Hermann Harry Schmitz
Der Fremde
Hermann Harry Schmitz

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Nun saß ich wieder am Frühstückstisch, zum ersten Mal, vom Fieber und dem Erlebten völlig ermattet.

Ich fragte nach dem Maler.

»Der ist am anderen Morgen, wie er sich vorgenommen hatte, mit dem Frühboot nach Schaffhausen hinuntergefahren. Ich habe ihn noch selbst ans Schiff gebracht«, berichtete der Mohrenwirt. – »Ist es nicht merkwürdig?« – der Mohrenwirt beugte sich geheimnisvoll zu mir über den Tisch herüber – »die Bronzefigur des Erlösers ist seit jenem Tag von dem Kreuz auf dem Kirchhof verschwunden. Glatt und unberührt fand der Totengräber das nackte Steinkreuz. Spuren einer gewaltsamen Loslösung waren nicht zu bemerken. – Ist das nicht sonderbar? Daß der Maler die Figur mitgenommen hat, halte ich für völlig ausgeschlossen. Er hatte keinerlei größeres Gepäck bei sich. Ich wüßte auch nicht, wann er es getan haben sollte. Während der Nacht konnte er das Haus nicht verlassen, die Türen waren alle fest verschlossen.«

Wieder wuchs die Vision vor meinen Augen: der schwarze Wanderer über den grell vom Mondlicht übergossenen Weg, die Figur des Heilands hoch emporgehoben, auf das Haus zuschreitend.

Voller Grauen schloß ich die Augen und sank in mich zusammen. Gab es noch ein Entrinnen vor diesem schauerlichen Alp?

Wie von ferne drang die Stimme des Mohrenwirtes an mein Ohr. Er sprach mit jemandem, der soeben ins Zimmer getreten war. Ganz verworren drang das Geräusch in meine Sinne. Jemand Fremdes war ins Zimmer gekommen.

Wieder lähmte die entsetzliche Furcht meine Glieder, ich wagte nicht die Augen zu öffnen.

»Das Fieber hat ihn stark gepackt«, hörte ich dann dicht neben mir den Wirt sagen.

Ich raffte meine ganze Kraft zusammen und öffnete die Augen.

Es war der Postbote, der eben hereingekommen war und mit dem Wirt sprach und mich erschreckt hatte.

Es war lächerlich. Ich war tatsächlich krank. Meine Nerven waren überreizt. Ich hatte das Fieber und phantasierte. Um mich abzulenken, griff ich mechanisch nach den Zeitungen, die der Postbote soeben auf den Tisch gelegt hatte. –

Wie von ungefähr fiel mein Auge auf eine Notiz, die mir das Blut in den Adern erstarren ließ.

»München, den 14. Oktober. Der hiesige Student der Medizin Norbert Fage wurde heute bei einem Duell im Forstenrieder Park tödlich verwundet und starb auf dem Transport zur Klinik.« So las ich entsetzt.

Das Blatt entfiel meiner Hand.

Norbert Fage hieß der Student aus München.

Etwas Furchtbares ging vor sich. Die Ahnungen, die jener entsetzliche Abend, jene schaurige Nacht geboren, denen Namen zu geben uns gegraut, hatten sich an meinen Genossen bereits erfüllt. An den beiden – und ich – ich lebte noch: ich, der ich auch in das bleiche Antlitz des Fremden geschaut. –

Ein Schaudern, ein Entsetzen, eine namenlose Furcht packte mich. – War ich ihm nicht verfallen? – Dort hinter jenen Kastanien konnte der schwarze Wanderer jeden Augenblick hervortreten oder über die Wasser heranschreiten und mein Geschick vollenden.

»Fort! Nur fort von dieser Insel!« schrie es in mir.

War es die Erde der Reichenau, die gedüngt von dem Schutt der Jahrhunderte, verwester Kulturen diesen Spuk gebar, wenn der Föhn über sie dahinbrauste? –

Weg, weg von diesem Eiland. –

Keine Nacht mehr durfte ich hier verbringen.

Schon um zwölf Uhr befand ich mich mit meinem Gepäck auf dem Dampfer nach Konstanz.

 

Am selben Abend saß ich in Zürich im direkten Wagen Bern – Luzern – Mailand.

In unaufhaltsamer toller Fahrt floh ich von Ort zu Ort, unstet und flüchtig, das Keuchen des schwarzen Wanderers im Nacken. Gehetzt von den furchtbaren Dämonen.

Wenn im Licht des Tages die grauenhafte Angst zu weichen begann, so schlug um so sicherer während der Nacht der entsetzliche Alp wieder seine Fänge in meine Brust. –

Ganz Italien hatte ich durcheilt.

Ich kam nach Neapel, einige Stunden vor Abfahrt eines Dampfers nach Westindien. Kurz entschlossen ging ich an Bord, von dem einzigen Wunsche beseelt, weiter, nur weiter. –

Schon nach wenigen Tagen begann die Seefahrt ihre wohltätige Wirkung auszuüben. Meine Nerven beruhigten sich, der Alp, das Furchtgefühl schwand mählich und mählich, und als wir nach vier Wochen im Hafen von St. Pierre auf Martinique einliefen, war die Erinnerung an den gespenstigen Fremden der Reichenau, die qualvollen Nächte mit ihren grausigen Visionen fast verblaßt. Halluzinationen, Possen, die mir meine Nerven gespielt hatten, waren es gewesen. Ein Zusammentreffen von Zufälligkeiten, alles dieses zusammengenommen, hatte jene entsetzliche Suggestion ausgeübt, der ich verfallen war. –

Ich blieb in St. Pierre, gelockt von den wunderbaren Reizen eines tropischen Märchens. –

Eines Morgens brachte ein spanischer Antiquitätenhändler Elfenbeinschnitzereien peruanischen Ursprungs und silbereingelegte Ebenholzschatullen ins Hotel. Ich wurde mit ihm handelseinig über einen Kasten aus Ebenholz, der mit seltsamen Arabesken in Silber und Elfenbein inkrustiert war. Auf den Druck an eine bestimmte Stelle, die mir der Händler wies, sprang der Deckel auf.

Das Innere des Kastens war mit einem matten Goldblech ausgeschlagen. Der Kasten mochte wohl zur Aufbewahrung von Schmuckstücken oder Kirchengeräten gedient haben. Ich ließ ihn auf mein Zimmer schaffen. –

Am Abend dieses Tages war ich, wie ich es häufig tat, ins Meer hinausgerudert und hatte vom Boot aus die sterbenden Sonnenstrahlen auf den weißen Häusern der Stadt erlöschen sehen, mich an den Sinfonien der schweren, violetten Töne einer südlichen Nacht berauscht, als eine seltsame Erscheinung am Nachthimmel mein ganzes Interesse auf sich zog. Über dem Kegel des Mont Pelée, der sich gigantisch aufreckte hinter der Stadt, schwebte ein bläulicher Lichtkranz; vom Lande herüber glaubte ich aus dem Schoß der Erde ein Grollen, ein Stöhnen zu vernehmen.

Der Mont Pelée war ein alter Vulkan, der schon lange außer Tätigkeit war und als erloschen galt. Der Feuerschein kam aus der Spitze des Berges, ohne Zweifel. Wie eine schwelende Riesenfackel, zur Wache bei einem Toten angezündet, erschien mir der Mont Pelée. –

Ich starrte gebannt zum Land hinüber. Ein seltsames Unbehagen, ein Angstgefühl überkam mich plötzlich. Ich hatte das Empfinden, als ob jemand hinter mir im Nachen wäre. Voller Grauen wandte ich mich um: ich war allein. Und dennoch fühlte ich fortgesetzt zwei furchtbare Augen auf mich gerichtet. Ein Schatten umkreiste mich, der meinen Blicken entglitt und sich nicht fassen ließ.

Was war nur wieder über mich gekommen? Sollte jener schauerliche Spuk, dem ich mich kaum entronnen fühlte, neu erwachen?

Ich ruderte, so schnell ich konnte, unter Aufbietung meiner ganzen Kraft ans Land zurück.

Am Kai war trotz der späten Stunde noch reges Leben.

Der amerikanische Dampfer, der noch während der Nacht seine Fahrt nach dem Süden, nach Rio de Janeiro, antreten sollte, nahm noch Güter und Kohlen auf. Die Kessel waren bereits unter Feuer. Schwere, dicke Rauchwolken drängten sich ungestüm aus den Schornsteinen in die Nacht. Karren mit Warenballen rasselten über die Landungsbrücke. Ein Hin und Her von geschäftigen Gestalten. Die Ketten des Krans quietschten.

Ich blickte den hastenden, keuchenden Menschen, die wie unter dem Zwang eines unerbittlichen Geschickes ihre mühselige Arbeit verrichteten, in die Gesichter und erschrak – erschrak über das unendlich Hoffnungslose in ihren Zügen. Meine Augen hefteten sich an die Gestalten, die immer wieder in dem gähnenden Tor des Lagerschuppens verschwanden und immer wieder unter schwerer Last zum Dampfer zurückwankten. – Ich vergaß meine eigene Angst. Ein ungeheures Mitleid mit diesen Armen ergriff mich.

Plötzlich hörte ich dicht neben mir ein kurzes höhnisches Lachen: ich wandte mich entsetzt zur Seite und sah eine schemenhafte Gestalt, die nach den arbeitenden Menschen hinüberzuweisen schien, im Schwarz der Nacht zerfließen.

Wieder packte mich das Grauen, wie soeben im Nachen, ein Grauen vor mir selbst, vor den Menschen dort drüben am Dampfer. Stöhnend wandte ich mich ab und wankte in die Richtung auf mein Hotel zu, das außerhalb der Stadt auf einer Anhöhe lag.

Hinter der schwarzen Silhouette des Gebirges tauchte der Mond auf

Wie ein römischer Cäsar in seiner Loge, nahm der Mond Platz am nächtlichen Firmament und blickte hinab in die Arena der Welt, kalt, gefühllos dem Schauspiel glanzvollen Mordens, Girandolen von Blut gewärtig.

Ich hatte das Hotel erreicht. Gespenstig hob sich das weiße Gebäude aus dem drohenden Dunkel der Palmen. Totenstille. Nur vom Meer herauf drang ein müdes Plätschern.

Ein schauerliches Geheimnis schien das Haus, die schweren Schatten der Palmen zu bergen.

Ich stürzte voller Grauen durch den Garten, öffnete hastig die Haustür, floh die Treppe hinauf und stand zitternd vor der Tür meines Zimmers.

Lautlose Stille im Hause.

Ich zögerte einen Augenblick und riß dann die Tür auf. Entsetzt blieb ich in der Tür stehen.

Im Rahmen des geöffneten Fensters stand groß und schwarz gegen die fahle mondhelle Nacht der grausige Fremde von der Reichenau, gerade im Begriff, das Zimmer durch das Fenster zu verlassen. Mit einer müden Bewegung wandte er sich nach mir um und schaute mich an.

Sein Blick umklammerte mich, preßte mein Herz zusammen und lähmte meine Glieder. Schauerlich wuchs das elfenbeinweiße Gesicht aus dem Ebenholz des Schattens. Die Erinnerung an die nächtliche Vision auf der Reichenau, an das tragische, geheimnisvolle Ende des Privatdozenten, des Münchener Studenten durchzuckte in furchtbarer Klarheit mein Hirn. In gräßlicher Todesfurcht versuchte ich zu schreien: meine Kehle war wie zugeschnürt, zu fliehen: ich vermochte nicht, mich zu rühren. – Sekunden wurden mir Ewigkeiten voller Höllenqualen.

Langsam verschwand der Unheimliche durch das Fenster.

Nach und nach wich die Erstarrung von mir, und ich wankte ans Fenster.

Der Garten lag ruhig übergossen vom Mondlicht da. Kein Lüftchen ging. Das Geräusch des träumenden Meeres war verstummt. Nichts regte sich. Niemand war zu sehen. Oder harrte dort in dem lauernden Dunkel der Palmen meiner das Verhängnis? Bewegte sich nicht etwas hinter jenen Eukalypten? Barg das Myrtengebüsch am Weg nicht entsetzliche Geheimnisse?

Ich ertrug den Anblick des Gartens nicht und trat erschaudernd vom Fenster zurück. – Das Zimmer lag im Dunkel; nur auf den Silberornamenten der alten Ebenholzschatulle zitterten die Mondstrahlen. Der Kasten schien frei im Raume zu schweben und gierig das Mondlicht zu trinken, um einem eigentümlichen, magischen Glanz, der von ihm ausging, Nahrung zu geben.

Wie gebannt heftete sich mein Blick an diese neue, seltsame Erscheinung.

Von einer unsichtbaren, geheimnisvollen Macht getrieben, zog es mich zu dem Kasten, berührte meine Hand die Feder, und der Deckel sprang auf.

Ein Strom von Licht schlug mir entgegen.

Auf dem Boden der Schatulle lag die Bronzefigur vom Kreuz vom Kirchhof der Reichenau. Aus dem Gold der Innenverkleidung züngelten blutrote Flammen um die schmale Gestalt des Heilands; die Mondstrahlen legten sich um den Bronzeleib, wie um ihn zu schützen vor der gierigen Glut.

Entgeistert starrte ich in den Kasten.

Die Flammen wuchsen, schossen aus dem Kasten heraus und griffen nach mir. Ich wich zurück. Größer und größer wurde das Feuer, immer heftiger drangen die Flammen auf mich ein und trieben mich Schritt für Schritt vor sich her; wie eine ungeheuere Schlange mit ungezählten Köpfen kroch mir die Flamme nach, verfolgte mich mit schauerlicher Unerbittlichkeit.

Vom Hafen herauf zerriß die Stille der Nacht das Heulen der Dampfsirene des amerikanischen Bootes.

Eine letzte verzweifelte Hoffnung.

Wie besinnungslos stürzte ich aus dem Zimmer, aus dem Hause dem Hafen zu. Blutrot erschien mir die Nacht. Vorwärts, vorwärts in wahnsinnigem Lauf!

Wird es mir noch gelingen? An meinen Fersen fühlte ich den glühenden Atem der entsetzlichen Verfolgerin. –

Die Maschinen des Dampfers arbeiteten bereits, als ich den Hafen erreichte. Ich raste die Landungsbrücke hinunter und sprang mit einem gewaltigen Satz auf das bereits in Bewegung befindliche Schiff. Völlig erschöpft brach ich auf dem Deck zusammen und verlor das Bewußtsein. –

Als ich wieder zu mir kam, befand sich der Dampfer schon auf hoher See. Auch jetzt gab mir, wie damals auf der Überfahrt von Neapel nach Martinique, das Meer meine Ruhe zurück, und schon nach kurzem begann sich die Erinnerung an die furchtbare Wiederkehr des Dämons der Reichenau und die Flammenvision mehr und mehr zu verwischen. –

Als wir nach zehntägiger Fahrt in Pernambuco anlegten, erfuhren wir zu unserem Entsetzen, daß in der Nacht, in welcher wir St. Pierre verlassen hatten, die ganze Stadt durch einen furchtbaren Ausbruch des Mont Pelée völlig vernichtet worden war. – –

Tagelang habe ich ins Meer geschaut und all das Entsetzliche, das ich erlebt, an mir vorüberziehen lassen. –

Wer gibt mir des schauerlichen Rätsels Lösung?

Fand der vom Kreuze geraubte Heiland unter der Lava des Mont Pelée endlich den Frieden?

Gab der schwarze Dämon mich auf, oder wird er eines Tages furchtbarer denn je meine Wege kreuzen und mein Geschick vollenden? –

Ich lebe noch. Ich atme noch. Ich spotte aller Dämonen. Heute ist heute. Ich trinke das Leben. – – – –

 

Hier schlossen die Aufzeichnungen des seltsamen Mannes, den ich vor einigen Jahren in einem Sanatorium am Rhein kennenlernte. Er kam damals von Südamerika und suchte in der bekannten Anstalt des Doktor Kraven Heilung von den Folgen maßloser Ausschweifungen und fortgesetzten Genusses von Opium und anderer Narkotika. Eine merkwürdige Veranlassung hatte uns zusammengebracht. Er hatte mir wochenlang bei Tisch gegenübergesessen, ohne ein Wort zu sprechen, ohne überhaupt von irgend jemand Notiz zu nehmen. Nervös, hastig aß er und verschwand meistens vor Schluß der Mahlzeit. Seine Augen, in denen es von Zeit zu Zeit wild aufflackerte, schienen ins Leere, ins Grenzenlose zu starren. Tagelang blieb dann oft sein Platz leer, und auch im Garten und in den Wandelhallen sah man ihn nicht. –

Ich trage am Zeigefinger der linken Hand einen wunderlichen Ring, den ich einst in Florenz von einem Trödler erstanden, eine goldene Spinne, deren Beine sich um den Finger krallen und in deren Rücken ein grün schillernder, wunderbarer Skarabäus gefaßt ist. Der Ring ist ein wertvolles, sehr seltenes Stück. Cesare Borgia soll ihn getragen haben, und in der Tat ist auf verschiedenen zeitgenössischen Porträts dieses Borgia der Spinnenring deutlich erkennbar. –

Eines Tages bemerkte mein seltsames Gegenüber bei Tisch diesen Ring. Sein Blick heftete sich wie hypnotisiert an meine Hand. Dann schaute er plötzlich auf zu mir, beugte sich über die Tafel zu mir herüber und fragte mit leiser Stimme, auf den Ring deutend: »Der Ring des Borgia?« –

Wir sprachen dann über Florenz, über Italien, und er verriet eine genaue Kenntnis des Landes und seiner Kunstschätze. Wir kamen von diesem Tage an häufiger zusammen. Er, der sonst scheu jede Berührung mit den übrigen Insassen des Sanatoriums vermied, schloß sich von Tag zu Tag immer mehr an mich an.

Er war in der ganzen Welt herumgekommen. Er verfügte über ein außergewöhnliches Wissen auf allen Gebieten. In die Mysterien der Laster aller Länder, aller Sensationen des Lebens schien er eingedrungen. Etwas Unstetes hatte er im Wesen. Nie sprach er eigentlich von sich selbst.

Dann kam jene Stunde, die ich nie vergessen werde.

Es war an einem stillen, lauen Abend, müde stieg die Dämmerung hinab zur Erde, der Rhein zu unseren Füßen trieb gespenstig seine Silberfluten zu fernen Meeren. Wir saßen im Garten der Anstalt, als er leise flüsternd anhub zu erzählen von seinem Leben, von grausigen Visionen, von Dämonen, die ihn verfolgen, ihn jagen, ihn zu Tode hetzen werden. Oft brach er plötzlich ab und blickte scheu um sich.

Der Mond stand am Himmel, als er geendet.

Noch jetzt nach Jahren steht er mir vor Augen, wie er am Schlusse der Erzählung der Tragödie seines Lebens aufsprang, die Faust drohend gegen einen unsichtbaren Feind erhob und wild auflachend hinabschrie in das stille Tal, die Stimme fast erstickt von grenzenlosem Haß: »Ich spotte eurer! Ich lebe noch! Heute ist heute!«

Am anderen Morgen war er abgereist. Ohne Abschied. Niemand wußte, wohin er sich gewandt.

Nach einem Jahr ungefähr sandte man mir vom Sanatorium einen dort für mich angekommenen Brief. Der Brief trug den Poststempel Bombay und enthielt 14 mit einer kleinen, nervösen Schrift bedeckte, dünne Blätter: das Manuskript der in Vorstehendem wiedergegebenen merkwürdigen Erzählung, ohne irgend welches Begleitschreiben.

Ich kam bald darauf an den Bodensee und besuchte bei dieser Gelegenheit die Insel Reichenau. Von dem Wirt im »Mohren« erfuhr ich, daß mein Freund tatsächlich bei ihm gewohnt habe und nach dem Tode des Privatdozenten und der Nachricht von dem Tode des Studenten plötzlich abgereist sei. Auch, daß der Christus von dem Kreuz vom Kirchhof verschwunden sei, bestätigte mir der Wirt.

 

Vergangenen Winter hielt ich mich gelegentlich einer Mittelmeerreise einige Tage in Marseille auf und trieb mich häufig in den engen, verrufenen Gassen am Hafen herum, dort wo jedes Laster eine Stätte hat. Von malayischen Matrosen hatte ich die Adresse einer Opiumkneipe erfahren. Ich brauchte Nirwana, und eines Abends machte ich mich auf nach der bezeichneten Taverne mit dem seltsamen Namen »Prizuhli le vrai«. Lange irrte ich in dem Gassengewirr umher, bis ich die richtige Gasse fand. Eine windschiefe Laterne, in der ein kümmerliches Licht hin und her flackerte, trug in ungelenken, kunstlosen Lettern die Aufschrift »Prizuhli« und bezeichnete den gesuchten Ort.

Unschlüssig blieb ich noch einen Augenblick vor dem Eingang stehen, als plötzlich eine Hand leise meine Schulter berührte und eine mir nicht fremde Stimme meinen Namen flüsterte. Erschreckt schaute ich um: mein Freund aus dem Sanatorium stand vor mir. Soviel ich bei dem ungewissen Licht der Laterne erkennen konnte, waren in seinen Zügen entsetzliche Veränderungen vor sich gegangen. Ein von allen Leidenschaften durchwühltes Gesicht, das Antlitz eines Toten, in dem nur die funkelnden Augen das Leben verrieten, grinste mich an.

Ich stammelte etwas.

»Er kann mir nichts mehr anhaben! Ich bin gefeit!« raunte er mir geheimnisvoll zu. »Das Amulett der Herzogin von Montespan schützt mich. Die Königin aller Dämonen Frau La Voisin selbst hat es geweiht!« Er hielt mir eine seltsame mit Granaten besetzte flache goldene Büchse unter die Augen. Höhnisch lachte er auf. Wahnsinn sprach aus seinen Augen. Sorgsam verbarg er dann die Büchse in seinem Rock und verschwand plötzlich wieder im Dunkel der Nacht. Ich hörte seine Schritte in der Ferne verklingen. Atemlos horchte ich in die Gasse. Dumpfes Flüstern drang an mein Ohr, leises Gitarrenspiel, zu dem halblaut eine rauhe Stimme ein obszönes Matrosenlied sang, irgendwo kreischte jemand gellend auf. –

Ich stürzte erschaudernd hinein in die Taverne »Prizuhli le vrai«.


 << zurück