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Sechstes Kapitel.
Ueber die dritte Klasse der Objekte für das Subjekt und die in ihr herrschende Gestaltung des Satzes vom zureichenden Grunde.

§ 35.
Erklärung dieser Klasse von Objekten.

Die dritte Klasse der Gegenstände für das Vorstellungsvermögen bildet der formale Theil der vollständigen Vorstellungen, nämlich die a priori gegebenen Anschauungen der Formen des äußern und innern Sinnes, des Raums und der Zeit.

Als reine Anschauungen sind sie für sich und abgesondert von den vollständigen Vorstellungen und den erst durch diese hinzukommenden Bestimmungen des Voll- oder Leerseyns, Gegenstände des Vorstellungsvermögens, da sogar reine Punkte und Linien gar nicht dargestellt, sondern nur a priori angeschaut werden können, wie auch die unendliche Ausdehnung und unendliche Theilbarkeit des Raumes und der Zeit allein Gegenstände der reinen Anschauung und der empirischen fremd sind. Was diese Klasse von Vorstellungen, in welcher Zeit und Raum rein angeschaut werden, von der ersten Klasse, in der sie (und zwar im Verein) wahrgenommen werden, unterscheidet, das ist die Materie, welche ich daher einerseits als die Wahrnehmbarkeit von Zeit und Raum, und andererseits als die objektiv gewordene Kausalität erklärt habe.

Hingegen ist die Verstandesform der Kausalität nicht für sich und abgesondert ein Gegenstand des Vorstellungsvermögens, sondern kommt erst mit und an dem Materiellen der Erkenntniß ins Bewußtseyn.

§ 36.
Satz vom Grunde des Seyns.

Raum und Zeit haben die Beschaffenheit, daß alle ihre Theile in einem Verhältniß zu einander stehn, in Hinsicht auf welches jeder derselben durch einen andern bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dies Verhältniß Lage, in der Zeit Folge. Diese Verhältnisse sind eigenthümliche, von allen andern möglichen Verhältnissen unserer Vorstellungen durchaus verschiedene, daher weder der Verstand, noch die Vernunft, mittelst bloßer Begriffe, sie zu fassen vermag; sondern einzig und allein vermöge der reinen Anschauung a priori sind sie uns verständlich: denn was oben und unten, rechts und links, hinten und vorn, was vor und nach sei, ist aus bloßen Begriffen nicht deutlich zu machen. Kant belegt Dies sehr richtig damit, daß der Unterschied zwischen dem rechten und linken Handschuh durchaus nicht anders, als mittelst der Anschauung verständlich zu machen ist. Das Gesetz nun, nach welchem die Theile des Raums und der Zeit, in Absicht auf jene Verhältnisse, einander bestimmen, nenne ich den Satz vom zureichenden Grunde des Seyns, principium rationis sufficientis essendi. Ein Beispiel von diesem Verhältniß ist schon im 15. Paragraph gegeben, an der Verbindung zwischen den Seiten und den Winkeln eines Dreiecks, und daselbst gezeigt, daß dieses Verhältniß sowohl von dem zwischen Ursache und Wirkung, als dem zwischen Erkenntnißgrund und Folge, ganz und gar verschieden sei, weshalb hier die Bedingung Grund des Seyns, ratio essendi genannt werden mag. Es versteht sich von selbst, daß die Einsicht in einen solchen Seynsgrund Erkenntnißgrund werden kann, eben wie auch die Einsicht in das Gesetz der Kausalität und seine Anwendung auf einen bestimmten Fall Erkenntnißgrund der Wirkung ist, wodurch aber keineswegs die gänzliche Verschiedenheit zwischen Grund des Seyns, des Werdens und des Erkennens aufgehoben wird. In vielen Fällen ist Das, was nach einer Gestaltung unsers Satzes Folge ist, nach der andern Grund: so ist sehr oft die Wirkung Erkenntnißgrund der Ursache. Z. B. das Steigen des Thermometers ist, nach dem Gesetze der Kausalität, Folge der vermehrten Wärme; nach dem Satze vom Grunde des Erkennens aber ist es Grund, Erkenntnißgrund der vermehrten Wärme, wie auch des Urtheils, welches diese aussagt.

§ 37.
Seynsgrund im Raume.

Im Raum ist durch die Lage jedes Theils desselben, wir wollen sagen einer gegebenen Linie (von Flächen, Körpern, Punkten, gilt das Selbe), gegen irgend eine andere Linie, auch ihre von der ersten ganz verschiedene Lage gegen jede mögliche andere durchaus bestimmt, so daß die letztere Lage zur ersteren im Verhältniß der Folge zum Grunde steht. Da die Lage der Linie gegen irgend eine der möglichen andern eben so ihre Lage gegen alle andern bestimmt, also auch die vorhin als bestimmt angenommene Lage gegen die erste; so ist es einerlei, welche man zuerst als bestimmt und die andern bestimmend, d. h. als ratio und die andern als rationata betrachten will. Dies daher, weil im Raume keine Succession ist, da ja eben durch Vereinigung des Raumes mit der Zeit, zur Gesammtvorstellung des Komplexes der Erfahrung, die Vorstellung des Zugleichseyns entsteht. Bei dem Grunde des Seyns im Raum herrscht also überall ein Analogon der sogenannten Wechselwirkung: wovon das Ausführlichere bei Betrachtung der Reciprokation der Gründe § 48. Weil nun jede Linie in Hinsicht auf ihre Lage sowohl bestimmt durch alle andern, als sie bestimmend ist; so ist es nur Willkür, wenn man irgend eine Linie bloß als die andern bestimmend und nicht als bestimmt betrachtet, und die Lage jeder gegen irgend eine andere läßt die Frage zu nach ihrer Lage gegen irgend eine dritte, vermöge welcher zweiten Lage die erste nothwendig so ist, wie sie ist. Daher ist auch in der Verkettung der Gründe des Seyns, wie in der der Gründe des Werdens, gar kein Ende a parte ante zu finden, und, wegen der Unendlichkeit des Raums und der in ihm möglichen Linien, auch keines a parte post. Alle möglichen relativen Räume sind Figuren, weil sie begränzt sind, und alle diese Figuren haben, wegen der gemeinschaftlichen Gränzen, ihren Seynsgrund eine in der andern. Die series rationum essendi im Raum geht also, wie die series rationum fiendi, in infinitum und zwar nicht nur, wie jene, nach einer, sondern nach allen Richtungen.

Ein Beweis von allem Diesen ist unmöglich: denn es sind Sätze, deren Wahrheit transscendental ist, indem sie ihren Grund unmittelbar in der a priori gegebenen Anschauung des Raumes haben.

§ 38.
Seynsgrund in der Zeit. Arithmetik.

In der Zeit ist jeder Augenblick bedingt durch den vorigen. So einfach ist hier der Grund des Seyns, als Gesetz der Folge; weil die Zeit nur Eine Dimension hat, daher keine Mannigfaltigkeit der Beziehungen in ihr seyn kann. Jeder Augenblick ist bedingt durch den vorigen; nur durch jenen kann man zu diesem gelangen; nur sofern jener war, verflossen ist, ist dieser. Auf diesem Nexus der Theile der Zeit beruht alles Zählen, dessen Worte nur dienen, die einzelnen Schritte der Succession zu markiren; folglich auch die ganze Arithmetik, die durchweg nichts Anderes, als methodische Abkürzungen des Zählens lehrt. Jede Zahl setzt die vorhergehenden als Gründe ihres Seyns voraus: zur Zehn kann ich nur gelangen durch alle vorhergehenden, und bloß vermöge dieser Einsicht in den Seynsgrund weiß ich, daß wo Zehn sind, auch Acht, Sechs, Vier sind.

§ 39.
Geometrie.

Eben so beruht auf dem Nexus der Lage der Theile des Raums die ganze Geometrie. Sie wäre demnach eine Einsicht in jenen Nexus: da solche aber, wie oben gesagt, nicht durch bloße Begriffe möglich ist, sondern nur durch Anschauung; so müßte jeder geometrische Satz auf diese zurückgeführt werden, und der Beweis bestände bloß darin, daß man den Nexus, auf dessen Anschauung es ankommt, deutlich heraushöbe; weiter könnte man nichts thun. Wir finden indessen die Behandlung der Geometrie ganz anders. Nur die zwölf Axiome Euklids läßt man auf bloßer Anschauung beruhen, und sogar beruhen von diesen eigentlich nur das neunte, elfte und zwölfte auf einzelnen verschiedenen Anschauungen, alle die andern aber auf der Einsicht, daß man in der Wissenschaft nicht, wie in der Erfahrung, es mit realen Dingen, die für sich neben einander bestehn und ins Unendliche verschieden seyn können, zu thun habe; sondern mit Begriffen, und in der Mathematik mit Normalanschauungen, d. h. Figuren und Zahlen, die für alle Erfahrung gesetzgebend sind und daher das Vielumfassende des Begriffs mit der durchgängigen Bestimmtheit der einzelnen Vorstellung vereinigen. Denn obgleich sie, als anschauliche Vorstellungen, durchweg genau bestimmt sind und auf diese Weise für Allgemeinheit durch das Unbestimmtgelassene keinen Raum geben; so sind sie doch allgemein: weil sie die bloßen Formen aller Erscheinungen sind, und als solche von allen realen Objekten, denen eine solche Form zukommt, gelten. Daher von diesen Normalanschauungen, selbst in der Geometrie, so gut als von den Begriffen, Das gelten würde, was Plato von seinen Ideen sagt, daß nämlich gar nicht zwei gleiche existiren können, weil solche nur Eine wären Die Platonischen Ideen lassen sich allenfalls beschreiben als Normalanschauungen, die nicht nur, wie die mathematischen, für das Formale, sondern auch für das Materiale der vollständigen Vorstellungen gültig wären: also vollständige Vorstellungen, die, als solche, durchgängig bestimmt wären, und doch zugleich, wie die Begriffe, Vieles unter sich befaßten; d. h. nach meiner § 28 gegebenen Erklärung, Repräsentanten der Begriffe, die ihnen aber völlig adäquat wären.. Dies würde, sage ich, auch von den Normalanschauungen in der Geometrie gelten, wären sie nicht, als allein räumliche Objekte, durch das bloße Nebeneinanderseyn, den Ort, unterschieden. Diese Bemerkung hat, nach dem Aristoteles, schon Plato selbst gemacht: ετι δε, παρα τα αισθητα και τα ειδη, τα μαθηματικα των πραγματων ειναι φησι μεταξυ, διαφεροντα των μεν αισθητων τῳ αϊδια και ακινητα ειναι, των δε ειδων τῳ τα μεν πολλ' αττα δμοια ειναι, το δε ειδος αυτο ἑν ἑκαστον μονον ( item praeter sensibilia et species, mathematica rerum ait media esse, a sensibilibus quidem differentia eo, quod perpetua et immobilia sunt, a speciebus vero eo, quod illorum quidem multa quaedam similia sunt, species vero ipsa unaquaeque sola). Metaph. I, 6, womit X, 1 zu vergleichen. Die bloße Einsicht nun, daß ein solcher Unterschied des Orts die übrige Identität nicht aufhebt, scheint mir jene neun Axiome ersetzen zu können und dem Wesen der Wissenschaft, deren Zweck es ist, das Einzelne aus dem Allgemeinen zu erkennen, angemessener zu seyn, als die Aufstellung neun verschiedener Axiome, die auf Einer Einsicht beruhen. Alsdann nämlich wird von den geometrischen Figuren gelten, was Aristoteles, Metaph. X, 3 sagt: εν τουτοις ἡ ισοτης ἑνοτης ( in illis aequalitas unitas est).

Von den Normalanschauungen in der Zeit aber, den Zahlen, gilt sogar kein solcher Unterschied des Nebeneinanderseyns, sondern schlechthin, wie von den Begriffen, die identitas indiscernibilium, und es giebt nur Eine Fünf und nur Eine Sieben. Auch hier ließe sich ein Grund dafür finden, daß 7 + 5 = 12 nicht, wie Herder in der Metakritik meint, ein identischer, sondern wie Kant so tiefsinnig entdeckt hat, ein synthetischer Satz a priori ist, der auf reiner Anschauung beruht. 12 = 12 ist ein identischer Satz.

Auf die Anschauung beruft man also in der Geometrie sich eigentlich nur bei den Axiomen. Alle übrigen Lehrsätze werden demonstrirt, d. h. man giebt einen Erkenntnißgrund des Lehrsatzes an, welcher Jeden zwingt denselben als wahr anzunehmen: also man weist die logische, nicht die transscendentale Wahrheit des Lehrsatzes nach. (§§ 30 und 32.) Diese aber, welche im Grund des Seyns und nicht in dem des Erkennens liegt, leuchtet nie ein, als nur mittelst der Anschauung. Daher kommt es, daß man nach so einer geometrischen Demonstration zwar die Ueberzeugung hat, daß der demonstrirte Satz wahr sei, aber keineswegs einsieht, warum was er behauptet so ist, wie es ist: d. h. man hat den Seynsgrund nicht, sondern gewöhnlich ist vielmehr erst jetzt ein Verlangen nach diesem entstanden. Denn der Beweis durch Aufweisung des Erkenntnißgrundes wirkt bloß Ueberführung ( convictio), nicht Einsicht ( cognitio): er wäre deswegen vielleicht richtiger elenchus, als demonstratio zu nennen. Daher kommt es, daß er gewöhnlich ein unangenehmes Gefühl hinterläßt, wie es der bemerkte Mangel an Einsicht überall giebt, und hier wird der Mangel der Erkenntniß, warum etwas so sei, erst fühlbar durch die gegebene Gewißheit, daß es so sei. Die Empfindung dabei hat Aehnlichkeit mit der, die es uns giebt, wenn man uns etwas aus der Tasche, oder in die Tasche, gespielt hat, und wir nicht begreifen wie. Der, wie es in solchen Demonstrationen geschieht, ohne den Grund des Seyns gegebene Erkenntnißgrund ist manchen Lehren der Physik analog, die das Phänomen darlegen, ohne die Ursache angeben zu können, wie z. B. der Leidenfrostische Versuch, sofern er auch im Platinatiegel gelingt. Hingegen gewährt der durch Anschauung erkannte Seynsgrund eines geometrischen Satzes Befriedigung, wie jede gewonnene Erkenntniß. Hat man diesen, so stützt sich die Ueberzeugung von der Wahrheit des Satzes allein auf ihn, keineswegs mehr auf den durch Demonstration gegebenen Erkenntnißgrund. Z. B. den 6. Satz des ersten Buchs Euklids: »Wenn in einem Dreieck zwei Winkel gleich sind, sind auch die ihnen gegenüberliegenden Seiten gleich« beweist Euklid so: (siehe Fig. 3) das Dreieck sei a b g, worin der Winkel a b g dem Winkel a g b gleich ist; so behaupte ich, daß auch die Seite a g der Seite a b gleich ist.

Denn ist die Seite a g der Seite a b ungleich, so ist eine davon größer. a b sei größer. Man schneide von der größern a b das Stück d b ab, das der kleinern a g gleich ist, und ziehe d g. Weil nun (in den Dreiecken d b g a b g) d b gleich a g und b g beiden gemeinschaftlich ist, so sind die zwei Seiten d b und b g den zwei Seiten a g und g b gleich, jede einzeln genommen, der Winkel d b g dem Winkel a g b, und die Grundlinie d g der Grundlinie a b, und das Dreieck a b g dem Dreieck d g b, das größere dem kleineren, welches ungereimt ist. a b ist also a g nicht ungleich, folglich gleich.

In diesem Beweis haben wir nun einen Erkenntnißgrund der Wahrheit des Lehrsatzes. Wer gründet aber seine Ueberzeugung von jener geometrischen Wahrheit auf diesen Beweis? und nicht vielmehr auf den durch Anschauung erkannten Seynsgrund, vermöge welches, (durch eine Nothwendigkeit die sich weiter nicht demonstriren, sondern nur anschauen läßt,) wenn von den beiden Endpunkten einer Linie sich zwei andere gleich tief gegen einander neigen, sie nur in einem Punkt, der von beiden jenen Endpunkten gleich weit entfernt ist, zusammentreffen können, indem die entstehenden zwei Winkel eigentlich nur Einer sind, der bloß durch die entgegengesetzte Lage als zwei erscheint, weshalb kein Grund vorhanden ist, aus dem die Linien näher dem Einen als dem andern Punkte sich begegnen sollten.

Durch Erkenntniß des Seynsgrundes sieht man die nothwendige Folge des Bedingten aus seiner Bedingung, hier der Gleichheit der Seiten aus der Gleichheit der Winkel, ein, ihre Verbindung: durch den Erkenntnißgrund aber bloß das Zusammendaseyn Beider. Ja, es ließe sich sogar behaupten, daß man durch die gewöhnliche Methode der Beweise eigentlich nur überführt werde, daß Beides in gegenwärtiger, zum Beispiel aufgestellter Figur zusammen dasei, keineswegs aber daß es immer zusammen dasei, von welcher Wahrheit (da die nothwendige Verknüpfung ja nicht gezeigt wird) man hier eine bloß auf Induktion gegründete Ueberzeugung erhalte, die darauf beruht, daß bei jeder Figur, die man macht, es sich so findet. Freilich ist nur bei so einfachen Lehrsätzen, wie jener sechste Euklids, der Seynsgrund so leicht in die Augen fallend: doch bin ich überzeugt, daß bei jedem, auch dem verwickeltesten Lehrsatze, derselbe aufzuweisen und die Gewißheit des Satzes auf eine solche einfache Anschauung zurückzuführen seyn muß. Auch ist sich Jeder der Nothwendigkeit eines solchen Seynsgrundes für jedes räumliche Verhältniß, so gut wie der Nothwendigkeit der Ursache für jede Veränderung, a priori bewußt. Allerdings muß derselbe, bei komplicirten Lehrsätzen, sehr schwer anzugeben seyn, und zu schwierigen geometrischen Untersuchungen ist hier nicht der Ort. Ich will daher, bloß um noch deutlicher zu machen was ich meine, einen nur wenig komplicirteren Satz, dessen Seynsgrund jedoch wenigstens nicht sogleich in die Augen fällt, auf selbigen zurückzuführen suchen. Ich gehe zehn Lehrsätze weiter, zum sechszehnten. »In jedem Dreieck, dessen eine Seite verlängert worden, ist der äußere Winkel größer, als jeder der beiden gegenüberstehenden innern.« Euklids Beweis ist folgender: (siehe Fig. 4)

Das Dreieck sei a b g: man verlängere die Seite b g nach d, und ich behaupte, daß der äußere Winkel a g d größer sei, als jeder der beiden innern gegenüberstehenden. – Man halbire die Seite a g bei e, ziehe b e, verlängere sie bis z und mache e z gleich e b, verbinde z g und verlängere a g bis h. – Da nun a e gleich e g und b e gleich e z ist, so sind die zwei Seiten a e und e b gleich den zwei Seiten g e und e z, jede einzeln genommen, und der Winkel a e b gleich dem Winkel z e g: denn es sind Scheitelwinkel. Mithin ist die Grundlinie a b gleich der Grundlinie z g und das Dreieck a b e ist gleich dem Dreieck z e g und die übrigen Winkel den übrigen Winkeln, folglich auch der Winkel b a e dem Winkel e g z. Es ist aber e g d größer als e g z, folglich ist auch der Winkel a g d größer als der Winkel b a e. – Halbiret man auch b g, so wird auf ähnliche Art bewiesen, daß auch der Winkel b g h, d. i. sein Scheitelwinkel a g d größer sei als a b g.

Ich würde den selben Satz folgendermaaßen beweisen: (siehe Fig. 5)

Damit Winkel b a g nur gleich komme, geschweige übertreffe, Winkel a g d, müßte (denn das eben heißt Gleichheit der Winkel) die Linie b a auf g a in der selben Richtung liegen wie b d, d. h. mit b d parallel seyn, d. h. nie mit b d zusammentreffen: sie muß aber (Seynsgrund), um ein Dreieck zu bilden, auf b d treffen, also das Gegentheil dessen thun, was erfordert wäre, damit Winkel b a g nur die Größe von a g d erreichte.

Damit Winkel a b g nur gleich komme, geschweige übertreffe, Winkel a g d, müßte (denn das eben heißt Gleichheit der Winkel) die Linie b a in der selben Richtung auf b d liegen wie a g, d. h. mit a g parallel seyn, d. h. nie mit a g zusammentreffen: sie muß aber, um ein Dreieck zu bilden, auf a g treffen, also das Gegentheil thun von dem, was erfordert wäre, damit Winkel a b g nur die Größe von a g d erreichte.

Durch alles Dieses habe ich keineswegs eine neue Methode mathematischer Demonstrationen vorschlagen, auch eben so wenig meinen Beweis an die Stelle des Euklidischen setzen wollen, als wohin er, seiner ganzen Natur nach und auch schon weil er den Begriff von Parallellinien voraussetzt, der im Euklid erst später vorkommt, nicht paßt; sondern ich habe nur zeigen wollen, was Seynsgrund sei und wie er sich vom Erkenntnißgrunde unterscheide, indem dieser bloß convictio wirkt, welche etwas ganz Anderes ist, als Einsicht in den Seynsgrund. Daß man aber in der Geometrie nur strebt convictio zu wirken, welche, wie gesagt, einen unangenehmen Eindruck macht, nicht aber Einsicht in den Grund des Seyns, die, wie jede Einsicht, befriedigt und erfreut; Dies möchte nebst Anderm ein Grund seyn, warum manche sonst vortreffliche Köpfe Abneigung gegen die Mathematik haben.

Ich kann mich nicht entbrechen, nochmals die, schon an einem andern Orte gegebene Figur herzusetzen ( Fig. 6), deren bloßer Anblick, ohne alles Gerede, von der Wahrheit des Pythagorischen Lehrsatzes zwanzig Mal mehr Ueberzeugung giebt, als der Euklidische Mausefallenbeweis. Der für dieses Kapitel sich interessirende Leser findet den Gegenstand desselben weiter ausgeführt in der »Welt als Wille und Vorstellung«, Bd. 1, § 15, und Bd. 2, Kap. 13.


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