Arthur Schnitzler
Frau Berta Garlan
Arthur Schnitzler

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Als Berta am späten Abend in ihr Zimmer trat, kam ihr der Einfall, noch jetzt allein auf den Boden hinaufzugehen und die Tasche herunterzuholen, beinahe abenteuerlich vor. Sie fürchtete, daß man im Hause ihre nächtige Wanderung bemerken und sie für verrückt halten möchte. Sie konnte es ja morgen ohne Aufsehen, in größter Bequemlichkeit tun, und so schlief sie mit der Empfindung eines Kindes ein, dem für den folgenden Tag ein Ausflug aufs Land versprochen ist.

Am nächsten Vormittag hatte sie mancherlei zu tun; häusliche Beschäftigungen und die Klavierlektionen nahmen den Vormittag in Anspruch. Ihrer Schwägerin mußte sie von ihrer Wiener Reise berichten. Sie erzählte, daß sie mit ihrer Cousine nachmittags spazieren gegangen wäre, und stellte die Sache so dar, als hätte sie auf Ersuchen der Cousine der Frau Rupius abgeschrieben.

Erst nachmittags ging sie auf den Dachboden und holte die verstaubte Reisetasche herunter, die neben einem Koffer und zwei Kisten lag – alles zusammen von einem alten, rotgeblümten, zerschlissenen Kaffeetuch überdeckt. Berta wußte, daß sie sie das letztemal aufgeschlossen, um Briefschaften aufzubewahren, die ihre Eltern hinterlassen hatten. Als sie die Tasche in ihrem Zimmer öffnete, erblickte sie auch vor allem eine Anzahl von Briefen ihrer Brüder und andere mit unbekannten Schriftzügen; dann fand sie ein wohlgesichtetes Päckchen, die spärlichen Briefe ihrer Eltern an sie enthaltend; zwei Haushaltungsbücher ihrer Mutter, ein kleines Heft aus ihrer eigenen Schulzeit, darin sie Stundenpläne und Aufgaben eingezeichnet, dann einige Damenspenden von den Bällen, die sie als junges Mädchen besucht, und endlich, in blaues Seidenpapier gewickelt, das an einigen Stellen eingerissen war, Emils Briefe. Nun wußte sie sich auch auf den Tag zu besinnen, da sie diese das letztemal in der Hand gehabt, ohne sie zu lesen; das war, als ihr Vater schon krank gelegen und sie tagelang gar nicht aus dem Haus gekommen war. Sie legte das Päckchen beiseite. Sie wollte zuerst alles andere sehen, was hier noch aufbewahrt und worauf sie sehr neugierig war. Ganz lose lag eine Anzahl von Briefen auf dem Grund der Tasche, einige im Kuvert, andere ohne Hülle; sie blickte wahllos den einen und den anderen an. Es waren Briefe von alten Freundinnen, ein paar von ihrer Cousine, und hier einer von dem Arzte, der sich seinerzeit um sie beworben; er enthielt die Bitte um den ersten Walzer auf dem Medizinerkränzchen. Und hier – was war denn das? Ja, das war der anonyme Brief, den ihr einer ins Konservatorium geschickt. Sie nahm ihn zur Hand: »Mein Fräulein! Ich hatte gestern wieder das Glück, Sie auf Ihrem täglichen Weg zu bewundern, ich weiß nicht, ob auch ich das Glück hatte, von Ihnen bemerkt zu werden.« Nein, dieses Glück hatte er nicht gehabt. Dann kamen noch drei Seiten, auf denen sie angeschwärmt wurde; kein Wunsch, kein kühnes Wort. Auch hatte sie nie wieder etwas von dem Schreiber gehört. Und hier ein Brief, mit zwei Initialen unterschrieben: M. G. – Das war dieser Unverschämte gewesen, der sie auf der Straße angesprochen und ihr in diesem Brief Anträge gestellt hatte – ja, welche denn nur? Ah, hier war die Stelle, die ihr damals das Blut in den Kopf getrieben: »Seit ich Sie gesehen, seit Sie Ihren strengen und doch so verheißenden Blick auf mich gerichtet hielten, hab' ich nur mehr einen Traum, eine Sehnsucht: diese Augen küssen zu dürfen!« – Sie hatte natürlich nicht geantwortet; es war die Zeit gewesen, in welcher sie Emil liebte. Ja, sie hatte sogar daran gedacht, ihm diesen Brief zu zeigen, aber die Angst vor seiner Eifersucht hielt sie zurück. Nie hatte Emil von M. G. etwas erfahren. – Und das weiche Band, das ihr jetzt in die Hände geriet –? Eine Schleife . . . Aber sie wußte nicht, woran sie die erinnern sollte. Und hier wieder ein kleines Tanzalbum, wo die Namen ihrer Tänzer eingetragen waren. Sie versuchte, sich der Personen zu erinnern, aber vergeblich. Und dabei war ja gerade auf diesem Ball einer gewesen, der ihr so glühende Worte gesagt hatte wie nie ein anderer. Es war ihr, als tauchte der plötzlich wie ein Sieger auf unter den vielen Schatten, die sie umschwebten. Ja, das war schon zu der Zeit gewesen, da Emil und sie einander seltener sahen. Wie sonderbar war das . . . oder hatte sie es nur geträumt? Dieser Glühende drückte sie während des Tanzes an sich, – und sie wehrte sich gar nicht, und fühlte seine Lippen auf ihrem Haar, und es war unglaublich schön . . . Ja, und weiter? – Sie hatte ihn nie wiedergesehen. Es war ihr plötzlich, als hätte sie in jener Zeit doch vieles und Seltsames erlebt, und wie in ein Staunen versank sie, daß alle diese Erinnerungen so lang in der alten Reisetasche und in ihrer Seele geschlafen hatten . . . Doch nein! Manchmal hatte sie an alle diese Dinge gedacht: an Leute, die ihr den Hof gemacht, an den anonymen Brief, an den glühenden Tänzer, an die Spaziergänge mit Emil, – aber als wenn es weiter nichts Besonderes, als wenn es eben die Vergangenheit wäre, die Jugend, die jedem Mädchen beschieden ist und aus der sie in das stille Frauenleben eingeht. Heute aber schien ihr, als wären diese Erinnerungen zugleich uneingelöste Versprechungen, als lägen in jenen fernen Erlebnissen verkümmerte Schicksale, ja als wäre irgendein Betrug an ihr verübt worden, seit lang, von dem Tage an, da sie geheiratet, bis zum heutigen Tag, und als wäre sie zu spät darauf gekommen, stünde nun da und könnte nichts mehr tun. Doch wie war denn das? . . . An alle diese Nichtigkeiten dachte sie, und hier neben ihr lag noch immer, in Seidenpapier eingewickelt, der Schatz, um dessentwillen sie ja in der alten Tasche herumgekramt, die Briefe des einzigen, den sie geliebt hatte, die Briefe aus der Zeit, da sie glücklich gewesen. Wie viele mochten sie heute darum beneiden, daß gerade dieser sie einmal geliebt, – anders, besser, keuscher sie als alle anderen nach ihr. Und sie fühlte sich am tiefsten betrogen, weil sie, die seine Frau hätte sein können, wenn . . . wenn . . . Ihre Gedanken stockten.

Rasch, wie um sich von Zweifel, ja von Angst zu befreien, riß sie das Seidenpapier herab und griff nach den Briefen. Und sie las, las einen nach dem anderen. Die kurzen und die langen, die kleinen Zettel mit den flüchtigen Worten: »Morgen Abend sieben Uhr, mein Schatz!« oder: »Liebste, nur einen Kuß, bevor ich schlafen gehe!« und die seitenlangen, von der Reise aus geschrieben, wenn er im Sommer mit seinen Kollegen Fußwanderungen machte, oder andere, in denen er ihr abends seinen Eindruck von einem Konzert, gleich nach dem Nachhausekommen, mitzuteilen sich gedrängt fühlte; dann die endlosen, wo er Zukunftspläne entwickelte: wie sie zusammen durch Spanien und Amerika reisen wollten, berühmt und glücklich . . . las sie alle, alle, einen nach dem anderen, wie von einem unauslöschlichen Durst gepeinigt – las sie vom ersten, mit welchem er ein paar Notenhefte begleitet, bis zum letzten, der zweieinhalb Jahre später datiert war und nichts enthielt als einen Gruß aus Salzburg – und als sie zu Ende war, ließ sie die Hände sinken und starrte auf die herumliegenden Blätter. Warum war dies der letzte Brief? Wie hatte es geendet? Wie hatte es enden können? Wie war es möglich, daß diese große Liebe schwinden konnte? Es war nie zu einem Bruch, nie zu einer Auseinandersetzung gekommen, und irgend einmal war es aus gewesen. Wann? . . . sie wußte es nicht. Denn damals, als jene Karte aus Salzburg kam, hatte sie ihn noch geliebt, im Herbst hatte sie ihn noch gesehen, – ja im nächsten Winter darauf schien alles noch einmal aufzublühen. Sie erinnerte sich gewisser Spaziergänge auf knirschendem Schnee, Arm in Arm, bei der Karlskirche; – wann aber war es das letztemal gewesen? Sie hatten ja niemals Abschied voneinander genommen . . . Sie verstand es nicht. Wie hatte sie so leicht auf ein Glück verzichten können, das zu halten doch in ihrer Macht gewesen wäre? Wie hatte sie aufgehört, ihn zu lieben? Hatte die dumpfe Alltäglichkeit, die zu Hause auf ihr gelastet, von dem Augenblick an, da sie das Konservatorium verlassen, wie ihren Ehrgeiz so auch ihr Fühlen eingeschläfert? Hatten die unzufriedenen Bemerkungen ihrer Eltern über den aussichtslosen Verkehr mit dem blutjungen Violinspieler so ernüchternd auf sie gewirkt? Und jetzt fiel ihr ein, daß er auch noch später einmal einen Besuch bei ihnen abgestattet, nachdem sie ihn monatelang nicht gesehen, und sie im Vorzimmer geküßt hatte. Ja, das war das letztemal gewesen. Und nun besann sie sich auch, wie sie damals gespürt, daß seine Beziehungen zu den Frauen andere geworden sein, daß er Dinge erlebt haben mußte, von denen sie nichts wissen durfte, – aber sie hatte darüber keinen Schmerz empfunden. Und sie fragte sich: wie wäre alles geworden, wenn sie damals kein so tugendhaftes Mädchen gewesen, wenn sie das Leben so leicht genommen hätte wie andere? Eine Kollegin fiel ihr ein, mit der sie den Verkehr aufgegeben, weil sie ein Verhältnis mit einem Schauspielschüler gehabt hatte. Und sie erinnerte sich wieder jenes kühnen Wortes von Emil, als er mit ihr an seinem Fenster vorüberging, und jener Sehnsucht, während sie am Wienufer standen. Unbegreiflich erschien ihr, daß jenes Wort damals nicht lebhafter in ihr nachgewirkt hatte, daß jene Sehnsucht nur einmal und auf so kurze Zeit in ihr erwacht war. Mit einer Art von ratlosem Staunen dachte sie an die Zeit jener unbeirrten Jungfräulichkeit, und mit plötzlichem, peinvollem Schamgefühl, das ihr das Blut in die Schläfen jagte, an die kühle Bereitwilligkeit, mit der sie sich einem Manne hingegeben, den sie nie geliebt hatte. Und das Bewußtsein, daß das ganze Glück, das sie als Frau genossen, darin enthalten war, in den Armen jenes Ungeliebten zu liegen, durchschauerte sie das erstemal in seinem ganzen Jammer. Das also war für sie das Leben gewesen, das ersehnte, geheimnisvolle Glück? . . . Und ein dumpfer Unwille begann in ihr zu wühlen, der sich gegen alle möglichen Dinge und Menschen wandte, gegen Tote und Lebendige. Sie zürnte ihrem verstorbenen Mann, ihren hingeschiedenen Eltern, ärgerte sich über die Leute, unter denen sie hier lebte und unter deren Augen sie sich nichts hätte erlauben dürfen; sie kränkte sich über Frau Rupius, die nicht so freundlich gegen sie war, daß sie an ihr einen Halt hätte finden können, sie haßte Klingemann, weil er häßlich und widerwärtig war und sie doch begehrte, und endlich wallte es heftig in ihr auf gegen den Geliebten ihrer Jugend, weil er nicht frecher gewesen, weil er ihr das letzte Glück vorenthalten und ihr nichts zurückgelassen hatte als Erinnerungen voll Duft, aber voll Qual. Da saß sie nun in ihrem einsamen Zimmer, unter den vergilbten Denkzeichen einer nutzlos und freudlos verbrachten Jugend, hart an der Grenze einer Zeit, da es keine Hoffnungen und keine Wünsche mehr gibt – unter den Händen war ihr das Dasein zerronnen, und sie war durstig und arm.

Sie packte die Briefe und alles Übrige zusammen, warf sie zerknüllt in die Tasche, versperrte diese und trat ans Fenster. – Der Abend war nah. Eine weiche Luft kam von den Weingeländen zu ihr gezogen; vor ihren Augen flimmerte es von ungeweinten Tränen der Erbitterung, nicht des Schmerzes. Was sollte sie nun tun? Sie, die Tage, Nächte, Monate, Jahre ohne Erwartung, ohne Angst sich in der Zukunft hatte dehnen sehen, schauerte vor der Leere des Abends, der vor ihr lag.

Es war die Stunde, um die sie sonst von ihrem Spaziergang heimzukehren pflegte; heute hatte sie das Kindermädchen mit ihrem Buben fortgeschickt, – sie sehnte sich nicht einmal nach ihm, ja für einen Augenblick fiel es selbst auf dieses Kind wie ein Strahl von dem Zorn, den sie gegen die ganze Menschheit und ihr Schicksal fühlte, und in ihrer ungeheuren Unzufriedenheit wurde sie von Neid gepackt auf viele Leute, die ihr sonst gar nicht beneidenswert erschienen waren. Sie beneidete Frau Doktor Martin um die Zärtlichkeit ihres Gatten; die Tabaktrafikantin, die von Herrn Klingemann und von dem Hauptmann geliebt wurde; ihre Schwägerin, weil sie schon alt, Elly, weil sie noch jung war; sie beneidete das Dienstmädchen, das drüben auf einem Holzbalken mit einem Soldaten saß und das sie lachen hörte. Sie hielt es zu Hause nicht länger aus, nahm Strohhut und Schirm und eilte auf die Straße. Da wurde ihr etwas wohler. In ihrem Zimmer hatte sie sich unglücklich gefühlt, jetzt war sie nur mehr verdrießlich.

In der Hauptstraße begegneten ihr Herr und Frau Mahlmann, deren Kindern sie Klavierunterricht gab. Die Frau wußte schon, daß Berta gestern bei einer Schneiderin in Wien ein Kleid bestellt hatte, und dieser Umstand wurde jetzt von ihr mit großer Wichtigkeit behandelt. Später traf Berta ihren Schwager, der ihr aus der Kastanienallee entgegenkam und ihr sagte: »Du warst ja gestern in Wien, was hast du denn dort gemacht? Hast du ein Abenteuer gehabt?«

»Wie?« fragte Berta und sah ihn ganz erschrocken an, als wäre sie ertappt worden.

»Nein? nicht? Du warst ja mit Frau Rupius, gewiß sind euch alle Herren nachgelaufen.«

»Was fällt dir denn ein, Schwager? Frau Rupius benimmt sich tadellos; sie ist eine der feinsten Damen, die ich kenne.«

»Ja, ja, ich sage nichts gegen Frau Rupius und sage nichts gegen dich.«

Sie sah ihm ins Gesicht; in seinen Augen war ein Glanz wie manchmal, wenn er ein bißchen zu viel getrunken hatte. Sie mußte daran denken, daß irgendwer einmal prophezeit hatte, Herrn Garlan würde der Schlag treffen.

»Ich muß auch nächstens einmal wieder in die Stadt,« sagte er, »ja; ich bin seit dem Aschermittwoch nicht mehr drin gewesen, will wieder einmal einige von meinen Kunden besuchen. Ihr könnt mich nächstens einmal mitnehmen, Frau Rupius und du.«

»Mit Vergnügen,« sagte Berta. »Ich muß nächstens doch wieder hinein, um zu probieren.«

Garlan lachte. »Ja, da kannst du mich mitnehmen, wenn du probierst.« Er ging näher neben ihr als notwendig. Es war seine Art, sich immer an sie heranzudrängen, und auch seine Späße war sie gewohnt; aber heute war ihr alles das besonders zuwider. Es ärgerte sie sehr, daß gerade dieser Mensch stets in einer so verdächtigenden Weise über Frau Rupius sprach.

»Setzen wir uns,« sagte Herr Garlan, »wenn es dir recht ist.« Sie ruhten beide auf einer Bank aus, Garlan nahm die Zeitung aus der Tasche.

»Ah,« sagte Berta unwillkürlich.

»Willst du sie haben?« fragte Garlan.

»Hat sie deine Frau schon gelesen?«

»Ach was,« sagte Garlan wegwerfend. »Willst du sie haben?«

»Wenn du sie entbehren kannst.«

»Für dich mit Vergnügen. Wir können sie ja auch zusammen lesen.« Er rückte näher an Berta heran und blätterte auf.

Herr und Frau Martin kamen Arm in Arm und blieben stehen.

»Nun, schon wieder zurück von der großen Reise?« fragte Herr Martin.

»Ach ja, Sie waren in Wien,« sagte Frau Martin, indem sie sich an ihren Gatten schmiegte. »Und mit Frau Rupius?« fügte sie bei, als wenn das eine Verschärfung bedeutete.

Jetzt mußte Berta wieder von ihrer neuen Toilette berichten. Sie tat es schon ein bißchen mechanisch, aber sie fühlte doch, daß sie seit langer Zeit nicht so interessant gewesen war wie heute. Klingemann kam vorüber, grüßte mit spöttischer Höflichkeit und wandte sich nach Berta mit einem Blick um, in welchem sein Bedauern ausgedrückt schien, daß sie mit solchen Leuten verkehren müßten. Es war Berta, als hätte sie heute die Gabe, in den Blicken der Menschen zu lesen.

Es begann zu dunkeln. Man machte sich gemeinschaftlich auf den Rückweg. Berta wurde plötzlich besorgt, weil sie ihren Buben nicht getroffen hatte. Sie ging vorn mit Frau Martin. Diese lenkte das Gespräch auf Frau Rupius. Sie wollte durchaus herausbekommen, ob Berta nicht irgend etwas bemerkt hätte.

»Aber was denn, Frau Martin? Ich habe Frau Rupius zu ihrem Bruder begleitet und sie von dort wieder abgeholt.«

»Und sind Sie überzeugt, daß Frau Rupius die ganze Zeit bei ihrem Bruder war?«

»Ich weiß wirklich nicht, was man Frau Rupius zumutet! Wo sollte sie denn gewesen sein?«

»Nun,« sagte Frau Martin, »Sie sind wirklich naiv – oder stellen Sie sich nur so? Vergessen Sie denn ganz . . .« Und jetzt flüsterte sie Frau Berta eine Bemerkung zu, über die diese ganz rot wurde. Nie hatte sie von einer Frau einen solchen Ausdruck vernommen. Sie war entrüstet. »Frau Martin,« sagte sie, »auch ich bin noch keine alte Frau, und Sie sehen, daß man sehr gut so leben kann.«

Frau Martin wurde etwas verlegen. »Nun ja, nun ja,« sagte sie, »Sie müssen eben denken, daß ich ein bißchen verwöhnt bin.«

Berta fürchtete, daß ihr Frau Martin noch nähere Aufschlüsse geben könnte, und war sehr froh, daß man eben an die Straßenecke gekommen war, wo sie sich verabschieden durfte.

»Berta!«rief ihr ihr Schwager nach, »deine Zeitung!« Berta wandte sich rasch um und nahm das Blatt. Dann eilte sie nach Hause. Ihr Bub erwartete sie schon am Fenster. Sie ging rasch hinauf. Sie umarmte und küßte ihn, als hätte sie ihn wochenlang nicht gesehen. Sie fühlte, daß sie ganz in der Liebe zu ihrem Kind aufging, was sie zugleich mit Stolz erfüllte. Sie ließ sich von ihm erzählen, wie er den Nachmittag verbracht, wo er gewesen, mit wem er gespielt, teilte ihm sein Nachtmahl vor, entkleidete ihn, brachte ihn zu Bett und war zufrieden mit sich. Wie an einen Fieberanfall dachte sie an ihren Zustand vom heutigen Nachmittag, da sie in alten Briefen gewühlt, ihr Schicksal verflucht und sogar die Tabaktrafikantin beneidet hatte. Sie aß mit gutem Appetit und legte sich früh zu Bett. Bevor sie aber einschlief, wollte sie noch die Zeitung lesen; sie streckte sich aus, knüllte den weichen Polster zusammen, damit ihr Kopf höher läge, und brachte das Blatt der Kerze so nah als möglich. Sie durchflog wie gewöhnlich zuerst die Theater- und Kunstnachrichten. Aber auch die »Kleinen Anzeigen« hatten seit dem Wiener Ausflug neues Interesse für sie bekommen, sowie der Lokalbericht. Schon begannen ihr die Lider zu sinken, als sie mit einemmal unter den Personalnachrichten den Namen Emil Lindbach entdeckte. Sie öffnete die Augen weit, setzte sich im Bett auf und las: »Der königlich bayrische Kammervirtuose Emil Lindbach, über dessen große Erfolge am spanischen Hofe wir kürzlich zu berichten in der Lage waren, ist von der Königin von Spanien durch Verleihung des Erlöserordens ausgezeichnet worden.«

Ein Lächeln ging über ihr Gesicht. Sie freute sich. Emil Lindbach hatte den Erlöserorden bekommen . . . ja . . . derselbe, dessen Briefe sie heute gelesen, . . . derselbe, der sie geküßt, – derselbe, der ihr einmal geschrieben, er würde nie eine andere anbeten als sie . . . ja, Emil – der einzige Mensch von allen auf der Erde, der sie eigentlich noch etwas anging – außer ihrem Buben natürlich. Es war ihr, als stände diese Notiz nur für sie in der Zeitung, ja als hätte Emil dieses Mittel gewählt, um sich mit ihr zu verständigen. Ob nicht doch er es war, den sie gestern von weitem, von rückwärts gesehen? Sie kam sich mit einemmale ihm so nah vor, sie lächelte noch immer und flüsterte vor sich hin: »Herr Emil Lindbach, königlich bayrischer Kammervirtuose . . . ich gratuliere Ihnen . . .« Ihre Lippen blieben halb offen. Eine Idee war ihr plötzlich gekommen. Sie stand rasch auf, nahm ihren Schlafrock um, ging mit dem Licht vom Nachtkästchen ins Nebenzimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb folgende Zeilen mühelos, als stände irgendwer neben ihr, der ihr diktierte:

»Lieber Emil!«

Eben lese ich in der Zeitung, daß Du von der Königin von Spanien durch die Verleihung des Erlöserordens ausgezeichnet wurdest. Ich weiß nicht, ob Du Dich noch meiner erinnerst« – sie lächelte, als sie diese Worte niederschrieb – »aber ich will doch diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne Dir zu Deinen vielen Erfolgen zu gratulieren, von denen ich mit Vergnügen so oft lese. Ich lebe in der kleinen Stadt, wo mich das Schicksal hin verschlagen hat, sehr zufrieden; es geht mir ganz gut. Du würdest durch ein paar Antwortzeilen sehr glücklich machen

Deine alte Freundin Berta.

PS. Viele Grüße auch von meinem kleinen Fritz (fünf Jahre).«

Sie war zu Ende. Einen Augenblick fragte sie sich, ob sie erwähnen sollte, daß sie Witwe wäre; aber das, wenn er es nicht wußte, ging ja mit Deutlichkeit aus ihrem Brief hervor. Sie überlas ihn noch einmal und nickte befriedigt. Sie schrieb die Adresse. »Herrn Emil Lindbach, kgl. bayr. Kammer-Virtuosen, Besitzer des Erlöser-Ordens . . .« Sollte sie das schreiben? Er hatte gewiß noch viele andere. »Wien . . .« Aber wo wohnte er denn jetzt? Doch das war gleichgültig bei einem so berühmten Namen. Und dann, diese Ungenauigkeit in der Adressierung zeigte auch, daß sie selbst der ganzen Sache nicht gar so viel Wert beilegte; kam der Brief an, nun, umso besser. Es war auch eine Art, das Schicksal zu versuchen . . . ja – wie sollte sie aber mit Bestimmtheit wissen, ob der Brief angekommen war? Die Antwort konnte doch auch ausbleiben, wenn . . . Nein, nein, gewiß nicht! Er wird ihr doch danken. – So, nun zu Bett. Sie hielt den Brief in der Hand. Nein, sie konnte sich jetzt nicht schlafen legen, sie war wieder ganz wach; und überdies, wenn sie den Brief erst morgen früh aufgäbe, so konnte er erst mit dem Mittagszug fort, und Emil erhielt ihn übermorgen. Das war endlos lang. Eben hat sie zu ihm gesprochen, und erst in sechsunddreißig Stunden soll er es hören . . .? Wenn sie jetzt noch zur Post . . . nein, auf den Bahnhof ginge? Dann könnte er den Brief morgen um zehn Uhr haben. Er schläft ja gewiß sehr lang, man wird ihm den Brief mit dem Frühstück ins Zimmer bringen, schon morgen früh . . . Ja, so muß es geschehen! Sie kleidete sich rasch wieder an. Sie eilte über die Treppen hinunter – es war noch nicht spät, – rasch durch die Hauptstraße zum Bahnhof, den Brief in den gelben Kasten, und wieder zurück. Als sie in ihrem Zimmer stand, neben dem aufgewühlten Bett, und sie die Zeitung auf dem Boden liegen, die Kerze flackern sah, schien es ihr, als kehrte sie von einem seltsamen Abenteuer zurück; sie blieb noch lange auf dem Bettrand sitzen, durchs Fenster in die helle Sternennacht schauend, und war ganz erfüllt von unbestimmten, freundlichen Erwartungen. –

»Meine liebe Berta!

Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich über Deinen Brief gefreut habe. Denkst du denn wirklich noch an mich? Wie komisch, daß gerade ein Orden der Anlaß für sein muß, wieder einmal was von Dir zu hören! Na, immerhin, so hat wenigstens auch ein Orden einmal einen Sinn gehabt. Also danke herzlich für die Gratulation. Im übrigen, kommst du nicht einmal nach Wien? Es ist doch nicht gar so weit. Ich möcht' mich riesig freuen, Dich wiederzusehen. Also komm' bald! Von Herzen

Dein alter
Emil.«  

Berta saß beim Frühstück, ihr Bub neben ihr, plaudernd, ohne daß sie auf ihn hörte, und dieser Brief lag vor ihr auf dem Tisch. Es war wie ein Wunder. Vorgestern nachts hatte sie den ihren auf die Post gegeben, und heute früh war dieser schon da. Emil hatte keinen Tag, nein, keine Stunde vergehen lassen! Und so herzlich hatte er ihr geschrieben, als wären sie gestern von einander gegangen. Sie sah zum Fenster hinaus. Was für ein herrlicher Morgen! Draußen sangen die Vögel, und von den Hügeln kam der Duft des Frühsommers herangeweht. Berta las den Brief wieder und wieder. Dann nahm sie den Buben, hob ihn in die Höhe und küßte ihn ab. Sie war glücklich, wie seit lang nicht. Während sie sich ankleidete, überlegte sie. Heute war Donnerstag, Montag sollte sie wieder nach Wien, probieren; das wären vier lange Tage; gerade so lang wie von dem Tag an, da sie bei ihrem Schwager zu Mittag speiste, bis heute – und was da alles dazwischen lag! Nein, sie mußte Emil früher sehen. Sie konnte ja schon morgen hineinfahren und ein paar Tage in der Stadt bleiben. Was aber sollte sie hier den Leuten sagen? . . . Ah, sie wird schon eine Ausrede finden! – Das Wichtigere ist, in welcher Weise sie ihm antworten und wo sie ihn wiedersehen sollte . . . Sie kann ihm nicht schreiben: Ich komme und bitte dich, mir zu sagen, wo ich dich sehen kann . . . Am Ende antwortet er ihr: Komm zu mir . . . nein, nein, nein! Das beste ist, sie stellt ihn einer Tatsache gegenüber. Sie wird ihm schreiben: Ich komme an dem und dem Tage nach Wien und bin da und dort zu finden . . . Oh, wenn sie nur jemand hätte, mit dem sie über alles das reden könnte . . . Sie dachte an Frau Rupius – sie hatte eine wahre Sehnsucht, ihr das mitzuteilen. Zugleich hatte sie die Empfindung, als käme sie dadurch dieser Frau näher und könnte ihre Achtung gewinnen. Sie fühlte, daß sie viel mehr geworden, seit dieser Brief an sie gelangt war. Jetzt merkte sie auch, daß sie sich sehr gefürchtet hatte; Emil konnte ja ein ganz anderer geworden sein, eingebildet, unnatürlich, verwöhnt – wie eben berühmte Männer manchmal sein sollen. Aber von all dem war ja keine Spur; es war die gleiche, starklinige, rasche Schrift, der gleiche warme Ton, wie in jenen Briefen von früher. Und was er seither auch erlebt haben mochte – nun, hatte sie nicht auch vieles erlebt, und war jetzt nicht alles wie ausgelöscht? – Vor dem Fortgehen las sie Emils Brief noch einmal. Er wurde immer lebendiger, sie hörte den Tonfall der Worte, und jenes abschließende »Komm bald« rief nach ihr, wie in zärtlicher Sehnsucht. Sie steckte den Brief in ihr Mieder und erinnerte sich, daß sie dasselbe als junges Mädchen öfters mit seinen kleinen Zetteln getan, und daß sie die leise Berührung mit einem angenehmen Schauer erfüllt hatte.

Sie ging zuerst zu Mahlmanns, wo sie die Zwillinge unterrichtete. Sehr häufig taten ihr die Fingerübungen, die sie da anhören mußte, geradezu weh, und sie schlug die Kleinen ärgerlich auf die Hände, wenn sie danebengriffen. Heute war sie ohne jede Strenge. Als Frau Mahlmann ins Zimmer trat, dick und freundlich wie immer, und sich erkundigte, ob Berta zufrieden sei, lobte Berta die Kleinen, und wie in einer plötzlichen Erleuchtung setzte sie hinzu: »Nun werd' ich ihnen ein paar Tage freigeben können.«

»Frei? Wieso denn, liebe Frau Garlan?«

»Ja, Frau Mahlmann, es wird mir nichts anderes übrig bleiben. Denken Sie, wie ich neulich in Wien war, hat mich meine Cousine so dringend aufgefordert, doch einmal ein paar Tage bei ihr zu wohnen.«

»Freilich, freilich,« sagte Frau Mahlmann.

Berta wurde immer mutiger und log weiter mit einer Art von Vergnügen über ihre eigene Frechheit. »Ich wollte es mir eigentlich auf den Juni lassen. Aber da kommt heute ein Brief von ihr, ihr Mann verreist, sie ist so allein und gerade jetzt« – sie fühlte den Brief knistern, hatte eine unbeschreibliche Lust, ihn hervorzuziehen, unterließ es aber doch – »und ich denke, daß ich vielleicht die Gelegenheit benütze . . .«

»No freilich,« sagte Frau Mahlmann und faßte Berta bei beiden Händen, »wenn ich eine Cousine in Wien hätt', ich möcht' alle vierzehn Tag' acht Tag' bei ihr wohnen.«

Berta strahlte. Ihr war, als räumte eine unsichtbare Hand die Hindernisse aus dem Weg; alles ging so leicht. Nun ja, wem war sie schließlich Rechenschaft schuldig? Plötzlich aber durchzuckte sie die Befürchtung, ob ihr Schwager wirklich auch nach Wien wollte. Alles verwirrte sich wieder, Gefahren tauchten auf, und selbst unter dem gutmütigen Lächeln der Frau Mahlmann lauerte der Verdacht . . . Ah, sie mußte unbedingt Frau Rupius ins Vertrauen ziehen! Gleich nach der Lektion nahm sie den Weg zu ihr.

Erst als sie Frau Rupius in einer weißen Morgentoilette auf dem Sofa sitzen fand und den erstaunten Blick bemerkte, der sie empfing, fiel Berta das Sonderbare ihres frühen Besuches auf, und sie sagte mit erkünstelter Heiterkeit: »Guten Morgen! Früh komm' ich heut, nicht wahr?«

Frau Rupius blieb ernst, sie hatte nicht das Lächeln wie sonst. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen. Die Stunde gilt mir gleich.« Dann sah sie sie fragend an, und Berta wußte nicht, was sie sagen sollte; dabei ärgerte sie sich über die kindische Befangenheit, die sie dieser Frau gegenüber nicht los werden konnte. »Ich wollte Sie fragen,« sagte sie endlich, »wie Ihnen unser Ausflug bekommen ist.«

»Ganz gut,« sagte Frau Rupius etwas hart. Aber mit einmal veränderten sich ihre Züge, und sie setzte mit übergroßer Freundlichkeit hinzu: »Eigentlich wär' es an mir gewesen, Sie zu fragen. Ich bin ja diese Ausflüge gewohnt.« Sie schaute durchs Fenster, während sie das sagte, und Berta folgte unwillkürlich ihren Blicken, die auf die andere Seite des Marktplatzes wanderten, zu einem offenen Fenster mit Blumenstöcken. Es war ganz still, die Ruhe eines Sommertags über einer schlafenden Stadt. Berta hätte sich am liebsten neben Frau Rupius gesetzt, sich von ihr auf die Stirne küssen und segnen lassen; aber zugleich hatte sie Mitleid mit ihr. Alles das war ihr selbst rätselhaft. Wozu war sie nun eigentlich hierher gekommen? Was sollte sie ihr denn sagen? »Ich werde morgen nach Wien fahren, meinen Jugendgeliebten wiedersehen« . . .? Was ging das alles Frau Rupius an? Interessierte sie es denn auch nur im mindesten? Sie saß da, wie von irgend etwas Undurchdringlichem umgeben, man konnte nicht zu ihr. – Sie konnte nicht zu ihr, das war es. Gewiß gab es ein Wort, mit dem man sich den Zugang zu ihr eröffnen konnte, nur daß Berta es nicht kannte.

»Was macht denn Ihr Kleiner?« fragte Frau Rupius, ohne den Blick von den Blumenstöcken zu wenden.

»Es geht ihm gut wie immer; er ist sehr brav. Es ist ein unendlich gutes Kind.« Sie legte eine absichtliche Zärtlichkeit in dieses Wort, als wäre Frau Rupius vielleicht dadurch zu gewinnen.

»Ja, ja,« sagte diese, und im Ton lag etwa: es ist schon gut, darum hab' ich Sie nicht gefragt. Dann setzte sie hinzu: »Haben Sie ein verläßliches Kindermädchen?« Berta war einigermaßen erstaunt über diese Frage und erwiderte: »Mein Mädchen hat ja noch vielerlei anderes zu tun, aber ich kann mich nicht über sie beklagen; sie kocht auch sehr gut.«

Nach einem kurzen Schweigen sagte Frau Rupius ganz trocken: »So einen Buben zu haben, das muß ein großes Glück sein.«

»Es ist ja mein einziges,« sagte Berta überlaut. Es war eine Antwort, die sie schon oft gegeben, aber heute wußte sie, daß sie nicht ganz aufrichtig war. Sie fühlte das Blatt Papier ihre Haut berühren, und beinah erschreckt sah sie ein, daß sie es auch als Glück empfand, diesen Brief erhalten zu haben. Zugleich fiel ihr ein, daß die Frau, die ihr gegenübersaß, kein Kind und auch nicht die Aussicht hatte, eines zu bekommen, und so hätte Berta gern wieder zurückgenommen, was sie gesagt. Ja, sie war nah daran, nach einem Wort der Einschränkung zu suchen, aber als könnte Frau Rupius in ihre Seele schauen und keine Lüge dürfte vor ihr bestehen, sagte sie gleich: »Ihr einziges Glück? Sagen Sie: ein großes, das ist auch nicht wenig. Ich beneide Sie manchmal darum, obzwar ich eigentlich glaube, daß schon das Leben an und für sich Ihnen Freude macht.«

»Ich lebe ja so einsam, so . . .«

Anna lächelte. »Nun ja, ich habe es nicht so gemeint; ich meine: daß die Sonne scheint, daß wir jetzt so schönes Wetter haben, das macht Sie auch froh.«

»O ja, sehr!« erwiderte Berta mit Beflissenheit. »Ich bin in meiner Laune überhaupt von der Witterung abhängig. Wie das Gewitter vor ein paar Tagen war, da bin ich vollkommen niedergedrückt gewesen, und dann, als es vorbei war –«

Frau Rupius unterbrach sie. »Das ist ja bei jedem Menschen so.«

Berta wurde kleinlaut; sie fühlte es: für diese Frau war sie nicht klug genug, sie konnte immer nur so hin und her reden wie die anderen Frauen in der kleinen Stadt. Es war ihr, als hätte Frau Rupius jetzt eine Prüfung mit ihr veranstaltet, die sie nicht bestanden hatte, und mit einemmal bekam sie eine große Angst vor dem Wiedersehen mit Emil. Wie würde sie sich dem gegenüber anstellen? Wie war sie in diesem sechsjährigen engen Leben verschüchtert und hilflos geworden!

Frau Rupius stand auf. Der weiße Morgenrock wallte um sie, sie sah größer und schöner aus als sonst, und Berta mußte an eine Schauspielerin denken, die sie vor sehr langer Zeit auf der Bühne gesehen und die ganz ähnlich ausgeschaut hatte. Sie dachte: Wär' ich doch wie sie, dann wäre mir nicht bang! und zugleich fiel ihr ein, daß diese wunderschöne Frau mit einem kranken Mann verheiratet war. – Ob die Leute nicht doch recht hatten? Aber von hier aus konnte sie wieder nicht weiter; auf welche Weise die Leute recht haben sollten, konnte sie sich nicht vorstellen. Und in diesem Augenblick kam eine Ahnung über sie von der Schwere des Schicksals, das über diese Frau verhängt war, ob sie es nun trüge oder sich dagegen wehrte. Doch als hätte Anna wieder in den Gedanken Bertas gelesen und duldete nicht, daß sie in dieser Weise sich in ihr Vertrauen einschliche, löste sich plötzlich der unheimliche Ernst ihres Gesichts, und sie sagte harmlos: »Denken Sie, daß mein Mann jetzt noch schläft. Er hat die Gewohnheit angenommen, bis tief in die Nacht hinein wach zu bleiben, zu lesen und Stiche anzuschauen, und dann schläft er bis zum hellen Mittag. Im übrigen, das ist ganz Gewohnheitssache; als ich noch in Wien lebte, war ich eine unglaubliche Langschläferin.« Und nun begann sie von ihren Mädchenjahren zu plaudern, heiter und mit einer Zutraulichkeit, wie sie Berta nie früher an ihr bemerkt. Sie erzählte von ihrem Vater, der Offizier im Generalstab gewesen, von ihrer Mutter, die als ganz junge Frau gestorben war, von dem kleinen Haus mit Garten, in dem sie als Kind gespielt hatte. Jetzt erst erfuhr Berta, daß Frau Rupius ihren Mann schon als Knaben kennen gelernt, daß er mit den Seinen im angrenzenden Haus gewohnt und daß sie sich schon als Kinder verlobt hatten. Es war für Berta, als wenn die ganze Jugend dieser Frau wie sonnenbestrahlt auftauchte, eine Jugend voll Glück und voll Hoffnung, und es schien ihr, als hätte auch die Stimme der Frau Rupius einen frischeren Klang, da sie nun von den Reisen erzählte, die sie in früherer Zeit mit ihrem Manne unternommen. Berta ließ sie nur immer weiterreden und scheute sich, sie anzurufen, als wäre sie eine Mondsüchtige, die über Dachfirste wandelt. Aber während Frau Rupius von einer vergangenen Zeit sprach, als deren besondere Schönheit immer die Seligkeit des Geliebtwerdens durchschimmerte, begann es in Bertas Seele mitzubeben, von der Hoffnung eigenen Glücks, das sie noch nicht erlebt. Und während Frau Rupius von Fußwanderungen erzählte, – durch die Schweiz und Tirol – die sie einmal mit ihrem Gatten unternommen, sah Berta sich selbst an der Seite Emils auf gleichen Wegen wandeln, und eine so ungeheure Sehnsucht erfüllte sie, daß sie am liebsten gleich aufgestanden, nach Wien gefahren wäre, ihn suchen, in seine Arme stürzen, endlich einmal die Wonnen erleben, die ihr bisher versagt geblieben waren.

Ihre Gedanken irrten so weit, daß sie nicht bemerkte, wie Frau Rupius längst wieder schwieg, auf dem Sofa saß und mit starren Augen zu den Blumenstöcken des Hauses gegenüber sah. Die große Stille weckte Berta auf; das ganze Zimmer schien ihr wie erfüllt von etwas Geheimnisvollem, in dem Vergangenes und Zukünftiges sonderbar ineinander spielten. Sie fühlte einen unbegreiflichen Zusammenhang zwischen sich und dieser Frau. Sie stand auf, reichte ihr die Hand, und, als wäre es ganz selbstverständlich, küßten sich die beiden Frauen zum Abschied, wie alte Freundinnen. Bei der Türe sagte Berta: »Ich fahre morgen wieder nach Wien auf einige Tage.« Sie lächelte dabei wie eine Braut.

Von Frau Rupius ging sie zu ihrer Schwägerin. Ihr Neffe saß schon am Klavier und phantasierte sehr wild auf den Tasten; er tat, als bemerkte er ihr Eintreten nicht, und ging in Fingerübungen über, die er mit gemacht steifer Gelenkhaltung spielte.

»Wir werden heute vierhändig spielen,« sagte Berta und suchte den Band mit den Schubertschen Märschen hervor. Sie hörte sich selbst gar nicht zu und merkte kaum, wie ihr Neffe beim Pedalgreifen ihren Fuß berührte. Indes kam Elly herein und küßte die Tante. »Ja, richtig,« sagte der Neffe, »das hab' ich ganz vergessen.« Und, immer weiterspielend, näherte er seinen Mund der Wange Bertas.

Die Schwägerin trat ein, mit dem Schlüsselbund klappernd und tiefe Schwermut in dem blassen, verschwommenen Gesicht. »Ich habe die Brigitte entlassen,« sagte sie tonlos. »Es war nicht mehr auszuhalten.«

»Soll ich dir ein Mädchen aus Wien besorgen?« sagte Berta mit einer Leichtigkeit, über die sie selbst staunte. Und nun erzählte sie die Lüge von der Einladung der Cousine ein zweites Mal, mit noch größerer Sicherheit und bereits ein wenig ausgeschmückt. Die innere Freude, die sie selbst während ihrer Erzählung verspürte, steigerte zugleich ihren Mut. Selbst die Möglichkeit, daß ihr Schwager sich ihr anschließen könnte, schreckte sie nicht mehr. Auch fühlte sie, daß sie durch die Art, in der er sich ihr zu nähern pflegte, im Vorteil ihm gegenüber war.

»Wie lang denkst du denn in der Stadt zu bleiben?« fragte die Schwägerin.

»Zwei, drei Tage, länger gewiß nicht. Und weißt du, Montag hätt' ich jedenfalls hinein müssen – zur Schneiderin.«

Richard klimperte auf dem Piano, aber Elly stand, mit beiden Armen auf das Klavier gestützt, und sah ihre Tante mit beinahe angstvollen Blicken an. Berta rief unwillkürlich aus: »Was hast du denn?«

Elly fragte: »Warum denn?«

Berta sagte: »Du siehst mich so komisch an, als wenn du – ja, als wenn's dir nicht recht wäre, daß du zwei Tage keine Klavierstunde hast.«

»Nein,« erwiderte Elly und lächelte, »das ist es nicht. Aber . . . nein, ich kann's nicht sagen.«

»Was denn?« fragte Berta.

»Nein, bitte, ich kann's wirklich nicht sagen.« Sie umhalste die Tante wie flehend.

»Elly,« sagte die Mutter, »ich dulde nicht, daß du Geheimnisse hast.« Sie setzte sich nieder, als wenn sie aufs tiefste gekränkt und sehr ermüdet wäre.

»Nun, Elly,« sagte Berta, von einer unbestimmten Angst erfüllt, »wenn ich dich schön bitte . . .«

»Aber du darfst mich nicht auslachen, Tante.«

»Gewiß nicht.«

»Siehst du, Tante, schon das letztemal, wie du fort warst, hab' ich mich so gefürchtet, – ich weiß ja, es ist dumm . . . wegen . . . wegen der vielen Wagen in den Straßen . . .«

Berta atmete wie erleichtert auf und streichelte die Wangen Ellys. »Ich werde schon achtgeben, du kannst ganz ruhig sein.«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Ich fürchte,« sagte sie, »Elly wird sehr überspannt.«

Bevor Berta sich entfernte, wurde noch verabredet, daß sie zum Abendessen kommen sollte und daß sie ihren Kleinen während der Dauer ihrer Abwesenheit zu den Verwandten ins Haus geben sollte.

Nach Tisch setzte sich Berta an den Schreibtisch, las den Brief Emils noch einigemal und entwarf ihre Antwort.

 

»Mein lieber Emil!

Es ist sehr liebenswürdig von Dir, mir so bald zu antworten. Ich war ganz glücklich« – sie strich »ganz glücklich« wieder aus und setzte dafür »sehr erfreut, als ich Deine lieben Zeilen erhielt. Wie vieles hat sich verändert, seit wir uns nicht gesehen haben! Du bist seitdem ein berühmter Virtuose geworden, was für mich niemals einem Zweifel unterlag« – Sie hielt inne und strich den ganzen Satz wieder aus. »Auch ich teile Deinen Wunsch, mich bald wiederzusehen« . . . nein, das war ja ein Unsinn! Also: »Auch mir wäre es riesig angenehm, wenn ich Dich wieder einmal sprechen könnte.« – Jetzt fiel ihr etwas Vortreffliches ein, und sie schrieb mit vielem Vergnügen: »Es ist eigentlich sonderbar, daß wir uns so lange nicht begegnet sind, da ich gar nicht selten nach Wien komme, so zum Beispiel Ende dieser Woche.« . . . Jetzt ließ sie die Feder sinken und dachte nach. Sie war entschlossen, morgen Nachmittag nach Wien zu fahren, in einem Hotel abzusteigen und dort zu schlafen, um am nächsten Tag ganz frisch zu sein und schon ein paar Stunden Wiener Luft geatmet zu haben, ehe sie mit ihm zusammentraf. Nun galt es noch, den Ort festzustellen. Der war leicht gefunden. »Deinem freundlichen Wunsche gemäß teile ich Dir mit, daß ich Samstag vormittag um elf Uhr« . . . nein, das war nicht das rechte! Es war so geschäftsmäßig und doch wieder zu bereitwillig. Sie schrieb: »Willst Du Deine alte Freundin schon bei dieser Gelegenheit wiedersehen, so bemühe Dich am Samstag Vormittag elf Uhr ins kunsthistorische Museum zu den Niederländern.« Sie kam sich ziemlich großartig vor, als sie das niederschrieb, und alles Verdächtige schien damit weggewischt. Sie überlas ihr Konzept. Es erschien ihr etwas trocken, aber schließlich enthielt es das Notwendigste, und sie hatte sich nichts vergeben; alles andere würde sich im Museum finden, bei den Niederländern. Sie schrieb den Entwurf ins Reine, unterzeichnete, kuvertierte und eilte auf die sonnige Straße hinunter, um den Brief in den nächsten Kasten zu werfen. Wieder zu Hause, warf sie ihr Kleid ab, nahm einen Schlafrock um, setzte sich auf den Diwan und blätterte in einem Roman von Gerstäcker, den sie schon zehnmal gelesen. Aber sie vermochte kein Wort zu fassen. Anfangs versuchte sie, die Gedanken, die sie bedrängten, von sich abzuweisen, aber es half nichts. Sie schämte sich vor sich selbst, aber immer wieder träumte sie sich in Emils Armen. Warum denn nur? Daran hatte sie doch noch gar nicht gedacht! Nein . . . daran wird sie auch nie denken . . . sie ist keine solche Frau . . . Nein, sie kann nicht die Geliebte von jemandem werden – und nun gar diesmal . . . Ja, vielleicht, wenn sie noch einmal nach Wien kommt und wieder und wieder . . . nun ja, viel später – vielleicht. Und im übrigen: er wird es ja auch gar nicht wagen, davon zu reden, es nur anzudeuten . . . Aber es half nichts, sie konnte nichts anderes mehr denken. Immer zudringlicher kamen ihre Träume, und endlich gab sie den Kampf auf, lehnte träg in der Ecke des Diwans, ließ das heruntergeglittene Buch auf dem Boden liegen und schloß die Augen.

Als sie sich nach einer Stunde wieder erhob, schien ihr eine ganze Nacht vergangen zu sein, insbesondere der Besuch bei Frau Rupius lag weit zurück. Wieder wunderte sie sich über diese Regellosigkeit der Stunden; wahrhaftig, sie waren länger und kürzer, wie es ihnen beliebte. Sie kleidete sich an, um mit Fritz spazieren zu gehen. Sie war in der müd gleichgültigen Stimmung, wie sie nach ungewohntem Nachmittagsschlaf zu kommen pflegt, in der man kaum die Fähigkeit hat, sich ganz auf sich selbst zu besinnen, in der einem das Gewöhnliche seltsam, aber wie auf jemand anderen bezogen, vorkommt. Sie empfand es zum erstenmal als sonderbar, daß der Bub, den sie jetzt in sein Gewand steckte, ihr eigenes Kind war, das sie von einem empfangen, der längst begraben war, und das sie unter Schmerzen geboren. Irgend etwas in ihr sagte ihr, daß sie heut wieder einmal auf den Friedhof gehen müßte. Sie hatte aber nicht die Empfindung, als hätte sie ein Unrecht gutzumachen, sondern als müßte sie jemanden, dem sie sich ohne triftigen Grund entfremdet, höflicherweise wieder einmal besuchen. Sie wählte den Weg durch die Kastanienallee. Hier drückte die Hitze heute besonders schwer. Erst als sie in die Sonne trat, wehte ein leichter Hauch, und vom Friedhof her schien das Laub der Bäume durch leichtes Neigen sie zu begrüßen. Als sie mit dem Buben durch die Friedhoftür eintrat, kam es ihr kühl, ja erfrischend entgegen. In einer milden, beinah süßen Müdigkeit spazierte sie durch die große Mittelallee, ließ den Buben voranlaufen und kümmerte sich nicht, wie er hinter einem Grabstein ihrem Blick auf Sekunden entschwand, was sie sonst nie leiden mochte. Vor dem Grabe ihres Mannes blieb sie stehen, schaute aber nicht auf das Blumenbeet herunter, wie es sonst ihre Art war, sondern an dem Marmor vorbei, weg über die Mauer, in den blauen Himmel. Sie fühlte keine Träne im Auge, keine Rührung, kein Grauen; sie dachte eigentlich nicht daran, daß sie über Tote hingeschritten war, und daß hier unter ihr einer in Staub zerfiel, der sie einmal in den Armen gehalten hatte.

Plötzlich hörte sie Schritte hinter sich auf dem Kies, eilige, wie sie sie sonst an diesem Ort nicht zu hören gewohnt war, – beinah verletzt wandte sie sich um. Klingemann stand vor ihr, hielt seinen Strohhut, der durch ein Band an einem Rockknopf befestigt war, grüßend in der Hand und neigte sich tief vor Berta.

»Nein, was für ein sonderbarer Zufall,« sagte diese.

»Das eben nicht, gnädige Frau; ich sah Sie von der Straße aus, an Ihrer Art zu gehen hab' ich Sie erkannt.« Er sprach sehr laut, und Berta sagte fast unwillkürlich: »Sst!« Auf Klingemanns Antlitz erschien sofort ein höhnisches Lächeln, und er sagte zwischen den Zähnen: »Er wacht nicht auf.« Berta war über diese Bemerkung so entrüstet, daß sie gar nicht nach einer Antwort suchte, sondern sich wegwandte, nach Fritz rief und sich entfernen wollte. Aber Klingemann faßte ihre Hand und flüsterte, indem er zu Boden sah: »Bleiben Sie.« Berta machte die Augen weit auf; sie begriff das nicht. Plötzlich blickte Klingemann wieder vom Boden auf und bohrte seine Augen in die Bertas. Dann sagte er: »Ich liebe Sie nämlich!« Berta stieß einen leisen Schrei aus. Klingemann ließ ihre Hand los und setzte in ganz leichtem Gesprächston hinzu: »Das kommt Ihnen wohl etwas verwunderlich vor?«

»Es ist unerhört, es ist unerhört!« Sie wollte wieder gehen und rief: »Fritz!«

Klingemann sprach, jetzt in bittendem Tone: »Bleiben Sie! Wenn Sie mich jetzt allein lassen, Berta . . .«

Berta hatte ihre Besinnung wiedergefunden. Sie sagte heftig: »Nennen Sie mich nicht Berta! Wer hat Ihnen dazu das Recht gegeben? Ich habe keine Lust, weiter mit Ihnen zu reden . . . Und gar hier,« setzte sie hinzu mit einem Blick nach unten, der den Toten gleichsam um Entschuldigung bat. Indes war Fritz auch herzugekommen. Klingemann schien sehr enttäuscht. »Gnädige Frau,« sagte er und folgte Berta, die, den Kleinen an der Hand führend, sich langsam entfernte, »ich fühle mein Unrecht, ich hätte anders anfangen und erst am Schlusse einer wohlgesetzten Rede das sagen sollen, wodurch ich Sie nun erschreckt zu haben scheine.«

Berta sah ihn nicht an, sondern sagte, als wenn sie zu sich selbst spräche: »Ich hätte es nicht für möglich gehalten; ich dachte, ein gebildeter Mensch . . .« Sie waren an der Friedhofstür. Klingemann sah noch einmal zurück, und in seinem Blick lag das Bedauern, daß er seine Szene am Grabe nicht hatte zu Ende spielen können; aber, immer an der Seite Bertas, den Hut in der Hand und das Band, an dem er befestigt war, um den Finger drehend, sprach er weiter: »Ich kann nun nichts anderes tun, als wiederholen, daß ich Sie liebe, daß Sie mich in meinen Träumen verfolgen – mit einem Wort: Sie müssen mein werden.« Wieder blieb Berta wie entsetzt stehen.

»Sie werden diese Bemerkung vielleicht frech finden, aber nehmen wir die Dinge, wie sie sind: Sie . . .« er machte eine lange Pause – »sind allein, ich nicht minder –«

Berta starrte Klingemann ins Gesicht.

»Ich weiß, woran Sie denken,« sagte Klingemann. »Alles das hat nichts zu bedeuten, alles das ist im Augenblick aus, wo Sie es befehlen. Eine dunkle Ahnung sagt mir, daß wir zwei sehr gut füreinander passen, ja wenn mich nicht alles trügt, dürfte das Blut in Ihren Adern, gnädige Frau, nicht weniger heiß fließen, als . . .« Der Blick, der ihn jetzt aus Bertas Auge traf, war so erfüllt von Zorn und Ekel, daß Klingemann den Satz nicht vollenden konnte. Er begann daher einen andern. »Ach, was ist das eigentlich für ein Leben, das ich jetzt führe! Es ist eben schon sehr lange Zeit verflossen, seit ich von einer edlen Frau, wie Sie es sind, geliebt worden. Ich verstehe ja Ihr Zögern oder vielmehr Ihre Ablehnung. Zum Teufel noch einmal, es gehört schon ein bißchen Courage dazu, sich mit einem so verlotterten Kerl, wie ich einer bin . . . Obzwar es vielleicht nicht einmal so arg ist – Ah, wenn ich eine menschliche Seele, eine gütige, weibliche Seele« – er betonte »Seele« – »fände . . . Ja, gnädige Frau, mir war es so wenig an der Wiege gesungen als Ihnen, daß ich in einem solchen Nest verkümmern und versauern werde. Sie dürfen's mir nicht übelnehmen, wenn ich . . . wenn ich –« Die Worte begannen ihm zu versagen, seit er nahezu die Wahrheit sprach. Berta sah ihn an. Er kam ihr jetzt ein bißchen lächerlich, beinah bedauernswert und recht alt vor, und sie wunderte sich, daß dieser Mann noch den Mut hatte, nicht etwa um sie anzuhalten – nein, sogar einfach um ihre Gunst zu werben.

Und doch, zu ihrem eigenen Staunen, und zu ihrer Beschämung, überströmte es sie, auch aus diesen ungebührlichen Worten eines Menschen, der ihr lächerlich erschien, wie mit einer Welle von Verlangen; denn wie diese Worte schon verklungen waren, hörte sie sie im Geiste wieder – aber wie aus dem Mund eines anderen, der in Wien ihrer harrte; – und sie empfand, daß sie diesem nicht widerstehen könnte. Klingemann redete noch immer weiter, er sprach davon, daß sein Dasein ein verfehltes, aber der Rettung würdiges wäre; die Frauen hätten ihn auf dem Gewissen, und eine Frau müßte ihn wieder emporziehen. Schon als Student war er mit einer durchgegangen, und damit fing das Elend an. Er redete von seinen ungebändigten Sinnen, und Berta mußte lächeln; dabei schämte sie sich der Sachverständigkeit, die ihr selbst in diesem Lächeln zu liegen schien. Beim Haustor sagte Klingemann: »Ich werde heute Abend vor Ihrem Fenster auf und ab gehen. Werden Sie Klavier spielen?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich werd' es als Zeichen nehmen.« Damit ging er.

Am Abend saß sie wie so oft am Tisch von Schwager und Schwägerin, zwischen Richard und Elly. Man sprach von ihrer bevorstehenden Reise nach Wien, als handelte es sich tatsächlich um nichts anderes als um den Besuch bei der Cousine, um das Probieren bei der Schneiderin und um einige Besorgungen, welche sie für den Haushalt der Schwägerin zu übernehmen versprochen. Gegen Ende des Nachtmahls, während der Schwager seine Pfeife rauchte, Richard ihm aus der Zeitung vorlas, die Mutter strickte und Elly, ganz nah neben Berta gerückt, ihren Kinderkopf an ihre Brust lehnte, erschien sich Berta wie eine abgefeimte Lügnerin. Hier saß sie, die Witwe eines braven Mannes, im Familienkreise, der sich ihrer so treu angenommen, an der Seite eines jungen Mädchens, das wie zu einer älteren Freundin zu ihr aufblickte, sie, bisher selbst eine brave Frau, die ihr Leben anständig und in Arbeit hingebracht, nur für ihren kleinen Sohn gelebt hatte, – und war sie jetzt nicht im Begriff, alles das hinzuwerfen, diese trefflichen Leute zu belügen und sich in ein Abenteuer zu stürzen, dessen Ende sie nicht absehen konnte? Denn was war in den letzten Tagen aus ihr geworden, von welchen Träumen war sie verfolgt, wie schien ihr ganzes Dasein nur mehr dem einen Augenblick entgegenzustreben, da sie wieder in den Armen eines Mannes liegen durfte? Wenn sie nur daran dachte, überlief sie der unsagbare Schauer, unter dem sie sich willenlos, wie einer fremden Macht verfallen, vorkam. Und während die Worte, die Richard las, eintönig an ihr Ohr schlugen und ihre Finger mit den Locken Ellys spielten, lehnte sie sich ein letztes Mal auf, schwor sich zu, daß sie standhaft sein, daß sie nichts anderes wollte, als Emil wiedersehen, und daß sie, wie alle braven Frauen, die sie kannte, wie ihre längst verstorbene Mutter, wie ihre Cousine in Wien, wie Frau Mahlmann, wie Frau Martin, wie ihre Schwägerin und wie . . . ja, wie gewiß auch Frau Rupius nur dem angehören wollte, der sie zu seiner Gattin machte. Wie sie aber daran dachte, durchfuhr es sie wie ein Blitz: wenn er selbst . . . wenn Emil . . . Aber sie hatte Angst vor diesem Gedanken, sie wies ihn von sich. Nicht mit so kühnen Träumen durfte sie zu diesem Rendezvous fahren. Er, der große Künstler, und sie, eine arme Witwe mit einem Kind . . . Nein, nein! – Sie wird ihn noch einmal wiedersehen . . . ja, im Museum, bei den Niederländern . . . einmal und zugleich das letztemal, und sie wird es ihm auch sagen, daß sie nichts anderes wollte, als ihn noch einmal sehen. Mit einer lächelnden Genugtuung stellt sie sich sein etwas enttäuschtes Gesicht vor, und sie legt, wie zur Vorübung, ihr Gesicht in ernste Falten und weiß schon die Worte, die sie ihm sagen wird: O nein, Emil, wenn du das glaubst . . . Aber sie darf diese Worte nicht in allzu hartem Tone sagen, damit er nicht wie damals . . . vor zwölf Jahren! . . . schon nach dem ersten Versuch einhält; er soll sie ein zweites, er soll sie ein drittes Mal – ach Gott, er soll sie eben so lange bitten, bis sie nachgibt . . . Denn sie fühlt es, hier, inmitten aller dieser guten, anständigen, tugendhaften Leute, zu denen sie dann freilich nicht mehr zählen wird, – sie wird nachgeben, sobald er es verlangt. Sie fährt nur nach Wien, um seine Geliebte zu werden und nachher, wenn's sein muß, zu sterben.

Am anderen Nachmittag reiste Berta ab. Es war sehr heiß, die Sonne brannte auf die ledernen Sitze, Berta hatte das Fenster geöffnet und den gelben Vorhang vorgezogen, der aber immer im Luftzug hin- und herflatterte. Sie war allein. Aber sie dachte kaum an den Ort, an den sie fuhr, an den Menschen, den sie wiedersehen wollte, an das, was ihr bevorstehen mochte, – sondern nur an die seltsamen Worte, die sie eben, eine Stunde vor ihrer Abreise vernommen. Sie hätte sie gern vergessen, wenigstens für die nächsten Tage. Warum hatte sie nur diese paar Stunden zwischen Mittagessen und Abfahrt nicht zu Hause bleiben können? Welche Unruhe trieb sie, an dem glühend heißen Nachmittag aus ihrem Zimmer auf die Straße, auf den Markt, und hieß sie an der Wohnung Rupius' vorbeigehen? Da saß er auf dem Balkon, die Augen auf das strahlend weiße Pflaster gerichtet, und über die Knie, wie immer, den grauen Plaid gebreitet, dessen Enden zwischen den Gitterstäben des Balkons herabhingen; vor ihm das kleine Tischchen mit der Flasche Wasser und dem Glas. Als er Berta gewahrte, richteten seine Augen sich auf sie, als bäte er sie um etwas, und sie merkte, wie er sie durch eine leichte Kopfbewegung zu sich rief. Warum folgte sie ihm? Warum nahm sie es nicht einfach als Gruß, dankte und ging ihres Wegs? Wie sie aber, seinem Wink gehorchend, dem Haustor sich zuwandte, sah sie, wie ein Lächeln des Danks über seine Lippen glitt, und das gleiche fand sie noch auf seinem Antlitz, als sie durch das kühle, dunkel gehaltene Zimmer zu ihm auf den Balkon trat, seine entgegengestreckte Hand nahm und sich an die andere Seite des Tischchens ihm gegenüber setzte.

»Wie geht's Ihnen?« fragte sie.

Er erwiderte anfangs nichts, dann merkte sie an Bewegungen in seinem Gesicht, daß er reden wollte, aber es war, als könnte er kein Wort herausbringen; endlich stieß er hervor, die ersten Worte überlaut: »Sie will mich . . .« dann, als sei er selbst von dem beinahe schreienden Ton erschrocken, ganz leise: »verlassen. Meine Frau will mich verlassen.«

Berta sah unwillkürlich um sich.

Rupius hob die Hände wie beruhigend. »Sie hört uns nicht. Sie ist in ihrem Zimmer; sie schläft.«

Berta wurde verlegen, sie stammelte: »Woher wissen Sie . . .? Das ist ja nicht möglich!«

»Fortreisen will sie – fortreisen, auf einige Zeit, wie sie sagt . . . auf einige Zeit . . . verstehen Sie mich?«

»Nun ja, wahrscheinlich zu ihrem Bruder.«

»Auf immer will sie fort . . . auf immer! Natürlich wird sie mir nicht sagen: Leb' wohl, du wirst mich nie wiedersehen! Daher sagt sie: Ich möchte ein wenig reisen, ich brauche Erholung, ich will auf einige Wochen an einen See, möchte schwimmen, brauche Luftveränderung! Sie sagt mir natürlich nicht: Ich ertrag' es nicht länger, ich bin jung und blühend und gesund, und du bist lahm und wirst bald sterben, und mich graut vor deiner Krankheit und vor dem Ekelhaften, das noch kommen wird, eh es zu Ende ist. Darum sagt sie mir: Ich will nur auf einige Wochen fort, dann komm' ich wieder zurück, dann bleib' ich bei dir.«

Bertas schmerzliche Bewegtheit ging in ihrer Verlegenheit auf; sie konnte nichts erwidern, als: »Sie irren sich bestimmt.«

Rupius zog den Plaid, der herabgleiten wollte, hastig über die Knie; ihn schien zu frösteln. Während er weitersprach, zog er den Plaid immer höher hinauf und hielt ihn endlich mit beiden Händen vor die Brust gepreßt. »Ich hab' es kommen sehen, jahrelang hab' ich diesen Moment kommen sehen. Und denken Sie, was das für eine Existenz ist: einem solchen Moment entgegensehen und wehrlos sein und schweigen müssen! Warum sehen Sie mich so an?«

»O nein,« sagte Berta und blickte auf den Marktplatz hinab.

»Nun, ich bitte Sie um Entschuldigung, daß ich davon spreche. Ich hatte nicht die Absicht; aber als ich Sie vorbeigehen sah – nun, ich dank' Ihnen sehr, daß Sie mich anhören.«

»Aber bitte,« sagte Berta und streckte ihm unwillkürlich die Hand entgegen. Da er sie nicht bemerkte, ließ sie sie auf dem Tisch liegen.

»Nun ist es vorbei,« sagte Rupius. »Jetzt kommt die Einsamkeit und alles Furchtbare.«

»Aber hat Ihre Frau . . . sie liebt Sie doch! . . . Ich bin ganz überzeugt, Sie machen sich unnötige Sorgen. Und wär' es nicht das Einfachste, Herr Rupius, Sie bäten Ihre Frau, daß sie auf diese Reise verzichte?«

»Bitten . . .?« sagte Rupius fast hoheitsvoll. »Hab' ich überhaupt das Recht dazu? Diese ganzen sechs oder sieben Jahre waren nur eine Gnade, die sie mir erwiesen. Überlegen Sie gefälligst. In diesen ganzen sieben Jahren ist kein Wort der Klage über ihre Lippen gekommen, daß sie ihre Jugend verloren hat.«

»Sie hat Sie lieb,« sagte Berta mit Entschiedenheit, »und darauf kommt es an.«

Rupius sah sie lange an. »Ich weiß, was Sie sagen wollen und sich zu sagen nicht getrauen. Aber Ihr Mann, gnädige Frau, liegt tief im Grab, schläft nicht Nacht für Nacht an Ihrer Seite.« Er schaute auf mit einem Blick, der wie eine Verwünschung zum Himmel fuhr.

Die Zeit rückte vor; Berta dachte an ihren Zug. »Wann soll denn Ihre Frau reisen?«

»Darüber ist noch nicht gesprochen worden. – Aber ich halte Sie wohl auf?«

»Nein, gewiß nicht, Herr Rupius, nur . . . Hat es Ihnen Anna nicht gesagt? Ich fahre nämlich heute nach Wien.« Sie wurde glühend rot. Er sah sie wieder lange an. Es schien ihr, als wüßte er alles.

»Wann kommen Sie wieder?« fragte er trocken.

»In zwei bis drei Tagen.« Sie hätte ihm gern gesagt, daß er sich irrte, daß sie nicht zu einem Menschen reiste, den sie liebte, daß alle diese Dinge, um die er sich kränkte, etwas Schmutziges und Niedriges wären, worauf es den Frauen eigentlich gar nicht ankäme, – aber es war ihr nicht gegeben, dafür die rechten Worte zu finden.

»Wenn Sie in zwei bis drei Tagen wiederkommen, finden Sie meine Frau wohl noch hier. Also adieu und unterhalten Sie sich gut.«

Sie hatte gefühlt, wie sein Blick ihr folgte, während sie durch das dunkel verhängte Zimmer und über den Marktplatz ging. Und auch jetzt, im Kupee, fühlte sie diesen Blick, und immer noch hörte sie jene Worte klingen, in denen ihr das Bewußtsein eines ungeheuern Unglücks zu liegen schien, das sie bisher gar nicht verstanden. Das Peinvolle dieser Erinnerung erschien stärker als die Erwartung alles Freudigen, das ihr bevorstehen mochte, und je näher sie der großen Stadt kam, um so schwerer wurde ihr ums Herz. Während sie an den einsamen Abend dachte, der heute vor ihr lag, war ihr, als führe sie in die Fremde, ins Ungewisse, ohne Hoffnung. Der Brief, den sie noch immer im Mieder trug, hatte seinen Zauber verloren, er war nichts als ein knisterndes Stück beschriebenes Papier, dessen Ecken einzureißen begannen. Sie versuchte sich das Aussehen Emils vorzustellen. Gesichter, die eine leichte Ähnlichkeit mit dem seinen hatten, tauchten auf, manchmal glaubte sie schon das rechte zu halten, doch verschwamm es gleich. Sie begann zu zweifeln, ob sie recht getan, schon heute zu reisen. Warum hatte sie nicht wenigstens bis Montag gewartet? So aber mußte sie sich's eingestehen: sie fuhr nach Wien, zu einem Rendezvous mit einem jungen Mann, den sie seit zehn Jahren nicht mehr gesprochen und der vielleicht eine ganz andere erwartete, als die ihm morgen entgegenkam. Ja, das war es, was sie unruhig machte; jetzt wußte sie's. Dieser Brief, der ihrer zarten Haut schon ein bißchen weh tat, war an die zwanzigjährige Berta gerichtet, denn Emil konnte ja nicht wissen, wie sie jetzt aussah. Und wenn sie auch selbst sich sagen mußte, daß ihr Antlitz die Linien ihrer Mädchenjahre und daß ihre Gestalt, nur in größerer Fülle, die Umrisse ihrer Jugend bewahrt hatte, würde er nicht trotz alledem sehen, was ein Jahrzehnt an ihr verändert, wohl auch zerstört hatte, ohne daß sie selbst es gemerkt?

Klosterneuburg. Viele helle Stimmen, das Geräusch von rasch laufenden Schritten drang an ihr Ohr. Sie sah hinaus. Eine Menge von Schuljungen drängte heran, stieg mit Lachen und Geschrei in die Waggons. Jetzt mußte Berta daran denken, wie ihre Brüder als Kinder von Landpartien nach Hause gekommen waren, und plötzlich stand ihr das blaugemalte Zimmer vor Augen, in dem die Buben damals geschlafen hatten. Es lief wie ein Schauer über sie, als ihr bewußt ward, wie alles Vergangene in die Winde gestreut war, wie die Menschen, denen sie das Dasein verdankt, gestorben, die, mit denen sie jahrelang unter einem Dach gewohnt, verschollen, wie Beziehungen gelöst waren, die für die Dauer gegründet schienen. Wie unverläßlich, wie sterblich war alles! Und er . . . er hatte ihr geschrieben, als wenn in diesen zehn Jahren sich nichts verändert hätte, als wenn dazwischen nicht Begräbnisse, Geburten, Schmerzen, Krankheiten, Sorgen und – für ihn wenigstens – soviel Glück und Ruhm gelegen wäre. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Wie eine Verwirrung über soviel Unbegreifliches kam es über sie. Und selbst das Sausen des Zuges, der sie da mittrug zu Erlebnissen, die sie nicht kannte, schien ihr ein Gesang von merkwürdiger Traurigkeit. Sie dachte an die Zeit zurück, die noch gar nicht ferne war, die kaum Tage hinter ihr lag, in der sie ruhig und zufrieden gewesen und ihr Dasein ohne Wünsche, ohne Bedauern und ohne Staunen hingenommen. Wie war das nur alles über sie gekommen? Sie faßte es nicht.

Immer schneller schien der Zug seinem Ziele zuzueilen. Schon stieg der Dunst der großen Stadt wie aus der Tiefe empor. Das Herz begann ihr zu klopfen. Es war ihr, als werde sie erwartet, von irgend etwas Unbestimmtem, das sie nicht hätte nennen können, von irgend etwas Hundertarmigem, das bereit war, sie zu umfassen; jedes Haus, an dem sie vorüberfuhr, wußte, daß sie kam, die Abendsonne auf den Dächern glänzte ihr entgegen, und als der Zug jetzt in die Halle einfuhr, fühlte sie sich mit einemmal geborgen. Jetzt erst empfand sie, daß sie in Wien, in ihrem Wien war, in der Stadt ihrer Jugend, ihrer Träume, in der Heimat! Hatte sie denn bisher gar nicht daran gedacht? Sie kam nicht vom Hause, – nein, jetzt war sie zu Hause angelangt. Der Lärm auf dem Bahnhof erfüllte sie mit Wohlbehagen, das Gewühl der Wagen und Menschen freute sie, alles Traurige war von ihr abgefallen. – Hier stand sie, Berta Garlan, jung und hübsch, an einem warmen Maiabend in Wien, am Franz-Josefs-Bahnhof, frei, niemandem Rechenschaft schuldig, und morgen früh wird sie den Einzigen wiedersehen, den sie je geliebt, – den Geliebten, der sie gerufen hat.

In einem kleinen Hotel nahe dem Bahnhof stieg sie ab. Sie hatte sich vorgenommen, eines von den weniger vornehmen zu wählen, einerseits aus Sparsamkeit, dann aus einer gewissen Scheu vor eleganten Kellnern und Portiers. Sie bekam ein Zimmer im dritten Stock angewiesen, mit einem Fenster auf die Gasse, das Stubenmädchen schloß es, als die Fremde eintrat, brachte frisches Wasser, der Hausknecht stellte ihren Koffer neben den Ofen, und der Kellner legte ihr den Meldzettel vor, den Berta sogleich und sicher mit dem Stolz des guten Gewissens ausfüllte.

Ein Gefühl von äußerer Freiheit, das sie lang nicht gekannt, umfing sie; nichts von den täglichen kleinen Sorgen des Haushaltes, keine Verpflichtung, mit Verwandten und Bekannten zu reden; heute Abend hätte sie tun können, was sie wollte. Als sie umgekleidet war, öffnete sie das Fenster. Sie hatte schon die Kerzen anzünden müssen, aber draußen war es noch nicht ganz dunkel. Sie stützte die Ellbogen aufs Fensterbrett und blickte hinunter. Wieder erinnerte sie sich ihrer Kinderzeit, da sie oft abends zum Fenster hinuntergeschaut, manchmal mit einem ihrer Brüder, der den Arm um ihre Schultern geschlungen hatte. Sie dachte jetzt auch ihrer Eltern, mit so lebhafter Rührung, daß ihr die Tränen nahe waren. Unter brannten schon die Laternen. Nun mußte sie doch irgend etwas unternehmen. Morgen um diese Zeit, fiel ihr ein . . . Sie konnte sich's nicht vorstellen. In diesem Augenblick fuhr eben ein Fiaker unten vorbei, in dem ein Herr mit einer Dame saß. Wenn es nach ihrem Wunsch ginge, so müßten sie morgen zusammen aufs Land fahren – ja, das wäre das Schönste. Irgendwo draußen in einem stillen Gartenrestaurant, auf dem Tisch ein Windlicht, und er mit ihr Hand in Hand, wie ein junges verliebtes Paar, und dann wieder zurück, – und dann . . . . Nein, sie wollte lieber nicht weiter denken! Wo mag er jetzt sein? Ist er jetzt allein? Oder spricht er jetzt eben mit jemandem? Und mit wem? Mit einem Mann – mit einer Frau? Mit einem Mädchen? Im übrigen, was geht sie das an? Vorläufig geht sie das gar nichts an. So wenig es ihn kümmert, daß Herr Klingemann ihr gestern ein Liebesgeständnis gemacht hat, daß ihr Neffe, der freche Bub, sie zuweilen küßt, und daß sie für Herrn Rupius eine große Verehrung hegt. Morgen wird sie ihn schon fragen – ja. Über all diese Dinge muß sie Gewißheit haben, ehe sie . . . . . nun, ehe sie mit ihm abends aufs Land fährt.

Fort also – aber wohin? An der Türe blieb sie unschlüssig stehen. Sie konnte nichts anderes tun, als ein bißchen spazieren gehen und dann nachtmahlen . . . . aber wo? – Eine Dame allein. . . . Nein, sie wird hier auf ihrem Zimmer speisen und früh zu Bette gehen, um morgen gut ausgeschlafen, frisch, jung und hübsch zu sein. Sie sperrte ab und begab sich auf die Straße.

Sie wandte sich der innern Stadt zu. Sie ging sehr rasch, denn es war ihr unangenehm, abends allein zu gehen. Bald war sie auf dem Ring und ging an der Universität vorbei bis zum Rathaus. Aber das ziellose Herumlaufen machte ihr gar kein Vergnügen. Sie empfand Langweile und Hunger, setzte sich in einen Pferdebahnwagen und fuhr zurück. Sie hatte keine rechte Lust, ihr Zimmer aufzusuchen. Schon von der Straße aus hatte sie gesehen, daß der Speisesaal des Hotels kaum erleuchtet und offenbar leer war. Dort speiste sie zu Nacht, wurde gleich müde und schläfrig, ging mit Mühe die drei Treppen auf ihr Zimmer hinauf, und während sie sich, auf dem Bett sitzend, die Schuhe aufschnürte, hörte sie es von einem nahen Kirchturm zehn Uhr schlagen.

Als sie in der Frühe erwachte, eilte sie vor allem zum Fenster und zog die Rouleaux auf, mit einer großen Sehnsucht, das Licht des Tages und die Stadt zu sehen. Es war ein sonniger Morgen und die Luft so frisch als wäre sie, wie aus tausend Quellen, von den Wäldern und Hügeln in die Gassen der Stadt herabgeflossen. Auf Berta wirkte die Schönheit des Morgens wie ein gutes Zeichen; sie wunderte sich über die sonderbare, dumpfe Art, in der sie den gestrigen Abend verbracht, – als hätte sie gar nicht recht gewußt, warum sie nach Wien gekommen. Sie fühlte, was sie so froh stimmte: die Gewißheit, nicht mehr durch den Schlaf einer ganzen Nacht von der ersehnten Stunde getrennt zu sein. Mit einemmal verstand sie gar nicht mehr, daß sie neulich schon in Wien gewesen, ohne nur den Versuch zu wagen, Emil zu sehen. Ja, endlich wunderte sie sich, daß sie diese Möglichkeit wochen-, monate-, vielleicht jahrelang grundlos hinausgeschoben. Daß sie in dieser ganzen Zeit kaum an ihn gedacht hatte, fiel ihr anfangs nicht ein, aber als ihr das zu Bewußtsein kam, staunte sie darüber am meisten.

Nun waren nur mehr vier Stunden zu überstehen, und dann sah sie ihn wieder. Sie legte sich nochmals ins Bett, lag zuerst mit offenen Augen da und flüsterte vor sich hin, als wollte sie sich an dem Wort berauschen: Komm bald! Sie hörte ihn selbst das Wort sprechen, nicht mehr fern, – nein, so als wenn er mit ihr im gleichen Räume wäre, seine Lippen hauchten es an den ihren: Komm bald! sagte er, aber es hieß: Sei mein! sei mein! Und sie öffnete ihre Arme, als müßte sie sich vorbereiten, wie man einen Geliebten ans Herz drückt, und sie sagte: Ich liebe dich! und hauchte einen Kuß in die Luft.

Endlich erhob sie sich und kleidete sich an. Sie hatte diesmal ein einfaches graues Kleid in englischem Schnitt mitgenommen, das ihr nach allgemeinem Ausspruch sehr gut stand, und war mit sich ganz zufrieden, als sie ihre Toilette beendigt hatte. Sie sah wohl nicht aus wie eine vornehme Dame aus Wien, aber doch auch nicht wie eine vornehme Dame aus der Provinz; am ehesten, schien ihr, wie eine Gouvernante in einem gräflichen oder fürstlichen Hause. Ja, in der Tat, sie hatte etwas Fräuleinhaftes; niemand hätte sie für eine Frau, für die Mutter eines fünfjährigen Knaben gehalten. Freilich dachte sie mit einem leichten Seufzer, sie hatte immer eher gelebt wie ein junges Mädchen. Aber darum war ihr heut auch zumut wie einer Braut.

Neun Uhr. Noch zwei lange Stunden. Was sollte sie bis dahin tun? Sie ließ sich Kaffee bringen, setzte sich an den Tisch, schlürfte langsam die Tasse aus. Es hatte keinen Sinn, länger zu Haus zu bleiben. Lieber gleich hinaus ins Freie.

Sie spazierte eine Weile in den Gassen der Vorstadt herum und empfand das Streichen der Luft um ihre Wangen wie ein besonderes Vergnügen. Was mochte jetzt ihr Bub machen? Wahrscheinlich spielte Elly mit ihm. Berta schlug den Weg nach dem Volksgarten ein; sie freute sich darauf, in den Alleen spazieren zu gehen, in denen sie vor vielen Jahren als Kind gespielt. Durch das Tor gegenüber dem Burgtheater betrat sie den Garten. Um diese frühe Stunde war er spärlich besucht. Kinder spielten auf dem Kies, auf den Bänken saßen Bonnen und Kindermädchen, ganz kleine Mädchen liefen über die Stufen des Theseus-Tempels und unter seinen Säulengängen herum. In den schattigen Alleen ergingen sich meist ältere Leute; junge Männer, die aus großen Heften zu studieren schienen, Damen, die in Büchern lasen, hatten unter kühlen Bäumen Platz genommen. Berta setzte sich auf eine Bank und sah zwei kleinen Mädchen zu, die über eine Schnur sprangen, wie sie es als Kind – ihr schien es, ganz an der gleichen Stelle – so oft getan. Sanfter Wind strich durch das Laub, von weitem hörte sie das Rufen und Lachen von Kindern, die Fangen spielten; das kam immer näher; jetzt liefen sie alle an ihr vorbei. Ein junger Herr in einem langen Gehrock ging langsam an ihr vorüber und wandte sich am Ende der Allee noch einmal nach ihr um, was sie angenehm berührte. Dann kam ein sehr junges Paar vorbei, sie mit einer Notenrolle in der Hand, nett, aber etwas auffallend angezogen, er glattrasiert, mit lichtem Sommeranzug und Zylinder. Berta erschien sich sehr erfahren, da sie in ihm einen angehenden Schauspieler, in ihr eine Musikschülerin mit Sicherheit zu erkennen glaubte. Es war sehr behaglich, hier zu sitzen, nichts zu tun zu haben, allein zu sein und die Menschen so an sich vorbeigehen, laufen, spielen zu lassen. Ja, das wäre schön, in Wien leben und machen können, was man will. Nun, wer weiß, wie sich alles fügen, was die nächste Stunde bringen, wie heut Abend der Ausblick ins Dasein vor ihr liegen wird. Was zwingt sie denn eigentlich, in der entsetzlichen, kleinen Stadt zu leben? So wie sie sich dort durch Lektionen ihr Einkommen verbessert, so könnte sie's doch auch hier tun. Ja, warum nicht? Hier werden die Lektionen auch besser bezahlt, und . . . Ah, was für ein Einfall! . . . Wenn er ihr zu Hilfe käme, wenn er, der berühmte Musiker, sie empfähle? Von ihm brauchte es doch gewiß nur ein Wort. Wenn sie mit ihm darüber spräche? Und wäre es nicht auch sehr vorteilhaft im Hinblick auf ihren Buben? In wenig Jahren muß er auf ein Gymnasium, und die sind hier doch gewiß besser als daheim. Nein, es ist gar nicht möglich, daß sie ihr ganzes Leben in der kleinen Stadt verbringt, – in absehbarer Zeit muß sie nach Wien! Ja, auch wenn sie sich hier einschränken muß, und – und . . . Vergeblich versucht sie die kühnen Gedanken zurückzudrängen, die nun herangestürmt kommen . . . Wenn sie Emil gefällt, wenn er sie wieder . . . wenn er sie noch immer liebt . . . wenn er sie zur Frau begehrt –? Wenn sie nur ein wenig klug ist, wenn sie sich nichts vergibt, wenn sie es versteht, ihn zu fesseln – Sie schämt sich ein wenig ihrer Schlauheit . . . aber ist es denn so schlimm, daß sie daran denkt; da sie ihn ja liebt? Da sie nie einen andern geliebt hat, als ihn? Und gibt ihr nicht der ganze Ton seines Briefs ein Recht, daran zu denken? Und wie ihr jetzt einfällt, daß sie ihm, dem diese Hoffnungen zustreben, in einigen Minuten gegenübertreten soll, flimmert es ihr vor den Augen. Sie steht auf, sie schwankt beinah. Dort am Ausgang des Gartens gegen den Burgplatz sieht sie das junge Paar verschwinden, das früher an ihr vorübergegangen ist; sie nimmt den gleichen Weg. Drüben sieht sie die Kuppel des Museums ragen und glänzen. Sie will langsam gehen, um nicht allzu erregt oder gar atemlos zu erscheinen, wenn er sie erblickt. Noch einmal durchschießt es sie wie eine Furcht: – wenn er nicht kommt? Aber wie es immer sei: sie wird diesmal Wien nicht verlassen, ohne ihn gesehen zu haben. Ob es nicht sogar besser wäre, wenn er heute nicht hinkäme? Sie ist jetzt so verwirrt . . . wenn sie irgend etwas Dummes, Ungeschicktes sagte . . .? Vom nächsten Augenblick hängt so viel ab – ihre ganze Zukunft vielleicht . . . Das Museum liegt vor ihr. Nun über die Stufen, durch den Eingang, und sie steht in der großen, kühlen Vorhalle, sieht die mächtige Treppe vor sich, und dort, wo sie sich nach rechts und links scheidet, das ungeheure Marmorstandbild des Theseus, der den Minotauros erschlägt. Langsam steigt sie hinauf, blickt um sich, wird ruhiger. Die Pracht ringsum nimmt sie gefangen. Sie schaut in die Höhe, zu den Galerieen, die im Innern der Kuppel mit goldenen Geländern laufen, – sie hält inne. Hier eine Tür, darüber in goldenen Lettern: Niederländische Schule. Jetzt zuckt ein Stich durch ihr Herz. Die Flucht der Säle liegt vor ihr. Sie sieht da und dort Leute vor den Bildern stehen. Sie tritt in den ersten Saal, betrachtet das erste Bild, das gleich am Eingang hängt, mit Aufmerksamkeit. Die Mappe des Herrn Rupius fällt ihr ein. Und jetzt hört sie die Worte: »Guten Morgen, Berta.«

 


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