Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Stück:
Was im Geisteskampf Siegen und Unterliegen bedeutet

 

1.

Der »wirkliche« Geisteskampf – ich meine: der Geisteskampf, den wir wirklichen Menschen untereinander ausfechten – tritt als Proselytenmacherei auf, als Wahlkampf, als Federkrieg. All dieses Treiben gibt sich als Mittel zum Zweck: dass man Seelen rette, das Wohl des Vaterlandes fördere, der wahren Wahrheit ans Licht helfe. So sollte man denken, dass auch die Siegesfeiern erst angestellt, die Siegespreise erst ausgeteilt würden, wenn die genannten letzten Zwecke nachweislich erreicht sind: wenn eine Seele wirklich gerettet ist; wenn sich Staat und Kirche unzweifelhaft wohl befinden; wenn die Wahrheit erkannt ist. Aber das könnte lang dauern. Und wer sollte entscheiden, ob die erkannte Wahrheit wirklich die Wahrheit ist? ob die gerettete Seele wirklich ewigen Lebens teilhaftig ist? ob die politischen und kirchlichen Reformen wirklich etwas besser gemacht haben? So könnte man überhaupt um die Siegesfeiern kommen, wenn man sie an die Erreichung des eigentlichen Ziels unserer Geisteskämpfe knüpfte! Und das wäre doch schade. Darum hat man sich den Sieg und das Feiern etwas erleichtert. Man stimmt den Festjubel schon an, wenn man für sein Programm eine Majorität von Wählern gewonnen hat – womit man sich doch zunächst nur die Möglichkeit schaffte, es praktisch zu erproben, noch keineswegs den Beweis seiner Güte lieferte. Man jubelt schon über den Uebertritt eines Menschen von einem »Glauben« zum andern – während ein »Glaube« doch nur ein Weg ist, den man noch nicht zurückgelegt hat, indem man ihn erst betritt, dessen letztes Ziel zudem hinter einem bisher ungehobenen Vorhang liegt. So fasst auch ein Schriftsteller den Beifall des Publikums begierig als Siegeslohn auf, während es sehr fraglich ist, ob das Beifall spendende Publikum die kompetente Jury für Verdienste um die Wahrheit ist – ja, ob überhaupt hinter dem gespendeten Beifall ein beifälliges Publikum steht. Dass man gar erst abwartete, ob das Publikum die so beifällig begrüsste Wahrheit sich auch persönlich zueignete und sodann ernsthaft in die Wirklichkeit des Lebens einführte: davon kann vollends nicht die Rede sein. Auch die Verbreitung der Wahrheit ist erst ein Mittel zum Sieg der Wahrheit, d. h. zur Einarbeitung der Wahrheit in die Wirklichkeit. Aber der Kürze und Bequemlichkeit wegen feiern wir sie schon als den wirklichen Sieg.

In dem »wirklichen« Geisteskampfe – dem Geisteskampf, den wir wirklichen Menschen gegeneinander kämpfen – wird es ein Sieg geheissen, dass ein Kämpfer in einem Teil des Publikums irgendwie die Meinung zu erregen versteht, er werde siegen, d. h. er werde für seine Gedanken in immer grösserem Umfang das Publikum gewinnen, sie vielleicht auch verwirklichen. Doch denkt man an das letztere weniger, und noch weniger daran, was bei dem Versuche der Verwirklichung wirklich herauskommen würde; – die Hauptsache ist eben, dass man mit seinen Gedanken, vielleicht auch nur mit seinen Worten, in den Augen des Publikums Recht bekommt. Schwindet das günstige Vorurteil des Publikums dahin, so sagt man, der betreffende Geisteskämpfer habe eine Niederlage erlitten – während er vielleicht selbst geistige Fortschritte gemacht hat, während er vielleicht sogar grösseren Einfluss ausübt als zuvor, nur dass er jetzt die Menschen in seine Bahn hereinzieht, indem er sie zum Widerspruch nötigt. Aber auf seinen wirklichen Einfluss kommt es gar nicht an – denn der Sieg besteht ja schon in der Meinung des Publikums, dass er Einfluss habe, auch wenn diese Meinung gar keinen wirklichen Einfluss beweist, auch wenn sie nur dadurch bewirkt wurde, dass man dem Publikum seine Irrtümer ablauschte und als neue Wahrheiten anpries.

Dadurch, dass das Urteil des Publikums über Sieg und Niederlage im Geisteskampfe zu der Bedeutung vorrückte, selbst der Kampfpreis im Geisteskampf zu werden, dadurch hat sich allerdings die ganze Sache mit dem Geisteskampf sehr vereinfacht. Man hat so ein Mittel gewonnen, Bewegungen des Geisteslebens zu messen, und damit ist der Geist der exakten Forschung zugänglich geworden. Die Masseinheit für den religiösen Geist ist die »Seele« – von der Taufe, oder von der Konfirmation an gerechnet; die Masseinheit des politischen Geistes ist die Stimme des mündigen Mannes; die Masseinheit für den Geist in der Literatur ist das verkaufte Exemplar des einzelnen Schriftwerks usf. Mit Hilfe dieses Mass-Systems kann die Statistik nach exakter Methode alle Geistesverhältnisse sicher feststellen. Man zählt, dass ein Glaube von so und so viel Seelen« bekannt wird – und weiss damit auch, wie viel er geglaubt und gelebt wird, ob er fortschreitet oder zurückgeht. Man zählt, dass ein Programm von der gesamten Stimmenzahl einen gewissen Prozentsatz auf sich vereinigt – und weiss damit, dass es gewisse Wahrheiten enthält, die den Versuch der Verwirklichung lohnen. Man zählt, dass von einem Buche so und so viele Exemplare verkauft sind – und schliesst aus diesem »Erfolg« nicht nur, dass es auch gelesen, verstanden, beherzigt wird, also eine Wirkung hat, sondern auch, dass es gewisse Tugenden besitzen muss. Diese ganze, überraschende Vereinfachung der Deutung geistiger Mächte beruht darauf, dass man in der »Seele« oder »Stimme« die brauchbare Masseinheit für die Messung geistiger Kraft, Spannung, Bewegung entdeckt hat – einer der neuesten, bedeutendsten, überzeugendsten Beweise für den Segen der exakten Methode.

 

2.

Das ist ja eine Karikatur – und eine Karikatur beweist nichts, während sie wohl dazu dienen kann, aufmerksam zu machen. Auch habe ich ja selbst schon hervorgehoben, dass es das letzte und höchste Ziel des Geisteskampfes ist, das Ideal des Lebens, das man aus sich selbst geschöpft hat, das doch immer ein Ideal gemeinsamen Lebens ist, auch zum Ideal anderer, womöglich aller zu machen, weil es nur durch gemeinsame Anstrengung in die Wirklichkeit eingewirkt werden kann. Ist es nun eine Aufgabe des Geisteskampfes, für sein Ideal Anhänger zu werben, so muss es auch einen Sieg im Geisteskampf bedeuten, Anhänger gewonnen zu haben! Und der Beifall, der mir zu teil wird, bezeugt ja doch die Lust zur Aneignung meiner Gedanken; sollte er also nicht auch für einen Sieg des Geistes gelten dürfen?

Es ist ja sehr oft zu bezweifeln, ob der gewährte Beifall wirklich eine Aeusserung der Lust ist, die beifällig aufgenommenen Gedanken sich zuzueignen; oft ist er auch nur eine höfliche Art, sie beiseite zu schieben. Doch will ich darauf hier keinen weiteren Nachdruck legen. Dagegen möchte ich die paradoxe Tatsache genauer erörtern, dass zwar aller Geisteskampf wirklich ein Kampf um den Anhänger ist und doch der Gewinn einer Anhängerschaft niemals einen unzweideutigen Sieg des Geistes bedeutet.

Dass die Unwahrheit durch den Beifall, den sie findet, nicht zur Wahrheit wird, sollte eigentlich nicht besonders gesagt werden müssen. Doch fliessen z. B. den Theologen Gemeindeglaube und Wahrheit oft ineinander: weil man verlernt hat, in der Religion die Beziehung auf eine in sich beruhende, den Menschen begrenzende und tragende Wirklichkeit zu sehen, und man den Wert der Religion nur in der subjektiven Zuversicht erkennt, die sie gewährt, nicht in der Richtigkeit des Verhältnisses zur Wirklichkeit, das man im religiösen Glauben einnimmt. Wenn es keine wirkliche Regierung der Welt durch Gott gibt, ist mit diesem Gedanken nur insofern zu rechnen, als eine gewisse Anzahl von Menschen ihn hat; wenn wirklich die Welt durch einen Gott regiert wird, kommt es gar nicht darauf an, ob die Menschen das glauben – ausser sofern deren eigenes Heil davon abhängt. In jenem Falle also besteht die »Wahrheit« der göttlichen Weltregierung darin, dass sie geglaubt wird – aber in diesem Falle allein ist der Glaube daran wahr. Bei den Wahrheiten, die für unser gewöhnliches, äusserliches Leben praktisch werden, ist das leichter einzusehen. Dass eine Gesellschaft sich vereinigt, in dem Schnaps ein nicht bloss angenehmes, sondern auch heilsames Genussmittel zu sehen, bildet gar kein Hindernis, dass sie nicht in corpore das delirium tremens bekomme. Aber auch, dass die Menschen in grossen Massen übereinkommen, einen Kirchen- oder Parteipapst unfehlbar zu finden, macht ihren Abgott leider nicht unfehlbar, hindert sie auch nicht, durch dessen geglaubte und so sehr hoch geschätzte Unfehlbarkeit ruiniert zu werden. Und wenn einmal alle Menschen sich einmütig zum Sozialismus bekennen, so werden sie es trotzdem in einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht aushalten, wenn diese für den Menschen, wie er ist, sich eben nicht schickt. Also: dadurch wird die Unwahrheit nicht zur Wahrheit, dass sie die Majorität für sich bekommt. Sie gewinnt dadurch bloss die Aussicht, bald die Probe auf ihre praktische Durchführbarkeit machen zu müssen und so ad absurdum geführt zu werden. Das ist dann freilich auch ein Sieg der Wahrheit – aber der wirksamen Propaganda für die Unwahrheit wollen wir den Geistessieg, der so erfochten wurde, doch nicht zuschreiben.

Die Wahrheit, die wir in unseren Geisteskämpfen vertreten, ist jederzeit mehr oder weniger mit Unwahrheit versetzt; bringen wir sie bei anderen zur Anerkennung, so ist es immer eben dieses mechanische Gemenge oder diese chemische Verbindung von Wahrheit und Unwahrheit, was die andern von uns als Wahrheit – vielleicht als die Wahrheit – übernehmen. Untersuchen wir nun genauer, ob es immer für den Geist so förderlich ist, dass einer seine, aus Wahrheit und Unwahrheit gemischte Wahrheit zur gemeinsamen Ueberzeugung grösserer Kreise zu machen vermag. Da fällt uns sofort auf, dass aus den Glaubensartikeln, den Rechten und Sitten einer Kirche, eines Staates, eines Standes auch solche Irrtümer so ausserordentlich schwer zu entfernen sind, die ganz öffentlich als Irrtümer zugegeben werden. Der Einzelne für sich durchschaut sie vielleicht und würde sie herzlich gern aufgeben; als Glied der Gemeinschaft aber unterwirft er sich ihnen, wirkt vielleicht sogar für ihre Fortpflanzung. Er glaubt nicht – und hat darin ganz Recht –, dass die Schwenkung, die er selbst vollziehen könnte und möchte, auch von der ganzen Gemeinde, der er angehört, ohne Verwirrung vollzogen werden könnte. Denn wenn man gewissenhaft den Irrtum aus dem gemeinsamen Glauben ausscheiden wollte, so mochte jeder nach seinem Gewissen die Scheidung wieder etwas anders vollziehen, der behalten, was jenem gefährlich dünkt, der wegwerfen, was einem andern ans Herz gewachsen ist Wie kann man denn das Gewissen geltend machen, ohne dass jeder nach seinem Gewissen handelt? So muss man sich eben dabei beruhigen, dass uns Menschen die reine Wahrheit doch versagt bleibt, muss davon abstehen, die innerlich vollzogene Abkehr vom Irrtum auch äusserlich kundzugeben und im Zusammenleben mit den Gesinnungsgenossen geltend zu machen, muss auf die Einfalt und Klarheit des Charakters Verzicht tun. Schon mancher wurde ein Sklave seiner eigenen, unfertigen Gedanken, weil es ihm gelang, Anhänger zu werben! – Und lehrt nicht die Geschichte fast aller politischen und religiösen Verbände, dass in dem Gemenge von Wahrheit und Irrtum, worauf ihr geistiger Bestand ruht, mit fortschreitendem Wachstum der Gemeinde immer der Irrtum faktisch und praktisch das Uebergewicht bekommt? so dass, was in den ursprünglichen Grundsätzen wahr und gut war, schliesslich nur noch nominell festgehalten wird – und so, leider, auch die besseren Glieder der Gemeinde in dem Wahn gefangen hält, dass man noch auf dem alten Boden stehe und nur in der Praxis dieser oder jener Missbrauch sich eingeschlichen habe? Ist das nicht die traurige Geschichte der christlichen Kirche bis zur Reformation, und dann zum Teil auch die Geschichte der evangelischen Kirchen bis zur Gegenwart? Es kann ja fast nicht anders gehen! Denn der Irrtum ist immer populärer als die Wahrheit, nicht bloss, weil diese aus der Tiefe geschöpft sein will, sondern auch, weil sie so einfach, so – uninteressant ist, während sie doch sofort die schwierigsten Forderungen stellt. – Die halbe Wahrheit, mit der wir Menschen uns allerdings begnügen müssen, besitzt man besser für sich allein, also im Gegensatz zu anderen. Denn gerade, dass man durch ihren Besitz sich von seiner Umgebung unterscheidet, dient zur beständigen Aufforderung, sie nachzuprüfen. Vielleicht könnte ja die Ausscheidung eines Irrtums das Verhältnis zur Umgebung erleichtern! Dagegen wird durch die Nachprüfung eines auch von andern geteilten Glaubens das Verhältnis zur Umgebung erschwert. Und da die Selbstkritik überhaupt eine qualvolle Arbeit ist, so lässt man sich durch die Rücksicht auf die Gemeinde gar nicht so ungern davon abhalten.

Gesetzt aber, es besässe jemand die reine und ganze Wahrheit, so kann es auch für ihn und seine Wahrheit zur Gefahr werden, Genossen zu gewinnen. So lange er seine Ueberzeugung bloss für sich hat und, wenn er sie offenbart, im Gegensatz zu andern: so lange ruht die Kraft dieser Ueberzeugung wesentlich auf dem Eindruck von ihrer Wahrheit. Er hat also seine Wahrheit auch als Wahrheit; er hält sie im kritischen Augenblick eben als Wahrheit fest. Denn die blosse Rechthaberei wird die ernste Anfechtung kaum überstehen. Wird ein Gedanke von vielen geteilt, so stellt sich, auch wenn er ursprünglich von allen wegen seiner inneren Ueberzeugungskraft angenommen wäre, der allgemeine Beifall, den er gefunden, ganz von selbst als günstiges Vorurteil für seine Richtigkeit dar. Ist nicht in der Tat die Wirkung der Erkenntnisgrund der Ursache? Und so wird er jetzt nicht mehr bloss, weil er Wahrheit ist, festgehalten, sondern auch, weil so viele ihn für wahr halten. Unter den neuen Anhängern, die er gewinnt, wird ihn vielleicht mancher bloss deshalb annehmen, weil er schon so viele Gläubige zählt. Wie aber ein Magnet seine Kraft verliert, wenn er nicht belastet ist, so verliert auch ein Gedanke seine Kraft, wenn er den Menschen nicht mehr durch seinen inneren Wert festhalten muss, weil dieser ihn schon bloss als Ueberzeugung vieler beachtenswert, wahr findet. Die Innerlichkeit, womit ein Gedanke zugeeignet wird, leidet darunter, dass man ihn als verbreitete Meinung nun mit anderen teilt. Das hat auch Folgen für die Praxis. Eine Idee, die uns bloss durch ihre innere Wahrheit eroberte, die uns vielleicht sogar von anderen losriss, drängt so unmittelbar auf ihre Verwirklichung hin, dass wir uns eher vor zu rascher Verwertung hüten müssen. Dagegen erfordert der Uebergang vom Denken zum Handeln erst einen besonderen Entschluss, wenn wir einen Gedanken überwiegend deshalb haben, weil er ja allgemein für Wahrheit gilt. Warum muss man immer dazu ermahnen, doch mit dem Christentum auch in der Praxis Ernst zu machen? Seine Grundgedanken weisen doch ganz unmittelbar und höchst eindringlich darauf hin, dass sie gelebt sein wollen; zudem hat Jesus selbst so deutlich als möglich hervorgehoben, vor Gott gelte als gültige Münze nur die Tat! Welcher evangelische Christ hätte das nicht schon gehört, gelesen? Gewiss jeder; aber der evangelische Christ hat sein Christentum nie bloss als Wahrheit, zumeist überwiegend, oft allein als öffentliche Meinung, die natürlich auch er teilt. Deshalb erfordert der Uebergang vom christlichen Denken zum christlichen Leben erst einen besonderen Entschluss; deshalb erscheint er in schwierigen Fällen meist als unangebracht.

Ich leugne natürlich nicht, dass mancher einen wahren Gedanken allein nicht festhalten kann; ich leugne ebenso wenig, dass man in Gesellschaft sich weniger leicht auf Extravaganzen einlässt als allein. Auch das Alleinstehen hat seine besonderen und schweren Gefahren. Das kann aber den allgemeinen Satz nicht erschüttern: dass es keinen einfachen, unzweifelhaften Sieg des Geistes bedeutet, wenn man für seine Wahrheit Anhänger gewinnt. Durch Verbreitung kann die beste Idee zugrunde gerichtet werden – und doch kann sie auch nicht anders verwirklicht werden, als indem sie die Ueberzeugung vieler wird.

 

3.

Eine Geistesbewegung hat doch nur dann siegreichen Fortgang, wenn sie als Bewegung des Geistes um sich greift. Der Jünger bedeutet nur dann einen wirklichen Geistessieg des Meisters, wenn er dessen Werk in seinem Geist aufnimmt und fortsetzt. Das ist eine herbe Wahrheit: denn die Anhänger, die jemand findet, entsprechen dieser Bedingung zumeist nicht; und wer im Geiste fortführt, was ein anderer im Geiste begonnen, wird in der Regel nicht unter dessen Jünger gerechnet werden können.

Dass der Jünger des Meisters Geistesnachfolger sei, ist mit der Uebernahme gewisser Handlungsweisen, Redensarten, Gedanken noch keineswegs erwiesen. Denn diese Art von Nachfolge kann durch die verschiedensten Motive bewirkt werden; die Gleichheit des Geistes beruht aber ganz und gar in der Gleichheit der Bestimmungsgründe, der letzten Zwecke. Haben diese sich geändert, so hat der Geist gewechselt, so kann der gewonnene Anhänger auch nicht mehr einen Geistessieg des Meisters beweisen. Das ist ganz klar, wenn ein innerlich-geistiges Motiv durch ein äusserlich-egoistisches ersetzt wird. War der Bestimmungsgrund für Jesu Auftreten, dass ihn des Volks jammerte, so waren seine Jünger so lange seine Nachfolger nicht, als sie durch ehrgeizige Hoffnungen an ihn gehalten waren. Wer sich der siegreichen Sache anschliesst, ist selten desselben Geistes wie die Vertreter der sich erst durchkämpfenden Sache, stellt also auch nicht einen Sieg dieser Sache dar. Oder ist das ein Sieg des Kreuzes Christi, dass es einen nach dem Prälatenkreuz gelüstet? Eine Verschiebung des Bestimmungsgrundes liegt aber auch dann vor, wenn der Meister, zum anerkannten Vorbild geworden, nachgeahmt wird. Dass der Mönch das arme Leben Jesu nachahmt, ist, geistig betrachtet, eine ganz andere Handlung, als das arme Leben Jesu selbst. Ob dieses nun durch die Grösse seiner Liebe erzwungen wurde oder der Verachtung irdischen Besitzes entstammte, jedenfalls war das Motiv seiner originalen Armut ein anderes als das der nachgeahmten. Denn jene beruht auf einer gewissen Betrachtung des Menschenlebens, diese auf einer gewissen Stellung zu Jesus. So ist auch der Bibelglaube an sich nicht der biblische Glaube: denn dieser besteht und beruht in einer gewissen Deutung des Verhältnisses zwischen Gott, der Welt und dem Menschen; jener beruht auf einer gewissen Schätzung der Bibel. Die Nachahmung ist stets eine μετάβασις εἰσἄλλο γένος, einen Uebergang zu einer anderen Lebens- und Denkens art. Die Peinlichkeit der Nachahmung verschärft nur den Artgegensatz des vorbildlichen und nachgeahmten Lebens. – In der Religion gilt die Pietät für eine Hauptpflicht des Jüngers gegen den Meister. Wer aber ausdrücklich und absichtlich aus Pietät dem Meister treu bleibt, hat vielmehr dessen Sache verraten. Denn im Geiste des Meisters kann er sie nur so lange vertreten, als er durch die Motive des Meisters zu deren Fortführung genötigt wird. Die Pietät oder Treue gegen den Meister war aber gewiss nicht das Motiv, das diesem selbst den entscheidenden Anstoss zu seinem Werke gab. Sagt man statt Pietät Liebe, so wird die Sache dadurch nicht besser. Die Liebe zu Jesus ist kein Motiv eines Lebens im Geiste Jesu – also kein Motiv des Christentums. Ebensowenig die Dankbarkeit gegen Jesus. Singt Novalis:

Wenn alle untreu werden,
So bleib ich dir doch treu,
Dass Dankbarkeit auf Erden,
Nicht ausgestorben sei –,

so ist das an sich eine sonderbare Dankbarkeit, aber auch kein Christentum, wenn dieses anders darin besteht, dass man den Geist Jesu hat. Ebensowenig ist es Christentum dieser Art, wenn der württembergische Konfirmand bekennt: »Weil meine Sünde dem Herrn Jesu die grössten Schmerzen, ja den bittern Tod verursachet, so soll ich an der Sünde keine Lust haben, sondern dieselbe ernstlich fliehen und meiden; hingegen soll ich meinem Heiland und Erlöser allein zur Ehre leben, leiden und sterben …« Im Sinne Christi kann es nur sein, an der Sünde als solcher (besser: an gewissen Gedanken und den daraus folgenden Handlungen als solchen) keine Lust zu haben; und ebenso ist es im Sinne Jesu nur, dass man, wie er, den Nächsten als solchen liebt. Es kann gerade im Sinne Jesu keine Pflicht geben, ihm zur Ehre zu leben, zu leiden, zu sterben – obgleich eine gewisse Art zu leben, zu leiden, zu sterben, ihm Ehre machen mag. Aber das wird sie doch nur dann tun, wenn wir sie um ihrer Art willen vorziehen, nicht um der Ehre Jesu willen. So wäre es ja auch nur ein Zeugnis für unser sachliches, eigentliches Wohlgefallen an den »Sünde« genannten Handlungen, wenn wir nur um Jesu Leiden willen daran keine Lust mehr hätten – und das könnte Jesus nur neuen Schmerz bereiten. Denn wir wären so noch nicht seines Sinns. Wo die Pietät als bewusster Bestimmungsgrund auftritt, ist sie ein sicheres Zeichen, dass der Geist des Meisters noch nicht auf den Schüler übergegangen oder wieder von ihm gewichen ist. Der Jesuskultus charakterisiert den Niedergang des Christentums – wenn dieses, wie ich voraussetze, in der Herrschaft des Geistes Jesu besteht. Ist es »Glaube an Jesus«, so muss man anders urteilen.

Lebt der Jünger aus dem Geiste des Meisters, so bedeutet er einen wirklichen Geistessieg desselben. Aber dann hat er gar keine Veranlassung mehr, auf die Person des Meisters besondere Rücksicht zu nehmen. Er wird selbstverständlich freudig bekennen, dass er von seinem Meister den Anstoss zur Entwicklung geistigen Lebens bekommen hat. Aber nachdem er einmal selbst geistig zu leben begonnen hat, bewegt er sich völlig frei, folgt den sachlichen Bestimmungsgründen, für die er sich geöffnet hat, und kann durch sie natürlich auch von dem Meister weg, über ihn hinaus, hinter ihn zurück getrieben werden. Er ist also nur unsicheres Mitglied der Schule des Meisters. Auch wenn er diesem »treu« bleibt, lässt er in seinem wie in des Meisters Interesse möglichst hervortreten, dass seine »Pietät« rein sachliche, nie persönliche Gründe hat. Denn nur dann vermag sein Urteil der Meinung des Meisters grösseres Gewicht zu geben; nur dann vermag er neben dem Meister eigene Bedeutung für die gemeinsame Sache zu gewinnen. Daraus folgt aber, dass gerade der gute Schüler, der wirkliche Triumph des Meisters, dessen persönlicher Triumph nicht sein kann. Ja, durch seine Selbständigkeit kann er dessen persönlichen Ruhm geradezu gefährden, kann er dazu beitragen, dass der Meister in Vergessenheit gerät. Das muss diesem höchst schmerzlich sein. Doch bekommt er durch den echten, gefährlichen Jünger auch Gelegenheit zu dem allerhöchsten Geistessiege. Vermag er wieder der Schüler des eigenen Schülers zu werden, so hat er dadurch bewiesen, dass er gegen den Geist unbedingt gehorsam ist, so muss das die Entwicklung der gemeinsamen Sache aufs kräftigste fördern. Das gilt freilich nur, wenn man die Dinge rein geistig betrachtet. Denn der äussere Erfolg des Meisters wird dadurch gefährdet, dass die Schüler sich zur Unabhängigkeit von ihm durchringen. Eine geschlossene Schule ist eine Macht. Aber zur Selbständigkeit herangewachsene Schüler halten es in der geschlossenen Schule nicht aus. Die christliche Kirche hat in der »Freiheit des Christenmenschen« bald eine grosse Gefahr erkannt und sie darum entschlossen unterdrückt. Die Reformatoren haben sie wohl wieder als Gut erkannt, aber nicht scharf als Aufgabe erfasst, auch den Weg dazu nicht stetig zu gehen, noch weniger andere darauf zu führen vermocht. Die gegenwärtigen evangelischen Kirchen empfinden sie wieder ganz überwiegend als Gefahr.

 

4.

Dass der Meister keinen echten Jünger zu gewinnen vermag, kann an der Schwäche seines Geistes liegen, aber auch an der Qualität der Menschen, mit denen er zusammengeführt wird. Dieser Misserfolg ist also keine unzweifelhafte Niederlage seines Geistes. Eine solche ist dagegen immer der falsche Jünger. Denn seiner soll und kann sich der Meister erwehren.

Ein falscher Jünger ist der Nachbeter. Aber der Geist kann nicht nachgebetet werden. Er dichtet keine Schlagworte, mit denen auch der Schwätzer um sich werfen kann. Er meidet vage Begriffe und allgemeine Theorien, mit denen auch ein Mensch, der eines originalen Eindrucks der Wirklichkeit gar nicht fähig ist, diese umspannen und begreifen kann. Es ist sehr bezeichnend, dass die christliche Theologie mit den echten Worten Jesu nie viel anzufangen vermochte; Paulus und Johannes erwiesen sich weit ergiebiger. Weil sie etwa eine so viel grössere »Tiefe« hatten? Nein, weil sie Begriffe und Theorien bildeten, die man leichter nachbeten konnte. Selbst die »Liebe« spielt bei Jesus nicht die Rolle, wie in den – Reden der Christenheit. Der Geist vermag sich so auszudrücken, dass seine Worte im Munde des Nachbeters den Sinn verlieren oder zur ätzenden Ironie werden. Ich habe auch über die Bergpredigt zu predigen gehabt und bin froh, dieser Pflicht enthoben zu sein. Denn es ist, ganz formell betrachtet, ziemlich lächerlich, über manche der dort zusammengestellten Sprüche noch zu predigen. Jedes weitere Wort schwächt sie nur ab; und wenn man sie wirklich erschöpfen will, kommt man doch nie zu Ende. Materiell betrachtet, wird eine ordentliche Predigt über die Bergpredigt ganz von selbst zur Satire auf die Christenheit, den Pfarrer in erster Linie eingeschlossen. Oder wie mag ein Pfarrer über die Geschichte vom barmherzigen Samariter predigen? Will er nicht selbst lächerlich werden, so kann er nur beginnen: »ein solcher Priester bin ich nicht – sonst würde ich nicht wagen, Euch diese Geschichte vorzulesen.« Nun kann er entweder mit einer allgemeinen Verteidigung der Priester fortfahren, muss also Jesu Gleichnis die Spitze abbrechen, also Jesus bekämpfen. Oder kann er, nachdem er seine Ehre gewahrt, den Priesterstand als solchen preisgeben; und dann kann seine Predigt so gut, so christlich werden, dass er sie gar nicht halten darf. In der Tat, Jesus hat sich vor Nachbetern zu schützen gewusst.

Der Geist weiss sich auch der Pietät zu erwehren; das heisst: der Träger des Geistes duldet nicht, dass jemand dem Verständnis und der Begeisterung für seine Sache die Anhänglichkeit an seine Person substituiere. Als Beispiel kann hier wieder Jesus dienen. Die Jesusliebe als besonders inniger Ausdruck des Christentums ist erst aufgekommen, als der wirkliche Jesus durch ein Phantom ersetzt war. Jener hat nicht nur ausdrücklich und so scharf als möglich erklärt, dass eine nähere Gemeinschaft mit ihm nur in der gemeinsamen Uebung des göttlichen Willens beruhe und bestehe, sondern auch seine Umgebung dementsprechend behandelt. Seine Jünger hat er stets in respektvoller Entfernung gehalten; einen frommen Wunsch des Petrus für sein persönliches Ergehen hat er mit einer an Härte grenzenden Entschiedenheit zurückgewiesen. Seine Hörer zu »ärgern« nahm er gar nicht so schwer. Auch Aeusserungen weiblicher Verehrung nahm er mit einer so sachlichen Kühle entgegen, dass der Gedanke nicht entstehen konnte, er lege auf die Anhänglichkeit an seine Privatperson irgend welchen Wert. Es ist immer eine beschämende Niederlage für den Vertreter einer geistigen Angelegenheit, wenn sich eine Liebe an ihn heranwagt, die nicht auf die Wertschätzung seiner Sache gegründet ist. Er hat nicht Sorge genug dafür getragen, dass dieses Missverständnis nicht entstehen konnte. Vermag er es nicht zurückzuweisen, so ist er verloren. Die Reinheit seines Denkens, die Energie seines Willens wird durch die Rücksicht gelähmt, die er nun auf Privatpersonen nehmen muss. Er kann nicht mehr seine Pfeile unbefangen abschiessen, in dem Gedanken, dass sie niemand treffen können, der sich nicht getroffen fühlen muss – denn wenn sich der Freund getroffen fühlte, so könnte gerade er den Angriff als private Gehässigkeit empfinden. Er darf auch für sich nicht mehr wagen: wie wehe würde es den Freunden tun, wenn er Schaden nähme! Vielleicht ist es für den Geisteskämpfer noch leichter, eine Frau als einen Freund zu haben. Dass er mit jener unlöslich verbunden ist, gibt ihm wieder eine gewisse Freiheit; die losere Verbindung mit dem Freund ist zugleich die empfindlichere, die gefährlichere.

Als geistige Niederlage muss es endlich bezeichnet werden, wenn der Geisteskämpfer es nicht zu verhindern vermag, dass ihm durch materielle Interessen »Jünger« zugeführt werden. Sogar mit Jesu Namen wurden Geschäfte gemacht, allerdings erst, als der wirkliche Jesus schon so gut wie vergessen war. Auch hat dieser sofort das Geschäftschristentum erschwert, wo er sich je wieder in Erinnerung brachte. Die Reformatoren vermochten es noch zu ihren Lebzeiten nicht abzuwehren, dass die von ihnen entfachte religiöse Bewegung politisch ausgenützt wurde: vielleicht der schwerste Einwand gegen das religiöse Recht ihres Auftretens. Heutzutage haben ernsthafte Leute allerdings öfter die Auffassung, dass ein Geisteskämpfer nicht schnell und eifrig genug auf die äusseren Vorteile hinweisen könne, die seine Bestrebungen für die Teilnehmer und das Ganze in Aussicht stellen. Denn anders ist die Masse nicht zu gewinnen, die für das rein Geistige doch keinen Sinn hat. Gewiss ist die Masse nicht anders zu gewinnen. Wer sich also Ziele steckt, die nur mit Hilfe der Masse zu erreichen sind, handelt sehr töricht, wenn er sie mit dem Versprechen geistiger Förderung reizen will. Aber wir reden doch vom Geisteskampfe; und hat die Machtsphäre des Geistes dadurch irgend welche Erweiterung erfahren, dass die Masse durch die Verheissung äusserer Vorteile für eine Aenderung der politischen, kirchlichen, sozialen – äusseren Zustände »begeistert« wird? Ist dadurch irgend eines Menschen Charakter verändert worden? Hat dadurch jemand an Klarheit der Selbstauffassung gewonnen? Wer bekommt dadurch ein höheres Lebensziel? grössere Energie des Strebens? Ich sehe nicht ein, wie solches geschehen sollte. Dagegen wird die Würde und Macht des Geistes notwendig geschädigt, wenn man das ihm entsprechende Leben, das an sich wertvoll ist, mit dem Hinweis auf äussere Nebenwirkungen empfiehlt. So geschwächt, hat der Geist zudem gar nicht mehr die Kraft, die gewünschten Nebenwirkungen hervorzubringen. Das Christentum, das staatserhaltend wirken soll, das deshalb gepflegt wird, das man deshalb auch durch Gewährung äusserer Vorteile zu fördern sucht, wird den Staat ganz gewiss nicht erhalten. Jeder Versuch, es aufzupoussieren, schwächt seine Kräfte, die Gemüter zu bestimmen. Darum ist ein solches Unternehmen nicht nur an sich eine geistige Niederlage, sondern führt auch zu einem äusseren Misserfolg.

Doch tue ich ihm dadurch zu viel Ehre an, dass ich es als geistige Niederlage bezeichne; denn es ist gar nicht mehr unter den Geisteskampf zu rechnen. Auch der wirkliche Geisteskämpfer kann in schwachen Stunden der Fähigkeit ermangeln, sich den Nachbeter, den persönlichen Verehrer, den Spekulanten des Geistes vom Leibe zu halten. Das ist dann eine geistige Niederlage. Wer solche Mitkämpfer gar sucht, ist kein Geisteskämpfer mehr, kann also eine geistige Niederlage unmöglich erleiden.

* * *

Was im »wirklichen« Geisteskampf als Sieg bezeichnet wird, ist in der Regel kein Geistessieg, eher eine geistige Niederlage. Was im »wirklichen« Geisteskampf als Niederlage bezeichnet wird, kann sehr wohl ein Sieg des Geistes sein – kann freilich auch eine geistige Niederlage in sich bergen.

Denn der Sieg im »wirklichen« Geisteskampf besteht in der Regel darin, dass man einen Gegner nach der Meinung des Publikums geschlagen, ihm gar einen Vorteil an Geld und Ehre abgewonnen hat. Solche Siege werden aber kaum je mit rein geistigen Mitteln erfochten, sind also zum voraus verdächtig. Lässt sich der Sieger noch beikommen, damit einen wesentlichen, wirklichen Sieg des Geistes errungen zu haben, so hat er gewiss eine geistige Niederlage erlitten. Denn er ist damit aus der Rolle des Geisteskämpfers herausgefallen; oder er hat gezeigt, dass er den Geisteskämpfer nur als eine Rolle spielte. Vermag aber der Unterlegene sich in seine Niederlage zu finden, weil er sein Unrecht einsieht oder weil er erkennt, dass der äussere Misserfolg eine geistige Bedeutung gar nicht hat: so hat er einen Geistessieg erfochten, auch wenn das geehrte Publikum davon gar nichts merkt, ja wenn es ihn wegen seiner Niederlage verhöhnt.

Sieg und Niederlage im Geisteskampfe bestehen letztlich nicht in einer Verschiebung des Verhältnisses zwischen den Geisteskämpfern, sondern in der Behauptung oder Herstellung eines richtigen Verhältnisses des einzelnen Geisteskämpfers zu sich selbst. Im Geisteskampf siegt man niemals über andere, sondern nur in und über sich selbst. Und umgekehrt: wer sich einbildet, einen Geistessieg über andere erfochten zu haben, der hat selbst eine geistige Niederlage erlitten, der ist vielleicht aus der Reihe der Geisteskämpfer ausgeschieden.


 << zurück weiter >>