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VI.

Die trostlose Stimmung, in der Heinrich von Krosigk nach seinem Schlosse und in den Schoß seiner Familie zurückgekehrt war, hielt nicht lange an. Er hatte gar keine Zeit dazu, sich düsteren und gramvollen Gedanken hinzugeben, denn es gab so ungeheuer viel zu tun, daß er kaum zur Besinnung kam. Die Fülle der Arbeit, die sich ihm täglich aufdrängte, lenkte seinen Geist wohltätig ab von dem Grübeln über Preußens Elend und Schmach und über die Not der eisernen Zeit. Allerdings war der Zustand seiner Güter so, daß ihm zunächst auch hier der Mut entsinken wollte. Die geringe Ernte war durch den Durchzug der großen Armee schon fast zur Hälfte wieder aufgezehrt, denn die französischen Reiter hatten den Hafer für ihre Pferde genommen und die Gutsleute gezwungen, das eben gehauene Korn für sie auszudreschen. Der Viehstand war dezimiert, Schafe, Schweine und Rinder geschlachtet, manche der besten Pferde einfach weggeschleppt, andere durch die Überanstrengungen der Spanndienste ruiniert. Am scheußlichsten war die Verwüstung im Parke zu beobachten. Da war der Rasen von Pferdehufen zerstampft, große Brandflecken zeigten an, wo die Lagerfeuer geflammt hatten. Einige scheue Rehe lugten aus dem dichten Gebüsch hervor. Sie waren die Reste der herrlichen Rudel zahmen Wildes, das einst des Schloßherrn besondere Freude gewesen war.

Der alte Gärtner Wartmann humpelte ihm entgegen, als er zum ersten Male sein geschändetes Eden wieder betrat. Der Greis, der von den Franzosen bei der Verteidigung der ihm unterstellten Fasanerie übel traktiert worden war, geriet beim Anblick seines Herrn vor Freude ganz außer sich, küßte ihm die Hände und erklärte ein Mal übers andere, daß nun alles gut werden müsse.

»Ihr seid wohl schlecht weggekommen, Alter?« fragte Heinrich, auf das lahme Bein deutend.

»Herr Baron, die Kerls haben mich verhauen, daß ich dachte, Ostern und Pfingsten fielen auf einen Tag. Aber der liebe Gott wird sie schon strafen,« setzte er geheimnisvoll hinzu. »Passen Sie auf, Herr Baron, die ganze Herrlichkeit hört bald auf. Es nimmt ein Ende mit Schrecken, ich weiß das ganz genau.«

»So? Warum denkt Ihr das?« fragte Heinrich, der über das feierliche Wesen des Alten lächeln mußte.

»Sie sind zum Gerichte reif. In Laublingen haben sie die Kirche verunreinigt und das Kreuz auf dem Altar zerschlagen. Aber sie haben noch viel größere Sünde getan. Sie haben drüben und in anderen Dörfern die Roggenbrote ausgehöhlt und sind zum Gelächter damit über die Straße gelaufen, als wäre das Brot Schuhwerk. Das ist die größte Sünde. Wer das liebe Brot in den Dreck tritt, den straft der liebe Gott, denn er läßt seine Gabe nicht verachten.«

Der Baron schüttelte den Kopf. »Das ist ja ganz unglaublich, Alter. Dies Volk ist ja schlimmer als das Vieh.«

»Am ärgsten haben sie in Peißen gehaust,« fuhr der Gärtner fort. »Was der Herr Pastor Moldenhauer ist, der soll krank im Bette liegen.«

»Sie haben sich doch an dem ehrwürdigen alten Manne nicht vergriffen?« rief der Baron.

»Dieses weniger. Aber sie haben ihm sein ganzes Geld gestohlen. Dreihundert Taler haben sie mitgenommen.«

»Unsinn,« sagte Krosigk. »Dreihundert Taler! Die habe ich kaum, und ein armer Dorfpastor hat sie sicher nicht.«

»Vielleicht war's nicht so viel,« gab der Gärtner zu. »Aber krank ist der alte Herr, denn der junge vertritt ihn schon seit vierzehn Tagen.«

»Ich werde sofort einmal hinüber fahren!« rief der Baron lebhaft und wandte sich dem Schlosse zu.

»Ist nicht nötig, Herr Baron,« lachte der alte Gärtner. »Das Sprichwort ist noch immer wahr: Wenn man den Wolf nennt, so kommt er gerennt.« Er deutete auf einen Mann, der vom Wirtschaftshofe her den Damm entlang geschritten kam. Es war der Kandidat Moldenhauer.

Der Baron ging rasch auf ihn zu. »Willkommen, lieber Moldenhauer!« rief er ihm schon von weitem entgegen. »Endlich führt Sie Ihr Weg einmal in die Heimat. Ich will allerdings nicht hoffen, daß die Veranlassung dazu eine traurige ist, wie mir eben Wartmann berichtet hat.«

Er schüttelte die Hand des jungen Geistlichen kräftig und erzählte ihm die Äußerung des alten Gärtners. »Ich hoffe, daß alles unwahr oder doch stark übertrieben ist.«

»Leider nicht,« gab Moldenhauer zur Antwort. »Diesmal hat die Fama in keinem Punkte übertrieben. Die dreihundert Taler waren das Vermögen meiner Eltern. Mein Vater hatte sie schon einmal 1806 im Holzstalle vergraben. Damals wurden sie gerettet, jetzt kann er sie nicht wiederfinden, so viel er auch gesucht hat. Der Schreck hat ihn aufs Krankenlager geworfen; denn der Verlust ist in der schweren Zeit doppelt schmerzlich. Meine Eltern wissen kaum, wie sie sich durchbringen sollen. Hätte ich das gewußt, so wäre ich schon viel früher heimgekehrt, um ihnen beizustehen.«

»Offen gestanden,« erwiderte Krosigk, »habe ich weder Ihr Fortgehen noch Ihr Fortbleiben begriffen. Sie hatten doch wahrhaftig lange genug den Präzeptor gespielt! Auch Ihr Vater, mit dem ich darüber sprach, stand vor einem Rätsel.«

»Ich hatte schwerwiegende Gründe dazu,« sagte Moldenhauer so ernst, daß der Baron ihn betroffen von der Seite ansah und stehen blieb.

»Was, Moldenhauer?« rief er überrascht. »Sollte man da fragen können: Cherchez la femme

»Sie haben's erraten, Herr Baron.«

»Da seht mir einer den Duckmäuser!« schalt Krosigk lächelnd. »Warum haben Sie mir darüber auch nicht die leiseste Andeutung gegönnt, als Sie damals von mir Abschied nahmen? Ich war Ihnen in der Tat etwas böse, daß Sie aus meinem Reiche wieder verschwanden. Hätte ich geahnt, daß Sie da drüben in der Mark auf Liebespfaden oder auf Freiersfüßen gingen, so hätte ich Ihr Weggehen ja gleich begriffen.«

»Sie verstehen mich falsch, Herr Baron,« sagte Moldenhauer mit ernstem Lächeln, »und ich möchte gerade von Ihnen nicht falsch verstanden werden. Es ist mir allerdings vollkommen klar, daß mein hastiger, überstürzter Abschied vor fünf Jahren Ihnen befremdlich vorkommen mußt«. Deshalb liegt es mir am Herzen, Sie darüber aufzuklären. Ich hätte es schon längst gern getan; aber im Königreiche Westfalen weiß man ja nie, in wessen Hände ein abgesandter Brief gerät. Deshalb will ich es Ihnen nun mündlich sagen. Ihrer Verschwiegenheit bin ich ja sicher. Sie sehen aus meinem Geständnis zugleich, daß ich völlig überwunden habe.«

»Sie machen mich äußerst gespannt,« erwiderte Krosigk. »Indessen will ich mich nicht etwa in Ihr Vertrauen eindrängen. Wird es Ihnen schwer, über die Sache zu sprechen, so behalten Sie Ihr Geheimnis ruhig für sich. Ein Mensch, den ich achte, behält auch dann meine Achtung, wenn ich einmal seine Beweggründe nicht verstehe.«

»Nein, nein, Sie sollen es wissen, denn es liegt abgetan hinter mir. Am es kurz zu sagen: es war mir, als einem jungen Manne von Temperament und lebhafter Phantasie nicht dienlich gewesen, einen ganzen Winter lang mit einem schönen Fräulein in einem Schlosse zu hausen. Ich hatte dadurch das Gleichgewicht der Seele ganz und gar verloren und mußte deshalb gehen.«

Krosigk blieb von neuem stehen und sah ihm verblüfft ins Gesicht. »Antoinette?« rief er. »Antoinette? Das, bei Gott, hätte ich nicht für möglich gehalten!«

»Warum denn eigentlich nicht, Herr Baron? An Schönheit fehlt es dem Fräulein doch wahrlich nicht, und ich – ja warum sollte ich ein Eiszapfen sein?«

»Hm, ja,« sagte der Baron. »Habe trotzdem nie daran gedacht. Sie, ein so verständiger Mensch – aber allerdings, in solchen Dingen entscheidet eben nicht der Verstand. Dagegen haben Sie Ihren Verstand sehr weise walten lassen, indem Sie sich aus dem Staube machten. Denn das war das Beste. Antoinette hätte in ein Pfarrhaus nie und nimmermehr gepaßt; selbst eine große Leidenschaft für Sie hätte sie nicht in eine Pfarrfrau umformen können.«

»Das sagte ich mir alles damals schon, Herr Baron, wußte auch, daß ich ihr nur ein freundliches Wohlwollen einflößte und keineswegs eine große Leidenschaft.

Darum ging ich weg, denn ich hatte keine Lust, die Rolle der Mücke zu spielen, die ums Licht tanzt. Nun bin ich fertig damit.«

Krosigk faßte ihn wieder, wie in früheren Tagen, vertraulich am Rockknopfe. »Sie wissen auch, daß sie die Braut eines Herrn von Einsiedel ist?«

»Ich wußte es bis jetzt nicht, aber ich wünsche ihr alles Glück dazu,« versetzte Moldenhauer ruhig.

»Nächstes Jahr soll die Hochzeit sein,« fuhr der Baron fort. »Nicht hier, in Gröna. Meine Mutter lebt jetzt ganz dort, meine Schwestern sind auch meist drüben. Natürlich kommen sie auch häufig herüber, vielleicht gerade heute. Da werden Sie ihr doch nicht gut ausweichen können.«

»Das kommt mir auch gar nicht in den Sinn!« rief Moldenhauer. »Ich werde mich freuen, mit Ihrer Frau Mutter und dem Fräulein von alten Zeiten zu plaudern.«

Krosigk sah ihn scharf an und nickte dann befriedigt. »So ist's recht. Ich sehe. Sie sind mit sich fertig geworden. Sie bleiben natürlich nun ganz hier?«

»Wahrscheinlich. Mein Vater ist so matt und schwach, daß er fürs erste nicht daran denken kann, sein Amt zu versehen. Ich fürchte fast, er wird's nie wieder können. Nun bin ich ja schon vor fünf Jahren als sein Substitute ordiniert und eingesetzt worden, kann also ohne weiteres seine Amtsgeschäfte übernehmen.«

»Ja, es war gut, daß wir die Sache damals festgemacht haben,« versetzte der Baron. »Müßte ich Sie heute präsentieren, so würden Sie wohl kaum eingesetzt werden, denn mein Name ist stinkend geworden vor der hohen Regierung in Cassel. Aber nun kommen Sie ins Haus. Sie frühstücken mit uns. Wir haben uns wohl viel zu erzählen, und ich muß Sie vor allem meiner Frau vorstellen, die Sie ja noch gar nicht kennt.« –

Schon am folgenden Morgen hielt der leichte Jagdwagen des Barons mit den beiden Füchsen vor dem Pfarrhause in Unter-Peißen. Auch Friederike war mitgekommen und plauderte unten in der Wohnstube gemütlich mit der alten Pfarrerin und ihrer unverheirateten Tochter, während der Kandidat den Baron die Treppe hinauf nach dem Zimmer geleitete, in dem der Kranke lag.

Pastor Moldenhauer hob sich mit Anstrengung aus seinen Kissen halb empor und streckte dem Eintretenden die beiden Hände entgegen. Dem Baron fiel auf, wie blaß und durchsichtig diese Hände waren, und er erschrak in seinem Innern, als er bemerkte, wie welk und verfallen das sonst so blühende und frische Gesicht des alten Mannes aussah.

»Sie finden mich heute in großer Schwachheit, Herr Baron,« sagte der Greis matt lächelnd. »In leiblicher und in seelischer Schwachheit. Ich schäme mich ordentlich darüber. Mehr als vierzig Jahre lang habe ich gepredigt, daß wir uns nicht Schätze sammeln sollen, die die Motten und der Rost fressen, und nun wirft mich der Schrecken um, als ich merke, daß mir mein Geld geraubt ist.«

»Sie haben dabei wohl weniger an sich als an die Ihrigen gedacht. Über einen Verlust, den andere erleiden, darf man immerhin Schmerz empfinden,« tröstete Krosigk.

Der Pastor seufzte tief. »Ja, das ist schon wahr.

Es war der sauer ersparte Notgroschen meiner Frau und Tochter. Ich selbst bedarf von irdischem Geld und Gut nur noch so viel, um einen Sarg daraus zu zimmern. – Sagen Sie nichts, Herr Baron, ich weiß es bestimmt. Ich komme nicht wieder zu Kräften. Nur darum bitte ich Gott den Herrn, daß er mich die Erhebung meines Volkes noch mit Augen sehen läßt.«

»Dann dürften Sie noch lange, sehr lange leben,« sagte Krosigk düster.

»Nein, Herr Baron. Denken Sie an mich, wenn ich etwa nicht mehr sein sollte: im Frühlinge steht Preußen auf.«

»Warum meinen Sie das?« fragte der Baron überrascht.

»Das sagt mir eine innere Stimme. Ich glaube, daß der Korse von seinem ungeheuren Heere nicht ein Drittel zurückbringt. Sehen Sie nicht unseres Gottes wunderbare Fügungen? Den Freiherrn vom Stein hat der böse Feind nach Rußland getrieben. Damit hat er sich selbst sein Grab gegraben. Denn nun ist der Mann von Eisen der Ratgeber des schwachen Russenkaisers geworden und stärkt ihm den Willen, daß er nicht nachgibt. Und nur darauf kommt es an, daß der Zar aushält. Weicht das russische Heer immer weiter zurück, so muß der Korse nach, und er kann dann seine Massen nicht ernähren. Wenn vollends der nordische Winter kommt mit seinem Schnee und seiner fürchterlichen Kälte, so wird das große Heer klein werden. Wer weiß, ob er hunderttausend Mann zurückführt. Dann wird und muß sich Preußen mit Rußland verbinden, und der Tag der Befreiung bricht an.«

Krosigk blickte ihm starr ins Gesicht und sagte dann, tief aufatmend: »Wunderbar, höchst wunderbar! Mit fast ganz denselben Worten hat mir gestern mein Freund Wedell die Erhebung des Vaterlandes prophezeit. Es scheint also viele zu geben, die auf ein Wunder Gottes hoffen. Ich aber zweifle daran, daß es der Allmächtige uns so leicht machen wird. An einen Sturz des Welttyrannen glaube ich ja auch, ohne solchen Glauben vermöchte ich nicht zu leben. Aber ob er in Wahrheit so nahe ist? Es hat schon einmal so geschienen, als Erzherzog Karl bei Aspern siegte, und wir sind furchtbar enttäuscht worden. Wer kann die Wege Gottes verstehen? Wer kann ahnen, wann seine Langmut zu Ende ist? Wiegen wir uns nicht in allzu schöne Träume ein, damit uns ein bitteres Erwachen erspart bleibe!«

So sprach Heinrich von Krosigk am Lager des kranken Pfarrers, und er wiederholte solche Worte in der nächsten Zeit noch oft, wenn von dem russischen Feldzuge Napoleons die Rede war. Aber er sprach nur so, um sein heißes Herz zu zähmen. Er wollte sich selbst zur Ruhe zwingen, wollte die Hoffnungen nicht groß werden lassen, die hundertfältig und mit drängender Gewalt in seiner Seele emporkeimten. Wie sehr er sich indessen auch Mühe gab, äußerlich gleichmütig zu erscheinen, so konnte er es doch vor seinen Vertrauten, besonders vor seiner Frau, nicht immer verbergen, welch wilde Ungeduld in seinem Innern tobte. Friederike erkannte oft mit Schrecken, wie fieberhaft erregt er innerlich war und wie die Hoffnung auf einen nahenden Tag der Vergeltung alle anderen Wünsche und Gedanken in ihm mehr und mehr zurückdrängte. Auch in seinem Benehmen gegenüber der von Zeit zu Zeit in das Schloß einfallenden französischen Einquartierung zeigte er das. In größter Angst bat und beschwor ihn manchmal seine Frau, seiner überaus gefährdeten Lage zu gedenken und den fremden Gästen gegenüber höflicher und verbindlicher zu sein. Vergebens. Sein Haß gegen das französische Wesen war bis zum Widerwillen herangewachsen, er vermochte es nicht mehr über sich, den Offizieren des Kaisers auch nur das geringste Entgegenkommen zu erweisen. Hinauswerfen konnte er sie nicht, mußte sie sogar an seinem Tische dulden. Aber er würdigte sie dabei keines Wortes, saß finster und schweigsam am oberen Ende der Tafel, während er sie ganz unten hin plaziert hatte, und gab auf ihre Fragen nur kurze, widerwillige Antworten. Auch mit dem Essen wurde keinerlei Rücksicht auf den verwöhnten Gaumen der Ausländer genommen. Im Gegenteil, der Baron setzte an solchen Tagen mit Vorliebe Erbsen mit Speck, Rüben oder Sauerkraut mit Pökelfleisch auf den Speisezettel, weil er wußte, wie widerwärtig diese Gerichte einer französischen Zunge zu sein pflegten.

Natürlich ließen sich die von Siegesübermut geschwellten französischen Offiziere eine solche Behandlung nicht immer gutwillig gefallen. So lag im September ein Major im Quartier, dem beim Anblick der verhaßten Speisen die Galle überlief. Er stand auf und protestierte in heftigen Worten gegen die maliziöse Behandlung, die er in diesem Hause erfahre, und insbesondere gegen die armselige Art der Bewirtung. »Dieser Fraß,« rief er, »ist ungenießbar für einen Offizier der großen Armee!«

»Es ist unser gewöhnliches Mittagessen,« erwiderte der Baron mit eisiger Ruhe. »Doch sollen Sie nach Wunsch befriedigt werden.«

Er rief Breitmann, der bei Tische aufwartete, zu sich heran und erteilte ihm leise einen Befehl, worauf der Diener das Zimmer verließ. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einer verdeckten Bratenschüssel zurück und präsentierte sie dem Franzosen.

Der Major hob den Deckel ab und fuhr zurück; denn in der Schüssel lagen zwei geladene Pistolen.

»Wenn es Ihnen beliebt, mein Herr, dieses Gericht mit mir zu verzehren, so stehe ich Ihnen sofort zu Diensten,« sagte Krosigk und richtete seine funkelnden Augen auf den Fremdling.

Der Franzose erhob sich leichenblaß, machte eine kurze Verbeugung und verließ das Schloß auf der Stelle. Er kam weder selbst wieder, noch erschienen seine Zeugen. Da er sein Quartier nach der Laublinger Pfarrei verlegte, so steht zu vermuten, daß der Pastor Werkmeister auch ihm durch einen Hinweis auf die Schießkunst des bösen Barons die Rachegedanken aus dem Herzen gescheucht habe.

Gegen Ende des Monats hörten derartige Zusammenstöße auf, denn es gab keine französische Einquartierung mehr. Alle Truppen, die irgend verfügbar waren, hatte der Schlachtenkaiser über die russische Grenze geworfen oder bis dicht an die Grenze herangezogen, und atemlos lauschte nun die Welt der Kunde, die aus den unermeßlichen Steppen des nordischen Riesenreiches herüberscholl. Zunächst hörte man das, was man gewohnt war. Die Zeitungen berichteten von neuen, ungeheueren Siegen des Unüberwindlichen. Die russischen Heere wurden geschlagen bis zur Vernichtung, ihre Verluste waren fabelhaft. Der Kaiser stand dicht vor den Toren des heiligen Moskau, und dort, hieß es, werde er dem gedemütigten Zaren den Frieden diktieren. Aber die große Masse des Volkes glaubte solche Nachrichten nicht mehr, so bestimmt sie auch auftraten. Dem kleinen Manne in Stadt und Land stand es fest, daß der Zug nach Rußland ein Ende mit Schrecken nehmen werde. Umsonst hatte der blutrote Komet nicht am Himmel gestanden, als die unendlichen Heeressäulen sich nach dem Osten wälzten. Er hatte sicher etwas zu bedeuten, etwas Furchtbares für die, deren Pfad er erleuchtete. Auch hatte man unheildrohende Stimmen in den Lüften gehört, ungeheure Schwärme von Aasvögeln beobachtet, die der Spur des Heeres folgten, Schattengestalten in den Wolken gesehen, riesige Männer und wild dahinstürmende Rosse. Sie alle zogen nach Osten, nach Osten. Waren das nicht alles Gotteszeichen, daß der Allmächtige sich endlich der geknechteten Völker erbarmen und den Gewaltigen stürzen wollte von seinem goldenen Stuhle?

Der einfältige Glaube der armen Leute schien recht zu behalten. Die Siegesfanfaren verstummten allmählich. Dagegen sickerten andere Nachrichten über die Grenze, unsicher zwar, aber die Menschen aufs tiefste erregend. Es verlautete, die große Armee sei durch Krankheiten, Seuchen und Frost in unglaublicher Weise zusammengeschmolzen. Die Russen hielten kaum irgendwo ernstlich stand, lockten das Heer immer tiefer in ihre Länderwüsten hinein, und der Kaiser jagte ihnen nach in wahnsinniger Verblendung, obwohl bei der tollen Hetzjagd täglich mehrere tausend Männer und Pferde zugrunde gingen.

Heinrich von Krosigk lebte in diesen Wochen wie in einem beständigen Fieber. Des Nachts schrak er oft aus wirren Träumen empor; des Tages hatte er nirgends Ruhe, warf sich aufs Pferd und jagte über seine leeren Felder. Das einzige, was seine Gedanken hin und wieder wohltätig ablenkte, war die Beschäftigung mit seiner kleinen Tochter. Das Kindchen entwickelte sich frisch und gesund, rosig und reizend, und er war, wie seine Frau einst richtig geahnt hatte, ein überaus zärtlicher Vater. An schönen Herbsttagen genossen die Bewohner von Poplitz gar manchmal das eigenartige Schauspiel, den gestrengen Schloßherrn in hohen Reitstiefeln und mit einem Kindermantel um die Schultern auf den Deichdämmen herumspazieren zu sehen. Er trug dort sein kleines Töchterchen im Sonnenschein auf und nieder.

So geschah es auch an einem heiteren Novembernachmittage. Er wandelte, das Kind auf dem Arme, seine Frau an der Seite, auf dem sogenannten »Englischen Fleck«, einer parkartigen Anlage gegenüber der Schloßeinfahrt, unter den hohen, jetzt entlaubten Linden dahin. Plötzlich rief Friederike, die sich zufällig umwandte: »Sieh, dort kommt Wedell!« und wies auf den Piesdorfer Wagen, der vor dem Tore hielt.

Gottlob von Wedell hatte offenbar das lustwandelnde Paar erspäht, denn er ließ halten und sprang aus seiner Kutsche heraus. Mit seinen scharfen Augen erkannte der Baron schon von ferne, daß der Freund ungewöhnlich erregt war; denn er eilte mit einer Hast vorwärts, die ganz im Gegensatze stand zu seinem sonst so ruhigen Wesen. Darum legte Krosigk das Kind in die Arme seiner Frau und schritt dem Näherkommenden entgegen. Brachte der etwas Unwillkommenes, so war es ja nicht nötig, daß Friederike die Botschaft unvorbereitet erfuhr.

Aber Wedell schrie schon von weitem, indem er den Baron mit der Hand begrüßte: »Krosigk, Krosigk! Halte dein Herz fest! Weißt du das Neueste, das Große?« And dann näher hinzutretend rief er mit hastig sich überstürzenden Worten: »Die Russen haben Moskau verbrannt, ihre eigene Hauptstadt! Der Korse muß umkehren, sein Heer soll schon halb vernichtet sein. Die Russen sind hinter ihm her! Das ist der Anfang von seinem Ende.«

Der Baron stand wie erstarrt und sah ihn an. Seine Augen weiteten sich, seine Glieder flogen; der ganze Mann bebte vor ungeheurer Erregung. »Woher hast du das?« stieß er hervor.

»Durch Wilhelm über Berlin von Gneisenau.«

Da hob Krosigk die gefalteten Hände empor und rief mit einer Stimme, die den andern im Innersten erschütterte: »Herrgott, verzeihe mir, wenn ich an deiner Wundermacht gezweifelt habe! Nun sehe ich, du bist ein Gott, der Wunder tut, und willst dich endlich wieder zu uns kehren. Dir sei Preis und Ehre und Dank in Ewigkeit!« Dann umarmte er stürmisch den Freund, und die beiden Männer hielten sich einige Augenblicke fest umschlungen.

»Was willst du tun?« fragte Friederike, die zu ihm getreten war, leise. Ihre Lippen zuckten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte alles mit angehört.

Der Baron legte den Arm um ihre schlanke Gestalt und zog sie mit dem Kinde an sich. »Noch ist nichts zu tun. Erst muß der König rufen, Preußen rüsten. Dann aber – Friederike, möchtest du mich halten?«

»Nein,« sagte sie mit bebender Stimme, aber mit einem wunderbar lieblichen Lächeln zu ihm emporschauend. »Das würde dein Tod sein. Und so lange ich dein Weib bin, wußte ich, daß solch eine Stunde der Trennung einmal kommen mußte. Gott wird ja barmherzig sein.« –

Die Stunde kam; aber sie kam freilich viel später, als der Baron in seiner glühenden Kriegsbegeisterung hoffte und Frau Friederike fürchtete. Den ganzen Winter über mußte er noch auf seinem Schlosse aushalten. Wenn wenn auch der eiserne York sich noch am Abend des scheidenden Jahres auf eigene Faust mit den Russen verband, so war Preußen doch erst im März so weit gerüstet, daß der König dem übermächtigen Todfeinde offen den Fehdehandschuh hinwerfen konnte. In den letzten Tagen des März gelangte der Aufruf des Königs »An mein Volk!« nach Poplitz, aber zugleich durch Gneisenau ein geheimer Befehl des Königs, der von dem Schloßherrn die härteste Selbstverleugnung forderte. Krosigk sollte im Lande bleiben, die alten geheimen Verbindungen wieder anknüpfen und einen Aufstand der altpreußischen Teile Westfalens vorbereiten. Der sollte dann im Rücken der französischen Armee ausbrechen, wenn die Heere der Verbündeten sich der Elblinie nähern würden.

Heinrich fügte sich und blieb. Aber als Napoleon den Sieg bei Groß-Görschen errungen hatte und die Alliierten nach Osten zurückwichen, da konnte ihn nichts mehr in der Heimat halten. Er mußte dabei sein, wo Preußen um sein Dasein rang. Wer mochte wissen, wann das zurückgeschlagene Heer den Grenzen Westfalens wieder nahekommen würde? Vielleicht waren alle die ungeheuren Opfer des preußischen Volkes doch vergeblich, und es stand in Gottes unerforschlichem Ratschlusse fest, daß Bonaparte noch einmal den Sieg erkämpfen sollte. Dann war er entschlossen, den Tod zu suchen und mit Preußen unterzugehen. So riß er sich los von seinem Weibe, das zum zweiten Male Mutter werden sollte, und das er nach Potsdam zu Verwandten in Sicherheit brachte. Er riß sich los von dem zärtlich geliebten Kinde, das kaum das Wort »Vater« mit ungeschickten Lippen stammeln konnte. Bei Nacht und Nebel, um die Wachsamkeit der westfälischen Geheimpolizei zu täuschen, verließ er sein Schloß und eilte zur Armee. Er wußte, daß die Schergen Jérômes das alte Erbe seiner Väter auf der Stelle in Besitz nehmen würden, sobald man in Cassel seine Flucht erfuhr. Er war ein heimatloser Bettler, wenn Preußen unterlag. Aber eine Rückkehr als Besiegter gab es für ihn nicht mehr.


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