als das gepredigt, was sie wirklich ist: als Aufgabe? Nein, als Realitäten des Geisteslebens, so kann man in unserer christlichen und auch antichristlichen Gesellschaft diese höchsten Güter nicht brauchen – aber als Hilfsmittel der Hypnose können ihre Namen und Symbole dienen. Und so erzielt man mit ihrer Hilfe Geistessiege: man sammelt ein Gefolge, das seinen Führern eine Zeitlang um so williger nachläuft, je weniger Wirkliches es sich unter den vorgespiegelten höchsten und heiligsten Gütern denkt.

Wie der bewusste Betrug als Waffe im Geisteskampf dienen muss, lässt die Geschichte mit betrübender Deutlichkeit erkennen. Am wichtigsten ist auf diesen Gebieten die Lüge als Hilfsmittel zur Stärkung der befreundeten, zur Schwächung der feindlichen Autorität. Man überwindet die Geschichte durch das Dogma – d. h. man dichtet die Vergangenheit so um, dass sie die Ansprüche, die man an die Gegenwart stellt, legitimiert. Den Einfluss der lebenden Feinde untergräbt man durch Unterschlagung oder Verkleinerung ihrer Tugenden, durch Vergrösserung ihrer Fehler oder einfache Verleumdung. Die entgegengesetzten Kunstgriffe müssen der Autorität der Freunde nachhelfen. Das wird mit solcher Plumpheit betrieben, dass man sicher sein kann, über gewisse Persönlichkeiten in gewissen Zeitungen nur Gutes oder nur Böses oder – gar nichts zu lesen. Für den Verständigen bringt das freilich auch eine schätzbare Bequemlichkeit mit sich: er überschlägt einfach, was z. B. die »positiven« Zeitungen über Egidy, die »liberalen« über Stöcker bringen, da er die Litanei ja schon zum Voraus kennt. Aber dieser Geisteskampf ist ja auch gar nicht darauf berechnet, durch wirkliche Verständigung den Geist der Verständigen zu gewinnen.

Halbgeistig endlich wird der Geisteskampf da betrieben, wo man einer guten, geistigen Sache wenigstens durch ein bischen äusseren Druck und Reiz, ein bischen Einschläferung und Suggestion, ein bischen Verdrehung oder auch Erfindung nachhelfen zu sollen glaubt. Und wo geschähe das nicht? Wo ist im Gegenteil die Leidenschaft vorhanden, das Geistige nur so zu vertreten, dass es lediglich um seines erkannten inneren Wertes willen angenommen werden muss? also ohne Verheissung äusseren Vorteils, der sich mit dem geistigen Gewinn verbinde; ohne Betäubung durch hohe Worte und glänzende Phrasen; ohne besondere, kunstvolle Mischung der Farben für die Darstellung der eigenen und der fremden Sache! Wo findet sich ein solcher Glaube an die innere Kraft der eigenen Sache, dass man sogar selbst Bedenken dagegen wachzurufen wagte, nur mit der grössten Nüchternheit und Trockenheit für sie einträte – da sie ja doch sogar zu den empfindlichsten Opfern begeistern muss, wo sie nur einmal in ihrer wirklichen, ungeschminkten Gestalt geschaut wird? Wer hat den Mut, eine solche Probe zu wagen, die Geduld, auf einen solchen Sieg zu warten, die Redlichkeit, keinen anderen Triumph zu wollen?

Man könnte trauern darüber, dass der wirkliche, d. h. angebliche Geisteskampf mit so un-, falsch-, oder doch nur halbgeistigen Mitteln geführt wird. Aber es gilt ganz allgemein, was ich für einen einzelnen Fall schon andeutete: gerade diese seltsame Einrichtung der Geisteswelt muss dazu dienen, den Geist kräftig zu entwickeln. Ausserdem ruiniert sich jede »geistige« Sache unweigerlich selbst, wenn sie sich durch pseudogeistige Mittel durchsetzen will. Indem sie ihre künftigen Vertreter durch Druck und Reiz, durch Hypnose und Betrug gewinnt, zerstört sie zugleich deren Fähigkeit, für irgend etwas um seines inneren Wertes willen sich aufzuopfern. Meint man denn, eine künstlich aufgepäppelte staatliche oder kirchliche Loyalität werde je einem ernsthaften Sturm auf Thron und Alter standhalten? oder ein durch den blossen Neid und leere Vorspiegelung künftiger allgemeiner Glückseligkeit erzeugter Sozialismus werde seine Gläubigen zu der freien Selbstzucht begeistern, ohne die ein erspriessliches Zusammenleben nicht möglich ist? – Insofern kann man den gegenwärtigen »Geistes« kämpfen« mit kühler Gelassenheit zuschauen, auch wenn die Geistlosigkeit mit Hilfe ihrer Waffen noch so grosse Siege erficht. Durch äusseren Druck und Reiz vermag man die Menschen nicht dauernd festzuhalten; auch ist eine so starke Hypnose noch nicht erfunden, dass der Eingeschläferte nicht wieder erwachen müsste; und aller Betrug wird einmal offenbar werden. Man muss nur warten können, so wird man immer wieder erfahren, dass die Pfuscher zu schänden werden, die den Geist anders zu beherrschen wähnen, als indem sie ihn entbinden.

 

2.

Ein Hauptstück des wahren Geisteskampfes ist es, sich der Angriffe angeblicher Geisteskämpfer zu erwehren. Dazu genügt natürlich nicht, dass man über Intoleranz, Verleumdung und Heuchelei lamentiert. Ueberhaupt besteht auch der Geisteskampf, obgleich er des Worts nie entbehren kann, nie in Worten, sondern ist Tat. Eine reelle Bedeutung haben Worte im Geisteskampf nur, wenn sie auszusprechen eine Tat ist. Welche wirklichen Fortschritte des Geisteslebens haben wir denn dem modernen Geklingel mit hochtönenden »Resolutionen« (die nur kaum je Entschlüsse zu einer Tat sind!) zu verdanken?

Der Vergewaltigung setzt man natürlich Gewalt entgegen. Es ist eine Frage, ob das auch im Sinne des Geistes so natürlich ist Jesus war bekanntlich anderer Meinung. Jedenfalls kann man Gewalt durch Gewalt nur dann abweisen, als man selbst die nötigen äusseren Machtmittel hat. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass der Geistesmensch, der nur dem Geiste Wirklichkeit und Wert beimisst, der Macht nicht teilhaftig wird. Denn jede Gottheit erweist sich nur dem gnädig, der sie als die höchste verehrt, und so auch Reichtum und Macht. Ausserdem kann durch Gewalt nur der Druck abgewehrt werden, nicht der Reiz; Druck und Reiz sind aber gleichwertige Formen der Vergewaltigung. Beide werden zugleich entkräftet durch die Abhärtung gegen Schmerz und Lust. Entsagen zu können ist eine der wichtigsten Waffen im Geisteskampf. Umgekehrt hat die Entsagung nur insofern wirklichen Wert, als sie im Kampf um den Geist gegen Druck und Reiz feit. In einem gewissen, aber sehr berechtigten Sinne ist der Geisteskämpfer immer Zyniker. – Hier lauert im Hintergrunde die verfängliche Frage nach dem Rechte des freiwilligen Todes. »Tausende sprangen in die Fluten und sind Heilige.« Sollte nur das Weib, nicht auch der Mann so seine Ehre wahren dürfen? Aber ich frage nur, ich antworte nicht. –

Der blosse Vorsatz, sich nicht hypnotisieren zu lassen, gewährt gegen die einschläfernde Wirkung der Phrase keine hinlängliche Sicherheit. Dagegen ist ein untrügliches Mittel, sich dem Zauber zu entziehen, dass man die faszinierende Phrase ernst nimmt, mit dem Ernste der Einfalt die tiefen Wurzeln und herrlichen Früchte sucht, die sie als alleinseligmachende Wahrheit haben muss. Nimm die fromme, die patriotische, die wissenschaftliche Phrase ernst, und du bist gerettet. Denn dann wirst du nicht selten finden, dass die Frommen die Bibel, die Patrioten die Anforderungen der Vaterlandsliebe, die Wissenschaftler das Fragen nicht vertragen können; und das bringt dich gegenüber ihren schönen Reden in eine so gleichmässig temperierte Stimmung, dass es dir z. B. auf einem Festkommers fast unbehaglich werden kann. Und mache namentlich mit deinen eigenen Gedanken Ernst, damit du nicht selbst zum Phraseur werdest! Sprich keinen aus, mit dessen Verwirklichung du nicht schon begonnen, einen ersten Erfolg erzielt hast! Man kann auch sich selber hypnotisieren, und auf diese Weise sind gewiss schon treffliche Geister zugrunde gegangen. Die Sicherung aber gegen alle Hypnose liegt in dem Ernst, in der praktischen Konsequenz. Ist die Idee gut, so bemächtigt man sich ihrer durch die Verwirklichung erst wirklich, durchdringt sie immer vollkommener, schätzt sie immer höher; ist sie leer, so lässt sie sich nicht verwirklichen, so wird man durch den Versuch ihrer Verwirklichung von ihrem Zauber befreit. In jedem Falle also wird man durch diesen Versuch gewinnen – allerdings vielleicht zuerst an beschämender Selbsterkenntnis. Wer aber diese nicht für Gewinn achtet, ist kein Kämpfer des Geistes.

Der Betrug dient vor allem der Aufschmückung oder Herabsetzung von Autoritäten. Diesen Zweck hat die Geschichtslüge, wie die Verleumdung oder Belobigung Lebender. Aber alle diese Künste sind an dem verloren, der sich überhaupt an keine Autorität hängt. Steht mein Glaube nicht auf der Autorität Luthers, so kann es mir sehr gleichgültig sein, ob er als Selbstmörder oder als Heiliger geendet hat; und brauche ich mir vom Papste mein ewiges Heil nicht bescheinigen zu lassen, so kann es mich wenig berühren, ob die Päpste mehr oder weniger gut und schlecht waren. Wenn ich anders, geistig betrachtet, auf mir selbst stehe, hat also der Streit über die richtige Auffassung der Reformations- und Papstgeschichte für mich kein praktisches Interesse. So hat auch die Bibelkritik für mich kein unmittelbar praktisches Interesse mehr, seit ich der Meinung bin, ich müsse meinen Gott meiner Wirklichkeit entnehmen, und nicht einem alten, wenn auch noch so trefflichen Buch. Dann kann es mir also gleichgültig sein, ob die Bibelkritik, wie ihr die Gläubigen vorwerfen, Tendenzkritik ist, ob die gläubig-harmonistische Deutung der Bibel, wie die Kritiker es darstellen, ein frommer Schwindel sei. So dürfen wir auch das Urteil über Autoritäten der Gegenwart (einen Bismarck, Stumm, Naumann, Stöcker) füglich dahingestellt sein lassen, wenn wir doch nicht auf ihren, sondern auf unseren eigenen Füssen stehen und gehen. Dann können wir sogar den Klatsch über sie (welche Wohltat!) ruhig überhören. Daraus folgt freilich für die Praxis, dass jeder nur tut, was er von sich aus tun muss, was er auch nur sich, wenn es missglückt, zum Vorwurf machen kann. Wie weit sich das in der Politik durchführen lässt, wage ich nicht zu entscheiden. Aber hat es der grosse Politiker nicht immer so gehalten? und beruht nicht in dieser Selbstherrlichkeit seine Herrschaft über die Gemüter? In der Religion soll jeder autonom sein und kann es auch, wenn er nur will, und wird es werden, wenn er anders überhaupt mit seiner Religion, ob sie zunächst gut oder schlecht sei, Ernst macht. Damit ist er dem als Geisteskampf sich auf« spielenden Kirchenzank auf einmal entrückt. Freilich, es ist viel weniger anstrengend, im Gefolge irgend welches Helden des Glaubens oder Unglaubens gegen Menschen zu streiten, als einsam mit Gott und sich selbst zu kämpfen.

 

3.

Ueberwinden bedeutet im Geisteskampf überzeugen. Wirklich überzeugen kann aber nur die Wahrheit. Demgemäss besteht der Geisteskampf, sofern er sich gegen einen bestimmten Menschen richtet, in dem Versuch, ihn, den man in der Unwahrheit befangen glaubt, mit der Wahrheit (d. h. mit dem, was man selbst für Wahrheit hält!) in Berührung zu bringen, damit diese ihn überzeuge. Dabei wird man versuchen, das an der Wahrheit, was nach der eigenen Meinung notwendig überzeugen muss, ihm in ein helleres Licht zu setzen.

Was ich hier ganz allgemein und verschwommen ausdrücke, nimmt in unseren Geisteskämpfen gewöhnlich eine viel bestimmtere Form an. Wir bringen einen anderen in Berührung mit der Wahrheit, indem wir ihm die Wahrheit sagen; und dann überzeugen wir ihn von der Wahrheit unserer Wahrheit, indem wir seine Bedenken widerlegen und den positiven Beweis für die Richtigkeit unserer Auffassung führen. Was sollten wir anderes tun, um für die Wahrheit zu kämpfen?

Davon soll nachher die Rede sein, was wir sonst etwa für die Wahrheit tun könnten. Zunächst sei darauf hin« gewiesen, dass unser Geisteskampf, wo er am ehesten diesen Namen verdient, fast durchaus ein Wissenschaftliches, doktrinäres Gepräge hat. Wir können uns einen Geisteskampf nur als Wortwechsel denken. Und wenn es gut geht, werden dabei wirklich Gründe und Gegengründe vorgetragen und abgewogen. Der Unterschied ist nur, ob man strengwissenschaftlich oder populärwissenschaftlich vorgeht, ob man mehr auf die Geschlossenheit der Beweisführung oder auf die Leichtigkeit und Anmut der Darstellung sieht, ob man überzeugen oder überreden will. Aber doktrinär ist man überall – wenn man nicht frivol ist: auf der Kanzel, in der Volksversammlung, in der Presse.

Nun will ich dem Belehren und Disputieren durchaus nicht allen Wert absprechen. Aber seine Bedeutung ist doch in gewisse Grenzen eingeschlossen, die enger sind, als wir meinen, und an eine Bedingung geknüpft, deren Uebersehung sich durch völlige Nutzlosigkeit der aufklärerischen Bemühung rächt.

Erstens nämlich kann man nicht alles sagen, weil das Wort nur ein unvollkommenes Mittel der Offenbarung des Geistes ist. Was gut und böse, was Lust und Leid, was Schönheit, was Gott ist, kann man nicht sagen. Ich bin gut oder böse; ich empfinde Lust und Leid, ich schaue Schönes; ich ahne Gott – aber ich kann mein Sein, Empfinden, Schauen, Ahnen nicht in Worten ausdrücken. Ich kann anderen durch das Wort Andeutungen darüber geben, die ihnen genau ebenso weit verständlich sind, als sie ähnliches schon erlebt haben; aber weiter reicht die Macht des Wortes nicht. Welchen Wert soll es dann haben, in Worten über die Grundlagen der Religion, Ethik, Aesthetik zu streiten? Ja, den Wert hat es, dass die Worte, die Chiffren, mehr und mehr den Rang der Sachen einnehmen, worum sich's handeln sollte. So kämpft man in der Theologie erbittert um den Gottes begriff; man streitet über die Deutung und Verwendung alter Worte, die über Gott gemacht wurden; aber für das Verständnis Gottes kommt dabei herzlich wenig heraus. Ja, im heiligen Kampf um den Gottes begriff hat man nicht selten gänzlich vergessen, dass ein Gott sei, ja gegenwärtig sei, der auch den Kampf um ihn nur in einer gewissen Weise ausgefochten wissen wolle. – Letzte Realitäten und Werte lassen sich eben nicht mehr sagen, nur noch erleben. Deshalb hat es auch keinen Sinn, darüber in Worten zu disputieren. Dass man überhaupt nicht über sie reden könne, ist damit nicht gesagt. –

Sodann hat das Kämpfen mit Gründen nur dann einen Wert, wenn die Kämpfer die nötige innere Freiheit besitzen, um Gründe würdigen zu können. Aber nur in der Wahrheit ist der Mensch frei; in der Unwahrheit ist er immer befangen. Will ich einen Menschen von der Unwahrheit zur Wahrheit führen, so muss ich ihn immer als befangen voraussetzen. Seine Befangenheit wird Auffassung und Urteil um so stärker beeinträchtigen, je näher die Wahrheit, von der ich ihn überzeugen will, ihn selbst betrifft. Wer nun falsche Begriffe von Recht und Unrecht hat, muss selbst ungerecht sein – wenn er sich anders in seinem praktischen Verhalten an seine eigenen Grundsätze hält; wer sich über Gott falsche Gedanken macht, wird (unter derselben Voraussetzung) in einem unhaltbaren Verhältnis zu Gott stehen u. s. f. Diese Irrenden glauben aber natürlich, in ihrem Denken und Leben auf rechtem Wege zu sein. Werden sie es so gleichmütig hinnehmen, dass ich ihren Wahn zerstören will? dass ich nicht bloss ihre Theorie, sondern auch ihre Praxis ins Unrecht setzen will? Gewiss nicht; sie können gar nicht – denn ihre Gedanken sind (wenn alles mit rechten Dingen zugeht) sie selbst; und sich selbst gibt niemand freiwillig auf. Sie haben also das höchste Interesse daran, meine Beweisgründe schlecht, die ihrigen gut zu finden; und da es auf den Gebieten, von denen ich rede, in Religion, Ethik, Eudämonistik, Aesthetik, strenge Beweise gar nicht gibt, da hier die Beweiskraft eines Gedankens in der Stimmung beruht, die er in dem einzelnen Subjekt erregt, so wird ihnen dies auch glücken: sie werden meine Beweisgründe schlecht, die ihrigen gut finden. Soll ich es ihnen verargen?

Es ist ja mit Händen zu greifen, dass das Belehren und Aufklären fast keinen Wert hat, dass das Disputieren und Diskutieren selten die Einsicht fördert. Wissen und Bildung machen bekanntlich frei; aber in dem aufgeklärten 19. Jahrhundert sind die freien Menschen so dünn gesät wie jemals. Wie viele wagen denn heute, unbekümmert um das Missfallen der Grossen und des Pöbels und der »guten« Gesellschaft, nach ihrer eigenen wohlerwogenen Ueberzeugung zu leben? Wie viele können es ertragen, dass ein anderer so seines Weges zieht? Ich kann auch nicht finden, dass die soziale Gesinnung durch die fleissige Besprechung der sozialen Pflichten so viel gewonnen habe; und mit der Religion verhält sich's kaum anders. Worte sind viel öfter das Surrogat als die Quintessenz, viel eher das Blattwerk als Frucht und Same des Geistes.

 

4.

Man kann einem anderen die Wahrheit auch dadurch nahebringen, dass man in und aus der Wahrheit lebt. Das ist dem Sagen und Beweisen der Wahrheit immer dann vorzuziehen, wenn es sich um die Lebenswahrheit für den Menschen handelt. Um diese Wahrheit aber wird ja in dem echten Geisteskampf allein gekämpft.

Es verlohnt sich, auf die Vorzüge dieser Methode des Geisteskampfes genauer einzugehen – gerade, weil sie bei weitem nicht so beliebt ist, wie die zuvor erörterte.

Erstens nämlich beweise ich meinen wirklichen Besitz der Lebenswahrheit nur dadurch, dass ich sie nicht bloss darlegen, sondern auch darleben kann. Woran sonst soll denn die Lebenswahrheit erkannt werden als daran, dass ich in ihrem Licht und in ihrer Kraft lebe? Der rechte Glaube erweist sich nach Jesus darin, dass man Wunder tut. Die rechte Menschenkenntnis muss sich darin erproben, dass man die Menschen zu behandeln versteht. Sogar die rechte Naturkunde muss zur Naturbeherrschung führen. Eine Theorie, die nicht praktisch macht, ist auch als Theorie schlecht. Sodann aber: womit soll ich mein Recht erweisen, andere zur Wahrheit führen zu wollen, wenn nicht dadurch, dass mir die Wahrheit Leben gibt? Wie kann ich den andern zumuten, sich in meine Lehre zu begeben, wenn sie nicht an mir selbst die Früchte meiner höheren Erkenntnis sehen? Es liegt Selbstgefühl darin, Lehrer sein zu wollen, und ohne Selbstgefühl kann man gar nicht lehren. Das echte, widerstandskräftige Selbstgefühl ruht aber nie auf dem blossen Wissen, immer nur auf einem Sein. Deshalb soll jeder, bevor er lehren will, um seiner selbst und um anderer willen zuerst den praktischen Nachweis liefern, dass seine höhere Erkenntnis ihm wirklich auch ein höheres Leben gibt. Dann kann er mit Zuversicht andere an sich ziehen; dann können andere mit Zuversicht sich ihm anvertrauen.

Dass aber die Worte überhaupt gespart und nur etwa zur nachfolgenden Verdeutlichung ( nicht Rechtfertigung!) des Darlebens der Wahrheit verwendet werden, das bringt den Vorteil, dass so dem Lernenden die Möglichkeit gewahrt bleibt, sich aus sich selbst zu entwickeln und ein Selbst zu werden. Er kann ja zunächst über den, der vor seinen Augen anders, in anderem Sinn, nach anderen Grundsätzen lebt als er selbst, denken und urteilen, was ihm beliebt, ihn schlecht, dumm, lächerlich, verworren, unpraktisch, übertrieben finden, wie es ihm seine bisherige Meinung und jeweilige Stimmung eingibt. Vermag aber dieser andere doch auf seine Weise zu leben, und vielleicht lebhafter, stetiger, kräftiger als die um ihn her, so kann sich's jeder in Ruhe überlegen, woran es hängt, dass er sich diesem Sonderling eigentlich nicht gleichzustellen vermag. Auch braucht er ja niemand das demütigende Eingeständnis seiner Minderwertigkeit zu machen, bis er sich selbst mit Hilfe seines Feindes und Vorbilds zu höherem Werte hinaufgearbeitet hat. So wird das aufregende, befangen machende, die Auffassung trübende, das Urteil verwirrende, die Nachbildung erschwerende Rechten zwischen den Persönlichkeiten vermieden. Direkte Belehrung aber wird nach dieser Methode nur dem erteilt, der sie selbst wünscht, den sie darum auch nicht beleidigt, der somit der Belehrung fähig ist. Ob das nicht besser wäre als die heutige, mit dem Schulzwang beginnende, aufdringliche Art, jedermann die höchsten Wahrheiten an den Kopf zu werfen? Oder beweist diese Aufdringlichkeit vielmehr, dass was so geboten wird nicht die höchste Wahrheit ist? Denn diese kann nicht aufgedrungen werden; und wer sie nur ahnt, weiss das.

Drittens übt unzweifelhaft das Darleben der Wahrheit auf die Umgebung einen viel stärkeren Druck aus, sich mit ihr zu beschäftigen, als das blosse Darlegen. Namentlich, wenn die höchsten Ideen, wie unter uns, allsonntäglich als selbstverständliche Wahrheiten verkündet werden, deren Anzweiflung nur grosse Torheit oder noch grössere Schuld sein kann: wie kann da die Wahrheit als blosser Gedanke noch eine bewegende Kraft sein? Die Predigt ist ja auch sprichwörtlich wirkungslos geworden; durch die Tausende von Predigten, die den himmlischen Sinn anpreisen, fühlt sich in der Tat der irdische Sinn unseres Volkes nicht im geringsten beunruhigt; auch stört die Predigt der Liebe die Praxis des »berechtigten Egoismus« gar nicht u. s. f. Welcher Verständige wird sich in einem Zeitalter, das auf den Unterschied von »theoretisch« und »praktisch« solches Gewicht legt, seine Praxis durch blosse Worte beeinflussen lassen? Reden ist leicht! Durch die schwere Handlung, wenn man einmal darauf stösst, fühlt man sich ganz anders geniert. Denn sie fügt der versteckten, darum, wenn sie empfunden wird, empfindlicheren Mahnung, desgleichen zu tun, sofort den Beweis hinzu, dass man so handeln könne. So kann man sich durch das Handeln auch Feinde verschaffen, während die schöne Theorie, so lange sie blosse Theorie bleibt, sogar den Beifall derer findet, die dadurch gerichtet werden. Man rechtfertigt sie ja dadurch, dass man selbst nicht nach seiner Theorie handelt! Wer einen starken Druck auf andere ausüben will, offenbare seinen Gedanken (den er bis dahin am besten für sich behält) durch eine kräftige, überraschende, bedeutsame Tat – und er wird bald in unzweideutiger Weise zu fühlen bekommen, dass der Druck empfunden wird.

Viertens drängt diese Methode, die Wahrheit durch Darlebung zu lehren, unmittelbar auf möglichste Vereinfachung derselben. Kann man die Trinitätslehre leben? oder die Lehre von der Gottmenschheit? Nicht einmal die evangelische Lehre von Sünde und Gnade lässt sich vorleben! Woran sollen denn andere z. B. erkennen, ob ich Gottes Willen und Gebot in Gottes oder in eigener Kraft vollbringe? Woran soll ich das selbst unterscheiden? Wollte man sich einmal entschliessen, die Religion, speziell das Christentum, nur durch Darlebung zu lehren und das Wort nur zur Verdeutlichung dieser Darlebung zu benutzen: so hätte der dogmatische Hader bald ein Ende. Auf die Fragen, die einst die Kirche wirklich bewegt haben mögen und heute sie angeblich noch bewegen, würde man so gar nicht stossen. Stöcker tut so wenig ein Wunder wie der ungläubigste Professor; also würde ihn die Praxis zu einem Kampf ums Wunder kaum drängen. Ebenso wäre der Streit über die Gnadenmittel bald zu Ende, wenn jeder sich nur darauf stützen wollte, was er durch deren Benutzung nachweislich gewonnen hat, u. s. f. u. s. f. – Zudem möchten die Lehrer des Christentums, die den Nachdruck aufs Darleben legen, zum Streiten nicht sehr aufgelegt sein. –

Doch wird es noch gute Weile haben, bis diese Methode des Geisteskampfes in Aufnahme kommen wird: das Christentum durch Christentum, den Patriotismus durch Patriotismus, den Sozialismus durch Sozialismus zu vertreten, zu verbreiten – und das Wort nur zur nachfolgenden Verdeutlichung seines lehrhaften Handelns zu benutzen. Denn Reden ist überall leicht, und Handeln ist überall schwer. Und ist es nicht eine wichtige Regel für alle Kunstübung, dass man mit dem Leichteren beginne, das Schwerere nur nach und nach folgen lasse? Also ist es doch auch das Natürliche, dass man das Ideal zuerst in Worten darstellt, durch Worte einschärft, mit Worten als das höchste Leben preist – um dann, wenns geht, durch entsprechendes Tun den Worten Nachdruck zu geben! Welche Verkehrtheit, dass der Mensch erst durch die Tat sich die Möglichkeit, das Recht erwerben soll, das Wort zu gebrauchen!

Nun ja, prediget nur fort, ihr Prediger (und leider oft Nur-Prediger!) der göttlichen und menschlichen Weisheit; wir werden ja sehen, wie viel dabei herauskommt!

 

5.

Gesetzt nun, ein Mensch habe das verstanden, dass Ideale richtig nur durch Darlebung vertreten und verbreitet werden können, – und die kräftige, korrekte Darlebung des Ideals übersteigt seine Kräfte: welche Position und Taktik geziemt sich für ihn im Kampfe der Geister?

Vielleicht ist das nur ein angenommener, nie ein wirklicher Fall: denn die wirkliche Erkenntnis des Ideals ist zugleich Antrieb und Kraft zu seiner Ausführung; die scheinbare Erkenntnis freilich versagt für die Praxis. Aber die scheinbare Erkenntnis flösst ihrem Besitzer den für ihn selbst undurchsichtigen Wahn ein, dass er das Ideal wirklich erkannt habe. So ist es also, subjektiv betrachtet, doch ein wirklicher Fall, dass ein Mensch das erkannte Ideal nicht darleben zu können vermeint, und wir müssen ihm einen ernsthaften Rat geben.

Das Beste wäre vielleicht, er übte sich für sich in der Verwirklichung seiner Ideen, bis er eine gewisse Fertigkeit und Sicherheit erlangt hat; dann mag er vor andere treten. Konnte Jesus 30 Jahre warten, bis er als Prediger auftrat, so braucht der Kandidat der Theologie nicht schon mit 22, 23 Jahren den Zeugen christlicher Wahrheit zu spielen. Freilich, auch er bedarf ja der Uebung – in der Zungenfertigkeit, die heute das Haupterfordernis am Geisteskämpfer ist!

Immerhin wird man in unserer Gesellschaft, auch ohne Kandidat der Theologie zu sein, mannigfach veranlasst, ideale Reden zu führen, und kann, aus äusseren Gründen und noch mehr wegen der Leichtbeweglichkeit der menschlichen Phantasie und Zunge, oft auch der Versuchung nicht widerstehen, mehr zu sagen, als man vertreten kann. Das ist im allgemeinen immer ein Schaden für die Sache. Denn durch ideales Schwätzen wird das Ideal selbst zum Geschwätz. Wenn wir aber zum Bewusstsein dieses Fehlers gekommen sind, so haben wir die Pflicht, bemerklich zu machen, dass wir uns selbst in unseren schönen Reden leider nicht ganz ernst zu nehmen vermögen, – und wir haben vielleicht auch das Recht, die schönen Reden anderer ebenso spasshaft zu behandeln. Können wir die Wahrheit nicht durch die erbauende Tat vertreten, so können wir wenigstens der Wahrhaftigkeit durch die auflösende Ironie dienen – vorausgesetzt, dass wir sie richtig anwenden, d. h. sie immer zuerst gegen uns selbst kehren. Diese Bedingung darf ja nicht übersehen werden. Denn dass ein Schwätzer über den anderen lacht, das hat wirklich keinen Sinn und Wert.

So wollen wir denn lachen lernen – lachen über uns selbst; denn, unter uns gesagt, an Gelegenheit dazu fehlt es uns kaum, und es ist vielleicht das Nützlichste, was wir zunächst lernen können. Auch ist es ja eine ganz vergnügliche Weise, den Geisteskampf aufzunehmen, dass man Lachübungen macht. Uebelnehmen kann unser Gelächter uns niemand, wenn wir anders immer mit uns selbst beginnen. Oder sollte sich die heilige Schwatzhaftigkeit doch gekränkt fühlen, wenn wir sie wenigstens in uns totzulachen versuchen? Um so besser: sie hat uns also verstanden!

Aber man nehme sich in acht: denn dieses vergnügliche Lachen bedroht uns selbst hinterlistig mit einem bösen Angriff. Wenn wir dabei bleiben, bloss über uns zu lachen (oder zu weinen: das ist hier gleichwertig!), dass wir in unsern schönsten Gedanken und Reden uns nicht recht ernst nehmen können: so werden wir in der Tat – lächerlich. Ironie hat Sinn und Wert als Hülle des Ernstes. Die blosse Ironie, die nicht den Ernst in sich birgt, die nicht den Ernst vorbereitet, ist nicht bloss lächerlich, sie ist gemein.

Auch diese Erwägungen zeigen, dass der Geisteskampf nicht eigentlich ein Kampf mit anderen ist. Das Ideal darzuleben – das hat an sich keine feindselige Spitze gegen irgend jemanden; es ist ein letzter Zweck, eine selbständige Aufgabe, die jeder für sich haben soll. Dass ein anderer sich dadurch bekämpft fühlt, ist nur Nebenerfolg dieses an sich wertvollen, positiven Tuns: das Ideal zu leben. Ich brauche es deshalb auch gar nicht zu wissen, dass ich im Geisteskampf mit einem andern stehe. Wie die Bekämpfung anderer nur Nebenerfolge der positiven Geistesarbeit ist, so die Kampfesstimmung nur eine zufällige Begleiterscheinung des wahren Geisteskampfes. Je geistiger er wird, desto mehr wird diese begleitende Stimmung zurücktreten.

Man mache daraus die Anwendung auf den Geisteskampf, den wir wirklichen Menschen gegeneinander ausfechten. Man mache daraus die Anwendung auf sich selbst.


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