Arthur Schnitzler
Frau Berta Garlan
Arthur Schnitzler

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Am nächsten Morgen weckte sie ihr Bub. Er war auf ihr Bett gesprungen und hatte ihr leise auf die Augenlider gehaucht. Berta setzte sich auf, umarmte und küßte den Kleinen, der nun gleich zu erzählen begann, wie gut es ihm bei Onkel und Tante ergangen, wie Elly mit ihm gespielt und wie Richard einmal mit ihm gerauft hatte, ohne ihn besiegen zu können. Und gestern hatte er Klavier spielen gelernt und konnte es schon bald so gut wie Mama. Berta hörte ihm nur immer zu. Sie dachte: wenn Emil jetzt das süße Geplauder hören könnte! und überlegte, ob sie das nächste Mal nicht den Kleinen nach Wien zu Emil mitnehmen könnte, wodurch diesem Besuch gleich alles Verdächtige genommen würde. Sie dachte nur an das Schöne, das sie in Wien erlebt, und von den Absagebriefen war ihr kaum anderes im Sinn geblieben als die Worte, die sich auf ein Wiedersehen bezogen. Sie stand beinahe in vergnügter Stimmung auf, und während sie sich ankleidete, fühlte sie eine ganz neue Zärtlichkeit für ihren eigenen Leib, der ihr noch von den Küssen des Geliebten zu duften schien.

Noch am frühen Vormittag ging sie zu ihren Verwandten. Als sie am Hause der Rupius vorbeikam, besann sie sich einen Augenblick, ob sie nicht gleich hinaufgehen sollte. Aber sie hatte eine unbestimmte Angst, gleich wieder in die erregte Stimmung des Hauses hineingezogen zu werden, und verschob den Besuch auf Nachmittag. Im Hause des Schwagers kam ihr Elly zuerst entgegen und empfing sie so stürmisch, als wenn sie von einer langen Reise wiederkehrte. Der Schwager, eben im Fortgehen, drohte Berta scherzhaft mit dem Finger und sagte: »Na, gut unterhalten?« Berta fühlte, wie sie dunkelrot wurde. »Ja,« setzte er fort, »das sind schöne Geschichten, die man von dir hört.« Er merkte aber nicht ihre Verlegenheit und grüßte Berta noch von der Tür aus mit einem Blick, der deutlich sagte: vor mir gibt es keine Geheimnisse!

»Papa macht immer solche Witze,« sagte Elly, »das gefällt mir gar nicht von ihm.«

Berta wußte, daß ihr Schwager nur ins Blaue geredet, wie es seine Art war, und wenn sie selbst ihm die Wahrheit sagte, würde er sie gar nicht glauben.

Die Schwägerin trat ein, und Berta mußte von ihrem Wiener Aufenthalt erzählen. Zu ihrem eigenen Erstaunen gelang es ihr sehr gut, Wahres und Erfundenes geschickt zu verbinden. Mit ihrer Cousine war sie im Volksgarten und in der Bildergalerie gewesen, Sonntag hatte sie eine Messe in der Stephanskirche gehört, auf der Straße hatte sie einen Lehrer aus dem Konservatorium getroffen, und schließlich erfand sie sogar ein komisches Ehepaar, das einmal bei der Cousine zu Abend gegessen. Je mehr sie ins Lügen kam, um so größer wurde ihre Lust, auch von Emil zu erzählen und mitzuteilen, daß sie den berühmten Violinvirtuosen Lindbach, der im Konservatorium ihr Kollege gewesen, auf der Straße getroffen und gesprochen hätte. Aber eine unbestimmte Furcht, nicht rechtzeitig innehalten zu können, hielt sie davon zurück. Frau Albertine Garlan saß in schwerer Müdigkeit auf dem Sofa und nickte mit dem Kopf, und Elly stand wie gewöhnlich am Klavier, den Kopf auf die Hände gestützt, und schaute die Tante mit großen Augen an. Von der Schwägerin ging Berta zu Mahlmanns und gab den Zwillingen die Klavierlektionen; die Fingerübungen und Skalen, die sie zu hören bekam, waren ihr anfangs unerträglich, endlich hörte sie nicht mehr zu und ließ ihre Gedanken ins Freie schweifen. Die vergnügte Stimmung des Morgens war verflogen, Wien erschien ihr unendlich fern, eine sonderbare Unruhe überkam sie, und plötzlich überfiel sie die Angst, daß Emil gleich nach seinem Konzert abreisen könnte. Das wäre ja entsetzlich! Mit einemmal wäre er fort, ohne daß sie ihn noch einmal gesehen – und wer weiß, wann er wiederkäme! Ob sie es nicht jedenfalls so einrichten sollte, am Tag des Konzerts in Wien zu sein? Sie mußte sich gestehen: ihn spielen zu hören, sehnte sie sich gar nicht, – ja, es kam ihr vor, als wär' es ihr ganz lieb, wenn er gar kein Violinvirtuos, wenn er überhaupt kein Künstler, wenn er ein einfacher Mensch wäre, – Buchhalter oder was immer! Wenn sie ihn nur für sich, für sich allein haben könnte! . . . Indes spielten die Zwillinge ihre Skalen herunter; es war doch ein schreckliches Los, dasitzen und diesen talentlosen Fratzen Klavierlektionen geben müssen. Warum war sie nur heute früh so gut gelaunt gewesen? . . . . Ah, die schönen Tage in Wien! Ganz abgesehen von Emil – diese vollkommene Freiheit, dieses Herumflanieren in den Straßen, dieses Spazierengehen im Volksgarten . . . Allerdings, Geld hatte sie während dieser Zeit mehr ausgegeben, als ihr erlaubt war, das brachten zwei Dutzend Lektionen bei den Mahlmannischen Zwillingen nicht herein . . . Und jetzt hieß es wieder: zurück zu den Verwandten, Stunde geben, und eigentlich wäre es sogar notwendig, sich noch nach neuen Lektionen umzuschauen, denn in diesem Jahr wollte die Rechnung gar nicht stimmen! . . . . Ah, was für ein Leben!

Auf der Straße begegnete Berta der Frau Martin. Diese fragte Berta, wie sie sich in Wien unterhalten habe, mit einem Blick, der deutlich ausdrückte: so gut wie ich mit meinem Mann unterhältst du dich ja doch nicht! Berta hatte eine unsägliche Lust, dieser Person ins Gesicht zu schreien: Mir ist es viel besser gegangen, als du ahnst. Ich bin in einem schönen, weichen Bett gelegen, mit einem entzückenden, jungen Mann, der tausendmal liebenswürdiger ist als dein Herr Gemahl! Und ich versteh' das alles gerade so gut wie du! Du hast nur einen Gatten, ich hab' aber einen Geliebten, Geliebten, Geliebten! . . . Doch sie sagte natürlich nichts von alledem, sondern erzählte, daß sie mit ihrer Cousine und deren Kindern im Volksgarten spazieren gegangen sei.

Es begegneten ihr noch andere Frauen, mit denen sie oberflächlich bekannt war. Diesen gegenüber fühlte sie sich ganz anders als früher; freier, überlegener: sie war die einzige in der Stadt, die etwas erlebt hatte, und es tat ihr beinah leid, daß niemand etwas davon wußte, denn wenn man sie auch öffentlich verachtet, im Innern hätten sie alle diese Frauen unsäglich beneidet. Und wenn sie nun gar gewußt hätten, wer . . . Obzwar, in diesem Nest kannten sicher viele nicht einmal seinen Namen. – Wenn es doch irgend jemanden auf der Welt gäbe, mit dem sie sich aussprechen könnte! . . . Frau Rupius, ja Frau Rupius . . . Aber die geht ja fort, auf Reisen! . . . Eigentlich ist ihr das auch gleichgültig. Sie möchte nur wissen, wie das endlich mit Emil werden wird, sie möchte wissen, was es eigentlich war . . . das ist die fürchterliche Unruhe in ihr . . . Hat sie denn nun ein »Liebesverhältnis« mit ihm? . . . Ah, warum ist sie nicht doch noch einmal zu ihm gegangen? . . . Aber sie konnte ja nicht! . . . Dieser Brief . . . er wollte sie ja nicht sehen! . . . Aber Blumen hatte er ihr doch geschickt . . .

Nun ist sie wieder bei den Verwandten. Richard will ihr entgegen, sie in seiner scherzhaften Manier umarmen, sie stößt ihn weg; frecher Bub, denkt sie sich, ich weiß schon, wie er das meint, wenn er es auch selbst nicht weiß; ich verstehe diese Dinge, ich hab' einen Geliebten in Wien! . . . Die Stunde nimmt ihren Gang; am Schluß spielen Elly und Richard vierhändig die Festouvertüre von Beethoven, was eine Überraschung zum Geburtstag des Vaters werden soll.

Berta dachte nur an Emil. Sie war nahe daran, verrückt zu werden über diesem elenden Geklimper  . . . Nein, es war nicht möglich, so weiter zu existieren, in keiner Hinsicht! . . . Sie ist auch noch so jung . . . Ja, das ist es, besonders das . . . sie wird so nicht weiterleben können . . . und das geht doch nicht, daß sie irgendeinen anderen . . . Wie kann sie nur an so was denken! . . . Sie ist doch eine ganz schlechte Person! – Wer weiß, ob es nicht das war, was Emil mit seiner großen Erfahrung an ihr herausgespürt hat – und warum er sie nicht mehr sehen will . . . Ach, die Frauen sind doch am besten dran, die alles leicht nehmen, die es fertig bringen, gleich nachdem sie einer sitzen gelassen – . . . Aber was sind denn das wieder für Ideen! Hat er sie denn »sitzen lassen«? . . . In drei, vier Tagen ist sie wieder in Wien, bei ihm, in seinen Armen! . . . Und drei Jahre hat sie so leben können? . . . Drei? . . . – Sechs Jahre – Ihr ganzes Leben! . . . Wenn er das nur wüßte, wenn er das nur glaubte!

Die Schwägerin tritt ein; sie fordert Berta auf, heute Abend bei ihnen zu nachtmahlen . . . Ja, das ist die einzige Zerstreuung: einmal an einem anderen Tisch als dem häuslichen eine Mahlzeit einnehmen! – Wenn es doch einen Menschen hier gäbe, mit dem man reden könnte! . . . Und Frau Rupius reist ab, verläßt ihren Mann . . . Ob nicht doch eine Liebesgeschichte da mitspielt? . . . Die Stunde ist zu Ende, Berta empfiehlt sich. Auch ihrer Schwägerin gegenüber hat sie das Gefühl der Überlegenheit, beinah des Mitleids. Ja, das weiß sie, nicht für ein ganzes Leben, wie diese Frau es führt, möchte sie jene eine Stunde hergeben. Dabei, so denkt sie, während sie wieder nach Hause spaziert, ist sie gar nicht recht zum Bewußtsein ihres Glücks gekommen, das war ja alles so rasch vorbei. Und dann dieses Zimmer, diese ganze Wohnung, dieses schreckliche Bild . . . Nein, nein, es war eigentlich alles eher häßlich. Wirklich schön war doch nur, wie er sie nachher im Wagen nach Haus begleitet und ihr Kopf an seiner Brust geruht hat . . . Ah, er hatte sie schon lieb – freilich nicht so wie sie ihn, aber war das auch möglich? Was für ein Leben lag hinter ihm! – Sie dachte jetzt daran ohne Eifersucht, eher mit einem leichten Bedauern für ihn, der soviel in seinem Gedächtnis mitzutragen hatte. Denn daß er das Leben nicht leicht nahm, sah man ihm an . . . Ein heiterer Mensch war er nicht . . . Alle die Stunden, die sie mit ihm verbracht, waren in ihrer Erinnerung wie von einer unbegreiflichen Wehmut umflossen. Wenn sie nur alles von ihm wüßte! Er hatte ihr so wenig, . . . nichts, nichts hatte er von sich erzählt! . . . Aber wie sollte er das auch am ersten Tag? Ah, wenn er sie nur wirklich kennte! Wenn sie nur nicht so schüchtern, so unfähig wäre sich auszudrücken . . . Sie muß ihm noch einmal schreiben, eh sie ihn wiedersieht . . . Ja, noch heute wird sie das tun. Der Brief, den sie ihm gestern geschickt hat, wie war der dumm! Er konnte auf den wahrhaftig nicht anders antworten, als er getan. Sie durfte weder herausfordernd schreiben, noch demütig . . . nein, sie war ja doch seine Geliebte! Sie die hier durch die Straßen ging, von all den Leuten, die ihr begegneten, wie ihresgleichen angesehen, . . . sie war die Geliebte dieses herrlichen Menschen, den sie seit ihrer Jugend angebetet. Und wie rückhaltlos, wie ohne Ziererei hatte sie sich ihm hingegeben, – keine von allen Frauen, die sie kannte, hätte das getan! . . . Ah, und sie täte noch mehr! O ja! sie würde auch bei ihm leben, ohne seine Frau zu sein, und es wäre ihr sehr gleichgültig, was die Leute sagten . . . sie wäre sogar stolz darauf! Und später würde er sie ja doch heiraten . . . ganz gewiß. Sie war auch eine so vortreffliche Hausfrau . . . Und wie wohl mußte ihm das tun, nach soviel ungeordneten Wanderjahren in einem wohlbestellten Hauswesen zu leben, ein braves Weib an seiner Seite, das nie einen anderen geliebt hat als ihn.

Sie war wieder zu Hause und richtete sich noch, bevor das Mittagessen aufgetragen wurde, alles zum Schreiben her. Sie aß in fieberhafter Ungeduld, sie nahm sich kaum Zeit, ihrem Buben vorzuteilen und vorzuschneiden, dann ließ sie ihn durch das Dienstmädchen auskleiden und zum Nachmittagsschlaf ins Bett legen, was sie sonst immer selbst tat, setzte sich zum Schreibtisch, und die Worte flossen ihr mühelos aus der Feder, als sei der ganze Brief in ihrem Kopf längst fertig gewesen.

»Mein Emil, mein Geliebter, mein alles!

Seit ich wieder zurück bin, hab' ich eine unbezwingbare Lust, Dir zu schreiben und möchte Dir nur immer und immer sagen, wie glücklich, wie unendlich glücklich Du mich gemacht hast. Ich war Dir im Anfang böse, daß Du mir für den Sonntag abgeschrieben hast, auch das muß ich Dir gestehen, weil ich das Bedürfnis habe, Dir alles zu sagen, was in mir vorgeht. Leider konnte ich dies nicht, solang ich mit Dir zusammen war; es ist mir nicht gegeben, aber jetzt finde ich die Worte, und Du mußt es schon ertragen, daß ich Dich mit meinem Geschreibsel langweile. Liebster, Einziger – ja, das bist Du, wenn Du auch, wie es scheint, nicht so ganz davon überzeugt warst, wie Du es sein solltest. Ich bitte Dich, glaub' es mir. Schau, ich hab' ja nichts anderes als diese Worte, um es Dir zu sagen. Emil, ich habe nie, nie jemanden andern geliebt als Dich – und werde nie einen andern lieben! Mach' mit mir, was Du willst, nichts bindet mich an die kleine Stadt, in der ich jetzt lebe, – ja, vielmehr es ist mir öfter schrecklich, hier existieren zu müssen. Ich will nach Wien ziehen, um in Deiner Nähe zu sein. O, habe keine Angst, ich werde Dich nicht stören! Ich bin ja nicht allein, habe mein Kind, welches ich abgöttisch liebe. Ich werde mich einschränken, und schließlich, warum soll es mir nicht gelingen, geradeso wie hier, auch in einer großen Stadt wie Wien, ja vielleicht noch eher, Lektionen zu finden, durch die ich meine Lage aufbessern kann. Doch ist dies Nebensache, da es ja längst meine Absicht war, schon wegen meines angebeteten Kindes, wenn es größer wird, nach Wien zu übersiedeln. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie dumm hier die Menschen sind! Und ich kann überhaupt niemanden mehr ansehen, seit ich wieder das Glück hatte, mit Dir beisammen zu sein. Gib mir einen Rat, mein Liebster! Doch Du brauchst Dich nicht zu bemühen, mir einen ausführlichen Brief zu schreiben, ich komme jedenfalls noch diese Woche nach Wien, ich müßte es jedenfalls wegen einiger dringenden Besorgungen, und Du kannst mir dann alles sagen, wie Du Dir's denkst und wie Du's am besten hältst. Du mußt mir nur versprechen, daß Du mich dann, wenn ich in Wien lebe, manchmal besuchen wirst; wenn es Dir unangenehm ist, braucht es ja niemand zu wissen. Aber Du kannst mir glauben, daß jeder Tag, an dem ich Dich sehen darf, ein Festtag für mich sein wird, und daß es auf der ganzen Welt kein Wesen gibt, das Dich treuer und so bis in den Tod liebt wie ich.

Lebe wohl, mein Geliebter!.

Deine Berta.«

Sie wagte nicht, den Brief zu überlesen, sie verließ gleich das Haus, um ihn selbst zum Bahnhof zu bringen. Dort sah sie Frau Rupius, einige Schritte vor ihr, von einem Dienstmädchen begleitet, das eine kleine Handtasche trug. Was sollte das bedeuten? Sie erreichte Frau Rupius in dem Augenblick, da sie in den Wartesaal trat. Das Dienstmädchen legte die Tasche auf den großen Tisch in der Mitte, küßte ihrer Herrin die Hand und ging.

»Frau Rupius!« rief Berta wie fragend aus.

Frau Rupius reichte ihr freundlich die Hand. »Ich hörte, daß Sie schon wieder zurück sind. Nun, wie ist es Ihnen gegangen?«

»Gut, o sehr gut, aber –«.

»Sie sehen mich ja ganz erschrocken an; nein, Frau Berta, ich komme wieder zurück – schon morgen. Aus der langen Reise wird nichts, ich habe mich . . . zu etwas anderem entschließen müssen.«

»Zu etwas anderem?«

»Nun ja, zum Bleiben. Morgen bin ich wieder da. Nun, wie ist es Ihnen gegangen?«

»Ich sagte schon: sehr gut.«

»Ja richtig, Sie sagten es schon. Aber Sie wollen ja diesen Brief aufgeben, nicht wahr?«

Jetzt erst bemerkte Berta, daß sie den Brief an Emil noch in der Hand hielt. Sie betrachtete ihn mit so entzückten Augen, daß Frau Rupius lächelte.

»Soll ich ihn vielleicht mitnehmen? Er soll doch wohl nach Wien.«

»Ja,« sagte Berta, und als wäre sie glücklich, es endlich aussprechen zu können, setzte sie entschlossen hinzu: »an ihn.«

Frau Rupius nickte wie zufrieden mit dem Kopf, sah Berta aber gar nicht an und antwortete nichts.

»Wie froh ich bin,« sagte Berta, »daß ich Ihnen noch begegnet bin. Sie sind ja die Einzige hier, zu der ich Vertrauen habe, Sie sind ja die Einzige, die so etwas verstehen kann.«

»Ach nein«, sagte Frau Rupius wie im Traume vor sich hin.

»Ich beneide Sie so, daß Sie heute schon in ein paar Stunden Wien wiedersehen. Wie glücklich sind Sie!«

Frau Rupius hatte sich auf einen der Lederfauteuils am Tisch gesetzt, das Kinn auf eine Hand gestützt, blickte zu Berta auf und sagte: »Mir scheint doch eher, daß Sie es sind.«

»Nein, ich muß doch hier bleiben.«

»Warum?« fragte Frau Rupius. »Sie sind ja frei. Aber werfen Sie den Brief doch jetzt in den Kasten, sonst seh' ich die Adresse und weiß dann mehr, als Sie mir sagen wollen.«

»Nicht deswegen, aber – ich möchte, daß der Brief noch mit diesem Zug . . .« Sie eilte rasch in die Vorhalle, warf den Brief ein, war gleich wieder bei Anna, die in derselben ruhigen Haltung dasaß, und fuhr zu reden fort: »Ihnen könnte ich nämlich alles sagen, ja vielmehr, ich wollte schon, bevor ich hineinfuhr . . . aber denken Sie, wie sonderbar, da hab' ich mich nicht getraut.«

»Damals war wohl auch noch nichts zu erzählen,« sagte Frau Rupius, ohne Berta anzusehen.

Berta staunte. Wie klug war diese Frau! Wie durchschaute sie die Menschen! »Nein, damals war noch nichts zu erzählen,« wiederholte sie, indem sie Frau Rupius mit einer Art von Verehrung ansah. »Denken Sie nur, es ist wohl unglaublich, was ich Ihnen jetzt sagen werde, aber ich käme mir wie eine Lügnerin vor, wenn ich's verschwiege.

»Nun?«

Berta hatte sich auf einen Sessel neben Frau Rupius gesetzt und sprach leiser, da die Türe zur Vorhalle offenstand. »Ich wollte Ihnen nämlich sagen, Anna, daß mir gar nicht so ist, als wenn ich etwas Böses getan hätte, nicht einmal etwas Unerlaubtes.«

»Das wär' auch nicht sehr klug.«

»Ja, Sie haben schon recht . . . ich meinte auch noch mehr: es ist mir, als wenn ich etwas ganz Gutes, als wenn ich etwas Besonderes getan hätte. Ja, Frau Rupius, es ist nun einmal so, ich bin stolz seitdem!«

»Nun, dazu liegt wohl auch kein Grund vor,« sagte Frau Rupius, indem sie Bertas Hand, die auf dem Tisch lag, wie in Gedanken streichelte.

»Das weiß ich ja, aber doch bin ich so stolz und komme mir ganz anders vor, als alle Frauen, die ich kenne. Sehen Sie, wenn Sie wüßten . . . wenn Sie ihn kennten – es ist eine so seltsame Geschichte! Sie dürfen nämlich nicht glauben, daß das eine Bekanntschaft ist, die ich kürzlich gemacht habe – ganz im Gegenteil, Sie müssen wissen, ich bin in ihn verliebt, seit ich ein ganz junges Mädel war, zwölf Jahre ist das schon her, und lange Zeit hatten wir uns gar nicht gesehen, und jetzt – ist es nicht wunderbar? – jetzt ist er mein . . . mein . . . mein . . . Geliebter!« Endlich hatte sie's gesagt, ihr ganzes Gesicht strahlte.

Frau Rupius sah sie mit einem Blick an, in dem etwas Spott und sehr viel Freundlichkeit lag. Sie sagte: »Ich freue mich, daß Sie glücklich sind.«

»Sie sind ja so gut! Aber sehen Sie, es ist doch andererseits wieder schrecklich, daß wir so fern voneinander sind; er lebt in Wien, ich hier, – ich glaube, ich werde das garnicht aushalten. Ich hab' auch nicht mehr das Gefühl, wie wenn ich hierher gehörte, insbesondere zu meinen Verwandten. Wenn die es wüßten . . . nein, wenn die es wüßten! – Sie würden es übrigens garnicht glauben. Eine Frau wie meine Schwägerin zum Beispiel, – nun, ich bin überzeugt, die denkt gar nicht daran, daß so was überhaupt möglich ist.«

»Aber Sie sind wirklich sehr naiv,« sagte Frau Rupius plötzlich, beinahe aufgebracht. Sie lauschte. »Mir war, als hörte ich den Zug schon pfeifen.« Sie stand auf, ging zu der großen Glastür, die auf den Perron führt, und sah hinaus. Der Portier kam und ersuchte um die Fahrkarten, die er markieren wollte. Zugleich sagte er: »Der Zug nach Wien hat 20 Minuten Verspätung.«

Berta war aufgestanden und zu Frau Rupius getreten. »Warum haben Sie gemeint, daß ich naiv bin?« fragte sie schüchtern.

»Aber Sie kennen ja die Menschen gar nicht,« erwiderte Frau Rupius wie ärgerlich. »Sie haben ja gar keine Ahnung, unter was für Leuten Sie existieren. Ich versichere Sie, Sie brauchen gar nicht stolz zu sein.«

»Ich weiß ja, daß es sehr dumm von mir ist.«

»Ihre Schwägerin – das ist köstlich – Ihre Schwägerin –!«

»Was meinen Sie denn?«

»Ich meine, daß Ihre Schwägerin auch einen Geliebten gehabt hat.«

»Aber wie kommen Sie auf diese Idee!«

»Nun, sie ist nicht die Einzige in dieser Stadt.«

»Ja, es gibt gewiß Frauen, die . . . aber Albertine –«

»Und wissen Sie, wer es war? Das ist sehr amüsant! Herr Klingemann!«

»Nein, das ist nicht möglich!«

»Allerdings ist es schon lange her; etwa zehn Jahre oder elf.«

»Aber zu der Zeit waren Sie ja selbst noch nicht hier, Frau Rupius.«

»O, ich hab' es aus der besten Quelle – Herr Klingemann selbst hat's mir erzählt.«

»Herr Klingemann selbst? – Ist es denn möglich, daß ein Mensch so gemein –«

»Das ist sogar ganz gewiß.« Sie setzte sich nieder, auf einen Sessel neben der Tür, Berta blieb neben ihr stehen und hörte ihr staunend zu. »Ja, Herr Klingemann . . . er hat mir nämlich die Ehre erwiesen, gleich als ich in die Stadt kam, mir sehr lebhaft den Hof zu machen, auf Tod und Leben, wie man so sagt. Sie wissen ja selbst, was für ein widerwärtiger Kerl er ist. Ich hab' ihn ausgelacht, das hat ihn wahrscheinlich sehr gereizt, und offenbar hat er geglaubt, mich durch die Erzählung seiner Eroberungen von seiner Unwiderstehlichkeit zu überzeugen.«

»Aber vielleicht hat er Ihnen Dinge erzählt, die nicht wahr sind.«

»Manches wohl, aber diese Geschichte ist zufällig wahr . . . Ah, was sind die Männer für ein Gesindel!« Sie sprach es mit dem Ausdruck tiefsten Hasses. Berta war ganz erschrocken. Nie hatte sie es für möglich gehalten, daß Frau Rupius solche Worte sprechen könnte. »Ja, warum sollen Sie nicht wissen, unter was für Menschen Sie existieren?«

»Nein, das hätt' ich nie für möglich gehalten! Wenn das mein Schwager wüßte –!«

»Wenn er es wüßte? Er weiß es so gut wie Sie, wie ich.«

»Wie!? Nein, nein!«

»Er hat sie ja erwischt – verstehen Sie mich! . . . Herrn Klingemann und Albertine! So daß beim besten Willen kein Zweifel möglich war!«

»Ja, um Gotteswillen, was hat er denn da getan?«

»Nun, Sie sehen ja, er hat sie nicht hinausgeworfen.«

»Nun ja, die Kinder . . . freilich!«

»Ach was, die Kinder! Aus Bequemlichkeit hat er ihr verziehen – und hauptsächlich, weil er dann selber tun konnte, was er wollte. Sie sehen ja, wie er sie behandelt. Sie ist doch nichts viel Besseres als sein Dienstmädchen; Sie sehen ja, wie gedrückt und elend sie immer herumschleicht. Er hat es dahin gebracht, daß sie sich von dem Moment an immer wie eine Begnadigte vorkommen mußte, und ich glaube, sie hat sogar eine ewige Angst, daß er die Bestrafung einmal nachholen könnte. Aber das ist eine dumme Angst, er würde sich um keinen Preis um eine andere Wirtschafterin umsehen . . . Ah, meine liebe Frau Berta, wir sind ja gewiß keine Engel, wie Sie nun aus eigener Erfahrung wissen, aber die Männer sind infam, solang . . .« es war, als zögerte sie, den Satz zu enden, »solang sie Männer sind.«

Berta war wie vernichtet. Weniger wegen der Dinge, die ihr Frau Rupius erzählte, als wegen der Art, in der sie es getan. Sie schien eine ganz andere geworden zu sein, und Berta war es ganz weh ums Herz. –

Die Perrontür wurde geöffnet, man hörte das leise, ununterbrochene Klingeln des Telegraphen. Frau Rupius stand langsam auf, ihr Gesicht nahm einen milden Ausdruck an, sie reichte Berta die Hand und sagte: »Verzeihen Sie mir, ich war nur ein bischen ärgerlich. Es kann ja auch sehr schön sein, es gibt sicher auch anständige Menschen . . . o gewiß, es kann sehr schön sein!« Sie blickte auf die Gleise hinaus, als folgte sie den eisernen Linien ins Weite. Dann sagte sie wieder ganz mit der sanften, wohltönenden Stimme, die Berta so sehr an ihr liebte: »Morgen Abend bin ich wieder zu Hause . . . Ja, richtig, mein Necessaire.« Sie eilte zum Tisch und nahm ihre Tasche. »Das wär' nämlich furchtbar gewesen, ohne meine zehn Flaschen kann ich nicht reisen! Also leben Sie wohl! Und vergessen Sie doch nicht, daß das alles seit zehn Jahren vorbei ist.«

Der Zug fuhr ein, sie eilte rasch zu einem Kupee, stieg ein und nickte Berta noch vom Fenster aus freundlich zu. Berta versuchte, ebenso heiter zu erwidern, aber sie fühlte, daß das Händewinken, mit dem sie der Scheidenden nachgrüßte, steif und gekünstelt war.

Langsam ging sie wieder nach Hause. Vergeblich suchte sie sich zu überreden, daß sie all das gar nichts anging, weder das längstvergangene Verhältnis ihrer Schwägerin, noch die Niedrigkeit ihres Schwagers, noch die Gemeinheit Klingemanns, noch die sonderbaren Launen dieser unbegreiflichen Frau Rupius. Sie konnte sich's nicht erklären; aber es war ihr, als hätte alles das, was sie gehört, auch irgend eine geheimnisvolle Beziehung zu ihrem Abenteuer. Plötzlich waren die nagenden Zweifel wieder da . . . Warum hatte er sie nicht einmal sehen wollen? Nicht am Tage drauf, nicht zwei, nicht drei Tage später? Warum? – Er hatte sein Ziel erreicht, das war ihm genug . . . Wie hatte sie ihm nur diesen tollen, schamlosen Brief schreiben können? Und eine Angst tauchte in ihr auf . . . Wenn er ihn am Ende einer andern Frau zeigte . . . mit ihr zusammen sich darüber lustig machte . . .! Nein, was fiel ihr denn nur ein! An so etwas nur zu denken! . . . Es war ja möglich, daß er den Brief nicht beantwortete, in den Papierkorb warf, – aber sonst nichts . . . nein . . . Im übrigen, nur Geduld, in zwei, drei Tagen ist alles entschieden. Sie wußte nicht recht, was, aber sie fühlte, daß diese unerträgliche Verwirrung in ihr nicht lange mehr dauern konnte. Irgendwie mußte sie sich lösen.

Am späten Nachmittag machte sie wieder einmal mit ihrem Buben einen Gang in den Weingeländen, aber sie betrat den Friedhof nicht. Dann wandelte sie langsam hinunter und spazierte unter den Kastanien. Sie plauderte mit Fritz, fragte ihn über allerlei aus, ließ sich Geschichten von ihm erzählen, unterrichtete ihn über manches, wie sie es oft zu tun pflegte, versuchte ihm zu erklären, wie weit die Sonne von der Erde entfernt sei, wie aus den Wolken der Regen komme und wie die Trauben wachsen, aus denen der Wein gemacht wird. Sie ärgerte sich nicht, wie sonst manchmal, wenn der Bub nicht recht aufmerkte, weil sie ganz gut fühlte, daß sie nur sprach, um sich selbst zu zerstreuen. Dann wandelte sie den Hügel hinab und unter den Kastanien wieder der Stadt zu. Bald sah sie Klingemann kommen, aber es machte nicht den geringsten Eindruck auf sie; er sprach sie mit erzwungener Höflichkeit an, hielt immer den Strohhut in der Hand und affektierte einen großen, beinahe düstern Ernst. Er schien sehr gealtert, auch merkte sie, daß seine Kleidung eigentlich gar nicht elegant, sondern geradezu vernachlässigt sei. Sie mußte sich ihn plötzlich in einer zärtlichen Umarmung mit ihrer Schwägerin vorstellen und war sehr angewidert. Später setzte sie sich auf eine Bank und sah zu, wie Fritz mit andern Kindern spielte, immer mit gespannter Aufmerksamkeit, um nicht an anderes denken zu müssen.

Am Abend war sie bei den Verwandten. Sie hatte die Empfindung, als hätte sie alles längst geahnt; denn wie wäre ihr sonst die Art der Beziehungen zwischen Schwager und Schwägerin nicht früher aufgefallen. Der Schwager machte wieder seine Scherze über Bertas Reise nach Wien, er fragte, wann sie wieder hineinfahren und ob man nicht bald von ihrer Verlobung hören würde. Berta ging auf die Scherze ein und erzählte, daß sich mindestens ein Dutzend um ihre Hand bewürben, darunter ein Minister; aber sie fühlte, daß nur ihre Lippen sprachen und lächelten, während ihre Seele ernst und schweigend blieb. Richard saß neben ihr und berührte zufällig mit seinem Knie das ihre, und als er ihr ein Glas Wein einschenkte und sie abwehrend seine Hand ergriff, fühlte sie eine wohlige Wärme an ihrem Arme bis in die Schulter gleiten. Sie war darüber zufrieden. Es schien ihr, als beginge sie jetzt eine Untreue. Und das war ganz recht: sie wollte, Emil wüßte, daß ihre Sinne wach wären, daß sie geradeso war, wie andere Weiber, und daß sie sich von dem jungen Neffen gerade so umarmen lassen konnte, wie von ihm . . . Ah ja, wüßte er es nur! Das hätte sie ihm schreiben sollen! Nicht jenen demütig lüsternen Brief . . . Aber auch unter dem Wellengang dieser Gedanken blieb der Grund ihrer Seele ernst, und ein Gefühl von Verlassenheit kam über sie, weil sie wußte, daß niemand ahnen konnte, was in ihr vorging.

Als sie dann allein durch die leeren Straßen nach Hause ging, begegnete sie einem Offizier, den sie vom Sehen kannte, mit einer hübschen Frauensperson, die sie noch nie gesehen. Sie dachte: offenbar eine aus Wien. Denn es war ihr bekannt, daß die Offiziere manchmal derartige Besuche erhielten. Sie hatte ein Gefühl des Neides gegen diese Frau, sie wünschte, daß auch sie jetzt von einem hübschen, jungen Offizier nach Hause begleitet werden könnte . . . Warum auch nicht? . . . Alle sind schließlich so . . . und sie ist jetzt auch keine anständige Frau mehr! Emil glaubt es ja auch nicht, und es ist alles so egal!

Sie kommt nach Hause, entkleidet sich, legt sich zu Bett. Aber es ist zu schwül. Sie steht noch einmal auf, geht zum Fenster, öffnet es; draußen ist es ganz dunkel. Vielleicht sieht sie jetzt jemand am Fenster stehen, sieht ihre Haut durchs Dunkel leuchten . . . Ja, wenn sie nur einer so sähe, es wäre ihr ganz recht! . . . Dann legt sie sich wieder ins Bett . . . Ach ja, sie ist nicht besser als die anderen! Und es ist auch gar nicht notwendig, daß sie's ist . . . Die Gedanken verschwimmen ihr . . . Ja, und er ist dran schuld, er hat sie dazu gemacht, er hat sie einmal genommen wie eine von der Straße – und dann fort mit dir! . . . Ah, pfui, pfui – sind die Männer infam! – Und doch . . . es war schön . . .

Sie schläft. –

 

Am nächsten Morgen fiel ein langsamer, warmer Regen. So konnte Berta ihre ungeheure Ungeduld leichter ertragen, als wenn die Sonne herunterbrannte. Es war ihr, als hätte sich während des Schlafes manches in ihr geglättet. In der grauen Milde dieses Morgens erschien alles so einfach und durchaus nicht merkwürdig. Morgen wird der Brief da sein, den sie erwartet, und heute ist ein Tag wie hundert andere. Sie gab ihre Lektionen. Mit ihrem Neffen war sie heute sehr streng und klopfte ihm auf die Finger, als er gar zu schlecht spielte. Er war ein fauler Schüler, nichts weiter.

Nachmittag kam sie auf eine Idee, die ihr selbst höchst lobenswürdig vorkam. Schon lange hatte sie sich vorgenommen, ihren Buben lesen zu lehren, heute sollte der Anfang gemacht werden, und sie plagte sich richtig eine gute Stunde damit, ihm einige Buchstaben beizubringen.

Es regnete noch immer; schade, daß man nicht spazieren gehen konnte! Der Nachmittag wird lang, sehr lang werden. Sie sollte doch endlich zu Rupius gehen. Es ist häßlich, daß sie noch nicht bei ihm war, seit sie zurück ist. Es ist wohl möglich, daß er sich ein wenig vor ihr schämt, weil er neulich so große Worte gebraucht hat; – und nun bleibt Anna doch bei ihm.

Sie verließ das Haus. Trotz des Regens ging sie vorerst hinaus ins Freie. So ruhig wie heute war sie lange nicht gewesen, sie freute sich dieses Tages ohne Aufregung, ohne Angst, ohne Erwartung. Könnte es doch immer so sein! Es war wunderbar, mit welcher Gleichgültigkeit sie an Emil dachte. Am liebsten hätte sie gar nichts mehr von ihm hören und diese Ruhe für alle Zeit bewahren wollen . . . Ja, so war es schön und gut. In der kleinen Stadt leben, die paar Lektionen geben, die doch keine große Anstrengung verursachten, den Buben aufziehen, ihn lesen, schreiben, rechnen lehren! – War denn das, was sie in den letzten Tagen erlebt, so viel Kummer, – so viel Demütigung wert? . . . Nein, sie war zu solchen Dingen nicht geschaffen. Es war ihr, als klänge ihr der Lärm der großen Stadt, der sie das letztemal nicht gestört, jetzt erst in den Ohren; und sie freute sich der schönen Stille, die sie hier umgab.

So erschien ihr die tiefe Ermattung, darein ihre Seele nach den ungewohnten Erregungen versunken war, wie eine endgültige Beruhigung . . . Und doch, schon nach kurzer Zeit, als sie sich der Stadt wieder zuwandte, schwand diese innere Ruhe allmählich, und unbestimmte Ahnungen von neuen Aufregungen und Leiden erwachten. Der Anblick eines jungen Paares, das an ihr vorüberging, eng aneinandergepreßt, unter aufgespanntem Regenschirm, jagte die Sehnsucht nach Emil in ihr auf; sie wehrte sich nicht dagegen, denn sie wußte schon: in ihr war alles so umgewühlt, daß jeder Hauch anderes und meist das Unvermutete an die Oberfläche ihrer Seele brachte.

Es dämmerte, als Berta zu Herrn Rupius ins Zimmer trat. Er saß am Tisch, eine Mappe mit Bildern vor sich. Die Hängelampe war angezündet. Es sah auf und erwiderte ihren Gruß. Dann sagte er: »Sie sind ja schon seit vorgestern Abend wieder zurück.« Es klang wie ein Vorwurf, und Berta fühlte sich schuldig. »Nun, setzen Sie sich,« fuhr er fort, »und erzählen Sie mir, was Sie in der Stadt erlebt haben.«

»Erlebt hab' ich nichts. Im Museum bin ich gewesen, hab' auch manche von Ihren Bildern wiedererkannt.«

Rupius antwortete nichts.

»Ihre Frau kommt noch heute Abend zurück?«

»Ich glaube nicht.« Er schwieg; dann sagte er mit absichtlicher Trockenheit: »Ich muß Sie um Entschuldigung bitten, daß ich Ihnen neulich Dinge gesagt, die Sie ja unmöglich interessieren können. Im übrigen glaub' ich nicht, daß meine Frau heute wiederkommen wird.«

»Aber . . . Sie sagte mir ja selbst . . .«

»Ja, auch mir. Sie wollte mir einfach den Abschied ersparen, vielmehr die Komödie des Abschieds. Damit mein' ich gar nicht etwas Verlogenes, sondern nur die Dinge, die das Abschiednehmen zu begleiten pflegen: gerührte Worte, Tränen . . . Nun, genug davon. Werden Sie mir zuweilen Gesellschaft leisten? Ich werde nämlich ziemlich allein sein, wenn meine Frau nicht mehr bei mir ist.« Der Ton, in dem er das alles sagte, stimmte in seiner Schärfe so wenig zu dem Inhalt der Rede, daß Berta vergeblich nach einer Erwiderung suchte. Aber Rupius sprach gleich weiter: »Nun, und außer dem Museum, was haben Sie noch gesehen?«

Berta begann mit großer Geschäftigkeit allerlei von ihrer Wiener Reise zu erzählen, auch von einem Jugendfreund berichtete sie, den sie nach langer Zeit wieder getroffen, und zwar, wie sonderbar! gerade vor dem Falckenborgischen Bild. Während sie so von Emil sprach, ohne seinen Namen zu nennen, wuchs ihre Sehnsucht ins Ungemessene, und sie dachte daran, ihm heute noch einmal zu schreiben.

Da sah sie, wie Rupius die Augen starr auf die Türe geheftet hielt. Seine Frau war eingetreten, kam lächelnd auf ihn zu, sagte: »Da bin ich wieder,« küßte ihn auf die Stirn und reichte Berta ihre Hand zum Gruß. »Guten Abend, Frau Rupius,« sagte Berta, höchst erfreut. Herr Rupius sprach kein Wort, doch sein Antlitz schien in heftiger Bewegung. Frau Rupius, die noch den Hut nicht abgelegt hatte, wandte sich einen Augenblick ab, da bemerkte Berta, wie Rupius sein Gesicht auf beide Hände stützte und in sich hinein zu schluchzen begann.

Berta ging. Sie war froh, daß Frau Rupius wiedergekommen war, es schien ihr wie eine gute Vorbedeutung. Morgen früh schon konnte der Brief da sein, der vielleicht ihr Schicksal entschied. Mit ihrer Ruhe war es wieder ganz vorbei; doch war ihr Wesen von einer anderen Sehnsucht erfüllt als früher. Sie wollte ihn nur da haben, in ihrer Nähe, sie hätte ihn nur sehen, an seiner Seite gehen wollen. Am Abend, nachdem sie ihren Buben zu Bett gebracht, blieb sie noch lang allein im Speisezimmer; sie spielte auch ein paar Akkorde auf dem Klavier, dann trat sie ans Fenster und sah ins Dunkle hinaus. Der Regen hatte aufgehört, die Erde trank die Feuchtigkeit ein, noch hingen die Wolken schwer über dem Land. Bertas ganzes Wesen wurde Sehnsucht, alles in ihr rief nach ihm, ihre Augen suchten ihn aus der Dunkelheit hervorzuschauen, ihre Lippen hauchten einen Kuß in die Luft, als könnte er die seinen erreichen, und unbewußt, als müßten ihre Wünsche in die Höhe, fort von allem andern, was sie umgab, flüsterte sie, indem sie zum Himmel aufschaute: »Gib mir ihn wieder!« . . . Nie war sie so sein gewesen als in diesem Augenblick. Ihr war, als liebte sie ihn jetzt zum ersten Male. Nichts von allem war beigemischt, was sonst ihr Gefühl trübte, keine Angst, keine Sorge, kein Zweifel, alles in ihr war die reinste Zärtlichkeit, und als jetzt ein leichter Wind herangeweht kam und ihre Stirnhaare bewegte, war ihr, als käme der Hauch von ihm.

Am nächsten Morgen kam kein Brief. Berta war ein wenig enttäuscht, aber nicht beunruhigt. Bald erschien Elly, die plötzlich eine große Lust bekommen hatte, mit dem Buben zu spielen. Das Dienstmädchen brachte vom Markt die Nachricht, daß man von Rupius aus sehr eilig zum Arzt geschickt hätte, doch wußte sie nicht, ob Herr oder Frau Rupius erkrankt sei. Berta beschloß, noch vor Tisch selbst anzufragen. Sie gab ihre Lektion bei Mahlmanns sehr zerstreut und nervös, dann ging sie zu Rupius. Das Dienstmädchen sagte ihr, die gnädige Frau wäre erkrankt und läge zu Bett, es sei nichts Gefährliches, aber Doktor Friedrich habe Besuche streng verboten. Berta erschrak. Sie hätte gern Herrn Rupius gesprochen, aber sie wollte nicht zudringlich sein.

Nachmittags versuchte sie, den Unterricht ihres Buben fortzusetzen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Wieder war ihr, als würden durch die Erkrankung Annas ihre eigenen Hoffnungen beeinflußt; wenn Anna gesund wäre, müßte auch der Brief schon da sein. Sie wußte, daß das ganz unsinnig war, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Nach fünf Uhr begab sie sich wieder zu Rupius. Das Mädchen ließ sie ein. Herr Rupius wollte sie selbst sprechen. Er saß in seinem Sessel am Tische. »Nun?« fragte Berta.

»Eben ist der Doktor drin; wenn Sie ein paar Minuten warten wollen . . .«

Berta getraute sich nicht zu fragen. Beide schwiegen. Nach ein paar Sekunden trat Doktor Friedrich heraus. »Nun, es läßt sich noch nichts mit Bestimmtheit sagen,« sagte er langsam und setzte mit einem plötzlichen Entschluß hinzu: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, es ist durchaus notwendig, daß ich mit Herrn Rupius allein rede.«

Rupius zuckte zusammen. Berta sagte mechanisch: »So will ich nicht stören« und entfernte sich. Aber in ihrer Erregung war es ihr unmöglich, nach Hause zu gehen, und sie nahm den Weg zwischen den Rebengeländen dem Friedhofe zu. Sie fühlte, daß irgend etwas Geheimnisvolles in jenem Hause vorging. Es kam ihr der Gedanke, ob Anna nicht einen Selbstmordversuch gemacht haben könnte. Wenn sie nur nicht stirbt, dachte sie. Und zugleich war der Gedanke da: wenn nur ein lieber Brief von Emil kommt! Sie schien sich von lauter Gefahren umgeben. Sie betrat den Friedhof. Es war heute ein schöner, warmer Sommertag, und die Blüten und Blumen dufteten neu nach dem gestrigen Regen. Berta ging den gewohnten Weg bis zum Grab ihres Mannes. Aber sie fühlte, daß sie hier gar nichts zu suchen hatte. Es war ihr beinah peinlich, die Worte auf dem Grabstein zu lesen, die ihr nicht das Geringste mehr bedeuteten: Viktor Mathias Garlan, gestorben am 6. Juni 1895. Jetzt schien ihr irgendein Spaziergang mit Emil vor zehn Jahren näher zu liegen als die Jahre, die sie an der Seite ihres Mannes verbracht. Das war überhaupt gar nichts mehr . . . sie hätte gar nicht daran geglaubt, wenn Fritz nicht auf der Welt gewesen wäre . . . Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: Fritz ist gar nicht sein Sohn . . . am Ende ist er Emils Sohn . . . Sind solche Dinge nicht möglich? . . . Und es war ihr in diesem Augenblick, als könnte sie die Lehre vom heiligen Geist verstehen . . . Dann erschrak sie selbst über das Unsinnige ihrer Gedanken. Sie blickte auf den breiten Weg, der von dem Tor des Kirchhofs gradlinig bis zur gegenüber liegenden Mauer zog, und mit einemmal wußte sie ganz bestimmt, daß man in wenigen Tagen den Sarg mit der Leiche der Frau Rupius diesen Weg tragen würde. Sie wollte diesen Gedanken verscheuchen, aber er war in völliger Bildhaftigkeit da, der Leichenwagen stand vor dem Tor; dort, dieses Grab, das zwei Männer eben aufschaufelten, war für Frau Rupius bestimmt, und Herr Rupius wartete am offenen Grab. Er saß in seinem Rollstuhl, den Plaid auf den Knien, und starrte dem Sarg entgegen, den die schwarzen Männer langsam herantrugen . . . Das war mehr als eine Ahnung, das war ein Wissen . . . Aber woher kam ihr das? – Jetzt hörte sie Leute hinter sich reden; zwei Frauen kamen an ihr vorüber, die eine war die Witwe eines Oberstleutnants, der vor kurzem gestorben war, die andere die Tochter; beide grüßten sie und schritten langsam weiter. Berta dachte, daß diese beiden Frauen sie für eine treue Witwe halten würden, die noch immer ihren Gatten beweinte; sie kam sich wie eine Lügnerin vor und entfernte sich eilig. Vielleicht war irgendeine Nachricht da, am Ende ein Telegramm von Emil – das wäre ja nichts merkwürdiges . . . sie standen einander doch nah genug . . . Ob Frau Rupius noch daran denkt, was Berta ihr auf dem Bahnhof gesagt hat, ob sie vielleicht im Fieber davon redet . . . Übrigens ist das ja so gleichgültig. Wichtig ist nur, daß Emil schreibt und daß Frau Rupius gesund wird . . . Sie muß noch einmal hin, sie muß Herrn Rupius sprechen, er wird ihr schon sagen, was der Arzt von ihm wollte . . . Und sie eilt zwischen den Rebengeländen den Hügel hinab, nach Hause . . . Nichts ist gekommen, kein Brief, kein Telegramm . . . Fritz ist mit dem Mädchen ausgegangen. Ah, wie allein ist sie! Sie eilt wieder zu Rupius, das Mädchen öffnet ihr. Es geht sehr schlecht, Herr Rupius ist nicht zu sprechen . . .

»Was fehlt ihr denn? Wissen Sie nicht, was der Doktor gesagt hat?«

»Eine Entzündung, hat der Doktor g'sagt.«

»Was für eine Entzündung?«

»Oder hat er gar g'sagt, eine Blutvergiftung. Es wird gleich eine Wärterin vom Spital kommen.«

Berta ging. Auf dem Platz vor dem Kaffeehaus saßen einige Leute, an einem Tisch ganz vorn Offiziere, wie gewöhnlich um diese Zeit. Die wissen nicht, was da oben vorgeht, dachte Berta, sonst könnten sie nicht da sitzen und lachen . . . Blutvergiftung – ja, was hatte das zu bedeuten? . . . Gewiß: es war ein Selbstmordversuch! . . . Aber warum? . . . Weil sie nicht fortreisen durfte – oder wollte? – Aber sie wird nicht sterben – nein, sie darf nicht sterben!

Um die Zeit hinzubringen, besucht Berta ihre Verwandten. Nur die Schwägerin ist zu Hause, sie weiß schon von der Erkrankung der Frau Rupius, aber das berührt sie nicht sehr, und sie spricht bald von anderen Dingen. Berta erträgt es nicht und entfernt sich.

Am Abend versucht sie, ihrem Buben Geschichten zu erzählen, dann liest sie die Zeitung, wo sie unter anderem auch wieder eine Ankündigung des Konzerts unter Mitwirkung Emils findet. Es kommt ihr ganz sonderbar vor, daß das Konzert noch immer bevorsteht und nicht schon längst vorüber ist.

Sie kann nicht schlafen gehen, ohne noch einmal bei Rupius angefragt zu haben. Sie trifft die Wärterin im Vorzimmer. Es ist diejenige, die Doktor Friedrich immer zu seinen Privatpatienten schickt. Sie hat ein heiteres Antlitz und tröstliche Augen.

»Unser Doktor wird die Frau Rupius schon herausreißen,« sagt sie. Und obzwar Berta weiß, daß diese Wärterin immer Bemerkungen solcher Art macht, fühlt sie sich doch beruhigter. Sie geht nach Hause, legt sich zu Bett und schlummert ruhig ein.

 

Am nächsten Morgen wacht sie spät auf. Sie ist ausgeschlafen und frisch. Auf dem Nachtkästchen liegt ein Brief. Jetzt erst besinnt sie sich: Frau Rupius ist schwer krank, und das ist ein Brief von Emil. Sie greift so eilig nach ihm, daß der kleine Leuchter heftig schwankt, reißt das Kuvert herunter und liest:

»Meine liebe Berta! Vielen Dank für Deinen schönen Brief. Er hat mich sehr gefreut. Aber Deine Idee, für immer nach Wien zu kommen, mußt Du Dir doch noch sehr wohl überlegen. Die Verhältnisse hier liegen ganz anders, als Du Dir vorzustellen scheinst. Es ist selbst für den einheimischen, gut akkreditierten Musiker mit der größten Mühe verbunden, halbwegs anständig bezahlte Lektionen zu bekommen, für Dich wäre es – wenigstens im Beginn – fast ein Ding der Unmöglichkeit. Zu Hause hast Du Deine gesicherte Existenz, Deinen Kreis von Verwandten und Freunden, Dein Heim, und schließlich, es ist der Ort, an dem Du mit Deinem Gatten gelebt hast, wo Dein Kind auf die Welt gekommen ist, und dort ist Dein Platz. Alles das aufzugeben, um Dich in den aufreibenden Konkurrenzkampf der Großstadt zu stürzen, hieße sehr töricht handeln. Ich rede absichtlich nichts von der Rolle, welche Deine Sympathie für mich (Du weißt, ich erwidre sie von ganzem Herzen) in Deinen Erwägungen zu spielen scheint, aber das würde die ganze Frage auf ein anderes Gebiet hinüberspielen, und das soll nicht geschehen. Ich nehme kein Opfer von Dir an, unter keiner Bedingung. Daß ich Dich gern und zwar bald wiedersehen möchte, braucht wohl keiner Versicherung, denn ich wünsche nichts sehnlicher, als wieder eine solche Stunde mit Dir zu verleben wie die, welche Du mir neulich geschenkt hast (und für die ich Dir sehr dankbar bin). Richte Dir's doch so ein, mein Kind, daß Du etwa alle vier bis sechs Wochen auf einen Tag und eine Nacht nach Wien kommen kannst. Wir wollen noch öfter recht glücklich sein, hoff' ich. In den nächsten Tagen kann ich Dich zu meinem Bedauern nicht sehen, auch verreise ich gleich nach meinem Konzert, ich muß in London spielen (Season), von dort fahre ich nach Schottland. Also auf ein frohes Wiedersehen im Herbst. Ich grüße Dich und küsse die süße Stelle hinter Deinem Ohr, die ich am meisten liebe.

Dein Emil.«

Als Berta diesen Brief zu Ende gelesen, saß sie noch eine Weile aufrecht im Bett. Es ging wie ein Schauer durch ihren Leib. Sie war nicht überrascht, sie wußte, daß sie keinen anderen Brief erwartet hatte. Sie schüttelte sich . . . Alle vier bis sechs Wochen . . . vortrefflich! – Ja, für einen Tag und für eine Nacht . . . Pfui, pfui! . . . Und was für eine Angst er hatte, daß sie nach Wien käme . . . Und nun gar zum Schluß diese Bemerkung, als hätte er es darauf abgesehen, sozusagen noch aus der Ferne ihre Sinne zu reizen, weil ja das seine einzige Art war, mit ihr zu verkehren . . . Ah, pfui, pfui! . . . was für eine . . . war sie gewesen! – Es ekelt sie – ekelt sie! . . . Sie springt aus dem Bett, kleidet sich an . . . Nun ja, was weiter? . . . Es war aus, aus, aus! Er hatte keine Zeit für sie – gar keine Zeit! . . . Vom Herbst an alle sechs Wochen eine Nacht . . . Ja, sofort, mein Herr, ich gehe auf Ihren ehrenvollen Antrag mit Vergnügen ein – ich wünsche mir ja nichts Beßres! Ich werde weiter hier versauern, Lektionen geben, verblöden in diesem Nest . . . Sie werden weiter Geige spielen, den Weibern den Kopf verdrehen, reisen, reich und berühmt und glücklich sein – und alle vier bis sechs Wochen darf ich auf eine Nacht in irgendeinem schäbigen Zimmer, wo Sie Ihre Frauenzimmer von der Straße hinführen, in einem Bett, wo so und so viele vor mir gelegen sind, . . . pfui, pfui, pfui! . . . Rasch fertig gemacht – zu Frau Rupius . . . Anna ist krank, schwerkrank – was geht mich alles andere an?

Bevor sie fortging, herzte sie ihren Buben, und die Stelle aus dem Brief fiel ihr ein: hier, wo Dein Kind zur Welt gekommen ist, bist Du zu Hause . . . Ja, so war es auch, aber er hat es nicht gesagt, weil es wahr ist, sondern nur, um nicht in die Gefahr zu kommen, sie öfter sehen zu müssen als alle sechs Wochen einmal.

Fort, fort! . . . Warum zitterte sie denn gar nicht für Frau Rupius? . . . Ah, sie wußte schon, es war ihr ja gestern abend besser gegangen. – Wo war nur der Brief? . . . Sie hatte ihn wieder ganz mechanisch ins Mieder gesteckt.

Die Offiziere saßen vor dem Kaffeehaus und frühstückten; ganz bestaubt waren sie, sie kamen schon von der Feldübung zurück. Einer sah Berta nach, ein ganz junger, er mußte erst vor kurzem eingerückt sein . . . Bitte sehr, ich bin ganz zu Ihrer Verfügung, in Wien bin ich nur alle vier bis sechs Wochen beschäftigt . . . bitte, sagen Sie nur, wann Sie es wünschen . . .

Die Balkontür war offen, über dem Geländer hing die rotsamtene Klavierdecke. Nun, offenbar, alles war wieder in Ordnung, – würde sonst die Decke auf dem Balkon hängen? . . . Freilich, also vorwärts, hinauf ohne Angst! . . .

Das Mädchen öffnet. Berta braucht sie nichts zu fragen, in ihren aufgerissenen Augen ist der Ausdruck von entsetztem Staunen, wie ihn nur die Nähe eines grauenvollen Sterbens hervorbringt. Berta tritt ein, zuerst in den Salon, die Tür zum Schlafzimmer ist flügelweit geöffnet.

Von der Wand fortgerückt, in der Mitte des Zimmers steht das Bett, frei von allen Seiten. Am Fußende sitzt die Wärterin, sehr müde, mit auf die Brust gesunkenem Kopf, zu Häupten in seinem Rollsessel Herr Rupius. Das Zimmer ist so dunkel, daß Berta erst, wie sie ganz nah tritt, das Gesicht von Anna deutlich sehen kann. Sie scheint zu schlafen. Berta tritt näher. Sie hört den Atem Annas, er ist gleichmäßig, aber unbegreiflich rasch, nie hat sie ein menschliches Wesen so atmen gehört. Jetzt fühlt Berta die Blicke der beiden andern auf sich gerichtet. Nur einen Augenblick wundert sie sich, daß man sie so ohne weiteres hereingelassen, dann begreift sie, daß jetzt alle Vorsichtsmaßregeln überflüssig geworden sind; diese Sache ist entschieden.

Noch zwei Augen richteten sich plötzlich auf Berta. Frau Rupius selbst hatte die ihren aufgeschlagen und betrachtete die Freundin mit Aufmerksamkeit. Die Wärterin machte Berta Platz und ging ins Nebenzimmer. Berta setzte sich und rückte näher heran. Sie sah, wie Anna ihr eine Hand langsam entgegenhielt, und ergriff sie. »Liebe Frau Rupius,« sagte sie. »Nicht wahr, es geht Ihnen jetzt schon viel besser.« Sie fühlte, daß sie wieder etwas Ungeschicktes sagte, aber sie fand sich darein. Es war nun einmal ihr Los dieser Frau gegenüber, noch in der letzten Stunde.

Anna lächelte; sie sah so blaß und jung aus wie ein Mädchen. »Ich danke Ihnen, liebe Berta,« sprach sie.

»Aber liebe, liebe Anna, wofür denn?« Sie hatte die größte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. Zugleich aber war sie sehr neugierig zu erfahren, was denn eigentlich geschehen war.

Ein langes Schweigen entstand. Anna schloß die Augen wieder und schien zu schlafen, Herr Rupius saß regungslos da; Berta sah bald auf die Kranke, bald auf ihn. Sie dachte: Jedenfalls muß ich warten. Was Emil sagen würde, wenn ich plötzlich tot wäre? Ah, das täte ihm doch ein wenig leid, wenn er denken müßte: die ich vor ein paar Tagen in meinen Armen hielt, jetzt verwest sie. Er würde sogar weinen. Ja, in diesem Fall würde er weinen . . . ein so elender Egoist er sonst ist . . . Ah, wohin flogen denn wieder ihre Gedanken? Hielt sie nicht immer noch die Hand der Freundin in der ihren? Oh, wenn sie sie retten könnte! . . . Wer war nun übler dran! Diese, die da sterben mußte, oder sie, die man so schmählich betrogen hatte? War denn das notwendig, wegen einer Nacht? . . . Ah, das klang noch viel zu schön! . . . wegen einer Stunde – sie so zu erniedrigen, sie zu ruinieren – war das nicht gewissenlos, frech? . . . Wie haßte sie ihn! wie haßte sie ihn! . . . Wenn er nur in seinem nächsten Konzert stecken bliebe, daß ihn alle Leute auslachten und er sich schämen müßte und in allen Zeitungen stände: Herr Emil Lindbach ist fertig, vollkommen fertig. Und alle seine Geliebten würden sagen: Ah, fällt mir gar nicht ein! ein Geigenspieler, der stecken bleibt . . . ! . . . Ja, dann würde er sich wohl ihrer erinnern, der einzigen, die ihn seit ihrer Kindheit, die ihn wahrhaft geliebt hat . . . und die er nun so niederträchtig behandelte! . . . Dann müßte er doch zurück und sie um Verzeihung bitten, – und sie würde ihm sagen: Siehst du, Emil, siehst du, Emil . . . denn etwas Gescheiteres fiele ihr natürlich nicht ein . . . . Da denkt sie nun schon wieder an ihn, immer an ihn – und hier stirbt eine, und sie sitzt am Bett, und dieser Schweigende dort ist der Gatte . . . . . . So still ist es, nur von der Straße her, über den Balkon, durch die offene Tür wie hereingetragen, verwirrtes Geräusch – Menschenstimmen, Räderrollen, das Glockensignal eines Radfahrers, ein Säbel, der übers Pflaster scheppert, dazwischen Gezwitscher von Vögeln – aber all das ist so fern, gehört so gar nicht dazu . . .

Anna wird unruhig, sie wirft den Kopf hin und her – oft, rasch, immer rascher . . . Eine Stimme hinter Berta sagt leise: »Jetzt fängt's an.« Berta wandte sich um. Es war die Wärterin mit dem heiteren Gesicht; aber Berta sah jetzt, daß dieser Ausdruck gar keine Heiterkeit bedeutete, sondern nur den erstarrten Versuch, nie einen Schmerz merken zu lassen, und sie fand dieses Gesicht unbeschreiblich furchtbar . . . Wie hatte sie gesagt? . . . Jetzt fängt es an . . . ja, wie ein Konzert oder eine Theatervorstellung . . . . Und sie erinnerte sich daran, daß einmal auch an ihrem Bett dieselben Worte gesprochen wurden, damals als ihre Wehen begannen . . . .

Anna öffnete plötzlich die Augen, sehr weit, sehr groß; heftete sie auf ihren Mann und sagte ganz vernehmlich, indem sie sich vergeblich aufzurichten trachtete: »Nur dich, nur dich . . . glaub' mir, nur dich hab' ich . . . .« Das letzte Wort war nicht zu verstehen, aber Berta erriet es.

»Ich weiß,« sagte Rupius. Dann beugte er sich herab und küßte die Sterbende auf die Stirn. Anna schlang die Arme um ihn, seine Lippen weilten lange auf ihren Augen. Die Wärterin war wieder hinausgegangen. Plötzlich stieß Anna ihren Mann von sich, sie kannte ihn nicht mehr, ihr Bewußtsein war dahin. Berta stand sehr erschrocken auf, blieb aber am Bette stehen. Herr Rupius sagte zu Berta: »Gehen Sie jetzt.« Sie zögerte.

»Gehen Sie,« sagte er noch einmal und streng.

Berta sah ein, daß sie gehen mußte. Auf den Zehenspitzen entfernte sie sich aus dem Zimmer, als könnte das Geräusch von Schritten Anna noch stören. Als sie ins Vorzimmer kam, sah sie eben Doktor Friedrich, der den Überzieher ablegte und während dieser Zeit mit einem jungen Arzt, dem Sekundarius des Spitals, sprach. Er bemerkte Berta nicht, und sie hörte ihn folgendes sagen: »In jedem andern Falle hätt' ich die Anzeige erstattet, aber da die Sache so ausgeht . . . Überdies wär' es ein entsetzlicher Skandal, und der arme Rupius litte am meisten darunter.« Jetzt sah er Berta. »Guten Tag, Frau Garlan.«

»Ja, Herr Doktor, was ist denn eigentlich?«

Doktor Friedrich sah den Sekundararzt mit einem raschen Blick an; dann erwiderte er: »Blutvergiftung. Sie wissen ja, gnädige Frau, manchmal schneidet man sich in den Finger und stirbt daran; die Verletzung ist nicht immer zu entdecken. Es ist ein großes Unglück . . . ja, ja.« Er ging ins Zimmer, der Assistent folgte ihm.

Berta war wie betäubt, als sie auf die Straße trat. Was für eine Bedeutung hatten die Worte, die sie gehört? – Anzeige? – Skandal? Ja, hatte am Ende Rupius selbst seine Frau umgebracht? . . . Nein, was für ein Unsinn! – Aber irgend etwas war an Anna verübt worden, ganz gewiß . . . und es mußte irgendwie mit der Reise nach Wien zusammenhängen: denn in der Nacht nachher war sie erkrankt . . . Und die Worte der Sterbenden fielen ihr ein: Nur dich, nur dich hab' ich geliebt! . . . Hatte das nicht geklungen wie eine Bitte um Verzeihung . . . Nur dich geliebt – aber einen andern . . . Gewiß, sie hatte einen Liebhaber in der Stadt . . . nun ja, aber was weiter? . . . Ja, sie hatte fortreisen wollen und es doch nicht getan . . . Wie hatte sie nur damals auf dem Bahnhof gesagt . . . Ich habe mich zu etwas anderem entschlossen . . . Ja, gewiß, sie hatte von dem Liebhaber in Wien Abschied genommen und sich hier – vergiftet? . . . Aber warum denn, wenn sie nur ihren Gatten liebte? . . . Und das war keine Lüge! Gewiß nicht! Berta konnte es nicht verstehen . . .

Warum war sie denn nur fortgegangen? . . . Was sollte sie denn jetzt tun? . . . Sie hatte zu nichts Ruhe. Sie konnte weder nach Hause, noch zu ihren Verwandten, sie mußte wieder zurück . . . Ob Anna auch hätte sterben müssen, wenn heut' ein anderer Brief von Emil gekommen wäre? . . . Wahrhaftig, sie verlor den Verstand . . . Das waren ja Dinge, die gar nicht zusammenhingen – und doch . . . warum konnte sie sie nicht voneinander trennen? –

Wieder eilte sie die Stiege hinauf. Es war noch keine Viertelstunde, daß sie das Haus verlassen. Die Tür zur Wohnung stand offen, die Wärterin war im Vorzimmer. »Schon vorbei,« sagte sie. Berta ging weiter. Herr Rupius saß ganz allein am Tisch, die Tür zum Sterbezimmer war geschlossen. Er ließ Berta ganz nah an sich herankommen, ergriff ihre Hand, die sich ihm entgegenstreckte, dann sagte er: »Warum nur hat sie's getan? hat sie das getan?«

Berta schwieg.

Rupius sprach weiter. »Es war nicht notwendig – heiliger Himmel, es war nicht notwendig! Was gehen mich die anderen Menschen an – nicht wahr?«

Berta nickte.

»Auf das Lebendigsein kommt es an – das ist es. Warum hat sie das getan?« Es klang wie ein verhaltenes Jammern, obzwar er ganz ruhig zu reden schien. Berta weinte.

»Nein, es war nicht notwendig! Ich hätt' es aufgezogen, aufgezogen wie mein eigenes Kind.«

Berta blickte jäh auf. Mit einemmal verstand sie alles, und eine furchtbare Angst durchlief ihr ganzes Wesen. Sie dachte an sich selbst. Wenn auch sie in dieser einen Nacht . . . in dieser einen Stunde . . .?! Ihre Angst war so groß, daß sie glaubte, die Sinne müßten ihr vergehen. Was ihr bisher kaum als Möglichkeit vorgeschwebt, stand plötzlich wie eine unbestreitbare Gewißheit vor ihr. – Es konnte gar nicht anders sein, der Tod Annas war eine Vorbedeutung, ein Fingerzeig Gottes. Und zugleich tauchte die Erinnerung in ihr auf, an jenen Spaziergang an der Wien vor zwölf Jahren, da Emil sie geküßt und sie das erstemal heiße Sehnsucht nach einem Kind empfunden. Warum hatte sie keine empfunden, als sie neulich in seinen Armen lag? . . . Ja, nun wußte sie: sie hatte nichts anderes wollen als die Lust eines Augenblicks, sie war nicht besser gewesen als eine von der Straße, und es wäre nur eine gerechte Strafe des Himmels, wenn auch sie an ihrer Schande so zugrunde ginge wie die Arme, die da drin lag.

»Ich möchte sie noch einmal sehen,« sagte sie.

Rupius wies auf die Türe. Berta öffnete sie, näherte sich langsam dem Bett, auf dem die Tote ruhte, betrachtete sie lange und küßte sie auf beide Augen. Da überkam sie eine Ruhe ohnegleichen. Sie wäre am liebsten stundenlang bei der Leiche geblieben, in deren Nähe ihre eigenen Enttäuschungen und Leiden alle Wichtigkeit verloren. Sie kniete am Bette nieder und faltete die Hände, doch ohne zu beten.

Plötzlich flimmerte es ihr vor den Augen, eine wohlbekannte plötzliche Schwäche kam über sie, ein Schwindel, der sich gleich verlor. Zuerst bebte sie leise, dann aber atmete sie tief und wie erlöst auf, denn mit dem Hereinbrechen dieser Ermattung fühlte sie ja auch, daß in diesem Augenblick nicht nur ihre Befürchtungen von früher, sondern der ganze Wahn dieser wirren Tage, die letzten Schauer einer verlangenden Weiblichkeit, alles, was sie für Liebe gehalten, in nichts zu verströmen begannen. Und an diesem Totenbette kniend, wußte sie, daß sie nicht von denen war, die, mit leichtem Sinn beschenkt, die Freuden des Lebens ohne Zagen trinken dürfen. Mit Ekel dachte sie an die eine Stunde der Lust, die ihr vergönnt gewesen, und wie eine ungeheure Lüge erschienen ihr die schamlosen Wonnen, die sie damals gekostet, gegenüber der Unschuld jenes sehnsüchtigen Kusses, dessen Erinnerung ihr ganzes Dasein verschönt hatte. Klar hingebreitet in wundervoller Reinheit erschienen ihr jetzt die Beziehungen, die zwischen dem Gelähmten da draußen und dieser Frau bestanden hatten, die an ihrem Betruge sterben mußte. Und während sie die blasse Stirn der Toten betrachtete, mußte sie an den Unbekannten denken, für den sie hatte sterben müssen und der straflos und wohl auch reuelos draußen in der großen Stadt herumgehen und weiterleben durfte, wie ein anderer auch . . . nein, wie tausend und tausend andere, die neulich ihr Kleid gestreift und sie begehrlich angestarrt hatten. Und sie ahnte das ungeheure Unrecht in der Welt, daß die Sehnsucht nach Wonne ebenso in die Frau gelegt ward, als in den Mann; und daß es bei den Frauen Sünde wird und Sühne fordert, wenn die Sehnsucht nach Wonne nicht zugleich die Sehnsucht nach dem Kinde ist.

Sie erhob sich, warf einen letzten Blick des Abschieds auf die geliebte Freundin und verließ das Sterbegemach. Herr Rupius saß im Nebenzimmer geradeso, wie sie ihn verlassen. Ein tiefes Verlangen überkam sie, ihm Worte des Trostes zu sagen. Es war ihr einen Augenblick, als hätte ihr eigenes Schicksal nur den einen Sinn gehabt, sie das Elend dieses Mannes ganz verstehen zu machen. Sie hätte gewünscht, ihm das sagen zu können, aber sie fühlte, daß er zu denen gehörte, die mit ihrem Schmerz allein sein wollen. So setzte sie sich schweigend ihm gegenüber. –

 


 


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