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VI.

Am Nachmittage ritt Heinrich von Krosigk wieder in den Hof seines Schlosses ein. Er war in tiefen Gedanken, und diese Gedanken waren sehr unerfreulicher Natur. Was er gesehen hatte im Hauptquartiere des Marschalls Bernadotte, Fürsten von Ponte Corvo, das hatte ihn nicht nur überrascht, sondem ihm sogar wider Willen imponiert.

Zuvörderst war ihm die straffe Disziplin der Truppen aufgefallen. Als er vorhin die Szene der Plünderung und Gewalt hatte ansehen müssen, da hatte ihn bei allem Ingrimme doch auch eine wilde Genugtuung erfüllt. Ja, so sollten sie sein, so wollte er sie haben, die Soldaten der französischen Armee – eine Räuberhorde unter dem großen Räuberhauptmann, ein trotz aller äußeren Erfolge innerlich demoralisierter Haufe, der früher oder später an seiner eigenen Zuchtlosigkeit zugrunde gehen mußte. Wenn eine Truppe sich so benahm nach einem Siege, was mußte aus ihr werden, wenn auch nur vorübergehend einmal das Glück seinem übermütigen Günstlinge den Rücken drehte?

Aber er war eines Besseren belehrt worden, und er hatte sich belehren lassen, denn er gehörte zu den Naturen, die immer sich selbst gegenüber wahr sind, auch wenn ihnen die Wahrheit keine Freude macht. Jene Marodeure waren nur der Abschaum des Heeres und wurden von den übrigen Truppen selbst so beurteilt. Man hatte auch nicht das geringste Federlesen mit ihnen gemacht. Ein Kriegsgericht war sofort zusammengetreten, und die beiden Hauptschuldigen lagen bereits am Rande eines Wäldchens unweit der Saale unter dem Rasen. Der Marschall hatte ihm persönlich sein Bedauern über die rohen Übergriffe ausgesprochen, auch seine Offiziere äußerten darüber nur Worte des schärfsten Tadels. Das hatte er nicht erwartet und auch gar nicht gehofft, vielmehr gemeint, man führe ihn zu einer kriegsgerichtlichen Komödie. Daß dies nicht geschah, war ihm eine unerfreuliche Enttäuschung, denn er mußte dem Verfahren des verhaßten Feindes Anerkennung zollen.

Geradezu erschreckt aber hatte ihn die fanatische Siegeszuversicht, die er da drüben bei Hoch und Niedrig wahrgenommen. Der Offizier wie der gemeine Mann – alle durchdrungen von dem festen Bewußtsein, unbesiegbar zu sein unter ihrem Schlachtenkaiser, der Name des einen Mannes auf aller Lippen, der Stolz auf den Ruhm ihrer Nation in aller Herzen! Darin lag die Hauptstärke dieses Heeres und die Hauptgefahr für sein Vaterland. Das erkannte er deutlich. Denn was konnte Preußen dem entgegenstellen? Der große Mann, der einst den preußischen Regimentern denselben Geist eingehaucht hatte, lag seit zwanzig Jahren im Grabe, und die man als seines Geistes Erben betrachtet hatte, die waren auf den Schlachtfeldern Thüringens dem wälschen Cäsar elendiglich erlegen. Braunschweig, Rüchel und Hohenlohe waren tot oder doch zu den Toten geworfen. Kein großer Name leuchtete mehr über Preußen, kein Mann war da, auf den man die Hoffnung setzen konnte, er werde dem fast verlorenen Spiele eine neue Wendung geben.

Mit einem bitteren Lächeln dachte Heinrich daran, daß er kurz vor dem Kriege an den vertrautesten Ratgeber des Monarchen geschrieben hatte: Was braucht der König russische Unterstützung, so lange er seinen Adel hat? – Jetzt waren die Russen die letzte Hoffnung; ohne ihre Hilfe war an einen ehrenvollen Frieden nicht zu denken. Würden die Festungen sich halten, bis sie herankommen konnten? Kam die Hilfe nicht zu spät? Wie jäh und wie tief war das Vaterland von seiner stolzen Höhe herabgestürzt!

In solchen Gedanken betrat er sein Schloß, und sie ließen ihn nicht mehr los. Sie quälten und peinigten ihn Tag und Nacht; er war nicht imstande, an anderes zu denken. Finster und in sich gekehrt saß er in den nächsten Tagen in seinem Zimmer, fragte nach nichts und kümmerte sich um nichts. Seine Schwester sah ihn nur bei den Mahlzeiten und auch da häufig nicht, denn oft war er zur Essenszeit ausgeritten und kehrte erst nach stundenlanger Abwesenheit zurück. Dann jagte er ziellos über die Felder und Wiesen dahin, als könnte er so den Gedanken entfliehen, die ihn quälten und ihm die Ruhe raubten.

Das einzige, was ihn hin und wieder aus seinen düsteren Grübeleien herausriß, war die Besorgnis um seine Mutter, die er zärtlich liebte. Die alte Dame war recht krank geworden, hatte nachts Fieber und lag am Tage meist in einem Zustande halber Bewußtlosigkeit da. An ihrem Lager saß er oft lange Zeit, hielt ihre Hand in der seinen und brütete stumm vor sich hin. Dann mit einem Male sprang er wieder auf, stürmte aus dem Gemache und warf sich aufs Pferd. So ging es tagelang.

Als er eines Nachmittags von einem dieser tollen Ritte müde und verdrossen nach Hause zurückkehrte, sah er einen staubbedeckten Reisewagen vor dem Schlosse stehen. Zwei Knechte waren eben daran, ihn abzuschirren und die Pferde in den Stall zu führen. Weder der Wagen noch die Gäule waren ihm bekannt; einem Edelmanne der Gegend konnten sie also nicht gehören. Schon vermutete er irgend welche französische Einquartierung, und seine Stirn zog sich bedrohlich zusammen. Aber sie entwölkte sich rasch, und ein Strahl der Freude flog über sein Gesicht, als der hinzutretende Breitmann meldete: »Herr Professor Reil aus Halle ist angekommen!«

»Reil? Donnerwetter! Den führt Gott selbst hierher!« murmelte er und sprang so leicht und elastisch die Treppe hinan, wie seit langem nicht.

Als er droben ins Zimmer trat, erhob sich von seinem Sitze ein gewaltiger Mann und schritt ihm rasch entgegen. War Krosigk schon von hohem Wuchse und breiten Schultern, so überragte ihn doch dieser ostfriesische Riese beinahe um Haupteslänge. In eigentümlichem Gegensatze zu der fast groben und ungeschlachten Gestalt stand sein Gesicht, denn das wies feine und durchgeistigte Züge auf, und die großen dunkelblauen Augen hatten einen so leuchtenden und durchdringenden Blick, als ob der Mann gewohnt sei, in den Seelen anderer Menschen zu forschen und zu lesen.

Das war Johann Christian Reil, einer der berühmtesten und bedeutendsten Ärzte, die Deutschland besaß.

Heinrich eilte auf ihn zu und ergriff seine beiden Hände. »Professor!« rief er, »das ist ja prächtig, daß ich Sie wieder einmal hier habe! Ich hätte in dieser Zeit an alles andere eher gedacht, als an Ihren Besuch.«

Reil erwiderte den Händedruck des Barons mit der größten Herzlichkeit und sagte dann in der ruhigen und bedächtigen Art, die ihm eigen war: »Ja, werter Freund, zum Vergnügen bin ich natürlich auch nicht herausgefahren. Dazu sind die Zeiten zu ernst, und es liegt zu viel auf mir. Ich habe sehr gewichtige Gründe. Zunächst komme ich wegen Ihrer Frau Mutter.« –

Krosigk machte eine Gebärde der Überraschung. »Mein Gott, woher wissen Sie das?«

»Ja, sehen Sie, lieber Freund, es gibt so eigenartige Zufälle,« antwortete der Gelehrte, indem er langsam wieder Platz nahm. »Wenn man nämlich in dieser wunderbaren Welt überhaupt etwas Zufall nennen darf. Ich besuche gestern meinen Freund Steffens, den Naturforscher und Philosophen, finde ihn nicht in seiner Wohnung, höre, daß er sie aus Furcht vor den Franzosen verlassen hat – sie liegt sehr exponiert – und daß er mit Frau und Kind zu Schleiermacher gezogen ist. Ich gehe demnach zu Schleiermacher, finde ihn dort, ebenso Wedell, den Piesdorfer, unseren Landrat, einen ganz prächtigen Mann, den ich bis jetzt nicht näher kannte. Wir hatten ein sehr, sehr ernstes Gespräch, das sich auch mit Ihrer Person sehr stark beschäftigte. Es war die reine Verschwörung – doch davon später. Während wir noch reden, wird ein Kandidat der Theologie aus hiesiger Gegend gemeldet, der sich erkundigen will, wie Schleiermacher durch die Schreckenstage gekommen ist. Der Name ist mir entfallen, war mir auch gleichgültig – Molkenbauer oder so ähnlich –«

»Aha, Moldenhauer,« unterbrach ihn Krosigk. »Ein sehr tüchtiger Mensch, fester Patriot.«

»Ja, ja, er hat ein vertrauenerweckendes Äußere,« pflichtete Reil bei. »Er sieht mehr aus wie ein Husar in Zivil als wie ein friedlicher Seelenhirt. Dieser Moldenhauer nun also wurde mir vorgestellt; natürlich frage ich nach Ihnen und erfahre auf diese Weise, daß Ihre verehrte Frau Mutter sehr krank ist. Nehmen Sie mir's nicht übel, lieber Krosigk, wenn ich Ihnen sage: ich wollte lieber, ich hätte es auf andere Weise gehört, nicht auf Umwegen, sondern direkt von Ihnen selbst.«

»Aber bester Reil!« rief der Baron aufspringend und nochmals seine Hand erfassend. »Das nehmen Sie mir wirklich nicht übel! Wer denkt wohl in solcher Zeit daran, einen Mann wie Sie zu einer Tagfahrt über Land zu bemühen! Was müssen Sie zu tun haben in den Lazaretten!«

»Gewiß, es war eine harte Zeit,« erwiderte der Arzt und strich sich über die Stirn, als wollte er einen quälenden Gedanken verscheuchen. »Bilder des menschlichen Elends habe ich gesehen, die sich dem Gedächtnis unauslöschlich einprägen. Aber nun ist das vorbei, wenigstens zum größten Teile; die Unheilbaren sind tot, und zur Beobachtung der Rekonvaleszenten genügen untergeordnete Kräfte. Nein, es war unrecht, daß Sie mich nicht riefen. Sie wissen, wie hoch ich Ihre Mutter schätze – solche feine, klare und dabei doch tatkräftige Frauen sind mir so überaus sympathisch. Auch habe ich sie ja schon früher einmal kuriert. Hatten Sie denn kein Vertrauen zu mir? Dachten Sie, Ihr alter Doktor aus Alsleben könnte das besser als ich?«

Krosigk lachte und hielt ihm die Hand hin. »Wer wird den Mond mit der Sonne vergleichen! Wir glaubten nur, daß wir uns diesmal mit dem Monde begnügen müßten. Daß Sie mir nicht bös sind, sehe ich zu meiner Freude an Ihrem Hiersein. Und nun zu meiner Mutter! Es ist ihr, Gott sei Dank, gestern und heute besser ergangen, sie ist viel frischer, und man kann schon hin und wieder mit ihr plaudern.« –

Als die beiden Herren am Abend nach dem Essen in des Barons Arbeitszimmer beim Steinwein saßen, begann Reil: »Wie ich Ihnen schon sagte, lieber Krosigk, ist der Zustand Ihrer Frau Mutter nicht gefährlich. Sie befindet sich auf dem Wege der Genesung und wird sich, wenn nicht ein Rückfall kommt, in einigen Wochen ganz erholt haben. Der alte Praktikus aus Alsleben hat sie ganz richtig behandelt; ich war hier in der Tat überflüssig. Und doch, ein Mittel wüßte ich, das die liebe alte Dame schneller als alles andere wieder zu Kräften bringen würde.«

»Nun?« fragte Krosigk gespannt.

»Ihr Leiden besteht zum guten Teile in einer Depression der Seele,« erläuterte der Professor. »Sie wissen, wie schwer sie der Tod Ihres Herrn Vaters getroffen hat; sie ist ja seit der Zeit nie wieder ganz gesund geworden. Nun sind neue Aufregungen und Sorgen dazugekommen und haben ihr einen gehörigen Nervenchok zugezogen. An dessen Folgen laboriert sie jetzt. Nichts würde sie so rasch und so gründlich kurieren wie eine große Freude.«

»Und die, meinen Sie, soll ich ihr machen? Ja, mein Himmel, wenn ich nur wüßte, wie! In dieser Zeit – wer soll sich da freuen? Und woher soll man eine Freude für andere nehmen? In mir lebt nur noch zweierlei: ein entsetzlicher Schmerz und eine ungeheure Scham!« Er fuhr von seinem Sitze auf und stieß den Stuhl so jäh zurück, daß er zu Boden fiel, und indem er den Oberkörper weit vorbeugte und die Hände in den Tisch einkrallte, begann er auf einmal mit glühenden Augen, mit hastigen, stockenden, sich überstürzenden Worten auf den Gegenübersitzenden einzusprechen: »Reil, Sie sind mein Freund! Ihnen vertrau' ich. So hören Sie, was ich endlich einmal einem Menschen sagen muß! Ich kann so nicht leben! Bin ich nicht schon wahnsinnig, so werd' ich's nächstens. In Schanden kann ich nicht existieren. Nein, unterbrechen Sie mich nicht, es muß von der Seele herunter. Sehen Sie, was waren wir, und was sind wir nun? Wir, der Adel, wir waren die Grundmauer, auf der die großen Könige unseren Staat aufgebaut hatten. Sie wissen, ich habe nie jemand gering geachtet, aber es war mein Stolz, ein preußischer Edelmann zu sein. Wohl wußte ich, daß einige unter uns Drohnen waren. Was tat's? Auch die Sonne hat Flecken. Auf die Treue, die Tapferkeit, die Ehrenhaftigkeit meines Standes hätte ich Häuser gebaut. Und nun? Moder und Wurmfraß, wohin ich blicke. Die Generale im Felde – Schwächlinge und Narren, die alles Draufgehen scheuten. Die Kommandanten in den Festungen – von denen lassen Sie mich schweigen. Alles hohl, faul, alt, überlebt! Der alte preußische Adel ist nicht mehr. Preußen selbst wird bald nicht mehr sein, denn der Korse wäre dümmer als er ist, wenn er uns am Leben ließe. Er wird unseren Staat zertreten, wie man einen am Boden liegenden Feuerbrand zertritt. Das will ich nicht erleben, das kann ich nicht. Darum gehe ich zur Armee, sobald ich kann, und suche eine Kugel, damit ich nicht ein Knecht der Fremden werden muß.«

Er hielt inne und starrte dem Arzte mit brennenden Blicken ins Gesicht. Reil sah ihm fest in die Augen und versetzte dann mit ungewöhnlicher Schärfe: »Ihren Schmerz verstehe ich. Ihren Entschluß, zur Armee zu gehen, muß ich billigen. Daß Sie aber eine Kugel für sich suchen, finde ich Ihrer gänzlich unwürdig.«

»Unwürdig?« Krosigk warf den Kopf in den Nacken. »Finden Sie es würdig, unter allen Umständen an diesem armseligen Dasein zu kleben?«

»Nein,« erwiderte Reil. »Es gibt einen Fall, allerdings nur einen, in dem ein Mann den Tod suchen soll. Das ist: wenn er ehrlos geworden ist, nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor sich selbst. Das hat mit Ihrer Lage nichts zu tun.«

»Ich habe an den Ehren meines Standes partizipiert, so partizipiere ich auch an seiner Schande,« sagte der Edelmann finster.

»Erstens einmal,« entgegnete Reil, »ist Ihr Urteil allzu hart und sogar ungerecht. Es ist wahr, die Führung war schlecht, das Verhalten vieler Generale kläglich. Aber was wollen Sie? Die Leute waren Greise, sie waren müde und stumpf. Einer zitternden Greisenhand entsinkt der Degen gar schnell. Aber ist es gerecht, nach ihrer traurigen Schwäche den preußischen Adel zu beurteilen? Haben nicht Hunderte und Tausende von Offizieren bei Hassenhausen und auf den Höhen von Jena bis in den Tod ihre Pflicht getan? Sie sind doch wohl die ungeheure Mehrheit des Adels. Ein solcher Stand ist noch nicht verloren. Er wird sich freilich regenerieren müssen, viel Faules und Krankes muß ausgeschieden werden. Dazu sind uns Männer not, wie Sie, dazu sollen Sie helfen. Das ist Ihrer würdig.«

»Herrgott!« rief Krosigk, »wie kann man etwas reformieren, was vielleicht schon in wenigen Wochen nicht mehr ist? Geht der Siegeszug des Korsen so weiter, so ist gegen Weihnachten der König Markgraf von Brandenburg, und es gibt kein Preußen mehr. Er wird wohl reinen Tisch mit uns machen!«

»Wenn er könnte, gewiß,« fiel der Gelehrte ein. »Aber er wird es nicht können. Ein Volk kann man nicht vernichten.«

»Und Polen?« fragte Krosigk. »Widerlegt Sie das nicht?«

»Keineswegs. Polen war kein Volk mehr, noch viel weniger ein Staat. Es bestand ja nur noch aus schnapstrinkenden Slachtitzen, Schacherjuden und vertierten Frohnsklaven, und im ganzen Lande gab es kaum einen Menschen, der ernstlich und ehrlich arbeitete. Das ist bei uns doch etwas ganz anderes. Wir sind ein Volk von Arbeitsbienen, wenn es auch leider viele Drohnen unter uns gibt. Jedermann weiß, wie viel latente Kraft in uns steckt. Er weiß es auch. Was soll er mit uns machen, wenn er uns wirklich ganz niederringt? Preußen zur französischen Provinz machen? Das kann Rußland nie und nimmer dulden. Oder uns aufteilen? Seine Feinde stärken mit unserem Blut? Er wird sich hüten. Er kann wohl Fetzen abreißen von unserem Reiche, aber den Kern muß er bestehen lassen. Und so lange es ein Preußen gibt, Freund, so lange wollen wir für dieses Preußen arbeiten und nicht verzweifeln!«

Krosigk saß lange schweigend da, dann richtete er

sich mit einem Male straff empor. »Sie haben recht,« sagte er. »Mein Wunsch zu sterben war eine Schwäche. Noch ist es nicht so weit. Ich will den Tod nicht suchen, aber ich will mich ihm entgegenwerfen.« Wieder versank er in tiefes Nachdenken und fuhr dann fort: »Noch einmal: Sie haben recht. Wir sollen nicht verzweifeln. Selbst wenn Preußen unterginge, das Reich der Arglist und Lüge kann auf die Dauer doch nicht bestehen. Es ruht auf der ungeheuren Kraft eines einzigen Mannes, den Gott mit allen Mitteln ausgestattet hat, die Menschen zu betören und zu knechten. Ich habe ihn immer für eine Zuchtrute der Völker gehalten. Nun sollen wir diese Zuchtrute Gottes auch zu fühlen bekommen, und wer weiß, wie lange wir unter ihr bluten werden! Aber wenn wir uns wieder zu dem Herrn kehren, uns aufrütteln lassen aus der weichlichen Schlaffheit und Genußsucht, der dieses Geschlecht verfallen war, so wird der Herr sich auch wieder zu uns kehren. Sie haben recht. Das Vaterland braucht Männer, die eine bessere Zukunft vorbereiten. Es ist oft schwerer zu leben, als zu sterben. Aber hier bleiben kann ich jetzt nicht. Ich muß dahin, wo Preußen seinen Verzweiflungskampf kämpft. Ich gehe zum König, wo er auch ist.«

»Doch nicht gleich,« sagte Reil. »Vorausgesetzt, daß Sie tun werden, worum ich Sie in meinem und unserer Freunde Namen bitte.«

»Nun, was haben Sie für Pläne?«

»Ich sagte Ihnen schon, daß ich mit Steffens, Schleiermacher und Ihrem Freunde Wedell eine sehr ernste Unterredung hatte. Es handelt sich darum, eine Gaunerei, ja, ich kann es nicht anders nennen: eine Schurkerei zu verhindern, die unserem Vaterlande die schwerste Wunde schlagen kann.«

Krosigk richtete sich hoch auf. »Da bin ich stets dabei, verfügen Sie über mich. Was ist's?«

»Mit einem Worte: Sie sollen, wenn's möglich ist, den Fall von Magdeburg verhindern.«

Der Edelmann starrte ihn verständnislos an. »Was soll das heißen?«

»Die Sache ist die, lieber Freund,« erklärte Reil. »Magdeburg ist zwar von den Franzosen belagert, aber nicht umschlossen. Noch ist eine Verbindung mit der Festung möglich. Nun sind vor einigen Tagen ein paar Leute von dort in Halle eingetroffen, die behaupten, General Kleist wolle kapitulieren.«

»Kapitulieren?« schrie Krosigk. »Er hat ja eine Armee bei sich und Brot und Pulver für ein halbes Jahr! – Nein, Reil,« setzte er ruhiger hinzu, »das kann nichts anderes sein, als ein müßiges Geschwätz.«

»Leider, leider glaube ich das nicht,« erwiderte der Gelehrte. »Ihr Freund Wedell kannte den Mann, der die Nachricht brachte. Er hielt ihn für ein durchaus glaubwürdiges Subjekt.«

»So ist der General ein Schuft und hat die Kugel verdient!« rief Krosigk. Dann schlug er beide Hände vors Gesicht und stöhnte: »Sehen Sie, Freund, wieder einer! Ein Kleist, ein Sohn des ruhmwürdigsten preußischen Soldatengeschlechtes, wird zum Verräter! Hundert und vierzig Kleiste sind für den großen Friedrich gefallen. Nun ladet ein Sohn dieses Hauses solche Schmach auf sich! Es ist ein Jammer, zu leben!«

»Noch ist es nicht so weit,« beruhigte Reil.

»Aber Gefahr ist im Verzuge. Der alte General scheint völlig den Kopf verloren zu haben, und die teilweise noch älteren, kranken und hinfälligen Generäle seiner Umgebung sind nicht imstande, seinen gebeugten Mut wieder aufzurichten. Ein Mann muß zu ihm hin, der ihm frisches Feuer in die Adern gießt, und der Mann sollen Sie sein. Wir alle kennen Ihre fortreißende Beredsamkeit und die Gewalt, die Sie auf Menschengemüter ausüben. Von Ihnen geht frisches Leben aus. Sie können einem die Seele erwärmen und erheben. Eilen Sie zu Kleist, wenn es irgend noch möglich ist, in die Stadt zu dringen. Stellen Sie ihm vor, daß dieses Land für Preußen verloren ist, wenn Magdeburg fällt. Sagen Sie ihm, daß eine Armee, die Magdeburg zerniert, einen bösen Stand haben wird, denn wir werden das Landvolk gegen sie aufregen, einen Kleinkrieg in ihrem Rücken eröffnen, ihr die Verbindungen abschneiden. Sagen Sie ihm das alles, und was Ihnen sonst Ihr Herz eingiebt. Sie können damit etwas Großes wirken.«

»Ja, bei Gott, ja, das will ich!« rief Krosigk aufspringend, und ein Strahl der Freude brach aus seinen Augen. »Morgen schon reise ich ab. Diese Nacht benutze ich, um meine Anordnungen zu treffen. Haben Sie Dank, teuerster Freund, für Ihr Vertrauen. Ich tue, was ich irgend tun kann.«

Reil faßte bewegt seine Hand. »Und nun noch eins, lieber Krosigk. Sie nennen mich Ihren Freund, und ich weiß, daß in Ihrem Munde dieses Wort mehr ist als eine façon de parler. So gestatten Sie mir, daß ich auch Freundesrecht in Anspruch nehme, und halten Sie das nicht für eine Indiskretion, wenn ich Ihnen sage: Sie sollten Ihrer alten Mutter die Herzensfreude machen, hinwärts oder herwärts über Groß-Salze zu reisen.«

Krosigk trat etwas zurück, und eine helle Röte stieg ihm ins Antlitz, »Hat Ihnen das meine Mutter gesagt?«

»Ihre Mutter hat ganz offen mit mir gesprochen. Sie sagte, es werde das Glück ihres Alters und die Erfüllung ihres höchsten Wunsches sein, Sie noch verheiratet zu sehen. Sie sind, wie ich längst weiß, ihr Liebling, wie Sie der Stolz Ihres Vaters waren. Nun sollen Sie im vorigen Jahre, ja noch im vergangenen Frühjahre Neigung gezeigt haben, ihr diesen Wunsch zu erfüllen, dann aber wieder zurückgetreten sein. Ihre Frau Mutter kann sich das gar nicht erklären, denn das läge doch gar nicht in Ihrem Charakter. Sie seien »einhart«, wie das Volk zu sagen pflegt, das heißt, sie könnten eine einmal ergriffene Sache nie wieder loslassen, verfolgten den einmal eingeschlagenen Weg mit unbeugsamer Hartnäckigkeit. Ich muß gestehen, auch ich habe Sie immer so beurteilt.«

»Ja, lieber Reil,« sagte Krosigk nach einigem Besinnen, »da will ich Ihnen denn ganz reinen Wein einschenken. Es ist wahr, ich leugne es nicht: kein weibliches Wesen hat bisher solch einen Eindruck auf mich gemacht, wie Friederike von Schurff. Ich habe auch sehr ernstlich daran gedacht, ihre Lebenswege mit den meinen zu vereinigen. Aber offen gesagt: ich konnte nicht dahinterkommen, ob sie ähnlich denkt wie ich. Sie war bei aller Liebenswürdigkeit von einer kühlen Sprödigkeit, die mich ganz unsicher machte. Manchmal glaubte ich ein wärmeres Gefühl durchbrechen zu sehen, dann wieder – Schnee und Eis. Der Kuckuck komme dahinter!«

»Ja, die Frauenherzen sind wie Festungen, und die Herzen der feinen Frauen wie die stärksten Festungen,« sagte Reil mit Lächeln. »Dem Sturm auf sie muß eine sorgfältige Minierarbeit vorausgehen.«

»Und sehen Sie, dazu fehlte mir die Zeit,« fiel Krosigk ein. »Wer konnte im Sommer, als mobil gemacht wurde, an solche Dinge denken! Und nun vollends jetzt! Ich gehe von meinem Gute weg in den Kampf fürs Vaterland. Wie sollte ich da Liebesgeschichten im Kopfe haben!«

»Hm, hm,« machte Reil nachdenklich. »Sagen Sie einmal, was ist der Vater Ihrer Angebeteten für ein Mann?«

»Soweit ich ihn kenne, ein braver, liebenswerter, etwas zu behaglicher Mann. Leider gehört er auch zu den sogenannten Stillen im Lande; es wird für mein Gefühl etwas zu viel gesungen und gebetet in seinem Hause. Aber er ist ein alter Offizier Friedrichs und ein begeisterter Preuße.«

»Und haben Sie außer ihm nähere Bekannte in der Gegend von Magdeburg?« fragte Reil weiter.

»Daß ich nicht wüßte!« '

»Aber bester Krosigk!« rief der Arzt aufspringend, »dann ist es doch ganz klar, was Sie zu tun haben. Sie reisen nach Groß-Salze und erfüllen damit den Wunsch Ihrer Mutter. Sie nehmen dort die Hilfe des Vaters in Anspruch, um nach Magdeburg hineinzukommen, und wenn Sie dabei der Tochter näherkommen und ihr gefallen, so ist das um so besser. Sie gelangen mit dem Beistande Schurffs in die Stadt und helfen sie ehrenvoll verteidigen, denn dort können Sie dem Könige mehr nützen als in Ostpreußen, das steht fest. Was nachher geschieht, das wollen wir getrost dem lieben Gott überlassen.«

Krosigk lachte. »Das ist ja ein ganz romantischer Plan. Die reine Komödie. Aber ich muß gestehen, mir selbst schoß vorhin schon der Gedanke durch den Kopf.« Er ging langsam im Zimmer auf und nieder und blieb dann wieder vor Reil stehen. »Wahrhaftig, die Sache hat Hand und Fuß,« sagte er. »Es muß in der Tat für mich höchst wichtig sein, in der dortigen Gegend einen Beistand und Rückhalt zu finden. Sonst komme ich vielleicht gar nicht in die Festung hinein.«

»Sehr möglich,« bestätigte Reil.

»Wahrscheinlich folge ich also Ihrem Vorschlage. Aber das will ich erst überlegen, reiflich überlegen und durchdenken. Deshalb, lieber Freund, nehmen Sie mir's nicht übel, wenn ich Sie jetzt verlasse.«

»Nicht im geringsten,« erwiderte Reil. »Ich werde mich mit Fräulein Antoinette noch eine Weile unterhalten und dann zu Bett gehen. Bleiben Sie hier und lassen Sie sich nicht stören.«

»Noch eines,« sagte Krosigk, »glauben Sie, daß der Kandidat, den Sie in Halle gesprochen haben, wieder nach Hause zurückgekehrt ist?«

»Er wollte heute schon bei seinen Eltern sein, wenn ich mich recht erinnere.«

»Gut, gut. Ich werde Sie hinübergeleiten. Die Flasche und Ihr Glas nehmen Sie mit. Sie sollen bei mir nicht trocken sitzen.«

Als Krosigk wenige Minuten später in sein Zimmer zurückkehrte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und warf einige Zeilen aufs Papier. Dann faltete er das Schreiben zusammen, siegelte es und klingelte dem Diener.

»Breitmann reitet sofort nach Peißen und übergibt den Brief Herrn Kandidaten Moldenhauer,« befahl er dem eintretenden Schröder. »Jetzt will ich allein sein und wünsche von niemandem mehr gestört zu werden.«


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