Paul Schreckenbach
Wildefüer
Paul Schreckenbach

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Nach der Ratssitzung, die noch etwa eine halbe Stunde dauerte, begab sich Hans Wildefüer in die Kurie seines alten Freundes Arnold Fridag. Der greise Domherr hatte ihm Botschaft gesandt, daß er ihn zu sprechen wünsche. Er fand ihn nicht daheim und ging deshalb hinüber in den Dom, denn er meinte, er werde ihn vor seinem geliebten Lettner finden. Aber ein Diakon, der ihm entgegenkam, wies ihn in die Sankt Annen-Kapelle.

Umschlossen auf der einen Seite von dem Gebäude des herrlichen Gotteshauses, auf den drei anderen Seiten von einem wundervollen doppelten Kreuzgange, lag hinter dem Dome von Hildesheim ein kleiner Garten. In seiner Mitte stand ein Kirchlein, der heiligen Anna geweiht. Seinem Eingang gegenüber grünte an der Mauerwand der Marienkapelle ein Rosenstock, aus dessen tief in der Erde liegenden Wurzeln seit vielen Jahrhunderten immer von neuem frische Zweige emporwuchsen. Er sollte ein Abkömmling des Rosenstrauches sein, unter dem einst Kaiser Ludwig der Fromme auf der Jagd eine Messe hatte lesen lassen, und der mit seinen Zweigen die heiligen Gefäße so fest umrankt hatte, daß sie nicht mehr loszulösen waren. Uralte Kreuze und Grabsteine ragten überall empor, denn dieser Ort war seit undenklichen Zeiten die Ruhestätte der Domherren. Sie alle, die seit den Tagen des heiligen Bernward und des streitbaren Bischofs Hezilo im Dome die Messe gesungen hatten, schliefen hier draußen den ewigen Schlaf.

Wildefüer war selten in seinem Leben hier gewesen, seit einem Jahrzehnt überhaupt nicht mehr, und niemals früher hatte ihn das Gefühl des Weltentrücktseins beim Betreten der heiligen Stätte so überwältigt wie in diesem Augenblicke. Alles atmete den tiefsten Frieden, und die Stille, die über den Gräbern lag, hatte nichts Bedrückendes, vielmehr etwas Beseligendes. Von der Stadt herüber, wo jetzt das Leben erwacht war, drang kein Laut hierher. Nichts war hörbar als das Summen der Bienen, die in den Frühlingsblumen ihre Nahrung suchten, und das leise Zirpen eines kleinen Vogels, der im Efeugerank sein Nest baute. Aus weiter Ferne kam der halb verwehte Klang eines Glöckchens an sein Ohr. Es mochte wohl in Sankt Mauritius am Berge geläutet werden.

Eine ganze Weile stand er regungslos auf derselben Stelle, und der Gedanke stieg in ihm auf: Hätte ich doch meine Mette hier in die Erde betten können, und wäre mir's vergönnt, dereinstmals an ihrer Seite hier zu ruhen! Wie viel schöner muß sich's doch hier schlummern als unter den kalten Steinplatten der Sankt Andreas-Kirche!

Aus tiefer Brust aufseufzend, trat er aus dem Kreuzgange heraus und wollte in die Kapelle treten, um den alten Domherrn zu suchen. Da sah er ihn unweit des Rosenstockes auf einem Grabe sitzen. Er hatte beide Hände auf die Knie gestützt und blickte vor sich nieder. Schlief er? Oder war sein Geist dieser Welt entrückt? Oder betrachtete er das Finkenmännchen, das zutraulich bis dicht an seine Füße herangehüpft war und eben anhub, sein helles Lied zu schmettern?

Es schwirrte auf bei Wildefüers Näherkommen, und nun erhob der Greis das Haupt und wandte es ihm zu. Er sah aus wie einer, der aus einem tiefen Traum erwacht. Aber als er den Heranschreitenden erkannte, flog ein freundliches Lächeln über sein Gesicht. »Gott grüße dich, mein Sohn!« rief er und streckte ihm die Hand entgegen.

»Gott grüße Euch, ehrwürdiger Vater!« erwiderte Wildefüer. »Was tut Ihr hier, wenn die Frage erlaubt ist?«

»Ich betrachte die Stätte, wo mein Leib ruhen soll der Auferstehung entgegen«, gab Fridag zur Antwort. »Ich habe mir diesen Platz ausgesucht, und das Kapitel wird mir ihn nicht weigern. Komm, setze dich hier neben mich auf das Grab des seligen Erchambald, der im Jahre des Heils zwölfhundertundneunzig seine Seele in Gottes Hand zurückgab.« Er behielt Wildefüers gewaltige Rechte in seiner feinen, kühlen Greisenhand und fuhr fort: »Ich habe dich zu mir zu kommen gebeten, weil ich nicht zu dir kommen konnte. Ich war unpaß in den letzten Tagen, es geht wohl bald mit mir zu Ende. Aber ich wollte dir doch sagen, wie leid mir Frau Mettes Tod getan hat. Es war dir gewiß ein bittres Weh, denn sie war deines Lebens schönster Schmuck.«

Wildefüers Augen füllten sich mit Tränen. »Sie war mir viel mehr, ehrwürdiger Vater«, sagte er. »Sie war der einzige Mensch, den ich jemals in meinem Leben wirklich lieber gehabt habe als mich selber.«

»Jemals in deinem Leben? Und dein Vater, deine Mutter, deine Geschwister und deine Kinder?«

»Die hatte und habe ich alle herzlich lieb, aber so wie mein Weib keines von ihnen allen. Ach, Ihr wißt nicht, Ehrwürdiger, wie ein Mann an seinem Weibe hängt, wenn ihre Ehe eine rechte Ehe ist! Ihr könnt Euch das nicht denken, denn Ihr habt Frauenliebe nie erfahren.«

Der alte Domherr Fridag schwieg. Seine Gedanken flogen zweiundsiebzig Jahre rückwärts in das Prunkgemach eines Hauses zu Brüssel in den fernen Niederlanden. Dort stand ein Sarg, und in dem Sarge lag unter Blumen eine junge Frau, deren feines, totenblasses Antlitz eine Fülle blauschwarzen Haares umrahmte. In ihren Armen lag ein neugeborenes Knäblein, blaß und still wie sie selber. Sie war sein Weib gewesen, und er hatte sie lieben dürfen ein seliges Jahr hindurch. Als sie dann im Kindbette gestorben war, hatte er der Welt entsagt und die Weihen genommen und war weit hinweggegangen von seiner Heimat. In Hildesheim wußte das niemand mehr. Der letzte, der es gewußt hatte, war seit vierzig Jahren gestorben und hatte sein Wissen mit ins Grab genommen. Er selbst hatte nie darüber gesprochen und auch seine Gedanken gewöhnt, an den Bildern der Vergangenheit vorüberzugehen. Sein Weltleben sollte vergessen sein, er wollte Gott gehören. Aber Wildefüers Worte klopften an das verschlossene Gemach in seinem Herzen so kräftig an, daß die Tür aufsprang und ein Bild aus der unendlich fernen Zeit, da er ein ganz anderer gewesen war, plötzlich deutlich vor seiner Seele stand. Ihm ward es wunderlich zu Sinne. Ein flüchtiges, wehmütiges Lächeln huschte über sein Antlitz, und dann begegnete ihm, was ihm seit vielen Jahrzehnten nicht begegnet war: Eine Träne schlich ihm die Wange herab.

Wildefüer sah es, und eine ungeheure Ergriffenheit überkam ihn. Dieser fast hundertjährige Greis, der wie ein Heiliger lebte, und den das Volk fast wie einen Heiligen verehrte, vergoß eine Träne über den Tod seiner Mette. Er beugte sich nieder und küßte seine welke Hand. Dann schluchzte er mehrmals auf und begann laut zu klagen: »Ach, wie war sie so lieb und gut! Sie war die beste von allen Weibern! – Wie hat sie auch mich so lieb gehabt! Hätte sie doch Gott mir gelassen! Warum mußte sie sterben und war doch noch gar nicht alt! Mir ist alles genommen, was in der Welt meine Freude war. Wäre ich doch lieber selber gestorben!«

In solchen Klagen erging er sich eine ganze Zeitlang. So hatte ihn noch kein Mensch gesehen, keinem hatte er je sein Herz so aufgeschlossen.

Der alte Domherr hatte sich inzwischen längst wieder gefaßt. Was ihm geschehen war, erschien ihm bereits wie eine Versuchung, der er unterlegen war. Er betete still ein Paternoster. Dann erst wandte er seine Gedanken wieder Wildefüer zu, und wenn ihm der große Schmerz des Mannes auch leid tat, so erschien er ihm doch schon wieder als etwas Fremdes, worin er ihn nicht verstehen konnte.

»Höre auf, mein lieber Sohn«, sagte er und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du erweckest sie nicht mit deinen Klagen, und wenn du sie so liebgehabt hast, so mußt du es ihr ja gönnen, daß sie befreit ist von aller Last und Pein des irdischen Lebens. Sie wird nicht lange im Fegefeuer sein, ich meine, sie ist schon daraus erlöst, und ihre Seele ist in den Himmel aufgenommen. Sie war eine gute, fromme Frau, wohltätig gegen die Armen, eine treue Tochter der heiligen Kirche. Ich weiß das am besten, denn bis vor zwei Jahren habe ich ihre Beichte gehört. Seitdem höre ich keine Beichte mehr, es ist mir zu anstrengend. Aber sie wird seitdem wohl nichts anderes geworden sein, als was sie war, eine fromme, reine Seele. So lasse sie ruhen in Gottes Frieden.«

Da stürzte Wildefüer vor dem Greise auf die Knie und rief: »Höret Ihr sonst keine Beichte mehr, ehrwürdiger Vater, so höret doch noch einmal die meine. Nicht die meine, sondern ihre Sünde will ich Euch beichten. Mit einer schweren Schuld beladen ist sie in die Ewigkeit gegangen, und ich bin in großer Angst um ihrer Seele Seligkeit.«

»Wie? Was redest du da?« erwiderte der Domherr erstaunt und sehr erschrocken. »Frau Mette sollte eine schwere Sünde begangen haben? Diese Frau? War sie dir untreu?«

Wildefüer machte eine abwehrende Bewegung. »Nicht einmal in Gedanken. Des bin ich ganz gewiß. – Aber um ihre Seligkeit stünde es besser, wenn sie eine solche Sünde auf sich geladen hätte, als die viel größere, die sie begangen. Wisset: Ehe es mit ihr zum Sterben kam, hat sie mir bekannt, daß sie –«, er schöpfte tief Atem und setzte mehrmals zum Reden an, ehe er die Worte hervorbrachte: »Sie ist im geheimen eine Lutherin gewesen. Gott sei ihr gnädig!«

Den achtundneunzigjährigen Domherrn überraschte so leicht nichts mehr, aber dieses Geständnis entlockte ihm doch einen Ausruf erschreckten Staunens. »Dein Weib, Hans Wildefüer? Der Herr, unser Gott, erbarme sich! Wie hat das können geschehen?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Bürgermeister finster, indem er sich erhob. »Ich weiß nicht, wen ich anklagen soll, daß er ihre Seele verführt hat. Der Teufel selbst muß es getan haben.«

»Und sie ist in dem ketzerischen Glauben gestorben? Und du hast sie in Sankt Andreas –«

»Nein!« unterbrach ihn Wildefüer heftig. »Durch Gottes große Gnade und mit Hilfe der heiligen Jungfrau ist mir's gelungen, ihre Seele noch in der letzten Stunde dem Teufel zu entreißen. Beichten konnte sie ja nicht mehr, aber die heilige Ölung hat sie empfangen und ist mit dem Segen der Kirche gestorben.«

»Gelobt sei Gott und die heilige Jungfrau!« rief der Domherr. »Dann kann ja ihre Seele ganz sicherlich gerettet werden.«

»Ich fürchte,« sagte Wildefüer mit Überwindung, »sie hat nur mir zu Liebe darein gewilligt, daß ich Herrn Oldecop holen ließ. Sie war auch schon fast nicht mehr bei Sinnen.«

»Trotzdem«, erwiderte der Greis, »kann ihre Seele gerettet werden, und sie wird gerettet werden. Es ist nicht notwendig, daß die menschliche Seele der Gnade Gottes beistimmt, genug, wenn sie ihr nicht widerstrebt. Gott ist ja viel barmherziger, als wir Priester den Leuten gemeinhin sagen. Wir dürfen's ihnen auch nicht sagen, denn täten wir's, so würden sie allzusicher in ihrem Gemüte, verließen sich allein auf seine überschwengliche Güte und täten keine guten Werke mehr. Aber er ist so voller Gnade, daß er tausendmal lieber segnet statt flucht und sich freut über jede Seele, die sich retten läßt. Vielleicht fände sogar der Fürst der Ketzer die Vergebung seiner Sünde, wenn er umkehren wollte vom Wege des Verderbens. Wie sollte er das arme Weib verwerfen in Ewigkeit, weil sie, verlockt durch weibliche Neugier, sich mit der Ketzerei eingelassen hat! Sie ist ja doch nicht hartnäckig dabei geblieben, und wir können der armen Seele den unermeßlichen Schatz der Gnade zuwenden, den die heilige Kirche besitzt.«

»Ich wäre Euch von Herzen dankbar, ehrwürdiger Vater, wenn Ihr mir raten wolltet, was ich für ihre Seele tun soll«, sagte Wildefüer. »Ihr wißt nicht, wie Eure Worte mich trösten und mit Hoffnung erfüllen. Der Gedanke, daß sie ewig könne verloren sein, hat mich halb von Sinnen gebracht. Ihr habt mir recht das Herz aufgerichtet, indem Ihr mich mahnt an Gottes große Huld und Gnade. Was meint Ihr, soll ich tun, daß ich ihr verhelfe zur Seligkeit?«

»Zuvörderst vergiß der Armen nicht!« entgegnete der Domherr. »Wer barmherzig ist, wird Barmherzigkeit empfangen, so lehrt uns der Erlöser.«

»Von morgen an speise ich alle Armen der Stadt vier Wochen lang«, versetzte Wildefüer.

»Und vergiß auch unsere heilige Kirche nicht!« mahnte der Domherr weiter.

»Ich gedenke einen Altar zu stiften in Sankt Andreas, an dem auf ewige Zeiten eine Messe soll gelesen werden für die Ruhe ihrer Seele.«

Der Greis nickte. »Du tust recht daran.«

»Aber, ehrwürdiger Vater, mich dünkt, ich müsse noch mehr tun«, fuhr Wildefüer nach einer Weile des Nachdenkens fort. »Ich will Gewißheit haben, daß ihre Seele bald herausgehoben ist aus der Qual und eingegangen in Gottes Frieden.«

»Solche Gewißheit kann dir niemand geben, lieber Sohn«, sagte der Greis. »Wir wissen nicht, wie lange Zeit den Seelen bestimmt ist, im Fegefeuer zu verweilen. Von keiner können wir das wissen, von keiner! Auch wenn sie Vergebung ihrer Sünden gesucht hat, wissen wir noch nicht, ob sie auch Vergebung gefunden hat. Vielleicht war der Priester, dem sie gebeichtet hat, nicht richtig ordiniert. Oder er hat sie gedankenlos absolviert. In beiden Fällen ist die Absolution wirkungslos. Oder die Seele hat bei der Beichte nicht genug der Reue gehabt, wie Gott der Herr von uns verlangt. Auch dann wird uns die Sünde behalten. Ich will dir bekennen, lieber Sohn, daß ich deshalb in jüngeren Jahren große Zweifel gehabt habe an der Liebe Gottes. Warum läßt er uns in solcher Ungewißheit unser lebelang? Warum läßt er uns niemals ganz sicher werden, daß die Qual des Fegefeuers für uns nur kurz sein wird? Wie verträgt sich das mit seiner väterlichen Güte? so fragte ich. Aber je mehr ich die Natur der Menschen habe durchschauen und erkennen lernen, um so mehr begreife ich seine ewige Weisheit. Der Mensch darf niemals ganz gewiß werden, daß er bei Gott in voller Gnade steht. Denn weiß er das, so verfällt er in Hochmut und verachtet die Kirche. Darum läßt er uns niemals wissen, wie lange wir im Fegefeuer bleiben müssen, auch wenn wir Ablaß über Ablaß gewinnen. Es kann doch immer noch Jahre dauern, ehe unsere Seele ganz geläutert ist.«

Wildefüer zuckte zusammen. »Ein Jahr ist lang. Meine arme Mette!« stöhnte er.

»Ein Jahr ist gar nichts«, entgegnete der Domherr. »Achtundneunzig sind hinter mir verweht, und sie sind um, als wären sie nicht gewesen. Was täte es, wenn Gott uns tausend Jahre im Fegefeuer ließe? Tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag. Nur darauf kommt es an, daß wir gerettet werden vor der ewigen Verdammnis und teilhaftig werden der ewigen Seligkeit. Und die ewige Verdammnis wird Gott nur denen bereiten, die sich in Sünde wider ihn verstocken. Zu denen gehört deine Frau nicht; des kannst du dich getrösten, wenn du auch nicht weißt, wie lange ihre Seele im Fegefeuer bleiben muß.«

»Ich will doch alles tun, was ich kann, um ihre Qual zu kürzen«, erwiderte Wildefüer düster. »Ich werde eine Wallfahrt tun nach Rom oder nach Hispanien, sobald ich kann. – Und nun, ehrwürdiger Vater, bitte ich Euch noch um einen Rat. In meinem Hause habe ich eine Jungfrau, eines Freundes Tochter. Als er starb, hat mir ihr Vater einen Eid abgenommen, daß ich sie behüten möge nach bester Kraft vor dem Gifte der Ketzerei. Aber Gott sei's geklagt, es scheint mir schon in ihre Seele eingedrungen zu sein. Sie hat meiner Mette, bevor diese starb, aus der Heiligen Schrift, wie sie der Wittenberger verdeutscht hat, vorgelesen. Ich möchte die Sache nicht lassen ruchbar werden. Bei wem ketzerische Bücher gefunden werden, der wird aus der Stadt verwiesen. Wohin aber soll ich sie tun? Sie ist aus Goslar, aber dort ist alles martinisch.«

Der Greis nickte. »Schon lange, lieber Sohn, dünkt mich euer Gesetz, das die Ketzer aus der Stadt treibt, ein zweischneidig Schwert zu sein. Entweder laßt ihr sie ganz verweisen oder gar nicht. Denn sind sie nur auf kurze Zeit draußen, so erfüllen sie sich erst recht mit dem Gifte und kehren ruchloser zurück, als sie gegangen sind. – Was aber jene Jungfrau angeht, so würde ich zuerst einmal freundlich mit ihr reden und sie vermahnen, von ihrem Irrtum abzustehen.«

»Das werd' ich ohne Zweifel«, entgegnete Wildefüer. Aber während er das sagte, sah er mit einem Male das harte, entschlossene Gesicht vor sich, mit dem ihm Lucke am Totenbette seiner Frau entgegengetreten war, und er setzte hinzu: »Ich fürchte, sie hat einen dicken Kopf. Was tue ich mit ihr, wenn sie störrisch bleibt?«

»Ei,« sagte der alte Domherr, »dann tue sie zur Domina Elisabeth Erksleben. Die ist fest im Glauben und gelehrter als irgend ein Weib sonst in unseren Landen, und dazu ist sie milden Sinnes und liebevollen Gemütes. Der führe die Jungfrau zu, damit sie bekehrt werde von dem Irrtum ihres Weges.«

»Das hat Euch Gott eingegeben!« rief Wildefüer erfreut. »Ich danke Euch, ehrwürdiger Vater, für den klugen Rat und werde danach tun.«

»Und jetzt bitte ich dich, lieber Sohn, gehe in den Dom und sage dem Diakon, er solle mich hinüberführen in mein Haus. Ich bin noch nüchtern, und die Stunde kommt, wo mein Leib nach etwas Speise verlangt.«

»Erlaubet«, antwortete Wildefüer, »dazu bedürfen wir des Diakons nicht. Das werde ich selber verrichten.«

Er half dem Greise von seinem Sitze empor, stützte ihn und geleitete ihn hinüber in die Kurie, die er bewohnte. Dann verließ er die Domfreiheit durch das gewaltige Durchgangstor an ihrer Nordwestecke und schritt durch die Straße auf dem Stein und die Ritterstraße durch das alte Süsterntor dem Magdalenenkloster zu. Dort läutete er an der Pforte und bat die Schwester Pförtnerin, ihn der hochwürdigen Domina zu einer Unterredung anzumelden.


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