Arthur Schnitzler
Frau Berta Garlan
Arthur Schnitzler

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Langsam schritt sie den Hügel hinab; nicht über die breite Fahrstraße, die in Windungen zur Stadt hinunterlief, sondern über den schmalen Weg zwischen den Weingeländen. Ihr kleiner Bub, den sie an der Hand hielt, ging immer einen Schritt voraus, denn für beide war nicht Platz genug. Die späte Nachmittagssonne strahlte ihr entgegen und hatte noch so viel Kraft, daß Berta ihren dunklen Strohhut ein wenig tiefer in die Stirn drücken und den Blick senken mußte. Auf den Hängen, an die die kleine Stadt sich lehnte, flimmerte es wie ein goldener Nebel, die Dächer unten glänzten, und der Fluß, der dort, außerhalb der Stadt, zwischen den Auen hervorkam, zog leuchtend ins Land. Die Luft war ganz regungslos, und die Kühle des Abends schien noch fern.

Berta blieb einen Augenblick stehen und sah um sich. Sie war ganz allein mit ihrem Buben, und eine merkwürdige Stille war um sie. Auch oben auf dem Friedhof hatte sie heute niemanden begegnet, nicht einmal die alte Frau, die sonst die Blumen begoß, den Gräberschmuck in gutem Stand erhielt, und mit der sie manchmal plauderte. Es kam Berta vor, als wäre sie schon recht lang vom Hause fort und hätte schon lang mit niemandem gesprochen. Jetzt schlug es von einem Kirchturme sechs Uhr. So war noch kaum eine Stunde verflossen, seit sie ihre Wohnung verlassen, und noch kürzere Zeit, daß sie auf der Straße mit der schönen Frau Rupius geplaudert. Und selbst die wenigen Minuten, die verstrichen waren, seit sie am Grabe ihres Mannes gestanden, schienen ihr schon weit zu liegen. –

»Mama!« hörte sie plötzlich ihren Buben rufen. Er hatte sich von ihrer Hand losgemacht und war vorausgelaufen. »Mama, ich kann schneller gehen als du!«

»So warte doch, Fritz!« rief Berta. »Du wirst die Mama doch nicht allein lassen.« Sie folgte ihm und nahm ihn wieder bei der Hand.

»Gehen wir schon nach Hause?« fragte der Kleine.

»Ja, Fritz, wir wollen uns zum offenen Fenster setzen, so lang, bis es ganz dunkel wird.«

Bald waren sie am Fuß des Hügels angelangt und spazierten nun unter den schattigen Kastanien, neben der staubweißen Reichsstraße, dem Städtchen zu. Auch hier trafen sie nur wenige Menschen. Auf der Fahrstraße kamen ihnen ein paar Lastwagen entgegen, die Kutscher trotteten daneben, die Peitsche in der Hand, zwei Radfahrer kamen aus der Stadt und fuhren landeinwärts, Staubwolken hinter sich lassend. Unwillkürlich blieb Berta stehen, sah den beiden nach, bis sie beinahe ganz verschwunden waren.

Indes war der Kleine auf eine Bank geklettert. »Schau, Mama, was für eine Kunst ich kann!« rief er aus und machte sich bereit, herunterzuspringen. Die Mutter faßte ihn bei den Armen und hob ihn sorgsam herab. Dann setzte sie sich.

»Bist du müd?« fragte der Kleine.

»Ja,« sagte sie und wunderte sich selbst, daß es so war. Denn jetzt erst fühlte sie, daß die schwüle Luft sie bis zur Schläfrigkeit ermattet hatte. Sie erinnerte sich übrigens nicht, jemals Mitte Mai so warme Tage erlebt zu haben.

Von der Bank aus, auf der sie saß, konnte sie den Weg zurück verfolgen, den sie gekommen war, wie er zwischen den Weingeländen in der Sonne hinauflief, bis zu der hell glänzenden Friedhofmauer. Es war ein Spaziergang, den sie zwei- oder dreimal in der Woche zu machen pflegte. Schon lange hatte dieser Weg für sie nichts anderes zu bedeuten. Wenn sie dort oben auf dem gepflegten Kies, zwischen den Kreuzen und Steinen umherwandelte, und am Grab ihres Mannes ein stilles Gebet verrichtete oder auch ein paar Feldblumen hinlegte, die sie auf dem Hinweg selbst gepflückt, empfand sie kaum mehr die leiseste schmerzliche Bewegung. Freilich waren nun drei Jahre hingegangen, seit sie ihn begraben, ebenso viele als sie mit ihm zusammen verlebt hatte. –

Ihre Augen schlossen sich. Sie gedachte ihrer Ankunft in der Stadt, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, die noch in Wien stattgefunden. Sie hatten eine kleine Reise gemacht, wie sie sich eben ein Mann in geringen Verhältnissen gestatten konnte, der eine Frau ganz ohne Mitgift geheiratet. Sie waren mit dem Schiff von Wien aus stromaufwärts gefahren und hatten in einem kleinen Ort in der Wachau, ganz nahe ihrem künftigen Bestimmungsort, ein paar Tage zugebracht. Berta erinnerte sich noch deutlich des kleinen Gasthofs, in dem sie gewohnt, des Gärtchens am Fluß, wo sie nach Sonnenuntergang zu sitzen pflegten, an diese ruhigen und etwas langweiligen Abende, die so völlig anders waren, als sie sich, ein ganz junges Mädchen, die Abende einer jungen Ehe vorgestellt hatte. Freilich, sie hatte sich bescheiden müssen.

Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und stand ganz allein, als Victor Mathias Garlan um sie anhielt. Ihre Eltern waren eben gestorben. Der eine ihrer Brüder war schon lang vorher nach Amerika gegangen, um dort als Kaufmann sein Glück zu versuchen, der jüngere war beim Theater, hatte eine Schauspielerin zur Frau genommen und spielte auf deutschen Bühnen dritten Rangs Komödie. Zu ihren Verwandten stand sie kaum in Beziehung, nur im Haus einer Cousine, die einen Advokaten geheiratet, verkehrte sie zuweilen. Aber auch diese Freundschaft war mit jedem Jahr kühler geworden, da die junge Frau mit einer Art Inbrunst sich ausschließlich ihrem Mann und ihren Kindern widmete und wenig Interesse mehr für die unverheiratete Freundin übrig hatte.

Herr Garlan war ein entfernter Verwandter von Bertas verstorbener Mutter; er hatte in früheren Jahren viel im Hause verkehrt und dem jungen Mädchen in etwas unbeholfener Weise den Hof gemacht. Damals hatte Berta keinen Grund, ihn zu ermutigen, das Leben und das Glück zeigte sich ihr in anderen Gestalten. Sie war jung und hübsch, die Verhältnisse im Hause ihrer Eltern waren behaglich, wenn auch nicht reich, und ihr lag die Hoffnung näher, als eine große Klaviervirtuosin, vielleicht als Gattin eines Künstlers, in der Welt umherzuziehen denn im Frieden der Familie eine bescheidene Existenz zu führen. Aber diese Hoffnung verblaßte bald, da ihr Vater eines Tags in einer Aufwallung seiner bürgerlichen Anschauungen ihr den weiteren Besuch des Konservatoriums nicht mehr gestattete, wodurch sowohl ihre Aussichten auf eine Künstlerlaufbahn, als ihre Beziehungen zu dem jungen Violinspieler, der seither so berühmt geworden war, ein Ende nahmen. Dann verflossen ein paar Jahre in einer sonderbaren Dumpfheit; anfangs mochte sie wohl etwas wie Enttäuschung oder gar Schmerz empfunden haben, aber das hatte gewiß nicht lange gedauert. Später waren Bewerber gekommen, ein junger Arzt und ein Kaufmann, die sie beide nicht hatte nehmen wollen; den Arzt, weil er zu häßlich, den Kaufmann, weil er in einer Provinzstadt ansässig war. Die Eltern redeten ihr auch nicht lebhaft zu. Aber als Berta sechsundzwanzig alt wurde und der Vater durch einen Bankerott sein kleines Vermögen verlor, mußte sie verspätete Vorwürfe hören wegen aller möglichen Dinge, die sie selbst zu vergessen anfing: wegen ihrer früheren künstlerischen Pläne, wegen jener längstvergangenen aussichtslosen Geschichte mit dem Violinspieler, wegen ihrer ablehnenden Haltung gegen den häßlichen Arzt und den Kaufmann aus der Provinz. Zu dieser Zeit war Victor Mathias Garlan nicht mehr in Wien ansässig; die Versicherungsgesellschaft, in der er seit seinem zwanzigsten Jahr als Beamter tätig war, hatte ihn vor zwei Jahren, auf seinen eigenen Wunsch, als Leiter einer neugegründeten Filiale nach der kleinen Stadt an der Donau versetzt, wo sein verheirateter Bruder als Weinhändler lebte. Als er damals in Bertas Hause Abschied genommen, hatte er in einem längeren Gespräch, das auf Berta einen gewissen Eindruck übte, erwähnt, daß er besonders deshalb um seine Versetzung nach der kleinen Stadt angesucht, weil er sich alt werden fühlte, nicht mehr zu heiraten gedächte und doch gern eine Art Heim bei Leuten hätte, die ihm naheständen. Die Eltern hatten damals über seine Auffassung, die etwas hypochondrisch schien, gescherzt; denn Garlan war kaum vierzig Jahre alt. Berta aber fand sie sehr vernünftig, denn ihr war Garlan nie eigentlich jung vorgekommen. Im Lauf der nächsten Jahre kam Victor Mathias Garlan öfters geschäftlich nach Wien und versäumte niemals, die Familie aufzusuchen. Dann pflegte Berta nach dem Nachtmahl Klavier vorzuspielen, und er hörte ihr mit einer gewissen Andacht zu, sprach wohl auch von seinem kleinen Neffen und von seiner kleinen Nichte, die beide sehr musikalisch wären und der er oft von Fräulein Berta erzählte als der vorzüglichsten Klavierspielerin, die er je gehört. Es schien sonderbar, und die Mutter konnte gelegentlich ihre Bemerkungen darüber nicht unterdrücken, daß Herr Garlan seit seiner schüchternen Werbung in früherer Zeit auch nicht mehr die leiseste Anspielung auf Vergangenes oder gar auf eine mögliche Zukunft gewagt hatte, und zu den anderen Vorwürfen, die Berta zu hören bekam, gesellte sich nun auch der, daß sie Herrn Garlan mit zu großer Gleichgültigkeit, ja mit Kälte begegnete. Berta schüttelte nur den Kopf, denn sie selbst dachte auch damals noch nicht daran, den etwas unbeholfenen Mann, der vor der Zeit alterte, zu heiraten. Nach dem plötzlichen Tod der Mutter, welcher erfolgte, während der Vater schon durch viele Monate krank war, erschien Herr Garlan wieder in Wien und teilte mit, daß er einen vierwöchigen Urlaub genommen, den einzigen, um den er jemals angesucht hatte. Berta merkte wohl, daß er nur gekommen war, um ihr in dieser schweren Zeit beizustehen. Und als nun auch der Vater eine Woche nach dem Begräbnis der Mutter starb, erwies sich Garlan als treuer Freund und zudem von einer Energie, die sie ihm nie zugetraut hatte. Er veranlaßte seine Schwägerin, auf einige Wochen nach Wien zu kommen, um der Verwaisten in der ersten Zeit beizustehen und sie ein wenig zu zerstreuen; und er ordnete die geschäftlichen Angelegenheiten geschickt und schnell. Er war von einer Herzlichkeit, die Berta in diesen schlimmen Tagen sehr wohl tat, und als er sie nach Ablauf seines Urlaubs fragte, ob sie seine Frau werden wollte, nahm sie seinen Antrag mit dem Gefühl der tiefsten Dankbarkeit an. Sie wußte wohl, daß sie sonst genötigt gewesen wäre, sich nach wenigen Monaten vielleicht durch Lektionen ihr Brot selbst zu verdienen, überdies hatte sie Garlan so schätzen gelernt und sich so sehr an ihn gewöhnt, daß sie ihm in der Stunde, da er sie in die Kirche zur Trauung führte und im Wagen zum erstenmal fragte, ob sie ihn lieb hätte, ein aufrichtiges Ja zur Antwort geben konnte.

Schon in den ersten Tagen merkte sie freilich selbst, daß sie keine Liebe für ihn fühlte. Seine Zärtlichkeit ließ sie sich eben gefallen, anfangs mit einem gewissen Staunen der Enttäuschung, später mit Gleichgültigkeit, und, erst als sie sich Mutter fühlte, mit dem guten Willen, sie zu erwidern. An das stille Wesen in der kleinen Stadt hatte sie sich rasch gewöhnt, um so leichter, als sie auch in Wien zurückgezogen gelebt hatte. In der Familie ihres Mannes fühlte sie sich recht wohl; der Schwager schien ihr ganz liebenswürdig und lustig, wenn auch mitunter derb; seine Frau war gutmütig und zuweilen etwas traurig. Der Neffe – zur Zeit, als Berta in die Stadt kam, zählte er dreizehn Jahre – war hübsch und keck; die Nichte ein sehr stilles Kind von neun Jahren, mit großen, erstaunten Augen, war Berta von allem Anfang an am herzlichsten zugetan. Als Berta ihren Buben bekam, wurde er von den Kindern als willkommenes Spielzeug begrüßt, und in den nächsten zwei Jahren fühlte sie sich vollkommen glücklich. Ja, sie glaubte zuweilen, daß ihr Schicksal sich gar nicht günstiger hätte gestalten können. Der Lärm, die Unruhe der großen Stadt erschienen ihr in der Erinnerung wie etwas Unangenehmes, beinahe Gefährliches, und als sie einmal mit ihrem Mann hineingefahren war, um einige Einkäufe zu machen und der Zufall es fügte, daß es ein ärgerlicher, schmutziger Regentag war, schwur sie sich zu, niemals wieder diese langweilige und überflüssige Reise von drei Stunden zu unternehmen.

Ihr Mann starb plötzlich, an einem Frühlingsmorgen, drei Jahre, nachdem er sie geheiratet. Ihre Bestürzung war groß. Sie fühlte, daß sie diese Möglichkeit überhaupt nie im Auge gehabt hatte. Sie blieb in recht beschränkten Verhältnissen zurück. Aber bald wurde von der Schwägerin eine liebenswürdige Art gefunden, die Witwe zu unterstützen, ohne daß es wie ein Almosen ausgesehen hätte. Man bat sie, die Kinder im Klavierspiel weiter auszubilden und verschaffte ihr auch in einigen anderen Häusern der Stadt Lektionen. Es war ein stilles Übereinkommen, daß man immer so tat, als wenn sie diese Lektionen nur übernommen, um sich ein wenig zu zerstreuen, und daß man sie dafür bezahlte, weil man sich ja ihre Zeit und Mühe unmöglich schenken lassen konnte. Was sie nun auf diese Weise verdiente, genügte vollkommen, um ihre Einnahmen in einer für ihre Lebensweise ausreichenden Art zu ergänzen. So war sie denn, nachdem erst der Schmerz und dann die Traurigkeit über das Hinscheiden ihres Mannes überwunden war, wieder ganz zufrieden und heiter. Ihr bisheriges Leben war nicht so verflossen, daß sie jetzt irgend etwas zu entbehren glaubte. In ihren Gedanken an die Zukunft beschäftigte sie kaum je anderes als das allmähliche Heranwachsen ihres Kleinen, und nur selten flog ihr die Möglichkeit einer neuen Heirat durch den Sinn, immer ganz flüchtig, da sich noch niemand gezeigt, an den sie in dieser Hinsicht ernstlich denken mochte. Regungen von jugendlichen Wünschen, die ihr zuweilen in wachen Morgenstunden kamen, verflogen immer wieder im gleichmäßigen Lauf der Tage. Erst seit Beginn dieses Frühlings fühlte sie sich weniger behaglich als bisher; sie schlief nicht mehr so ruhig und traumlos als früher, sie hatte zuweilen eine Empfindung der Langeweile, die sie nie gekannt, und das Sonderbarste war eine plötzliche Ermattung, die sie manchmal bei hellichtem Tage überkam, in der sie das Kreisen des Blutes in ihrem ganzen Körper zu verspüren meinte, und die sie an eine ganz frühe Epoche ihrer Mädchenzeit erinnerte. Anfangs war ihr das Gefühl in aller seiner Bekanntheit doch so fremd, daß ihr war, als hätte ihr einmal eine ihrer Freundinnen davon erzählt. Erst als es sich häufiger wiederholte, besann sie sich, daß sie selbst es schon früher erlebt hatte.

Sie schauerte zusammen, und es war ihr, als erwachte sie aus einem Schlaf. Sie öffnete die Augen. Die Luft schien ihr wie in einer schwirrenden Bewegung. Die Straße lag bereits zur Hälfte im Schatten, die Friedhofmauer oben auf dem Hügel glänzte nicht mehr; Berta bewegte ihren Kopf einigemal rasch hin und her, wie um sich ganz zu erwecken. Ihr schien, als wäre ein ganzer Tag, eine ganze Nacht verflossen, seit sie sich hierher auf die Bank gesetzt hatte. Wie ging das nur zu, daß ihr die Zeit so auseinanderrann? Sie sah um sich. Wo war denn ihr Bub? Da hinter ihr spielte er mit den Kindern des Doktor Friedrich, das Kindermädchen kniete neben ihnen auf dem Boden und half ihnen aus Sand eine Burg bauen. Die Allee war nun belebter als früher. Berta kannte beinah alle Leute, jeden Tag sah sie dieselben. Da sie aber die meisten selten sprach, zogen sie wie Schatten an ihr vorbei; hier kam der Sattler Peter Nowak mit seiner Frau, auf seinem kleinen Landwagen fuhr Doktor Rellinger vorbei und grüßte sie, dann kamen die beiden Töchter des Hausbesitzers Wendelein, und dort radelte der Leutnant Baier mit seiner Braut langsam die Straße ins Land hinaus. Dann schien wieder alle Bewegung auf kurze Zeit vorbei, und Berta hörte nichts als das Lachen der Kinder hinter sich. Jetzt sah sie wieder jemanden von der Stadt her langsam herankommen, den sie schon von weitem erkannte. Es war Herr Klingemann, der sie in der letzten Zeit öfter als früher anzureden pflegte. Vor zwölf oder fünfzehn Jahren war er aus Wien in die kleine Stadt übergesiedelt; es hieß, daß er früher Arzt gewesen und seine Praxis wegen irgendeines Kunstfehlers oder eines noch böseren Versehens hatte aufgeben müssen. Andere behaupteten, daß er es überhaupt nie bis zum Doktor gebracht und schließlich als alter Student das Studieren aufgegeben. Er selbst gab sich als Philosophen aus, den das Leben in der Großstadt, nachdem er es bis zum Überdruß genossen, angewidert und der deshalb in die kleine Stadt gezogen war, wo er mit den Resten seines Vermögens anständig leben konnte. Er war jetzt kaum älter als fünfundvierzig, hatte noch seine guten Tage, sah aber meistens recht verwittert und unangenehm aus. Schon von weitem lächelte er der jungen Witwe zu, beeilte seine Schritte aber nicht und blieb endlich mit einem spöttischen Kopfnicken, das sein Gruß gegenüber jedermann war, vor ihr stehen.

»Guten Abend, schöne Frau,« sagte er.

Sie erwiderte seinen Gruß. Es war heute einer jener Tage, wo er wieder auf Jugend und Eleganz Anspruch zu machen schien. Er war in einen dunkelgrauen Gehrock wie eingeschnürt und hatte auf dem Kopf einen schmalkrempigen, braunen Strohhut mit schwarzem Band, dazu trug er eine ganz kleine rote Krawatte, die etwas schief saß. Nachdem er eine Weile geschwiegen und seinen leicht angegrauten blonden Schnurrbart hinauf und hinunter gezogen hatte, sagte er: »Sie kommen wohl von dort oben, gnädige Frau?« Er wies mit der einen Hand, ohne seinen Kopf oder nur seine Augen zu wenden, gewissermaßen verächtlich über seine Schulter nach rückwärts in die Gegend des Friedhofs. Herr Klingemann galt in der ganzen Stadt als ein Mann, dem nichts heilig war; und Berta mußte, als er so vor ihr stand, an allerlei denken, was man von ihm erzählte. Es war bekannt, daß er ein Verhältnis mit seiner Köchin hatte, die er übrigens »Wirtschafterin« nannte, zugleich ein anderes mit einer Tabaktrafikantin, welche ihn mit einem Hauptmann des hier stationierten Regiments betrog, was er Berta mit stolzer Trauer erzählt hatte; außerdem gab es einige heiratsfähige Mädchen in der Stadt, die für ihn ein gewisses Interesse hegten. Spielte man darauf an, so pflegte er höhnische Bemerkungen über das Institut der Ehe im allgemeinen zu machen, was ihm zwar von manchem übel vermerkt wurde, im ganzen aber doch den Respekt vor ihm erhöhte.

»Ich habe einen kleinen Spaziergang gemacht,« sagte Berta.

»Allein?«

»Oh nein, mit dem Buben.«

»Richtig, da ist er ja! Grüß dich Gott, kleiner Sterblicher.« Er sah, während er das sagte, über den Kleinen hinweg. »Darf man sich auf einen Augenblick zu Ihnen setzen, Frau Berta?« Er sprach ihren Namen spöttisch aus und setzte sich, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Ich habe Sie heute Vormittag Klavier spielen gehört,« fuhr er fort. »Wissen Sie, was ich für einen Eindruck habe? Daß Ihnen die Musik alles ersetzen muß.« Er wiederholte: »Alles« und sah sie dabei an, daß sie rot wurde. Dann fuhr er fort: »Wie schade, daß ich so selten Gelegenheit habe, Sie zu hören! Wenn ich nicht zufällig an Ihrem offenen Fenster vorbeigehe, während Sie spielen –«

Berta merkte, daß er immer näher an sie herangerückt war und mit seinem Arm den ihren berührte. Sie rückte unwillkürlich weg. Plötzlich fühlte sie sich von rückwärts umschlungen, ihren Kopf über die Lehne der Bank zurückgebeugt, eine Hand über ihre Augen gehalten. Einen Moment lang hatte sie die Empfindung, als fühlte sie die Hand Klingemanns über den Augenlidern und rief: »Aber sind Sie denn verrückt!« Die lachende Stimme eines Knaben hinter ihr erwiderte: »Nein, wie komisch das ist, wenn du zu mir ›Sie‹ sagst, Tante Berta!«

»So laß mich doch wenigstens die Augen aufmachen, Richard!« sagte Berta und versuchte, die Hände von ihren Augen zu entfernen; dann wandte sie sich um und fragte: »Kommst du vom Hause?«

»Ja, Tante, da hab ich dir auch die Zeitung mitgebracht.« Berta nahm ihm das Blatt aus der Hand und begann darin zu lesen. Indes stand Klingemann auf und wandte sich zu Richard. »Haben Sie schon Ihre Aufgaben gemacht?« fragte er ihn.

»Wir haben überhaupt keine Aufgaben mehr, Herr Klingemann, denn im Juli haben wir Matura.«

»Also wirklich, das nächste Jahr sind Sie schon Student?«

»Das nächste Jahr? Im Herbst!« Dabei schwippte er mit den Fingern über die Zeitung der Tante.

»Was willst du denn, ungezogener Bursch?«

»Du, Tante, wirst du mich in Wien besuchen?«

»Ja, könnt mir einfallen! Ich werd froh sein, wenn ich dich los bin.«

»Da kommt Herr Rupius,« sagte Richard.

Berta ließ das Blatt sinken. Sie sah in die Richtung, welche Richards Blick wies. In der Allee von der Stadt her kam in einem Rollstuhl, den ein Dienstmädchen vor sich herschob, ein Mann herangefahren; er hatte den Kopf unbedeckt, der weiche Hut lag auf seinem Schoß, von dem ein Plaid bis über seine Füße herabfiel. Die Stirn war hoch, die Haare schlicht und blond, an der Stirngrenze ergraut, die Augen eigentümlich groß. Als er an der Bank vorüberfuhr, neigte er nur leicht den Kopf, ohne zu lächeln. Berta wußte, daß er sicher hätte anhalten lassen, wenn sie allein gewesen wäre; er sah auch nur sie an, als er vorbeifuhr, und sein Gruß schien nur ihr zu gelten. Ihr war, als hätten seine Augen noch nie so ernst geblickt als heut. Das machte sie sehr traurig, denn sie hatte ein tiefes Mitleid mit dem gelähmten Mann.

Als er vorüber war, sagte Klingemann: »Armer Teufel! Und das Weibchen ist wohl wieder einmal in Wien?«

»Nein,« sagte Berta beinah erzürnt, »ich hab sie vor einer Stunde gesprochen.« Klingemann schwieg, denn er fühlte, daß weitere Bemerkungen über die geheimnisvollen Reisen der Frau Rupius sich mit seinem eigenen Ruf als freidenkender Mensch nicht vertragen hätten.

»Wird er wirklich nie wieder gehen können?« fragte Richard.

»Nie,« sagte Berta. Sie wußte es, weil es ihr Herr Rupius selbst einmal gesagt hatte, als sie ihn besuchte, während seine Frau in Wien war. Er kam ihr in diesem Augenblick besonders elend vor, denn gerade als Herr Rupius an ihnen vorbeigerollt wurde, war sie beim Lesen der Zeitung auf den Namen von einem gestoßen, den sie für einen Glücklichen hielt. Unwillkürlich las sie noch einmal. »Unser berühmter Landsmann Emil Lindbach ist von seiner Kunstreise durch Spanien und Frankreich, die ihm große Triumphe brachte, vor wenigen Tagen wieder nach Wien zurückgekehrt. In Madrid hatte der ausgezeichnete Künstler die Ehre, vor der Königin zu spielen. Am 24. dieses wird Herr Lindbach bei dem Wohltätigkeitskonzert zugunsten der durch die letzte Überschwemmung so schwer geschädigten Einwohner von Vorarlberg mitwirken, für das sich trotz der vorgerückten Saison lebhaftes Interesse im Publikum kundgibt.«

Emil Lindbach. Es kostete ihr eine gewisse Mühe, sich vorzustellen, daß es derselbe war, den sie – wann? – vor zwölf Jahren geliebt hatte. Vor zwölf Jahren. Sie fühlte, wie es ihr heiß in die Stirne stieg. Es war ihr, als müßte sie sich ihres allmählichen Älterwerdens schämen.

Die Sonne war ganz hinunter. Berta nahm den Knaben bei der Hand, empfahl sich von den anderen und ging langsam heimwärts. Das Haus, in dessen erstem Stock sie wohnte, lag in einer neuen Straße; von ihren Fenstern hatte sie den Blick auf die Hügel, und ihr gegenüber lagen unbebaute Plätze. Berta übergab ihren Kleinen dem Mädchen, setzte sich ans Fenster, nahm die Zeitung zur Hand und las weiter. Es war ihre Gewohnheit geblieben, zuerst die Kunstnachrichten durchzuschauen; die stammte noch aus ihrer frühesten Kinderzeit, als sie mit ihrem Bruder, dem jetzigen Schauspieler, auf die vierte Galerie ins Burgtheater zu gehen pflegte. Dieses Interesse wuchs natürlich, als sie das Konservatorium besuchte; sie kannte damals die Namen der kleinsten Schauspieler, Sänger, Pianisten, und als später der häufige Theaterbesuch, der Unterricht im Konservatorium und ihre eigenen künstlerischen Bestrebungen ein Ende nahmen, blieb doch eine Art von Anteilnahme an dieser fröhlichen Welt in ihr zurück, die etwas vom Heimweh an sich hatte. Schon in der letzten Zeit ihres Wiener Aufenthalts hatten ja alle diese Dinge kaum mehr etwas für sie zu bedeuten, wie wenig erst, seit sie in der kleinen Stadt wohnte, wo gelegentliche Dilettantenkonzerte das Höchste waren, was an künstlerischen Genüssen geboten wurde. Im ersten Jahre ihres Hierseins hatte sie bei einem solchen Abend im Gasthof »zum roten Apfel« mitgewirkt, das heißt, sie hatte mit einer anderen jungen Dame der Stadt zwei Märsche von Schubert vierhändig gespielt. Ihre Aufregung war damals so groß gewesen, daß sie sich verschwor, je wieder öffentlich aufzutreten, und recht froh war, ihre Karriere aufgegeben zu haben. Dazu mußte man ganz anders angelegt sein, so etwa wie Emil Lindbach. – Ja, der war dazu geboren! Das hatte sie erkannt in dem Augenblick, da sie ihn das erstemal bei einer Schülerproduktion aufs Podium treten gesehen, an der Art, wie er sich unbefangen das Haar zurückgestrichen, die Leute unten mit spöttischer Überlegenheit angesehen und sich gleich für den ersten Beifall mit einer Ruhe bedankt hatte, als war er das längst gewohnt. Sonderbar! wenn sie an Emil Lindbach dachte, sah sie ihn noch immer so jünglingshaft, ja knabenhaft vor sich, als er zu der Zeit aussah, da sie einander gekannt und geliebt hatten. Und doch hatte sie vor ganz kurzem, als sie mit Schwager und Schwägerin einmal abends im Kaffeehaus war, in einem illustrierten Blatt eine Photographie von ihm gesehen, auf der er sehr verändert aussah. Er trug die Haare nicht mehr lang, der schwarze Schnurrbart schien mit dem Eisen nach abwärts gedreht, er hatte einen auffallend hohen Kragen und eine nach der Mode geschlungene Krawatte. Die Schwägerin hatte gefunden, er sehe aus wie ein polnischer Graf.

Berta nahm die Zeitung wieder vor und wollte weiterlesen, aber es war schon zu dunkel. Sie stand auf, rief nach dem Mädchen. Die Lampe wurde hereingebracht, der Tisch gedeckt. Berta aß mit dem Kleinen zur Nacht, während das Fenster offen stehen blieb. Sie empfand heute für ihr Kind eine noch größere Zärtlichkeit als sonst, auch dachte sie an die Zeit zurück, in der ihr Mann noch gelebt hatte, und allerlei Erinnerungen flogen ihr durch den Sinn. Während sie Fritz zu Bette brachte, weilte ihr Blick recht lang auf dem Porträt ihres verstorbenen Mannes, das in einem dunkelbraunen, ovalen Holzrahmen über ihrem Bette hing. Er hatte sich in ganzer Figur aufnehmen lassen, im Frack, mit weißer Krawatte, den Zylinder in der Hand, zum Gedächtnis an den Hochzeitstag. Berta wußte in diesem Augenblick ganz bestimmt, daß Herr Klingemann beim Anblick dieses Porträts spöttisch gelächelt hätte.

Später setzte sie sich ans Klavier, wie sie es nicht selten vor dem Schlafengehen zu tun pflegte, nicht eben aus Begeisterung für die Musik, sondern um nicht gar zu früh zu Bett zu gehen. Sie spielte dann meistens die wenigen Sachen, die sie noch auswendig kannte, Mazurken von Chopin, irgendeinen Satz aus einer Beethovenschen Sonate, die Kreisleriana, zuweilen phantasierte sie auch, brachte es aber nie über eine Folge von Akkorden, und zwar waren es immer dieselben. Heute fing sie gleich damit an, ihre Akkorde zu greifen, etwas leiser als sonst, dann versuchte sie Modulationen, und als sie einen letzten Dreiklang recht lang durch das Pedal nachklingen ließ – die Hände hatte sie schon in den Schoß gelegt – empfand sie gelinde Freude über die Töne, welche sie gleichsam umschwebten. Jetzt fiel ihr die Bemerkung Klingemanns ein: »Die Musik ersetzt Ihnen alles.« Wahrhaftig, er hatte nicht ganz unrecht gehabt. Die Musik mußte ihr mindestens viel ersetzen. Aber alles? – Oh nein.

Was war das? Schritte gegenüber . . . Nun, das war nichts Merkwürdiges. – Aber regelmäßige, langsame Schritte, als wenn jemand auf und ab ginge. Sie stand auf und trat zum Fenster. Es war ganz dunkel, und sie konnte den Mann, der da drüben spazierte, nicht gleich erkennen, aber sie wußte: es war Klingemann. Was für ein Einfall? Sollte er ihr eine Fensterpromenade machen?

»Guten Abend, Frau Berta,« sagte er von drüben, und sie sah, wie er im Dunkel den Hut lüftete.

Sie antwortete, beinah befangen: »Guten Abend.«

»Sie haben sehr schön gespielt, gnädige Frau.«

Sie erwiderte nichts als ein leises »So?«, das er vielleicht gar nicht hörte.

Er blieb eine Sekunde stehen, dann sagte er: »Gute Nacht, schlafen Sie wohl, Frau Berta.« Er sagte das Wort »schlafen« mit einer Betonung, die nahezu unverschämt war. Sie dachte: nun geht er nach Hause zu seiner Köchin. Dann fiel ihr plötzlich etwas ein, was sie schon sehr lang wußte, woran sie aber, seit sie es erfahren, nicht mehr gedacht: in seinem Zimmer sollte ein Bild hängen, das stets von einem kleinen Vorhang überdeckt war und das eine laszive Szene vorstellte. Wer hatte ihr das nur erzählt? – Ach ja, Frau Rupius, im vorigen Herbst einmal während eines Spazierganges an der Donau, und die hatte es wieder von jemand anderm erfahren – von wem nur? Was für ein widerwärtiger Mensch! Berta kam sich ein bißchen verworfen vor, daß sie an ihn und an alle diese Dinge dachte. Sie blieb noch am Fenster stehen. Ihr war, als hätte sie einen schweren Tag hinter sich. Sie dachte nach, was ihr denn eigentlich begegnet sei, und sie wunderte sich, daß es schließlich doch nur ein Tag gewesen war wie viele hundert vor ihm und viele, viele, die noch kommen würden.

 

Man stand vom Tische auf. Es war eines jener kleinen Sonntagsdiners gewesen, das der Weinhändler Garlan gelegentlich seinen Bekannten zu geben pflegte. Der Herr des Hauses näherte sich seiner Schwägerin und faßte sie um die Taille, was zu seinen Nachmittagsgewohnheiten gehörte.

Sie wußte schon, was er wollte. Wenn er Leute eingeladen hatte, mußte Berta nach dem Essen Klavier spielen, manchmal auch vierhändig mit Richard. Das leitete in angenehmer Weise zum Kartenspielen über oder klang auch anmutig hinein. Sie setzte sich an das Instrument. Indes wurde die Tür zum Herrenzimmer aufgetan; Garlan, Doktor Friedrich und Herr Martin setzten sich an einen kleinen, grünen Tisch und begannen zu spielen. Die Gattinnen der drei Herren blieben im Speisezimmer, und Frau Martin zündete sich eine Zigarette an, setzte sich auf den Divan und schlug die Beine übereinander. Sie trug Sonntags immer Ballschuhe und schwarze Seidenstrümpfe. Frau Doktor Friedrich sah wie gebannt auf die Füße der Frau Martin. Richard war den Herren gefolgt, er interessierte sich schon fürs Tarockspiel. Elly stützte ihren Ellbogen auf die Klavierdecke und wartete, bis Berta zu spielen begänne. Die Frau des Hauses ging aus und ein, sie hatte immer in der Küche Aufträge zu geben und klapperte mit dem Schlüsselbund, den sie in der Hand hielt. Als sie jetzt hereinkam, machte ihr Frau Doktor Friedrich mit den Augen ein Zeichen, das bedeuten sollte: Schauen Sie doch an, wie Frau Martin dasitzt!

Alles das sah Berta heute sozusagen deutlicher, als oftmals vorher, so etwa wie man Dinge sieht, wenn man Fieber hat. Noch immer hatte sie keine Taste berührt. Da wandte sich der Schwager zu ihr und sah sie mit einem Blick an, der sie an ihre Pflicht erinnern sollte. Sie begann zu spielen, einen Marsch von Schubert, mit sehr starkem Anschlag. Der Schwager drehte sich wieder nach ihr um und sagte: »Leiser.«

»Das bleibt eine Spezialität dieses Hauses,« sagte Doktor Friedrich, »Tarock mit Musikbegleitung.«

»Sozusagen Lieder ohne Worte,« setzte Herr Martin hinzu. Die anderen lachten. Garlan wandte sich wieder nach Berta um, denn sie hatte plötzlich aufgehört zu spielen.

»Ich habe ein bißchen Kopfweh,« sagte sie, wie wenn sie sich entschuldigen müßte, es war ihr aber gleich darauf, als hätte sie sich etwas vergeben, und sie setzte hinzu: »Ich habe keine Lust.«

Alle sahen auf sie, denn jeder fühlte, daß etwas nicht ganz Gewöhnliches geschehen sei. Frau Garlan sagte: »Willst du dich nicht zu uns setzen, Berta?« Elly hatte eine dunkle Empfindung, ihrer Tante gegenüber zärtlich sein zu müssen, und hing sich in ihren Arm. So standen die beiden nebeneinander, ans Klavier gelehnt.

»Gehen Sie heute Abend auch in den ›Roten Apfel‹?« fragte Frau Martin die Hausfrau.

»Nein, ich glaube nicht.«

»Ah!« rief Herr Garlan herein, »da wir heut Nachmittag auf unser Konzert verzichten mußten, wollen wir doch abends – Sie spielen auf, Herr Doktor.«

»Militärkonzert?« fragte Frau Doktor Friedrich.

Die Frau des Hauses war aufgestanden und fragte ihren Gatten: »Ist es dein Ernst, daß wir am Abend in den ›Roten Apfel‹ gehen?«

»Gewiß.«

»Soso,« sagte die Frau mit einer gewissen Betroffenheit und ging gleich wieder in die Küche, um neue Dispositionen zu treffen.

»Richard,« sagte Garlan zu seinem Sohn, »du könntest rasch hinüberlaufen, dem Wirt sagen, er möge uns einen Tisch im Garten reservieren lassen.«

Richard eilte hinaus und stieß in der Tür mit seiner Mutter zusammen, die eben hereinkam und wie erschöpft auf dem Divan niedersank. »Sie glauben nicht,« sagte sie zu Frau Doktor Friedrich, »wie schwer es ist, der Brigitta die einfachsten Dinge zu erklären.«

Frau Martin hatte sich neben ihren Mann gesetzt, während sie zugleich einen Blick auf Berta warf, die noch immer stumm mit Elly am Klavier stand. Sie strich ihrem Gatten durchs Haar, legte ihre Hand auf seine Knie und schien ein Bedürfnis zu haben, den Leuten zu zeigen, wie glücklich sie wäre. Plötzlich sprach Elly zu ihrer Tante:

»Ich will dir was sagen, Tante, wir wollen ein bißchen in den Garten hinunter, im Freien wird das Kopfweh schon vergehen.«

Sie gingen die Treppe hinab, in den Hof, in dessen Mitte man eine kleine Wiese angelegt hatte. Rückwärts schloß ihn eine Mauer ab, an der einiges Gesträuch und zwei junge Bäume standen, die vorläufig noch durch Stöcke gestützt werden mußten. Über die Mauer hinweg sah man nur den blauen Himmel; an stürmischen Tagen hörte man hier das Rauschen des nahen Flusses. Mit der Lehne gegen die Mauer standen zwei Gartenstühle aus Stroh und vor ihnen ein kleines Tischchen; auf diese Stühle setzten sich Berta und Elly, ohne daß Elly den Arm der Tante losließ.

»Willst du mir nicht sagen, Tante –«

»Was denn, Elly?«

»Schau, ich bin ja jetzt schon groß, erzähl' mir doch von ihm.«

Berta schrak leise zusammen, denn ihr war mit einemmal, als bezöge sich diese Frage nicht auf ihren verstorbenen Mann, sondern auf irgendeinen andern. Und plötzlich sah sie das Bild Emil Lindbachs vor sich, so wie sie es in der illustrierten Zeitung gesehen; aber gleich war die Erscheinung und der leise Schreck vorbei, und sie empfand eine Art Rührung über die schüchterne Frage des jungen Mädchens, das glaubte, sie traure noch immer um ihren verstorbenen Mann, und es würde sie trösten, wenn sie über ihn reden könnte.

In diesem Augenblick ertönte Richards Stimme an einem Fenster, das in den Hof hinunter schaute: »Darf ich auch zu euch hinunter, oder habt ihr Geheimnisse?« Jetzt fiel Berta zum erstenmal eine Ähnlichkeit auf, die er mit Emil Lindbach hatte. Sie dachte aber, es wäre vielleicht nur das Jugendliche seines Wesens und die etwas langen Haare, die an ihn gemahnten. Er war jetzt beinah so alt, als Emil damals gewesen.

»Der Tisch ist reserviert,« sagte er, indem er in den Hof trat. »Kommst du mit uns, Tante Berta?« Er setzte sich auf die Lehne des Stuhls, auf dem sie saß, streichelte ihr die Wange, indem er in seiner frischen und doch etwas zärtelnden Art sagte: »Komm' mit, mir zulieb, schöne Tante.«

Berta schloß unwillkürlich die Augen. Ein Wohlbehagen überkam sie, wie wenn Kinderhände, wie wenn die kleinen Finger ihres eigenen Buben ihr die Wange streichelten. Bald aber fühlte sie, daß sich irgendeine andere Erinnerung beigesellte. Sie mußte an einen Spaziergang denken, mit Emil, im Stadtpark, abends nach dem Konservatorium. Damals hatte er mit ihr auf einer Bank ausgeruht und zärtlich ihre Wangen berührt. War das nur einmal geschehen? Nein – viel öfter, freilich, zehn-, zwanzigmal waren sie auf jener Bank gesessen, und er hatte ihr die Wange gestreichelt. Wie sonderbar, daß ihr das jetzt wieder einfiel!

An diese Spaziergänge hätte sie gewiß nie wieder gedacht, wenn nicht Richard zufällig – Aber wie lange ließ sie sich das noch gefallen? »Richard!« rief sie aus und öffnete die Augen. Da sah sie ihn so lächeln, daß sie meinte, Richard müßte ihre Erinnerungen erraten haben. Das war natürlich ganz unmöglich, denn man wußte ja hier kaum, daß sie den Violinvirtuosen Emil Lindbach kannte. Im übrigen, kannte sie selbst ihn denn heute noch? Der, an den sie jetzt dachte, war ja ein ganz anderer, das war der hübsche Junge, den sie als ganz junges Mädchen geliebt hatte. So schweiften ihre Gedanken immer weiter, in die Vergangenheit zurück, und es schien ihr ganz unmöglich, wieder in die Gegenwart zurückzukehren und mit den beiden Kindern zu plaudern. Sie sagte ihnen Adieu und ging.

Über den Straßen lag eine schwere Nachmittagssonne. Die Läden waren gesperrt, die Wege beinahe menschenleer. An den Tischchen vor dem Kaffeehaus auf dem Marktplatz saßen ein paar Offiziere. Berta sah nach den Fenstern des ersten Stockwerks, in welchem das Ehepaar Rupius wohnte. Sie war schon lange nicht bei ihnen gewesen, sie wußte ganz genau, seit wann: seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag. Damals hatte sie Herrn Rupius allein zu Hause getroffen, und damals hatte er ihr erzählt, sein Leiden wäre unheilbar. Sie wußte nun auch, warum sie seitdem nicht bei ihm gewesen: ohne sich's einzugestehen, hatte sie eine Art Angst davor gehabt, diese Wohnung zu betreten, die sie damals in heftiger Bewegung verlassen. Heute war es ihr aber, als müßte sie hinauf; es schien ihr, als wenn im Lauf der letzten Tage sich irgendein Band zwischen ihr und dem Kranken geknüpft, und als wenn selbst der Blick, mit dem er sie gestern auf dem Spaziergang still betrachtet, etwas zu bedeuten gehabt hätte.

Als sie ins Zimmer eintrat, mußten ihre Augen sich erst an das Halbdunkel gewöhnen; die Rouleaux waren herabgelassen, und nur durch die obere Spalte fiel ein Sonnenstrahl gerade vor den weißen Ofen hin. An dem Tisch in der Mitte des Zimmers saß in einem Lehnstuhl Herr Rupius; vor ihm lagen aufgeschichtete Blätter, von denen er eben eines wegtat, um das nächste zu betrachten. Berta sah, daß es Stiche waren.

»Ich danke Ihnen,« sagte er, »daß Sie mich wieder einmal besuchen.« Er streckte ihr die Hand entgegen. »Sie sehen, womit ich da eben beschäftigt bin? Nun, es ist eine Sammlung von Stichen nach alten Niederländern. Glauben Sie mir, gnädige Frau, es ist ein großes Vergnügen, alte Stiche zu betrachten.«

»Oh freilich.«

»Sehen Sie, es sind sechs Bände, oder vielmehr sechs Mappen, jede zu zwanzig Blättern; ich werde wohl den ganzen Sommer brauchen, um sie wirklich zu kennen.«

Berta stand an seiner Seite und blickte auf den Stich, der eben vor ihm lag und der eine Jahrmarktsszene von Teniers darstellte. »Den ganzen Sommer,« sagte sie zerstreut.

Rupius wandte sich zu ihr. »Jawohl,« sagte er mit leicht zusammengepreßten Zähnen, als gälte es, einen Standpunkt zu verteidigen, »was ich eben heiße, ein Bild kennen. Darunter verstehe ich, ein Bild im Innern sozusagen nachzeichnen können, Linie für Linie. Dies hier ist ein Teniers, das Original hängt im Haag. Warum reisen Sie nicht nach dem Haag, gnädige Frau, wo so schöne Teniers zu sehen sind und mancherlei anderes?«

Berta lächelte. »Wie kann ich daran denken, solche Reisen zu machen?«

»Nun freilich,« sagte Herr Rupius. »Der Haag ist sehr schön, ich war dort vor vierzehn Jahren; damals war ich achtundzwanzig, heut bin ich zweiundvierzig oder auch vierundachtzig.« – Er legte wieder ein Blatt zur Seite. »Das hier ist ein Ostade, ›der Pfeifenraucher‹. Nun ja, man sieht wohl, daß er eine Pfeife raucht. Original in Wien.«

»Ich glaube, an dieses Bild erinnere ich mich.«

»Wollen Sie sich nicht mir gegenübersetzen, gnädige Frau, oder hier an meine Seite, wenn Sie die Bilder mit mir ansehen wollen? Das hier ist ein Falkenborg – wundervoll, nicht wahr? Nur ganz im Vordergrund scheint es so nichtig, so begrenzt; ja, nichts als ein Bauer, der mit einer Bäuerin tanzt, und da eine Alte, die sich darüber ärgert, und hier ein Haus, und aus der Türe tritt einer mit einem Eimer Wasser. Ja, das ist freilich nichts, aber da hinten, sehen Sie, da ist die ganze Welt, blaue Berge, grüne Städte, der Himmel drüber mit Wolken und nebstbei ein Tournier – haha! – es gehört wohl nicht dazu in gewissem Sinn, aber in einem anderen Sinn gehört es eben doch dazu. Denn Hintergründe sind überall, und darum ist es sehr richtig, daß hier gleich hinter dem Bauernhaus die Welt anfängt mit ihren Tournieren und ihren Bergen und Flüssen und Festungen und Weingärten und Wäldern.« Er zeigte mit einem kleinen, elfenbeinernen Papiermesser auf die einzelnen Partien des Bildes, von denen er eben sprach. »Gefällt's Ihnen? Es hängt auch in der Wiener Galerie. Sie müßten es kennen.«

»Es ist ja schon sechs Jahre, daß ich nicht mehr in Wien lebe, und auch viele Jahre vorher war ich nicht mehr im Museum.«

»So? Ich bin oft dort herumgegangen, auch vor diesem Bild bin ich gestanden. Ja, gegangen bin ich, früher einmal.« Er sah sie beinah lachend an, und sie konnte vor Befangenheit nicht antworten. Dann sprach er unvermittelt weiter: »Ich glaube, ich langweile Sie mit den Bildern. Warten Sie, meine Frau kommt gleich nach Hause. Sie wissen doch, daß sie jetzt nach Tisch immer zwei Stunden herumläuft? Sie fürchtet, zu stark zu werden.«

»Ihre Frau sieht so schlank und jung aus wie . . . Nun, ich finde, seit ich hier bin, hat sie sich gar nicht verändert.« Berta war es, als wenn das Antlitz von Rupius ganz starr würde. Dann sagte er plötzlich in harmlosem Tone, der zu seinem Gesichtsausdruck gar nicht stimmte:

»Das ruhige Leben in so einer kleinen Stadt, ja das erhält jung. Es war eine kluge Idee von mir und von ihr, denn es war eine gemeinschaftliche Idee von uns beiden, uns hierher zurückzuziehen. Wer weiß, in Wien wäre es schon ganz zu Ende.«

Berta konnte nicht erraten, wie er dieses »zu Ende« meinte, ob er es auf sein Leben, auf die Jugend seiner Frau oder sonst irgendwas bezog. Jedenfalls bedauerte sie, daß sie heute gekommen war; sie hatte ein Gefühl von Beschämung, so gesund zu sein.

»Hab' ich Ihnen gesagt,« fuhr Rupius fort, »daß ich diese Mappen von Anna bekommen habe? Ein Gelegenheitskauf, denn das Werk ist für gewöhnlich sehr teuer. Ein Buchhändler hatte es annonciert, und Anna telegraphierte gleich an ihren Bruder, er möge es für uns besorgen. Sie wissen ja, daß wir viele Verwandte in Wien haben, sowohl ich als Anna. Sie fährt auch zuweilen hinein, sie besuchen. Demnächst erhalten wir einen Gegenbesuch. Ich wäre schon erfreut, sie bei mir zu sehen, besonders Annas Bruder und Schwägerin; ich bin ihnen viel Dank schuldig. Wenn Anna in Wien ist, speist sie bei ihnen, schläft sie bei ihnen – nun, Sie wissen ja, gnädige Frau.« Er sprach rasch und dabei mit einem kühlen, geschäftsmäßigen Tonfall; es klang, als wenn er sich vorgenommen, diese Dinge jedem zu erzählen, der heute ins Zimmer träte. Es war das erstemal, daß er überhaupt mit Berta über die Reisen seiner Frau sprach.

»Morgen will sie wieder fahren,« sagte er. »Ich glaube, es handelt sich diesmal um die Sommertoilette.«

»Ich finde das sehr klug von Ihrer Frau,« sagte Berta, froh, eine Anknüpfung gefunden zu haben.

»Und nebstbei ist es billiger,« setzte Rupius hinzu. »Ich versichere Sie, selbst wenn Sie die Reise dazurechnen. Warum machen Sie's nicht auch so wie meine Frau?«

»Wie das, Herr Rupius?«

»Nun, in Hinsicht auf Ihre Kleider und Hüte! Auch Sie sind jung und hübsch.«

»O Gott, für wen soll ich mich schön anziehen?«

»Für wen? Für wen zieht sich denn meine Frau so hübsch an?«

Die Türe öffnete sich, und Frau Rupius trat ein, in einem hellen Frühjahrskleid, einen roten Sonnenschirm in der Hand und einen weißen Strohhut mit rotem Band auf dem dunklen, hoch frisierten Haar. Um ihren Mund war das freundliche Lächeln wie immer, und mit heiterer Ruhe begrüßte sie Berta. »Lassen Sie sich wieder einmal in unserm Hause sehen?« Das Dienstmädchen war hinter ihr eingetreten, Anna gab ihr Schirm und Hut. »Interessieren Sie sich auch für Bilder, Frau Garlan?« Sie trat näher hinter ihren Mann, strich ihm mit der Hand sanft über Stirn und Haar.

»Ich sprach eben Frau Garlan meine Verwunderung aus,« sagte Rupius, »daß sie niemals nach Wien fährt.«

»Wahrhaftig,« warf Frau Rupius ein, »warum tun Sie es nicht? Sie haben gewiß auch noch Bekannte dort. Fahren Sie einmal mit mir hinein, zum Beispiel morgen. Ja, morgen.«

Rupius blickte, während seine Frau so sprach, vor sich hin, als wagte er nicht, sie anzusehen.

»Frau Rupius, Sie sind wirklich sehr lieb,« sagte Berta, und es war ihr, als wenn ein ganzer Strom von Freude durch ihr Wesen ränne. Sie wunderte sich auch, daß sie nun so lange gar nicht an die Möglichkeit einer solchen Reise gedacht, die doch so leicht zu bewerkstelligen war und die ihr in diesem Augenblick wie ein Heilmittel gegen die sonderbare Mißstimmung erschien, unter der sie seit einigen Tagen litt.

»Nun, sind Sie einverstanden, Frau Garlan?«

»Ich weiß wirklich nicht – Zeit hätt' ich wohl, morgen hab' ich nur die eine Lektion bei meiner Schwägerin, die wird es ja nicht so genau nehmen; aber ob ich Sie nicht störe?«

Ein leichter Schatten flog über die Stirne von Frau Rupius. »Stören, was fällt Ihnen denn ein? Ich bin recht froh, die paar Stunden der Hin- und Rückfahrt in angenehmer Gesellschaft zu verbringen. Und in Wien – oh, sicher werden wir auch in Wien gemeinschaftliche Wege haben.«

»Ihr Herr Gemahl,« sagte Berta und errötete wie ein Mädchen, das vom ersten Ball spricht, »hat mir erzählt . . . hat mir geraten . . .«

»Er hat Ihnen sicher von meiner Schneiderin vorgeschwärmt,« sagte Frau Rupius lachend.

Rupius saß noch immer regungslos da und sah keine von den beiden an.

»Ja, ich möchte Sie wirklich bitten, Frau Rupius. Wenn ich Sie ansehe, bekomm' ich Lust, mich auch wieder einmal so hübsch anzuziehen.«

»Das ist leicht zu machen,« sagte Frau Rupius. »Ich bringe Sie zu meiner Schneiderin, und so habe ich gleich die angenehme Hoffnung, auch meine nächsten Fahrten nicht allein machen zu müssen. Ich bin auch um deinetwillen froh,« sagte sie zu ihrem Mann, indem sie seine Hand berührte, die auf dem Tisch lag, »und um Ihretwillen,« wandte sie sich an Berta, »Sie werden sehen, wie Ihnen das wohltun wird. In Straßen herumlaufen, ohne daß einen jemand kennt, das ist wunderbar. Ich brauch' es von Zeit zu Zeit. Ganz erfrischt komm' ich immer zurück, und –« sie sah dabei ihren Mann von der Seite mit einem Blick voll Angst und Zärtlichkeit an, »bin dann hier so glücklich, als man nur sein kann, glücklicher als alle andern Frauen der Welt, glaub' ich.« Sie näherte sich ihrem Mann und küßte ihn auf die Schläfe. Berta hörte, wie sie leise dazu sagte: »Liebster.« Er aber sah noch immer vor sich hin, als scheute er sich, dem Blick seiner Frau zu begegnen. Beide schwiegen und schienen in sich versunken, als wäre Berta gar nicht da. Berta fühlte dunkel, daß in der Beziehung zwischen diesen beiden Menschen irgend etwas Geheimnisvolles walte, das ganz zu verstehen sie nicht klug oder nicht erfahren oder nicht gut genug war. Minutenlang blieb es still, und Berta wurde so befangen, daß sie gern fortgegangen wäre; aber es war ja notwendig, über die morgige Reise näheres zu vereinbaren. Anna war es, die zu reden begann.

»So wollen wir also dabei bleiben, daß wir uns zum Frühzug auf dem Bahnhof treffen – ja? Und ich will es so einrichten, daß wir mit dem Abendzug um sieben wieder nach Hause fahren; in acht Stunden läßt sich ja viel besorgen.«

»Gewiß,« sagte Berta, »wenn Sie sich nur meinetwegen nicht im geringsten stören.«

Anna unterbrach sie beinahe ärgerlich. »Ich sagte Ihnen ja schon, wie froh ich bin, daß Sie mit mir fahren, um so mehr, als mir keine Frau in der Stadt so sympathisch ist als Sie.«

»Ja,« sagte Herr Rupius, »das kann ich bestätigen. Sie wissen ja, daß meine Frau beinah nirgends hier verkehrt, – und da Sie nun so lange nicht bei uns waren, hatt' ich schon Angst, sie verliert nun auch Sie.«

»Wie können Sie das nur denken! aber Herr Rupius! Und Sie, Frau Rupius, Sie haben doch nicht geglaubt« – Berta fühlte eine überströmende Liebe für beide in diesem Augenblick. Sie war so gerührt, daß sie Tränen in der eigenen Stimme aufsteigen spürte.

Frau Rupius lächelte seltsam und überlegen. »Ich habe gar nichts geglaubt, überhaupt denk' ich über gewisse Dinge nicht weiter nach. Mein Bedürfnis nach Verkehr ist ja nicht groß, aber Sie, Frau Berta, hab' ich wirklich lieb.« Sie reichte ihr die Hand. Berta warf einen Blick auf Rupius; ihr war es, als müßte sie nun auf seinem Gesicht einen Ausdruck der Befriedigung gewahren, aber zu ihrer Verwunderung schaute er mit einem beinah entsetzten Blick in die Ecke des Zimmers.

Das Stubenmädchen kam mit dem Kaffee. Das weitere über die Einteilung des morgigen Tags wurde besprochen und endlich ein ziemlich genauer Stundenplan festgestellt, den Berta in ihrem kleinen Notizbuch eintrug, worüber Frau Rupius ein wenig lächelte.

Als Berta wieder auf die Straße kam, hatte sich der Himmel bewölkt, und die steigende Schwüle deutete auf ein nahes Gewitter. Noch bevor sie zu Hause angelangt war, fielen die ersten großen Tropfen, und sie geriet in einige Besorgnis, als sie, oben angelangt, das Dienstmädchen und ihren Kleinen nicht daheim fand; aber als sie sich zum Fenster stellte, um es zu schließen, sah sie beide laufend daherkommen. Der erste Donnerschlag ertönte, und sie fuhr zusammen; zugleich leuchtete ein Blitz.

Das Gewitter war kurz, aber ungewöhnlich heftig. Berta saß im Schlafzimmer auf ihrem Bett, hielt ihren Buben auf dem Schoß und erzählte ihm eine Geschichte, damit er keine Angst hätte; dabei war ihr zumute, als bestände ein gewisser Zusammenhang zwischen dem, was sie heut und gestern erlebt und dem Ungewitter. Nach einer halben Stunde war alles vorüber. Berta öffnete das Fenster, die Luft war abgekühlt, der dämmernde Himmel klar und fern. Berta atmete auf; sie war wie durchdrungen von einem Gefühl des Friedens und der Hoffnung.

Es war Zeit, sich für das Gartenkonzert bereit zu machen. Als sie hinkam, fand sie die Gesellschaft schon an einem großen Tisch unter einem Baum versammelt. Berta hatte die Absicht, ihrer Schwägerin gleich zu sagen, daß sie morgen nach Wien fahren wolle, aber eine Scheu, als wäre diese Reise etwas Verbotenes, hielt sie davon zurück. Herr Klingemann ging mit seiner Wirtschafterin an ihrem Tisch vorüber. Die Wirtschafterin war ein nicht mehr junges, sehr üppiges Weib, größer als Klingemann, und sah im Gehen immer aus, als wenn sie schliefe. Klingemann grüßte mit übertriebener Höflichkeit, die Herren dankten kaum, die Frauen taten, als wenn sie den Gruß nicht bemerkten. Nur Berta nickte leicht und sah den beiden nach. Richard, der neben seiner Tante saß, flüsterte ihr zu: »Das ist seine Geliebte – ja, ganz bestimmt, ich weiß es.«

Man aß und trank und plauderte; zuweilen kamen Bekannte von anderen Tischen, setzten sich auf eine Weile dazu und gingen wieder an ihre Plätze. Die Musik rauschte um Berta, ohne irgendeinen Eindruck auf sie zu machen; sie war ununterbrochen mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie ihren Plan mitteilen sollte. Plötzlich, während die Musik sehr laut spielte, sagte Berta zu Richard: »Du, morgen hast du keine Stunde, ich fahre nach Wien.«

»Nach Wien?« sagte Richard, und er rief es hinüber zu seiner Mutter: »Du, die Tante fährt morgen nach Wien.«

»Wer fährt nach Wien?« fragte Garlan, der am entferntesten saß.

»Ich,« sagte Berta.

»Ei, ei,« sagte Garlan und drohte scherzhaft mit dem Finger.

So war es also abgetan. Berta freute sich darüber. Richard machte Späße über die Leute, die im Garten saßen, auch über den dicken Kapellmeister, der während des Dirigierens immer hüpfte, dann über einen Trompeter, der dicke Backen bekam und zu weinen schien, wenn er blies. Berta mußte sehr viel lachen. Man scherzte über ihre gute Laune, und Doktor Friedrich bemerkte, sie fahre sicher zu einem Rendezvous nach Wien.

»Das möcht' ich mir aber verbieten!« rief Richard so zornig, daß die Heiterkeit eine allgemeine wurde. Nur Elly blieb ernst und sah ihre Tante ganz erstaunt an.

 

Berta sah durch das offene Kupeefenster in die Landschaft hinaus, Frau Rupius las in einem Buch, das sie sehr bald nach der Abfahrt des Zugs aus der kleinen Reisetasche herausgenommen; es hatte beinah den Anschein, als wollte sie ein längeres Gespräch mit Berta vermeiden, und diese war ein wenig gekränkt. Sie hatte schon lange den Wunsch gehegt, die Freundin der Frau Rupius zu sein, aber seit gestern war es wie eine Sehnsucht geworden, die sie an die Schwärmerei von Kinderfreundschaften zurückdenken ließ. Sie war so anfangs ganz unglücklich gewesen und hatte ein Gefühl von Verlassenheit gehabt, aber bald begannen die wechselnden Bilder vor dem Fenster sie angenehm zu zerstreuen. Während sie auf die Geleise schaute, die ihr entgegenzulaufen schienen, auf die Hecken und Telegraphenstangen, die an ihr vorbeischwebten und ‑sprangen, erinnerte sie sich der paar kurzen Reisen ins Salzkammergut, die sie als Kind mit den Eltern gemacht hatte, und an das namenlose Vergnügen, wenn sie damals am Waggonfenster sitzen konnte. Dann blickte sie ins Weite, freute sich am Leuchten des Flusses, an den gefälligen Windungen der Hügel und Wiesen, am Blau des Himmels und an den weißen Wolken. Nach einiger Zeit legte Anna wieder ihr Buch weg, fing mit Berta an zu plaudern und lächelte ihr zu wie einem Kind.

»Wer uns das vorausgesagt hätte,« sagte Frau Rupius.

»Daß wir zusammen nach Wien –?«

»Nein, nein; daß wir beide unser Leben dort« – sie wies mit einer leichten Bewegung des Kopfes in die Gegend, aus der sie kamen – »wie soll ich sagen? verbringen oder beschließen werden.«

»Freilich, freilich,« sagte Berta. Sie hatte noch nicht daran gedacht, daß das eigentlich sonderbar wäre.

»Nun, Sie wußten es doch von dem Augenblick an, da Sie heirateten, aber ich –« Frau Rupius sah vor sich hin.

Berta fragte: »Sie sind also erst in die kleine Stadt gezogen, als . . . als –« Sie unterbrach sich verlegen.

»Ja, Sie wissen's doch.« Dabei schaute sie Berta voll ins Gesicht, als wenn sie ihr diese Frage verwiese. Aber dann setzte sie, mild lächelnd, fort, als wäre das, woran sie dachte, gar nicht so traurig: »Ja, ich habe nicht geahnt, daß ich je Wien verlassen würde; mein Mann hatte seine Stellung als Beamter im Ministerium, er hätte sie gewiß noch längere Zeit behalten können trotz seines Leidens, aber er wollte eben fort.«

»Er dachte wohl, die gute Luft, die Stille –« begann Berta und spürte gleich, daß sie nichts sehr Kluges sagte.

Aber Anna antwortete ganz freundlich: »Nicht das, weder Ruhe, noch Klima kann da helfen; aber er dachte, es wäre in jeder Hinsicht besser für uns beide. Er hatte auch recht, was sollten wie noch in der großen Stadt?«

Berta fühlte, daß Anna ihr nicht alles sagte; sie hätte sie bitten mögen, ihr doch ihr ganzes Herz aufzuschließen, aber eine solche Bitte mit den rechten Worten auszusprechen, dazu wußte sie sich nicht geschickt genug. Und als hätte Frau Rupius erraten, daß Berta gern mehr erfahren wollte, ging sie rasch auf etwas anderes über, fragte sie nach ihrem Schwager, nach den musikalischen Talenten ihrer Schüler, nach ihrer Unterrichtsmethode; dann nahm sie wieder ihren Roman und ließ Berta allein. Einmal sah sie von dem Buch auf und fragte: »Haben Sie sich denn nichts zum Lesen mitgenommen?«

»Oh ja,« antwortete Berta. Es fiel ihr plötzlich ein, daß sie die Zeitung mit hatte; sie nahm sie und blätterte eifrig auf. Man näherte sich Wien. Frau Rupius klappte ihr Buch zusammen und tat es in die Reisetasche. Sie sah Berta mit einer gewissen Zärtlichkeit an, wie ein Kind, das man nun bald in ein ungewisses Schicksal entlassen muß. »Noch eine Viertelstunde,« sagte sie, »dann sind wir – nun hätt' ich beinah gesagt: zu Hause.«

Die Stadt lag vor ihnen. Jenseits des Flusses ragten Schlote in die Höhe, langgestreckte, gelb angestrichene Häuser reihten sich aneinander, Türme stiegen auf. Über allem lag die milde Maisonne.

Berta klopfte das Herz. Sie hatte das Gefühl, wie wenn man nach langen Jahren in eine ersehnte Heimat zurückkehrt, die sich seitdem wahrscheinlich sehr verändert hat, wo allerlei Geheimnisse und Überraschungen warten. In dem Augenblick, als der Zug in die Halle fuhr, kam sie sich beinahe mutig vor.

Die Frauen nahmen einen Wagen und fuhren in die Stadt. Als sie den Ring passierten, beugte sich Berta plötzlich aus dem Fenster; sie sah einem jungen Mann nach, dessen Gestalt und Gang sie an Emil Lindbach erinnerte. Sie wünschte, der junge Mann möchte sich umwenden, aber sie verlor ihn aus dem Auge, ohne daß es geschehen wäre.

Vor einem Hause auf dem Kohlmarkt hielt der Wagen; die beiden Frauen stiegen aus und begaben sich in den dritten Stock, wo sich das Atelier der Schneiderin befand. Während Frau Rupius probierte, ließ sich Berta Stoffe vorlegen und traf eine Wahl, die Mamsell nahm ihr Maß, und es wurde bestimmt, daß Berta heute über acht Tage sich zur Probe einfinden sollte. Frau Rupius kam aus dem Nebenzimmer und empfahl den Auftrag ihrer Freundin besonderer Sorgfalt. Berta schien es, als werde sie von allen mit etwas spöttischen, beinah mitleidigen Blicken betrachtet, und im großen Wandspiegel gewahrte sie plötzlich, daß sie recht geschmacklos angezogen war. Was war ihr aber nur eingefallen, sich für den heutigen Tag in den provinziellen Sonntagsstaat zu werfen, statt eines ihrer einfachen, glatten Kleider zu tragen wie sonst? Sie wurde rot vor Beschämung. Sie hatte eine schwarz-weiß gestreifte Toilette aus Foulard, die in ihrem Schnitt um drei Jahre zurück war, und einen übertriebenen, nach vorn aufgebogenen hellen, mit Rosen aufgeputzten Hut, der ihre zierliche Gestalt drückte und beinah lächerlich machte. Und als hätte es noch einer Bestätigung durch ein tröstendes Wort bedurft, sagte ihr Frau Rupius im Hinuntergehen: »Sie sehen doch sehr hübsch aus.«

Sie standen im Torweg.

»Was nun?« fragte Frau Rupius. »Was haben Sie vor?«

»Wollen Sie mich denn . . . ich meine . . .« Berta war ganz erschrocken, sie kam sich wie ausgesetzt vor.

Frau Rupius sah sie mit freundlichem Mitleid an.

»Ich denke,« sagte sie, »daß Sie nun Ihre Cousine besuchen werden, nicht wahr? Und ich nehme an, daß man Sie dort zum Essen behält?«

»Natürlich wird mich Agathe zu Tisch einladen.«

»Ich werde Sie bis hin führen, wenn es Ihnen recht ist, dann geh' ich zu meinem Bruder, und wenn's mir möglich ist, hol' ich Sie um drei Uhr nachmittags ab.«

Sie gingen zusammen durch die belebtesten Straßen der inneren Stadt und betrachteten die Auslagen. Der Lärm hatte anfangs etwas Verwirrendes für Berta, dann wirkte er eher angenehm auf sie. Sie sah die Leute an, die vorübergingen, und der Anblick der eleganten Herren und hübsch angezogenen Damen bereitete ihr großes Vergnügen. Die Leute schienen überhaupt alle neue Kleider anzuhaben, und ihr war, als sähen hier alle viel glücklicher aus als daheim. Jetzt blieb sie vor der Auslage eines Kunsthändlers stehen, und ihr Auge fiel gleich auf ein bekanntes Bild; es war dasjenige Emil Lindbachs aus der illustrierten Zeitung. Berta war so erfreut, als hätte sie einen Bekannten getroffen. »Den kenn' ich,« sagte sie zu Frau Rupius.

»Wen?«

»Den hier.« Sie wies mit dem Finger auf die Photographie. »Denken Sie, mit dem bin ich zugleich ins Konservatorium gegangen.«

»So?« fragte Frau Rupius. Berta sah sie an und merkte, daß sie dem Bild gar keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte, sondern über irgend etwas nachdachte. Berta war aber froh darüber, denn es schien ihr, als hätte in ihrer Stimme zu viel Wärme gelegen. Zugleich regte sich ein ganz leichter Stolz in ihr, daß der Mann, dessen Bild hier in der Auslage hing, als ganz junger Mensch in sie verliebt gewesen war und sie geküßt hatte. Mit einem Gefühl innerer Zufriedenheit ging sie weiter. Nach kurzer Zeit war sie in der Riemerstraße vor dem Haus ihrer Cousine.

»Also es bleibt dabei,« sagte sie, »nicht wahr, daß Sie mich um drei abholen?«

»Ja,« entgegnete Frau Rupius, »das heißt, – nun, wenn ich mich ein wenig verspäten sollte, halten Sie sich meinetwegen keineswegs länger bei Ihrer Cousine auf, als Ihnen angenehm ist; es bleibt jedenfalls dabei: um sieben Uhr abends auf dem Bahnhof. Auf Wiedersehen.« Sie gab Berta die Hand und ging rasch. Berta sah ihr befremdet nach. Sie kam sich wieder so verlassen vor wie in der Eisenbahn, da Frau Rupius ihren Roman gelesen hatte.

Dann ging sie die zwei Treppen hinauf. Sie hatte die Cousine von ihrem Kommen nicht benachrichtigt und bekam eine leise Angst, daß sie ungelegen sein könnte. Seit vielen Jahren hatte sie Agathe nicht mehr gesehen, und die Korrespondenz zwischen ihnen war recht sparsam geführt worden.

Agathe empfing sie nicht anders, als wären sie gestern zum letztenmal beisammen gewesen, ohne Verwunderung und ohne Herzlichkeit. Um Bertas Lippen war schon das Lächeln gewesen, wie man es hat, wenn man jemandem eine Überraschung zu bereiten glaubt; sie unterdrückte es gleich.

»Du bist ja ein recht seltener Gast,« sagte Agathe, »und läßt gar nichts von dir hören.«

»Aber Agathe, du bist mir ja noch einen Brief schuldig, seit drei Monaten.«

»So?« fragte Agathe. »Nun, mich mußt du entschuldigen, du kannst dir denken, was einem drei Kinder zu tun geben. Hab' ich dir geschrieben, daß Georg schon in die Schule geht?« Agathe führte ihre Cousine in die Kinderstube, wo Georg und die zwei kleinen Mädchen von der Bonne eben ihr Mittagessen vorgeteilt erhielten. Berta stellte einige Fragen an sie, aber die Kinder waren sehr scheu, und das kleinste Mädchen begann sogar zu weinen. Endlich sagte Agathe zu Georg: »Bitte doch Tante Berta, daß sie das nächstemal Fritz mitbringt.«

Berta fiel es auf, wie alt ihre Cousine in den letzten Jahren geworden. Wahrhaftig, wenn sie sich zu den Kindern beugte, sah sie beinah aus wie eine alte Frau, und Berta wußte, daß sie selbst nur um ein Jahr jünger war als Agathe.

Als sie wieder ins Speisezimmer zurückkehrten, war alles erschöpft, was sie einander zu erzählen hatten, und als Agathe Berta zu Tisch einlud, schien sie es nur gesagt zu haben, um überhaupt etwas zu reden. Berta nahm trotzdem an, und die Cousine ging in die Küche, um einige Aufträge zu erteilen. Berta sah sich im Zimmer um, das sparsam und geschmacklos eingerichtet war. Es war recht dunkel, da die Gasse sehr eng war. Berta nahm ein Album vor, das auf dem Tisch lag; darin fand sie beinahe lauter bekannte Gesichter: gleich im Anfange die Eltern Agathens, die längst tot waren, dann die Bilder ihrer eigenen Eltern und die ihrer für sie fast verschollenen Brüder, Bilder gemeinschaftlicher Jugendbekannter, von denen sie beinah nichts mehr wußte, und endlich ein Bild, dessen Vorhandensein sie schon ganz vergessen hatte: sie und Agathe gemeinschaftlich als ganz junge Mädchen. Damals hatten sie einander sehr ähnlich gesehen und waren sehr befreundet gewesen, Berta erinnerte sich mancher intimen Mädchengespräche, die sie damals geführt hatten. – Und dieses bildhübsche Ding mit den aufgesteckten Zöpfen war jetzt beinah eine alte Frau. Und sie selbst? Warum hielt sie sich denn noch immer für eine junge? Erschien sie nicht vielleicht anderen so wie Agathe ihr? Sie nahm sich vor, nachmittags auf die Blicke zu achten, mit welchen sie von Vorübergehenden betrachtet würde. Es wäre schrecklich, wenn sie auch schon so alt aussähe wie ihre Cousine! Nein, es war ganz lächerlich, das zu glauben! Ihr Neffe fiel ihr ein, der sie immer die »schöne Tante« nannte, – die Fensterpromenade Klingemanns von gestern Abend, – ja, sogar die Erinnerung an die Liebenswürdigkeiten ihres Schwagers beruhigte sie. Und als sie in den Spiegel sah, der ihr gegenüber hing, blickten ihr zwei helle Augen aus einem frischen und faltenlosen Gesicht entgegen, und es war ihr Gesicht und ihre Augen.

Als Agathe wieder hereinkam, begann Berta von den fernen Jugendjahren zu sprechen, aber es schien, als hätte Agathe ihre früheren Beziehungen geradezu vergessen, als hätten die Ehe, die Mutterschaft, die Sorgen des Alltags mit der Jugend auch die Erinnerung daran ausgelöscht. Wie jetzt Berta von einem Studentenkränzchen zu reden begann, das sie zusammen besucht, von jungen Leuten, die Agathen den Hof gemacht, von einem gewissen anonymen Blumenstrauß, den Agathe einmal geschickt bekommen hatte, lächelte sie anfangs wie abwesend, dann sah sie Berta an und sagte: »Daß du dich noch an alle die Dummheiten erinnerst.«

Der Gatte Agathens kam aus der Kanzlei nach Hause. Er war recht grau geworden. Im ersten Augenblick schien er Berta nicht zu erkennen, dann verwechselte er sie mit einer anderen Dame und entschuldigte sich mit seinem schlechten Personengedächtnis. Bei Tisch spielte er den Gewandten, er fragte in einer gewissen überlegenen Art nach den Zuständen der kleinen Stadt und meinte scherzend, ob Berta nicht wieder zu heiraten gedächte. An diesen Neckereien beteiligte sich auch Agathe, während sie zugleich ihren Gatten, der dem Gespräch eine frivole Wendung zu geben suchte, gelegentlich durch Blicke zurechtwies. Berta fühlte sich unbehaglich. Später machte Agathens Gatte eine Anspielung, aus der hervorging, daß seine Frau wieder Mutterfreuden entgegensah. Aber während Berta sonst für Frauen in solchen Umständen ein Gefühl der Sympathie hatte, war sie hier fast unangenehm berührt. Auch lag in der Art, wie der Gatte davon sprach, keine Spur von Liebe, sondern eher ein gewisser alberner Stolz erfüllter Pflicht. Er sprach so davon, als wenn es eine besondere Liebenswürdigkeit von ihm wäre, daß er sich bei all seiner Beschäftigung und trotzdem Agathe nicht mehr schön war, dazu verstand, bei ihr zu schlafen. Berta hatte das Gefühl, hier in eine unreinliche Geschichte eingeweiht zu werden, die sie nichts anging. Sie war froh, als der Gatte gleich nach eingenommener Mahlzeit ging, – es war seine Gewohnheit, »sein einziges Laster«, wie er lächelnd sagte, nach Tisch eine Stunde im Kaffeehaus Billard zu spielen.

Berta blieb mit Agathe allein.

»Ja,« sagte Agathe, »nun steht mir das wieder einmal bevor.« Und nun begann sie in einer geschäftsmäßigen, kühlen Art von ihren früheren Entbindungen zu reden, mit einer Aufrichtigkeit und Schamlosigkeit, die Berta um so mehr auffiel, als sie einander doch so fremd geworden waren. Aber während Agathe weitersprach, fuhr Berta plötzlich der Gedanke durch den Sinn, wie schön es sein müßte, von einem Mann, den man liebt, ein Kind zu bekommen. Sie hörte nicht mehr auf die widerwärtigen Reden ihrer Cousine, sie dachte nur mehr an die unendliche Sehnsucht, die sie selbst manchmal in ganz jungen Jahren überkommen, Mutter zu werden, und sie erinnerte sich eines Augenblicks, da diese Sehnsucht tiefer gewesen war als jemals früher oder später. Es war an einem Abend, da Emil Lindbach sie vom Konservatorium aus nach Hause begleitete, ihre Hand in der seinen. Sie wußte noch, daß es ihr damals zu schwindeln begonnen, und daß sie in jenem einzigen Momente verstanden hatte, was die Phrase besagen wollte, die sie zuweilen in Romanen gelesen: »er hätte aus ihr machen können, was er wollte«.

Jetzt merkte sie, daß es im Zimmer ganz still geworden und daß Agathe in der Ecke des Divans lehnte und zu schlafen schien. Auf der Wanduhr war es drei. Wie unangenehm, daß Frau Rupius noch nicht da war! Berta trat zum Fenster und blickte auf die Straße. Dann wandte sie sich nach Agathe um, die die Augen wieder geöffnet hatte. Berta versuchte rasch ein neues Gespräch zu beginnen und erzählte von der Toilette, die sie vormittags bestellt, aber Agathe war zu schläfrig, sie antwortete gar nicht mehr. Berta wollte nicht lästig fallen und nahm Abschied. Sie beschloß auf der Straße Frau Rupius zu erwarten. Agathe schien sehr froh, während Berta sich zum Fortgehen ankleidete, wurde herzlicher, als sie die ganze Zeit über gewesen, und sagte an der Tür, als wäre eine Erleuchtung über sie gekommen: »Wie die Zeit vergeht! Ich hoffe, du läßt dich bald wieder anschauen.«

Als Berta vor dem Haustor stand, wußte sie, daß sie vergeblich auf Frau Rupius wartete. Gewiß war es von Anfang an deren Absicht gewesen, den Nachmittag ohne Berta zu verbringen, es brauchte ja weiter nichts Böses dabei zu sein, und war auch sicher nichts Böses dabei. Es kränkte Berta nur, daß Anna so wenig Vertrauen zu ihr hatte. Berta spazierte planlos weiter; es lagen noch mehr als drei Stunden vor ihr, ehe sie auf den Bahnhof sollte. Zuerst ging sie wieder in der inneren Stadt spazieren. Es war wirklich angenehm, so ganz unbeobachtet, als Fremde unter den Leuten herumzugehen. Lange hatte sie dieses Vergnügen nicht mehr gekostet. Von einigen Herren wurde sie mit Interesse betrachtet, ja manchmal blieb einer stehen und sah ihr nach. Es tat ihr leid, daß sie so unvorteilhaft angezogen war, und sie freute sich, bald das schöne Kleid aus dem Atelier der Wiener Schneiderin zu bekommen. Sie hätte gewünscht, von irgend jemandem verfolgt zu werden. Plötzlich fuhr ihr durch den Sinn: wenn sie Emil Lindbach begegnete, ob er sie erkennen würde? Welche Frage! Aber solche Zufälle gibt es nicht – nein, sie war ganz sicher, sie konnte tagelang in Wien herumgehen, nie würde sie ihm begegnen. Wie lange hatte sie ihn nicht gesehen? Sieben – acht Jahre . . . Ja, zwei Jahre vor ihrer Verheiratung hatte sie ihn das letztemal gesehen. Sie war mit ihren Eltern an einem warmen Sommerabend im Prater im Schweizerhaus gewesen, mit einem Freund war er vorübergegangen und ein paar Minuten an ihrem Tisch stehen geblieben. Ah, nun besann sie sich darauf, daß auch der junge Arzt an ihrem Tisch gesessen war, der sich um sie bewarb. Was Emil damals gesprochen, wußte sie nicht mehr, doch erinnerte sie sich, daß er die ganze Zeit, während er vor ihr gestanden, seinen Hut in der Hand gehalten, was ihr unsagbar gefiel. Ob er das heute auch täte, wenn sie ihm begegnete? Wo mochte er jetzt wohnen? Zu jener Zeit hatte er ein Zimmer auf der Wieden gehabt, nah von der Paulanerkirche . . . ja, er hatte ihr das Fenster gezeigt, als sie einmal vorübergingen, und bei dieser Gelegenheit eine Bemerkung gewagt – des Wortlauts entsann sie sich nicht mehr, aber der Sinn war bestimmt der gewesen, daß sie mit ihm in diesem Zimmer zusammen sein sollte. Sie hatte ihn damals sehr streng zurechtgewiesen, ja, sie hatte erwidert, wenn er so von ihr dächte, wäre alles aus. Und er sprach wirklich nie wieder davon. Ob sie das Fenster wiedererkannte? Ob sie es fände? Wahrhaftig, ob sie hier spazieren ging oder dort, das war doch einerlei. Sie ging rasch, als ob sie plötzlich ein Ziel gefunden, der Wieden zu. Sie staunte, wie sich hier alles verändert hatte. Wie sie von der Elisabethbrücke aus hinunterschaute, sah sie Mauern, die aus dem Wienbett aufstiegen, halbfertige Geleise, kleine Waggons in Bewegung und beschäftigte Arbeiter. Bald hatte sie die Paulanerkirche erreicht, auf demselben Weg, den sie in früherer Zeit so oft gegangen. Aber nun hielt sie inne; sie konnte sich durchaus nicht mehr besinnen, wo Emil gewohnt hatte, ob sie rechts, ob sie links gehen müsse. Sonderbar, wie gänzlich ihr das entfallen war! Sie ging langsam wieder zurück, bis zum Konservatorium. Dort blieb sie stehen. Oben waren die Fenster, von denen aus sie so oft die Kuppel der Karlskirche betrachtet, und sehnsüchtig das Ende der Stunde erwartet hatte, um mit Emil zusammenzutreffen. Wie lieb hatte sie ihn doch gehabt, und wie sonderbar war es, daß es so ganz aufhören konnte! Sie ging nun hier herum als Witwe, war es schon jahrelang, hatte daheim ein Kind, das heranwuchs, – und wenn sie gestorben wäre, Emil hätt' es gar nicht erfahren, oder vielleicht erst Jahre später. Ihr Auge fiel auf ein großes Plakat, das auf das Eingangstor geheftet war. Das Konzert war angekündigt, in dem auch er mitwirken würde, und hier stand sein Name unter vielen anderen großen, von denen sie manche seit lang mit stiller Scheu bewundert: »Brahms' Violinkonzert, vorgetragen von dem königlich bayrischen Kammervirtuosen Emil Lindbach.« – Bayrischer Kammervirtuose, das hatte sie gar nicht gewußt. Es war ihr, als könnte der, dessen Name hier auf sie herableuchtete, im nächsten Moment aus der Einfahrt heraustreten, den Violinkasten in der Hand, die Zigarette zwischen den Lippen. So nah war das alles plötzlich und schien noch näher, als mit einemmal von oben die langgezogenen Striche einer Violine zu ihr heruntertönten, wie sie sie damals so oft gehört. Sie wollte zu diesem Konzert nach Wien hereinfahren – ja, und wenn sie auch eine Nacht im Hotel verbringen müßte! Und sie würde sich weit vorne hinsetzen und ihn ganz in der Nähe sehen. Ob er sie auch sehen und sie erkennen würde? Sie stand noch immer vor dem gelben Plakat, ganz versunken, bis sie sich von ein paar jungen Leuten, die aus der Einfahrt herauskamen, angestarrt fühlte und nun auch wußte, daß sie die ganze Zeit gelächelt hatte wie in einem schönen Traum. Sie setzte ihren Weg fort. Auch die Gegend um den Stadtpark hatte sich verändert, und als sie die Stellen suchte, wo sie damals mit ihm herumgegangen war, fand sie sie ganz zerstört: Bäume waren ausgeholzt, Planken verwehrten den Weg, der Boden war aufgerissen, und vergeblich suchte sie die Bank zu finden, wo sie mit Emil verliebte Worte gewechselt, an deren Ton sie sich so gut und an deren eigentlichen Inhalt sie sich gar nicht mehr erinnerte. Sie gelangte nun in den gut erhaltenen, wohlgepflegten Teil des Parks, der voll Menschen war. Aber sie hatte die Empfindung, daß manche Leute sie betrachteten und einige Damen über sie lachten, und sie kam sich wieder sehr kleinstädtisch vor, ärgerte sich über ihre eigene Verlegenheit und dachte an die Zeit, da sie als hübsches junges Mädchen unbefangen und stolz durch solche Alleen gegangen war. Sie kam sich jetzt so herabgesunken, so bedauernswert vor. Der Einfall, im großen Musikvereinssaal in der ersten Reihe zu sitzen, erschien ihr verwegen, beinah unausführbar. Es war ihr jetzt auch sehr unwahrscheinlich, daß Emil Lindbach sie noch erkennen würde, ja es schien ihr fast unmöglich, daß er sich noch ihrer Existenz erinnern könnte. Was hatte er seitdem alles erlebt! Wie viele Frauen und Mädchen mochten ihn wohl geliebt haben, und in ganz anderer Art als sie. Und während sie weiter ging, nun durch weniger belebte Alleen endlich wieder hinaus auf die Ringstraße, sah sie den Geliebten ihrer Jugend in allerlei Abenteuern vor sich, in die wirre Erinnerungen aus gelesenen Romanen und unklare Vorstellungen von seinen Kunstreisen im Auslande seltsam hineinspielten. Sie dachte sich ihn in Venedig, in einer Gondel mit einer russischen Fürstin, dann wieder sah sie ihn am Hofe des bayrischen Königs, wo Herzoginnen seinem Spiel lauschten und sich in ihn verliebten, dann erschien er ihr im Boudoir einer Opernsängerin, dann auf einem Maskenball in Spanien, von verführerischen Masken umschwärmt. Und in je weitere Fernen er unnahbar und beneidenswert entschwebte, um so ärmlicher erschien sie sich selbst, und sie begriff es mit einemmal nicht mehr, wie leicht sie damals ihre eigenen Hoffnungen, ihre künstlerische Zukunft und den Geliebten aufgegeben, um ein sonnenloses Dasein zu führen und in der Menge zu verschwinden. Es war wie ein Schauer, der sie erfaßte, als sie sich darauf besann, daß sie nichts anderes war als die Witwe eines unansehnlichen Menschen, die in einer kleinen Stadt lebte, sich mit Klavierlektionen fortbrachte und langsam das Alter herankommen sah. Niemals hatte sie auch nur einen Strahl von dem Glanz auf ihrem Weg gefunden, in dem der seine dahinlief, solang er lebte. Und mit dem gleichen Schauer dachte sie daran, wie sie sich immer an ihrem Schicksal hatte genügen lassen, wie sie ohne Hoffnung, ja ohne Sehnsucht in einer Dumpfheit, die ihr in diesem Augenblick unerklärlich erschien, ihr ganzes Dasein hingebracht.

Sie war zur Aspernbrücke gekommen, ohne nur auf den Weg zu achten. Hier wollte sie die Straße übersetzen, aber sie mußte warten, da eine große Anzahl von Wagen vorüberfuhr. In den meisten saßen Herren, von denen viele Feldstecher trugen; sie wußte: die kamen aus dem Prater, vom Rennen. Jetzt kam eine elegante Equipage, darinnen ein Herr mit einer jungen Frau in weißer Frühjahrstoilette saß; gleich darauf ein Wagen mit zwei auffallend gekleideten Damen. Berta sah ihnen lang nach: eine wandte sich um, und zwar nach einem Wagen, der gleich hinten nachfuhr und in dem ein junger, sehr hübscher Mann in einem langen, grauen Überzieher lehnte. Berta empfand etwas sehr Schmerzliches, Unruhe und Ärger zugleich; sie hätte die Dame sein wollen, welcher der junge Mann nachfuhr, sie hätte schön, jung, unabhängig, ach Gott, sie hätte irgendein Weib sein wollen, das tun kann, was es will und sich nach Männern umwenden, die ihm gefallen. Und in diesem Augenblick wußte sie ganz bestimmt, daß Frau Rupius jetzt mit jemandem zusammen war, den sie lieb hatte. Freilich, warum sollte sie's nicht sein? Sie war ja, wenigstens solang sie in Wien lebte, frei, Herrin ihrer Zeit, – und dabei war sie sehr hübsch, und ein duftiges, violettes Kleid hatte sie an, und um ihren Mund war ein Lächeln, das man gewiß nur haben kann, wenn man glücklich ist – und zu Hause ist sie nicht glücklich. Und mit einemmal sah Berta Herrn Rupius vor sich, wie er daheim in seinem Zimmer saß und Stiche betrachtete. Aber heut' tut er es sicher nicht, nein, heute zittert er zu Hause um seine Frau, in einer ungeheuren Angst, daß man sie ihm dort, in der großen Stadt wegnimmt, daß sie nie wieder zurückkommt, und daß er ganz allein bleibt mit seinem Jammer. Und Berta hatte plötzlich ein Mitleid für ihn wie nie zuvor. Ja, sie wäre am liebsten bei ihm gewesen, um ihn zu trösten und ihn zu beruhigen.

Sie fühlte, wie jemand ihren Arm berührte. Sie zuckte zusammen und sah auf. Ein junger Mann stand neben ihr und schaute sie frech an. Sie starrte ihm noch ganz zerstreut ins Aug', da sagte er: »Na,« und lachte. Berta erschrak und lief beinahe, rasch einem Wagen zuvorkommend, über die Straße. Sie schämte sich ihres Wunsches von früher, die Dame im Wagen zu sein. Es schien ihr, als wäre die Unverschämtheit jenes Menschen die Strafe dafür. Nein, nein, sie ist eine anständige Frau, alles Freche ist ihr im Grund ihrer Seele zuwider – nein, sie könnte in Wien gar nicht mehr leben, wo man solchen Dingen ausgesetzt ist! Eine Sehnsucht nach dem Frieden ihres kleinen Hauses überkommt sie, und sie freut sich auf das Wiedersehen mit ihrem Buben wie auf etwas unerhört Schönes. – Wie spät ist es denn? Um Himmels willen, dreiviertel sieben! Sie muß einen Wagen nehmen; darauf kommt es ja nicht mehr an. Den Wagen heut' morgen hat ja Frau Rupius bezahlt, also kostet sie der, den sie jetzt nehmen wird, sozusagen nur die Hälfte. Sie setzt sich in einen offnen Fiaker, sie lehnt in der Ecke, beinah geradeso vornehm, wie sie von jener Dame in dem weißen Kleid gesehen. Die Leute schaun sie an. Sie weiß, daß sie jetzt hübsch und jung aussieht, und dabei fühlt sie sich so sicher, es kann ihr nichts geschehen. Das rasche Dahinsausen auf den Gummirädern bereitet ihr ein unsägliches Vergnügen. Wie hübsch wird es sein, wenn sie das nächstemal in dem neuen Kleid und mit dem kleinen Strohhut, der sie so jung macht, wieder im Wagen durch die Stadt fährt. Sie freut sich, daß Frau Rupius am Eingang des Bahnhofes steht und sie ankommen sieht, doch sie verrät nichts von ihrem Stolz, sondern tut, als wenn es ganz selbstverständlich wäre, im Fiaker beim Bahnhof vorzufahren.

»Wir haben noch zehn Minuten Zeit,« sagt Frau Rupius. »Sind Sie mir sehr böse, daß ich Sie habe warten lassen? Denken Sie, bei meinem Bruder war heute große Kinderjause, und die Kleinen wollten mich absolut nicht fortlassen. Zu spät fiel mir ein, daß ich Sie eigentlich holen lassen könnte; die Kinder hätten Ihnen viel Spaß gemacht, und ich habe meinem Bruder schon gesagt, daß ich nächstesmal Sie und Ihren Buben hinaufbringe.«

Berta schämte sich sehr. Wie unrecht hatte sie dieser Frau wieder getan! Sie konnte ihr nur die Hand drücken und sagen: »Ich danke Ihnen, Sie sind sehr lieb.«

Sie traten auf den Perron und stiegen in ein Kupee, das ganz leer war. Frau Rupius hatte ein Päckchen mit Kirschen in der Hand und aß langsam eine nach der anderen, die Kerne warf sie zum Fenster hinaus. Als der Zug sich in Bewegung setzte, lehnte sie sich zurück und schloß die Augen, Berta sah zum Fenster hinaus; sie fühlte sich recht müde von dem vielen Herumgehen, ein leichtes Unbehagen stieg in ihr auf, sie hätte diesen Tag anders verbringen können, ruhiger, vergnügter. Die kühle Aufnahme und das langweilige Mittagessen bei ihrer Cousine fiel ihr ein. Es war doch recht traurig, daß sie gar keine Bekannten mehr in Wien hatte. Wie eine Fremde war sie in dieser Stadt herumgeirrt, in der sie sechsundzwanzig Jahre gelebt hatte. Warum? Und warum hatte sie heute früh den Wagen nicht halten lassen, als sie jene Gestalt gesehen, die Ähnlichkeit mit Emil Lindbach zu haben schien? Freilich sie hätte nicht nachlaufen können, nicht nachrufen, – aber wenn er es wirklich gewesen wäre, wenn er sie erkannt, wenn er sich gefreut hätte, sie wiederzusehen? Und sie wären miteinander herumspaziert und hätten einander von der langen Zeit erzählt, die sie durchlebt, ohne voneinander zu wissen, und sie wären miteinander in ein vornehmes Restaurant gegangen, zu Mittag speisen, und einige hätten ihn natürlich gekannt, und sie hörte ganz genau, wie sich die Leute darüber unterhielten, wer »sie« eigentlich wäre. Sie sah auch schön aus, das neue Kleid war schon fertig, und die Kellner bedienten sie mit großer Höflichkeit, besonders ein kleiner Junge, der den Wein brachte, – aber das war eigentlich ihr Neffe, der selbstverständlich hier Kellnerjunge geworden war, statt zu studieren. Plötzlich traten in den Saal Herr und Frau Doktor Martin, sie hielten einander so innig umschlungen, als wenn sie ganz allein wären, da stand Emil auf, nahm den Geigenbogen, der neben ihm lag, und hob ihn gebieterisch, worauf der Kellner das Ehepaar Martin zur Tür hinausjagte. Darüber mußte Berta lachen, viel zu laut, denn sie hatte schon ganz verlernt, wie man sich in einem vornehmen Restaurant benimmt. Aber es ist ja gar nicht vornehm, es ist einfach die Gaststube »Zum roten Apfel«, und die Militärkapelle spielt irgendwo, ohne daß man sie sieht. Das ist nämlich eine Kunst des Herrn Rupius, daß Militärkapellen spielen können, ohne daß man sie sieht. Jetzt aber kommt gleich ihre Nummer dran. Hier ist das Klavier, – aber sie hat ja gewiß das Klavierspielen längst verlernt, sie wird lieber entfliehen, damit man sie nicht zwingt. Und gleich ist sie auf dem Bahnhof, Frau Rupius erwartet sie schon und sagt: Es ist höchste Zeit, – und sie gibt ihr ein großes Buch in die Hand, das ist nämlich die Fahrkarte. Doch Frau Rupius fährt gar nicht weg, sie setzt sich auf eine Bank, ißt Kirschen und spuckt die Kerne auf den Stationschef, der sich darüber sehr freut. Berta steigt ins Kupee, – Gott sei Dank, daß Klingemann schon da ist! – er winkt ihr mit gekniffenen Augen zu und sagt: Wissen Sie, was das für ein Leichenzug ist? Und Berta sieht, daß auf dem anderen Gleise ein Leichenwagen steht. Sie erinnert sich nun, daß der Hauptmann gestorben ist, mit dem die Tabaktrafikantin den Herrn Klingemann betrogen hat, – natürlich: darum war heute das Konzert im »Roten Apfel«. Plötzlich bläst ihr Herr Klingemann auf die Augen, lacht, daß es dröhnt, Berta schlägt die Augen auf – da saust eben ein Zug am Fenster vorbei. Sie schüttelt sich. – Was für wirre Träume! Und fing es nicht sehr schön an? Sie versucht, sich zu besinnen. Ja, Emil spielte eine Rolle . . . aber sie weiß nicht mehr, welche.

Die Dämmerung bricht langsam herein. Der Zug fährt die Donau entlang. Frau Rupius schläft und lächelt, vielleicht auch stellt sie sich nur schlafend; der leise Verdacht in Berta kommt von neuem, und ein Neid gegen das Unbekannte, Geheimnisvolle, das Frau Rupius erlebt, steigt in ihr auf. Sie möchte auch etwas erleben. Sie wünscht, daß jetzt irgend jemand neben ihr säße, seinen Arm an den ihren gedrängt, – sie möchte wieder dasselbe empfinden wie damals, als sie mit Emil am Wienufer stand, und ihr die Sinne beinah vergehen wollten, und sie sich nach einem Kinde sehnte . . . Ah, warum ist sie so allein, so arm, so im Dunkeln? Sie möchte den Geliebten ihrer Jugend anflehen: Küß mich nur noch einmal wie damals, ich möchte glücklich sein!

Es ist dunkel, Berta sieht in die Nacht hinaus.

Noch heute, bevor sie schlafen geht, wird sie die kleine Tasche vom Boden holen, in der die Briefe ihrer Eltern und Emils aufbewahrt sind. Sie sehnt sich, daheim zu sein. Es ist ihr, als sei eine Frage in ihrer Seele aufgewacht, auf die zu Hause die Antwort wartet.

 


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