Paul Schreckenbach
Wildefüer
Paul Schreckenbach

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In einer Nachmittagsstunde des folgenden Tages stand Lucke von Hary an einem Fenster des Wildefüerschen Hauses und schaute auf die Straße hinab. Sie sah zu, wie der Wind eine Menge kleiner Papierfetzen hin und her wirbelte und nach allen Richtungen auseinandertrieb. Sie waren die Teile eines Briefchens, das sie vor wenigen Augenblicken zerrissen hatte, von dem aber jedes einzelne Wort fest in ihrem Herzen stand.

Um die Zeit des Abendläutens wollte Christof von Hagen die Stadt verlassen. Er hätte ja noch länger in ihren Mauern verweilen dürfen, aber eine günstigere Gelegenheit zu gemeinsamer Flucht, so hatte er ihr geschrieben, werde sich kaum finden lassen. Von Braunschweig sei eine Gesandtschaft eingeritten, mit der wolle der Rat um sechs Uhr verhandeln. Nach der Verhandlung werde dann der übliche Trunk in des Rates Trinkstube folgen. So sei der Bürgermeister vor dem Eintritt der vollen Dunkelheit nicht wieder in seinem Hause zu erwarten. Darum solle sie, wenn die Glocke von Sankt Jacobi zu klingen anhübe, hinausgehen vor das Almtor, dort werde er mit Knechten und Pferden ihrer harren und sie mit sich nehmen.

Der Plan war sehr einfach und konnte wohl glücken. Das Almtor lag nicht viel über hundert Schritte vom Wildefüerschen Hause entfernt, und draußen vor dem Tore besaß der Bürgermeister einen Garten. Wurde sie vom Torwart gefragt, warum sie die Stadt verlasse, so konnte sie erklären, sie sei beauftragt, etwas dort Vergessenes zu holen. Aber wahrscheinlich würde der Mann sie gar nicht befragen und sie höchstens mahnen, beizeiten zurückzukehren, denn nach Eintritt der Dunkelheit wurde das Tor geschlossen. Dann aber war sie schon weit hinweg, und die Gefahr, daß Hildesheimer Stadtreiter die Flüchtlinge einholten und zurückbrachten, war äußerst gering. Ehe sie ausgesandt werden konnten, vergingen Stunden, und Christof von Hagen hatte ihr gestern auseinandergesetzt, wie er etwaige Verfolger in der Dunkelheit irrezuführen gedenke.

Sie hatte sich ihm freudig in die Arme geworfen, als er ihr den Plan entwickelte, sie aus der Stadt zu entführen, denn sie war mutigen, ja verwegenen Geistes, und der Gedanke eines solchen Abenteuers hatte nichts Abschreckendes für sie. Dazu kam, daß ihr der Aufenthalt im Wildefüerschen Hause immer drückender wurde. Das Verhalten ihres Vormundes hatte für sie geradezu etwas Unheimliches. Kurz und kalt hatte er ihr untersagt, an Frau Mettes Begräbnis teilzunehmen und das Haus zu verlassen, hatte ihr auch geboten, über das Vorgefallene strengstes Stillschweigen zu bewahren. Außerdem hatte er ihr in allen den Tagen keinen Blick, noch weniger ein Wort gegönnt, hatte auch die Mahlzeiten allein eingenommen und sich völlig von ihr ferngehalten. Das war ihr freilich gar nicht unlieb gewesen, denn vor einer Aussprache graute ihr. Aber wenn sie länger im Hause blieb, so mußte sie ja doch eines Tages erfolgen, und dann mochte der Himmel wissen, was geschehen würde. Sie hatte ihren Glauben vor ihrem Vater verborgen, weil sie es nicht übers Herz hatte bringen können, ihn auf den Tod zu betrüben. Das war eine schwere Last gewesen auf ihrem Gewissen; die wollte sie fürderhin nicht mehr tragen. Was dem Vater gegenüber ihr die Zunge gelähmt und gebunden hatte, das galt dem Vormund gegenüber nicht. Sie hatte ihn einstmals gern gehabt, denn er war gegen sie stets freundlich gewesen. Jetzt aber hatte sich ihr Gemüt von ihm abgewendet. Sie fürchtete sich vor ihm, ja, sie begann ihn zu hassen. Aber sie war fest entschlossen, nicht mehr zu heucheln, sondern ihm frei ins Gesicht zu bekennen, daß sie mit dem Glauben der Kirche gebrochen habe, und seinem Zorn zu trotzen. Nun schien es fast, als solle ihr das erspart bleiben, denn in drei oder vier Stunden war sie, wenn sich kein Zwischenfall ereignete, seinem Machtbereich entrückt. Dann sollte sie dem Hause des Mannes zueilen, dessen Lehre sie seit Jahresfrist als Heiligtum im Herzen trug, und Martin Luthers Hand sollte sie in Kürze mit dem Geliebten vereinen.

Ein scharfer Peitschenknall weckte sie aus ihren Träumen auf. Eine Prachtkarosse, gezogen von zwei schweren, überaus wohlgenährten Rappen, bog aus dem Kurzen Hagen in die Almstraße ein. Ob jemand drin saß, war nicht zu erkennen, denn dichte Vorhänge verhüllten ihr Inneres. Nicht ohne Neugier und Verwunderung blickte Lucke darauf hernieder, denn sie hatte ein solches Ungetüm noch selten zu Gesicht bekommen. Nur höhere Geistliche und wohlhabende alte Leute bedienten sich zum Fahren über Land solcher Kutschen, mit denen man langsam vorwärtskam. Wer jung, gesund und kräftig war und nicht übermäßig viel Zeit hatte, der pflegte im Sattel zu reisen.

Luckes Verwunderung stieg, als sie sah, wie Valentin drunten das Tor öffnete und das Gefährt in den Hof hineinrumpelte. Kam da ein Bischof oder Domherr zu Besuch? Oder wollte der Bürgermeister verreisen, und es war ihm ein Unfall zugestoßen, daß er dieses Mittel wählen mußte?

Sie sollte nicht lange im unklaren bleiben über den Zweck dieses Wagens, denn kaum war er hinter der Einfahrt verschwunden, so hörte sie Tritte auf dem Vorsaale, die Tür ging auf, und Hans Wildefüer trat herein.

Lucke erschrak so heftig, daß sie erblaßte, obwohl sein Gesicht nicht den Ausdruck der Härte, sondern nur den des Grames und der Düsterheit zeigte. Aber sie fühlte es: Der gefürchtete Augenblick der Aussprache war da, sie konnte ihm nicht mehr durch heimliche Flucht ausweichen.

Der Bürgermeister begrüßte sie nur mit einem kurzen Nicken, dann ließ er sich auf einen Stuhl nieder und bedeutete sie, ein Gleiches zu tun. Erst nach einer kleinen Weile begann er: »Du wirst gewißlich schon erwartet haben, daß ich mich mit dir über Verschiedenes berede.«

»Ja«, erwiderte sie leise. Wäre seine Stimme voll zorniger Schärfe gewesen, so wäre der Trotz in ihr aufgestanden und hätte ihr über alle Befangenheit hinweggeholfen. Da ihr aber nur müde Traurigkeit daraus entgegenklang, wurde ihr mit einem Male sehr beklommen, und das Herz schlug ihr bis in den Hals.

Wildefüer heftete seine Blicke fest auf ihr Antlitz und sagte dann ruhig und bestimmt: »Du sollst mir auf alles, was ich dich frage, ehrliche Antwort geben nach bestem Gewissen. Du sollst denken, dein Vater fragte dich, und du antwortetest ihm. Willst du das tun?«

»Ja.«

»So frage ich dich: Woher hattest du das Buch, aus dem du meiner Frau vorgelesen hast vor ihrem Sterben?«

»Von meinem Verlobten Christof von Hagen.«

»Ihm war befohlen, Einlager zu halten in seinem Hause, und er hatte es gelobt. Wie ist es da in deine Hand gekommen?«

»Ich habe es geholt.«

»Du hast es geholt?« Er hob erstaunt den Kopf. »Weißt du nicht, daß es sich für eine sittsame Jungfrau nicht geziemt, in eines ledigen Mannes Haus zu gehen und nun vollends in das Haus ihres Verlobten?«

In Luckes Wangen trat eine glühende Röte. »Ich bin nicht hineingegangen«, verteidigte sie sich. »Ich habe ihn lassen herausrufen, und da hat er mir's gegeben.«

»Ich habe nicht Ursach', dir das nicht zu glauben«, erwiderte Wildefüer. »Aber was bewog dich« – er stockte, und seine Stimme ward mit einem Male merkwürdig weich und unsicher – »was bewog dich, das Buch zu holen?«

Lucke schwieg. Sollte sie die Lüge wiederholen, die sie am Totenbette seiner Frau gesagt hatte? Sollte sie ihm verschweigen, daß die Sterbende in halbem Fieber sie angefleht hatte, ihr dieses Buch zu verschaffen, und daß sie sich der Menschenfurcht und Feigheit angeklagt hatte, weil sie nicht den Mut gefaßt habe, eine Heilige Schrift im eignen Hause aufzubewahren? Warum sollte sie die Tote schonen? Ihr konnte er ja nichts mehr anhaben.

»Du sollst mir's ehrlich sagen«, drängte er.

»Ich tat es, weil die Muhme herzlich danach verlangte«, erwiderte sie.

Wildefüer stöhnte und wandte das Haupt zur Seite. »Zuerst hast du anders gesagt«, sprach er nach langem Schweigen.

»Da habe ich gelogen.«

»Warum?«

»Ich wollte nicht, daß Ihr die Muhme quälen solltet. Sie war in großer Angst vor Euch. Nun aber ist sie gestorben, und ihre Seele ist bei Gott.«

»Ach, wenn sie das wäre!« schrie Wildefüer aufspringend. »Ach, wenn ich das wüßte! Herr, mein Gott! Heilige Jungfrau! Erbarmet euch! Helft mir, daß ich sie erlösen kann aus den Qualen des Fegefeuers!«

Er war ganz außer sich. Der Schmerz und die Angst überwältigten ihn so, daß er für Augenblicke ganz vergaß, wer ihm zuhörte.

Lucke war tief ergriffen. Aller Groll und aller Haß gegen ihn waren mit einem Male aus ihrer Seele gewichen. Aber auch alle Befangenheit und Furcht fiel von ihr ab, und indem sie sich hoch aufrichtete und die Hände emporhob, rief sie begeistert: »Ach, lieber Ohm Wildefüer, warum martert Ihr Euer Herz mit dem traurigen Wahn? Wisset Ihr nicht, daß geschrieben steht: ›Gott ist die Liebe?‹ Wisset Ihr nicht, daß auch geschrieben steht: ›Ihr seid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Christum Jesum?‹ Wie sollte ein Gott, der die Liebe ist, seine Kinder peinigen aufs erschrecklichste? Sollte er ihnen nicht vielmehr alle ihre Sünde vergeben, wenn sie seine Gnade suchen, um des allgültigen Opfers willen, das unser Erlöser gebracht hat mit seinem heiligen, teuren Blute?«

Wildefüer starrte sie an, als habe er sie nicht verstanden. Aber Lucke, jede Scheu vor ihm vergessend, fuhr mit noch kräftigerer Stimme fort: »Was die Priester uns sagen über die Qualen des Fegefeuers, sind Menschensündlein und ist nicht gegründet im Worte Gottes. Wenn die Heilige Schrift redet von Qualen in jenem Leben, so meinet sie die Strafe derer, die in der ewigen Verdammnis sind, und das sind nur die Menschen, die dem Teufel gedient haben ihr Lebelang und sich verstockt haben gegen Gottes Wort und Gnade. Vom Fegefeuer haben die heiligen Männer Gottes noch nichts gewußt. Das haben die Priester erfunden, um die Seelen der Leute zu knechten. Die armen Menschen sollen ihnen Geld geben und immer mehr Geld in ihrer Angst um die Seele der Abgeschiedenen« –

Ein heiserer Laut aus seinem Munde ließ sie abbrechen, und dann verstummte sie ganz und gar. Sie sah, wie sein Antlitz sich veränderte, wie er die Zähne zusammenbiß und die Hände rang, um seinen Zorn niederzuzwingen. Das erschreckte sie nicht, sie wäre in diesem Augenblicke kaum erschrocken gewesen, wenn er sie ins Gesicht geschlagen hätte. Aber eine tiefe Traurigkeit kam über sie, denn sie sah, sie hatte ganz umsonst geredet.

»Weib!« knirschte er endlich. »Du, die Tochter Klaus Harys« – er lachte schneidend auf. »O Klaus von Hary! Mein alter Klaus! Womit hast du es verdient, daß dein einziges Kind zur Ketzerin geworden ist? Weib!«, rief er noch einmal. »Besinne dich! Komm zu dir! Du lästerst frech, was die Kirche lehrt. Warum? Weil ein abtrünniger Mönch es der Welt so vorplärrt. Tausend heilige Männer und Frauen haben die Lehren der Kirche geglaubt und mit ihrem Blute besiegelt seit der Apostel Tagen. Da tritt ein Mensch auf den Plan, der alles andere ist als heilig, der sich's wohl sein läßt bei Bier und Wein, wie wir Weltleute auch, der eine entlaufene Nonne freit und mit ihr Kinder hat. Der schreit: Es ist alles nicht wahr, was die heilige Kirche lehrt, – und die halbe Welt fällt ihm zu. Das kommt daher, daß der Teufel ihm die Seelen zutreibt. Der entzündet den Hochmut in ihnen, daß sie wollen klüger sein als alle Päpste, Bischöfe und Kardinäle. Du bist kaum einundzwanzig Jahre alt, aber du erfrechst dich, zu leugnen, was die Kirche lehrt! Bei Gott und allen Heiligen! Meinst du denn, du wärest klüger als alle die gelehrten Doktoren und Magister, die sich der Kirche unterworfen haben?«

»Gewißlich nicht«, erwiderte Lucke traurig, aber fest. »Ich bin ein ungelehrtes, einfältiges Ding. Aber die Schrift ist klüger als alle Menschen, und wären sie noch so gelehrt. Wer auf der Schrift steht, der kann nimmermehr irren.«

»Die Schrift! Die Schrift!« rief Wildefüer. »Haben sich nicht alle auf die Schrift berufen und gesteift – die Propheten der Bauern in Thüringen und Schwaben und vor etlichen Jahren die Schandbuben in Münster? Ja, die Schrift ist heilig, und Gott redet in ihr. Aber wer kann sie verstehen und auslegen? Wir Laien können's nicht. Das hat Gott den Priestern anbefohlen.«

»Die Priester sagen so«, entgegnete Lucke. »Aber in der Schrift heißt es: ›Ihr sollt mir ein priesterliches Königreich und ein heiliges Volk sein.‹ Auch wird uns da geboten, daß sich keiner im Geiste über den anderen erhebe und sich Meister lasse nennen. Denn einer ist unser Meister, Christus. So sind wir denn in geistlichen Dingen alle gleich vor Gott und sind allzumal Priester, und es gibt in der Christenheit keine Laien.«

Wieder starrte Wildefüer sie an, als zweifle er an ihrem Verstand. Dann wandte er sich schroff von ihr ab, trat ans Fenster und blickte hinaus und sprach lange kein Wort.

Endlich kehrte er sich wieder zu ihr und sagte kalt: »Es ist so, wie ich gedacht habe. Du bist von der Seuche ergriffen, wie so viele andere auch. Ich kann dein Arzt nicht sein, denn ich bin der Schriften nicht kundig, auch mangelt mir die Zeit. Aber ich will dich zu jemand führen, der mit dir reden soll über den Irrtum deines Weges. Nimm Mantel und Hut und folge mir!«

»Zu einem Priester?« rief Lucke, unwillkürlich zurückweichend.

»Nein, zu einer Frau hier in der Stadt, der Gott die Gabe der Rede gegeben hat.«

»Und jetzt auf der Stelle?«

»Auf der Stelle. Der Wagen hält unten. Beeile dich!«

»Wann werden wir zurück sein?« fragte sie angstvoll.

»Das wird von dir selber abhängen, beeile dich!«

In Lucke regte sich der Trotz, aber nur einen Augenblick lang, dann sah sie ein, daß Pflicht und Klugheit ihr geboten, ihm willfährig zu sein. Er war ihr Vormund, stand an ihres Vaters Statt. So war sie ihm Gehorsam schuldig in allen Dingen, die nicht gegen das Gewissen stritten, und zudem konnte Widerstand ihr nichts nutzen. Er besaß die Macht und den Willen, ihn zu brechen.

So saß sie denn wenige Minuten später neben ihm in der großen Karosse, die sie vorhin hatte einfahren sehen. Wohin die Fahrt ging, sagte er ihr nicht, und sie wagte nicht, danach zu fragen. Während ihrer Dauer fiel zwischen den beiden nicht ein einziges Wort.

Nach etwa fünf Minuten hielt der Wagen, der sich langsam und teilweise über holpriges Steinpflaster vorwärts bewegte. Lucke hörte, wie ein Tor in seinen Angeln kreischte und dann hinter ihnen wieder geschlossen wurde. Als der Bürgermeister nun die Vorhänge zurückschob und die Tür zum Aussteigen öffnete, sah Lucke, daß sie sich in einem ziemlich großen Hofe befanden. Rechts von ihr stand eine uralte Kirche, die anderen Seiten waren von hohen Gebäuden eingeschlossen. Gewaltige Linden, deren Zweige eben zu grünen anhuben, gaben der sonst etwas düsteren Stätte ein wohnlicheres und freundlicheres Aussehen.

»Wir sind im Magdalenenkloster«, sagte Wildefüer. »Steige aus und folge mir. Ich führe dich zur Domina Elisabeth Erksleben.«

Er wollte sich nach links wenden, um in das Sprechzimmer des Klosters zu gelangen, als die Domina aus der Tür des Mittelbaues zufällig heraustrat. Sie hatte gerade in Begleitung einer älteren Nonne den Gemüsegarten des Klosters prüfend in Augenschein genommen. Die hochwürdige Elisabeth Erksleben war ein rundes, jedoch behendes Weiblein in der Mitte der vierziger Jahre. In ihrem Antlitz erglänzten zwei dralle Bäckchen von der Farbe eines hochreifen Stettiner Apfels der rötesten Sorte, zwischen denen eine lange, gerade Nase gebietend hervorstach. Die kleinen blauen Äuglein glichen an Unruhe und Beweglichkeit denen der Elster, und der nicht kleine kirschrote Mund stand selten still. Das widersprach ganz den Regeln ihres Ordens, der von seinen Mitgliedern strenge Schweigsamkeit forderte, aber davon pflegte die Ehrwürdige sich und andere gern zu dispensieren. Sie redete wie ein Buch, und ihre Lippen troffen von geistlicher und weltlicher Weisheit, denn sie war die gelehrteste und zugleich beredsamste unter allen Klosterfrauen des niedersächsischen Landes. Insbesondere schrieb sie und sprach sie das Lateinische wie Wasser. Das war ihr einst in den Tagen ihrer Jugend von einer harten und übereifrigen Lehrmeisterin unter vielen Scheltworten, Knüffen und Rutenstreichen eingebleut worden. Jetzt war sie unsäglich stolz darauf, wie denn niemand auf seine Kenntnisse eingebildeter zu sein pflegt, als der sie sich unter besonders schweren Mühen in den Kopf gebracht hat. Darum hatte sie eine Gewohnheit angenommen, die sie vielen Menschen unausstehlich machte, anderen freilich ein Zeichen ihrer tiefen Bildung war: Sie mengte in ihre Reden fortwährend lateinische Brocken, ja zuweilen ganze Sätze hinein, die sie dann wieder ins Deutsche zu übersetzen pflegte, damit sie auch den dummen und ungebildeten Leuten, mit denen sie zu verkehren genötigt war, verständlich wurden.

Kaum erblickte sie den Bürgermeister, so schoß sie auf ihn zu, oder besser gesagt, sie watschelte auf ihn zu, denn einer anderen Bewegung waren ihre Füße, die so platt waren wie ein Bügeleisen, schlechterdings nicht fähig. »Saluto vos, domine venerabilissime! Ich grüße Euch, verehrungswürdigster Herr!« rief sie mit schallender Stimme. »Ist das die Jungfrau, die Ihr mir zuführen wolltet, weil sie veneno Martinorum imbuta ist? Sieh, sieh! Das ist ja was Rares!« Sie musterte Lucke mit wohlgefälligen und etwas neidischen Blicken. »Hab' ich's doch immer gesagt: Der Dominus tenebrarum, der Herr der Finsternis ist eben auch ein richtiges Mannsbild. Er richtet Animum suum stets auf die Virgines pulcherimas, die schönsten Jungfrauen.«

»Ich bitte Euch, hochwürdige Domina,« unterbrach sie der Bürgermeister, »redet mit dieser, wie Ihr mir zugesagt habt, über die Artikel unseres heiligen Glaubens, und wenn sie in dem oder jenem abweicht von dem, was die Kirche lehrt, so zeiget ihr, warum sie irrt.«

»Summa cum voluptate, mit der größten Freude willfahre ich Euch, Herr, wie ich's Euch ja schon gesagt habe«, erwiderte die Domina sichtlich geschmeichelt. »Ich denke, Ihr seid an die Richtige gekommen, und ich habe schon manchen impetum des bösen Feindes abgeschlagen und ihm manche Beute aus den Zähnen gerissen. Cognoscit me, er kennt mich. Da war zum Excemplum« –

Sie wollte ihm die berühmte Geschichte von der vielangefochtenen Schwester Eusebia erzählen, zu der in einer lauen Maiennacht der Teufel in Gestalt eines schwarzen Hasen über das Wasser der Innerste in ihre Zelle geflogen war und dort die Gestalt eines Mönches angenommen hatte, aber Wildefüer unterbrach sie wiederum.

»Wer hört den Schwestern in Eurem Kloster zur Zeit die Beichte ab?« fragte er.

»Der ehrwürdige Herr Probst«, erwiderte die Domina, verwundert über die Frage.

»Der allein?«

»Zuweilen kommt der Pater Eulogius von Sankt Michaelis herunter. Ihr wißt, der liebe Probst ist alt und zuweilen hinfällig, und der Schwestern sind nicht wenige.«

»Kommt er ins Kloster oder in die Kirche?«

»Bisher ist er nur in die Kirche gekommen. Ich lasse nicht gern ein Mannsbild ins Kloster, außer in den Hof und ins Sprechzimmer. Denn pro primo« –

Wildefüer unterbrach sie zum dritten Male. »Da tut Ihr wohl daran, und Euer Kloster hat ja auch in Wahrheit den Ruf, eine Stätte der Tugend und Sittsamkeit zu sein, wie ihn, Gott sei's geklagt, nicht alle Klöster haben.«

Die Äbtissin zeigte eine noch viel geschmeicheltere Miene als vorher und schickte sich an, mit der nötigen Ausführlichkeit darzulegen, welche außerordentlichen Fähigkeiten zu der richtigen und gottwohlgefälligen Leitung eines Klosters nötig seien, aber Wildefüer ließ sie nicht zu Worte kommen. Er fragte noch mehr: »Warum habt Ihr gerade den Pater Eulogius zum Beichtiger gewählt?«

»Wir haben ihn nicht gewählt. Der Abt Johannes hat ihn unserem Probst empfohlen.«

»So, so!« sagte Wildefüer. »Ich werde«, setzte er nachdenklich hinzu, »Eurem Gespräche nicht beiwohnen, denn ich habe noch einen Gang vor.«

»Das ist mir leid!« rief die Äbtissin. »Ihr würdet sehen und hören können, quomodo diabolus pertubatur et oorrumpitur, wie man den Teufel ängstigt und austreibt.«

»Ich komme in einer kleinen Weile wieder und hole mir Bescheid, was Ihr gefunden habt. Der allmächtige Gott gebe Eurer Rede Kraft und Nachdruck!«

Er neigte sich und schritt dem Ausgange zu. Beim Abgehen sah er noch, wie das muntere Weiblein Luckes Arm in den ihren legte, und hörte, wie sie ihr zurief: »Komm, Kind! Lavabimus animam tuam. Wir werden deine Seele waschen, und sie wird rein werden wie die eines neugeborenen Kindleins.« Den anklagenden und jammervollen Blick, den Lucke auf ihn richtete, sah er nicht mehr.

Langsam schritt er durch das Süstertor, den »Flohhagen« und die Straße »In Wohle« hinauf zum Michaeliskloster. Hier brauchte er nicht an der Pforte zu läuten, denn das Tor stand weit offen. Es wurde gerade ein Wagen in den Hof gefahren, den zwei schwere Pferde nur mit Mühe den Hügel hinaufgezogen hatten. Das war kein Wunder, denn auf ihm lagen wohl ein Dutzend Fässer von nicht unansehnlicher Größe. Sie kamen aus den gesegneten Auen des rheinischen Landes, wo der Wein gedieh, den der würdige Prior Theodorus am liebsten trank. Der Gottesmann kam soeben selber über den Hof, so schnell es ihm die Fülle seines Leibes gestattete, und sein Antlitz leuchtete vor Freude, denn er sah bereits im Geiste den Hahn in eines dieser Fässer zum Anstich geschlagen und ahnte einen frohen Abend beim roten Aßmannshäuser. Aber als er den Bürgermeister erblickte, verzogen sich seine Mienen, als habe er einen starken Schluck sauersten Essigs getrunken, denn er gedachte verschiedener Unbilden, die er von diesem Manne erlitten hatte, und deren Gedenken niemals aus seiner Seele weichen wollte. Doch bedachte er auch, daß es nicht wohlgetan war, ihm unhöflich zu begegnen oder ihn gar zu reizen, und deshalb trat er, sich zu einem Lächeln zwingend, auf ihn zu und fragte nach seinem Begehr.

»Zu Eurem Abte will ich,« entgegnete Wildefüer, »und es wäre mir lieb, Herr Prior, wenn Ihr mich selber zu ihm geleiten wolltet, denn was ich zu sagen habe, geht euch beide an.«

Der Prior senkte das Haupt unwillig auf sein Doppelkinn herab und ließ einen Blick des Bedauerns über den Wagen gleiten. Er hätte gern die Ausladung dieser Fässer als sachkundiger Mann überwacht, und überdies schwante ihm, daß der Bürgermeister Unwillkommenes vorbringen werde. Aber er ließ sich davon nicht viel anmerken, sondern erwiderte in würdevoller Haltung: »Ich will Euch gern zu dem hochwürdigen Herrn Abt geleiten, Herr. Er ist im Innengarten. Dort studiert er.«

Er führte ihn vor das Haupthaus, öffnete die Tür und lud ihn ein, vorauszugehen. Wildefüer trat in eine gewaltige Halle, in der eine angenehme Kühle herrschte. Seine Brauen zogen sich unmutig zusammen, als er das Bild sah, das sich seinen Augen darbot. Wohl die Hälfte der Brüder war in diesem Raum versammelt, aber nicht zu einem Tun, das ihres Standes würdig war. Sie saßen vielmehr an kleinen Tischen und huldigten dem Kartenspiele und waren so darin vertieft, daß sie kaum aufblickten, als er mit dem Prior an ihnen vorüberschritt. Den Bürgermeister ärgerte der Anblick ganz besonders, denn er hatte für das Kartenspiel kein Verständnis. Wie erwachsene und ernsthafte Leute die Zeit damit totschlagen mochten, das hatte er zu keiner Zeit seines Lebens begriffen, am allerwenigsten, wie sie Wein dazu trinken mochten. Denn der Wein, meinte er, rege den Menschen zu froher Rede und Gegenrede an, das Spiel dagegen lähme und töte jede Unterhaltung, und so reime sich das eine durchaus nicht mit dem anderen zusammen.

Angewidert schritt er an den Mönchen vorbei, die ihre Karten auf den Tisch klatschten und dabei nicht rechts noch links blickten, und stieg die Steintreppe hinauf, die in den Innengarten des Klosters führte. Als sich die Tür hinter ihm und seinem Begleiter schloß, sah er den gelehrten Abt, wie er tiefgesenkten Hauptes den wundervollen Kreuzgang durchwanderte, der in die Kirche führte. Laut hallten seine Tritte an den hohen Wölbungen wider, die der große Bernward gebaut und an denen viele Geschlechter späterer Zeiten gemodelt und geformt hatten. Bei solchem Umherwandeln, so behauptete der Prälat, kämen ihm die besten und erleuchtetsten Gedanken.

Abt Johannes war der gelehrteste, harmloseste und dümmste unter sämtlichen Insassen des Klosters, dessen Schirmherr der heilige Erzengel Michael war, und der Vereinigung dieser Eigenschaften in seiner Person hatte er seine Wahl zum Oberhaupte der Mönche zu danken gehabt. Es war dem Ansehen des Klosters förderlich, wenn ein Mann an seiner Spitze stand, der von den gelehrten Doktoren zu Leyden und Köln als eine Fundgrube und Leuchte geistlicher Gelehrsamkeit gepriesen wurde. Und es war dem Behagen der Brüder förderlich, wenn derselbe Mann in allen Dingen des irdischen Lebens so hilflos war wie ein Kind, gänzlich unfähig zu herrschen und zu regieren, jeder Härte und Strenge abhold. Darum konnte jeder tun und lassen, was ihm beliebte, und dahin war es in der Tat unter der Regierung dieses Abtes gekommen. Die Mönche des überreichen Klosters kümmerten sich um die strengen Regeln der Zucht, die Sankt Benedikt den Seinen vorgeschrieben hatte, nicht im geringsten mehr. Sie lebten in weltlicher Üppigkeit, und ihr ärgerlicher Wandel erregte den Spott der Kinder dieser Welt und war frommen Gemütern ein Ärgernis. Kein anderes Kloster unweit in der Runde war so unbeliebt und verachtet beim Volke, wie das des heiligen Michael.

Abt Johannes ahnte davon nichts und würde sich sicherlich verwundert haben, wenn's ihm jemand gesagt hätte, denn sein Geist war der Welt abgekehrt und stets mit hohen wissenschaftlichen Fragen beschäftigt. Zur Zeit arbeitete er an einer gelehrten Abhandlung über die Frage, was wohl aus einer Maus werden würde, die durch Zufall etwas von einer geweihten Hostie fräße. Müsse das Tier, das sich das Allerheiligste einverleibt hätte, nicht dadurch der Unsterblichkeit teilhaftig werden? Achtzig Jahre früher hatte ein gelehrtes Licht der kirchlichen Wissenschaft eine umfangreiche Arbeit über diese wichtige Frage verfaßt. Sie war dem Abte zu Gesicht gekommen, hatte aber seinen Beifall nicht gefunden. Er war entschlossen, die Ansicht, die er gefunden hatte, unter Aufbietung des größten Scharfsinnes und mit Anwendung ganz anderer wissenschaftlicher Mittel zu widerlegen, und zu diesem Behuf hatte er sich in seinen Denkwinkel zurückgezogen und befohlen, ihn nicht zu stören.

So war er denn sehr ungnädig gestimmt in seinem Gemüte, als er auf die beiden stieß, die ihn an der Tür des Kapitelportals erwarteten. Lässig erhob er die Hand zum Segensgruß, und die Frage: »Was führt Euch zu mir, Herr Bürgermeister?« klang so zerstreut, daß ihm anzumerken war, wie übel er die Störung empfand, und wie er innerlich an der Frage, die ihn beschäftigte, noch weiterarbeitete.

Indessen wurde sein Geist doch einigermaßen rasch auf die Erde zurückgebracht, als jetzt Wildefüer mit großer Schärfe sagte: »Ich komme mit einer Klage, Hochwürden.«

»Oh! Doch nicht gegen einen der Brüder?« rief der Abt erschrocken.

»Gegen den Pater Eulogius«, erwiderte Wildefüer. »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß er mit einem Weibe im Kurzen Hagen einen sträflichen Verkehr unterhält. Ich habe die Sache nicht an die große Glocke gehängt, denn ich will nicht, daß viel Rumor darüber entsteht. Das gemeine Volk ist ohnehin voll Erbitterung und Haß gegen die Schwarzkutten. Aber ich fordere, daß Ihr mit aller Strenge einschreitet gegen den Mönch, der sein heiliges Gelübde also entweiht und mit Füßen tritt.«

Der Abt blickte den Prior an. »Ach, sollte das wahr sein?« stotterte er. »Ich kann's nicht glauben.«

»Glaubt es immerhin, Hochwürden!« versetzte Wildefüer. »Ich habe Zeugen und Beweise, und sie stehen Euch zu Diensten, so Ihr's begehrt.«

Wieder schaute der Abt wie hilfesuchend nach dem Prior hin. Der zuckte die Achseln und wandte sich halb zur Seite, und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Dann nahm sein feistes Gesicht einen Ausdruck an, als wolle er sagen: Was ist daran gelegen? Über solche Lappalien regt sich kein Mensch auf, der die Welt kennt. Er vermied es weislich, solches auszusprechen, aber Wildefüer erriet seine Gedanken, und Zorn und Ärger kochten in ihm auf.

»In Christo geliebter Sohn,« begann der Abt nach einer Pause, »ich will den Bruder Eulogius gewißlich vermahnen, abzustehen von den Pfaden der weltlichen Lüste, so die Seele verderben. Doch bedenket, daß auch geschrieben steht: Du sollst deinem sündigen Bruder siebzigmal vergeben.«

»Vergebt ihm meinethalben siebentausendmal und tut mit ihm, was Euch beliebt!« brauste Wildefüer auf. »Aber das sage ich Euch: Wenn er noch einmal die Stadt betritt, so sperre ich ihn unter dem Rathause ein. Und wenn er sich beikommen läßt, im Frauenkloster drunten den Nonnen weiterhin die Beichte abzunehmen, so soll das Euer Kloster büßen. Ihr wißt, was ich vermag. Ich will nicht, daß er das Frauenkloster auch nur mit einem Fuße betritt. Ihr haftet mir dafür. So, das wollt' ich Euch sagen, Herr Abt, und weil ich denn einmal im Zuge bin, so will ich Euch noch mehr sagen: Die Zeit ist ernst, furchtbar ernst. Jetzt sollte jeder Priester so wandeln, daß er durch seinen Wandel ein Zeugnis ablegte für die Heiligkeit seines Standes. Die Mehrheit Eurer Brüder aber leben so, daß sie ihren Stand schänden. Ihr wollt das nicht, dessen bin ich gewiß. Aber dennoch tragt Ihr den Hauptteil der Schuld daran. Denn Ihr seid dazu bestellt, zu herrschen und zu leiten, statt dessen hockt Ihr über Büchern und spintisiert über Fragen, mit denen Ihr keinen Hund vom Ofen lockt. Dafür werdet Ihr Rechenschaft müssen ablegen vor dem allmächtigen Gott, und das wird Euch schwerfallen. Dasselbe gilt von Euch, Herr Prior, nur daß Ihr Euch nicht zu den Büchern, sondern zu den Fässern haltet. Das sage ich Euch als ein Mann, dem die Verderbnis unserer heiligen Kirche in der Seele weh tut. Nehmt Euch daraus, was Euch not tut, und gehabt Euch wohl!«

Er beugte sein Haupt sehr wenig vor den beiden Klosterhäuptern, die er in seinem Herzen schon lange tief verachtete, wartete auch ihre Gegenrede nicht ab, sondern schritt stracks den Weg zurück, den er gekommen war. Abt und Prior blickten einander ins Gesicht. Der eine war käseweiß, der andere puterrot.

»Allmächtiger Herrgott!« wimmerte der Abt. »Welche Sprache führt dieser Mann gegen uns!«

»Hat er denn je eine andere geführt?« knurrte der Prior grimmig. »Denkt Ihr nicht des Tages, da er uns alle in unseren Remter einsperrte, weil wir uns weigerten, der Stadt den Schoß zu zahlen, den sie von uns haben wollte, und keinen von uns herausließ, bis wir einwilligten?«

»Ich denke daran«, seufzte der Abt. »Aber mich kränkt vor allem, daß ein Mensch so reden darf, der keine Ahnung hat von der Würde und dem Nutzen der Wissenschaft. Und wenn er fordert, ich solle den Pater Eulogius nicht mehr bei den Magdalenenschwestevn beichten lassen, so ist das ein Eingriff in meine Rechte, der kaum dem Bischof zustände.«

»Ich rate Euch dennoch, ihm zu Willen zu sein«, sagte der Prior und setzte dann mit einem giftigen Blicke hinzu: »Der Bube ist mir wie Operment! Ich will lieber einen ganzen Tag nur Wasser trinken, als ihm eine Minute lang in die düstre, hochmütige Fratze sehen. Aber wir brauchen ihn, das ist das Verfluchte. Wäre er nicht, so möchte uns wohl der Teufel ein böses Spiel anrichten in Hildesheim. Doch ich will Euch nicht länger stören, Hochwürdigster. Ich habe noch zu tun. Ich bitte Euch, mich zu entlassen.«

Der Abt nickte ihm zu und machte das Kreuzeszeichen. »Geht mit Gott!« sagte er. Und Prior Theodorus begab sich zu seinen Fässern im Hofe.

Wildefüer hatte indessen das Kloster des heiligen Michael verlassen und schritt hinunter nach dem Magdalenenkloster. Kaum war er in dem Sprechzimmer angelangt, so kam auch die Domina hereingerauscht. Ihre Wangen waren noch röter als gewöhnlich, und die Haube, die sie auf dem Kopfe hatte, wackelte bedenklich, ein Zeichen ihrer großen inneren Erregung.

»O venerabilissi me!« rief sie mit klagendem Tone. »In hac virgine daemon est, in dieser Jungfrau ist ein Dämon. Es ist schwer, sie zu überwinden, denn sie wirft mit Sprüchen der Schrift um sich wie ein lutherischer Prädikant. Oh, was hat der freche Schelm in Wittenberg angerichtet, daß er den Laien die Schrift verdeutscht und in die Hand gegeben hat! Dadurch hat er das Gift so tief in ihre Seele gesenkt, ut vix exstirpandum sit, daß man es kaum herausreißen kann.«

»Meint Ihr, daß es Euch mit der Zeit gelingen wird, sie wieder zum Glauben zu bekehren?« fragte Wildefüer, als die Aufgeregte Atem schöpfte.

»Mit der Zeit gewißlich, aber so schnell, wie ich dachte, kann es nicht geschehen«, erwiderte die Domina.

»So wollen wir tun, wie wir verabredet haben. Führt sie zu mir!« –

»Die hochwürdige Domina hat mir gesagt, daß der ketzerische Irrtum tief in deiner Seele säße«, sagte er, als Lucke bleich und mit niedergeschlagenen Augen vor ihm stand. »Darum habe ich beschlossen, daß du hier im Kloster bleiben sollst.«

Lucke hob den Blick, und er las darin ein tödliches Erschrecken. »Nein!« schrie sie auf. »Um Gottes Barmherzigkeit willen! Niemals! Ich will keine Nonne werden.«

»Daran denkt niemand«, sagte Wildefüer gemessen. »Du wärest dazu auch gar nicht reif. Aber ich kann dich in meinem Hause fürderhin nicht haben. Ich habe keine Zeit, mich um deine Seele zu kümmern, vermöchte wohl auch nicht, dich zu bekehren. Die hochwürdige Domina aber wird sich deiner annehmen, auf daß du nicht ewig verlorengehst. Sie wird dir Bücher zu lesen geben, die dich überzeugen von deinem Irrtum, sie wird weiterhin liebreich mit dir reden« –

»Nein!« schrie Lucke noch einmal. »Laßt mich hinaus! Ich will nicht hierbleiben. Könnt Ihr mich nicht fürder halten in Eurem Hause, so laßt mich hingehen nach Goslar. Ihr habt lein Recht dazu, mich einzusperren, und ich will nicht!«

»Das Recht dazu gab mir dein Vater in seiner Todesstunde, und du weißt es gar wohl: lebte er, so würde er nicht anders mit dir tun, als ich tue«, erwiderte Wildefüer mit unbeweglichem und steinernem Antlitz. »Ich muß dein ewiges Heil bedenken. Das habe ich gelobt, und ich halte meine Eide. Doch gibt es einen Weg für dich, aus dem Kloster herauszukommen. Schwöre deine Ketzerei ab! Gelobe mir mit einem heiligen Eide in meine Hand, daß du dich dem unterwerfen willst, was unsere heilige Kirche lehrt, und daß du niemals wieder ein verbotenes Buch in deine Hand willst nehmen. Dann bist du frei. Ich tue dich in ein gutes christkatholisches Haus in der Stadt. Bedenke das und entscheide dich!«

In Luckes Seele erhob sich ein schwerer Kampf. In etwa zwei Stunden wartete Christof von Hagen auf sie. Tat sie das, was Wildefüer von ihr verlangte, so war es ihr wahrscheinlich möglich, zu ihm zu gelangen und mit ihm zu entfliehen. Dann war sie frei, und was sie hier gelobt hatte, konnte sie in Wittenberg widerrufen. Wie ein Schwindel kam es über sie, und sie mußte sich an einen Schrank lehnen, um nicht umzusinken, weil ihre Knie zu zittern begannen. »Was du tust, ist keine Sünde,« sagte eine Stimme in ihr, »denn erzwungener Eid ist Gott leid. Er bindet niemand.« Aber eine andere Stimme rief ihr zu: »Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht mißbrauchen! Du sollst nicht einen Eid schwören beim Namen des Heiligen und des Allmächtigen, den du nicht halten willst, und du sollst nicht den verleugnen, der dich erlöst hat mit seinem Blute!«

Wildefüer blickte gespannt in ihr Antlitz, das abwechselnd errötete und erblich. »Nun?« sagte er. »Entscheide dich! Hier meine Hand!«

Lucke erhob ihre Rechte, ließ sie aber gleich wieder sinken. »Ich kann nicht! Und ich will nicht!« murmelte sie und schloß die Augen, wie von einer plötzlichen Schwäche überwältigt.

Da schritt Wildefüer zur Tür und legte die Hand an das Schloß und sagte noch einmal laut und drohend: »Zum letzten Male: Entscheide dich!«

»Laßt mich zu meinem Verlobten!« rief Lucke und richtete sich hoch auf.

»Der dein Verlobter war, ist es nicht mehr. Er hat sich selbst von dir geschieden, indem er sich von unserem heiligen Glauben schied. Das weißt du gar wohl. Frau Domina!« wandte er sich an die Äbtissin, »ich übergebe Euch diese. Fahret säuberlich mit ihr und helft ihr mit Sanftmut zurecht. Ich werde mich jeden Tag nach ihr erfragen, und wenn sie eine Änderung ihres Sinnes zeigt, so lasset mich's auf der Stelle erfahren. Gott erleuchte ihre Seele! Lebet wohl!«

»Gewalt!« schrie Lucke außer sich. »Hilfe! Hilfe! Gott, erbarme dich!« Sie wollte zur Tür hinauseilen, aber die Domina ergriff sie mit ihren starken Armen und zog sie auf eine Bank nieder und redete ihr zu, wie man einem törichten, unartigen Kinde zuredet.

Wildefüer hatte das Gemach verlassen. Hinter sich hörte er, den langen Gang zurückschreitend, noch einen gellenden Schrei, aber er achtete nicht mehr darauf. Finsteren Angesichts, mit tiefen Falten zwischen den Brauen, verließ er das Kloster und begab sich in sein Haus.


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