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Zum Geleit!

Lieber Hermann Harry Schmitz! Ich soll Ihre nachgelassenen – dies literarische Wort bekommt ordentlich einen komischen Klang im Zusammenhang mit Ihrem Namen! – also Ihre nachgelassenen Schriften mit ein paar angenehmen Worten ins Publikum begleiten. Die muntern Erzeugnisse Ihrer leichten Muse haben aber weder einen Herold nötig, der sie mit Trompetenstößen und Prologversen einführt, noch einen Nachpreiser nach Art der Mimen, welche die Römer hinter einer Leiche hergehen ließen, um mit Grimassen und Gestikulationen die Tugenden und Vorzüge des Verstorbenen zu schildern und zu feiern. »Ihre lustigen zwerchfellerschütternden Sachen«, um dies erschöpfende Urteil des bekannten mächtigsten und größten deutschen Bahnhofbuchhändlers Georg Stille, das Ihnen Ihren Lebensabend vergoldete, zu wiederholen, »sprechen für sich selbst«. Und es liegt allein an unserm gemeinsamen Verleger, wenn Sie nicht bald zu den beliebtesten und gelesensten Humoristen des heutigen Deutschlands gehören.

Es bleibt mir also nur als Ihr von Ihnen schon zu Ihren Lebzeiten anerkannter Nekrologist übrig, Ihr kurzes curiculum vitae aufzuschreiben, dessen Abfassung Sie leider bei der plötzlichen Abreise, die Sie von unserer Erde vornahmen, verabsäumt haben. Möge es Ihnen die Aufnahmeprüfung in die höheren geistigen Orden, der Sie sich jetzt und in Zukunft unterziehen müssen, mit meinen Kräften erleichtern!

*

Hermann Harry Schmitz wurde, ohne vorher um seine Einwilligung gefragt zu werden, in den Ausläufen des letzten neunzehnten Jahrhunderts geboren, das sich, nachdem es schon so und so viele praktische reale Erfindungen ins Leben gerufen, zum Schluß noch in einem gewissen Abspannungsgefühl von all diesen nüchternen und nützlichen Dingen die Erzeugung dieses kurzlebigen Kobolds gestattete. Und zwar in Düsseldorf am Rhein, wo angeblich am 1. Januar 1800 bereits Heinrich Heine, der sich gern, das Zivilregister korrigierend (in Wahrheit war der 13. Dezember 1799 sein Geburtstag), als »erster Mann des Jahrhunderts« bezeichnete, geboren war. Unser Hermann Harry ertrug diesen Geburtsort mit der gleichen Würde wie seinen etwas allzu volkstümlichen Namen, der ihm verliehen war. Er akklimatisierte sich überhaupt anfangs, so gut es gehen mochte, und nahm zunächst mit Sorleth und Schnuller mangels anderer höherer geistiger Anregung vorlieb. Seine Schulzeit war jenes fürchterliche Martyrium, das wir alle in jener Zeit durchgemacht haben, da der lateinische Aufsatz und die allein wahrhaft und ganz gebildet machende »humanistische« Ausbildung noch nicht von Wilhelm dem II. aus dem Felde geschlagen war.

Hermann Harry Schmitz, vermutlich der zwanzigste bis fünfundzwanzigste unter seinen vierzig Mitschülern, von denen fünf bis acht in der Regel sitzen blieben, begann offenbar schon auf der Schulbank zu grübeln. Leider grübelte er nicht über den Rheinbrückenbau Cäsars oder die vier Kongruenzsätze der Dreiecke oder das Aufsatzthema: »Die Ähnlichkeiten zwischen Schillers »Taucher« und Goethes »Fischer« oder »Iphigeniens Verhältnis zum König Thoas« oder: »Was hat der schwarze Ritter in der Jungfrau von Orleans zu bedeuten?« – vielmehr über ganz einfache Dinge, Dinge, die viel zu einfach waren, als daß man sie als Aufsatzthemas geben konnte wie: »Warum sitzen wir hier so dicht gedrängt nebeneinander in der schlechten Luft?« oder: »Was heißt und zu welchem Ende lerne ich eigentlich Trigonometrie?« oder: »Was für ein Vergnügen findet der Lehrer daran, immer in seiner Nase zu bohren?« oder: »Wie kommt es, daß der Sohn des Oberlehrers Knollenhose weniger durch Fragen belästigt wird als ich?«

Man weiß nicht genau mehr – und es bleibt künftigen germanistischen Studenten vorbehalten, dies in verschiedenen Doktorarbeiten noch klar zu legen – wie er gleich Odysseus verschmitzt an den Kikonen der Quarta, den Lästrygonen der Untertertia, an den malmenden Irrfelsen der Obertertia und schließlich durch die Szylla und Charybdis der Untersekunda hindurchgekommen ist. Tatsache ist, daß man ihm die Befähigung, als Einjährig-Freiwilliger in die preußische Armee einzutreten, zuerkannt hat, was man weniger seiner lückenhaften lateinischen und mathematischen Kenntnisse halber hätte tun sollen als wegen seiner Fertigkeit, mit der er in der Religionsstunde Fliegen fing und sie in einen ausgehöhlten Kork sperrte oder mit Tinte vorher durchnäßte Papierklümpchen mittelst kleiner frei nach Cäsar konstruierter Ballisten an die weißgetünchte Klassenzimmerdecke schleuderte. Im übrigen machte unser Hermann Harry von der ihm zugesprochenen Qualität beim Militär keinen Gebrauch. Er hatte sich von früh an ein höchst zartes anfälliges Nervensystem zugelegt, das ihn von vornherein unfähig machte, eine Pickelhaube auf seinen schmalen feinen Schädel zu stülpen oder die Kniewelle oder die Fahne am Reck zu exerzieren.

Der Vater unsers anmutigen Staatskrüppels, der noch nicht ahnte, welch ein sonderbar gefärbtes Kuckucksei ihm von dem undefinierbaren Weltgeist mit diesem Sohn ins Nest gelegt war, beschloß nach kurzem Familienrat, dem unser Harry nichtsahnend bei, wohnte, den Sohn in seine eigenen Fußtapfen treten zu lassen. So wanderte unser guter Harry denn eine ganze Reihe von Jahren auf seinen Traumschuhen in eine Kesselfabrik am schwarzen Rande von Düsseldorf, allwo nach der Prädestinationslehre schon ein Kontorbock stumpfsinnig, wie Böcke zu sein pflegen, auf ihn wartete. Zwischen Schloten, Maschinen, Röhren und Treibriemen, zwischen Flanschen und Stanzen, die ihm immerzu im Kopf durcheinander gingen, wuchs er auf und kam langsam zum Bewußtsein über sich und die merkwürdige Welt, die ihn umgab. Aber trotz all der Nüchternheit und Präzision, die ihn umgab, gelang es ihm doch, aus dem Puppenstand des Kommis und angehenden Fabrikdirektors sich in einen noch höheren schmetterlingshaften Zustand zu entwickeln. Das feine geistige Merkmal, das ihm vor seiner Geburt schon ausgeprägt war, drückte sich durch alle Stahlplatten und Eisenringe, mit denen sein Beruf ihn umschloß, siegreich hindurch. Er triumphierte schließlich lachend über die dickste Materie und schwang sich um die gleiche Zeit, da Zeppelin das Fliegen erlernte und die ersten Aeroplane die Lust durchkreuzten, auf den Flügeln seines Humors in ein Gebiet, wo keine andere Fachkenntnis von ihm verlangt wurde, als nur das Wissen um das Wesen des Menschen im Singularis wie im Pluralis. Und siehe da, es zeigte sich, daß er in dieser Materie viel besser Bescheid wußte als in jener anderen, und daß er die Zeit, da er über Kontorbüchern und Lohn- oder Dividendenabrechnungen sitzen mußte, zu nichts anderem benutzt hatte, als die Tierart zu studieren, zu der er sich wohl oder übel zählen mußte.

Er begann zum Erstaunen, ja Entsetzen seiner bisherigen Berufsgenossen, seine ersten Kapriolen in der Zeitung zu machen und Rad zu schlagen, wie man es bisher selbst in Düsseldorf noch nie gesehen hatte. Seine Grotesken, die er unter dem lieblichen Titel: »Der Säugling und andere Tragikomödien« gesammelt hat, erschienen und machten ihn in der Gesellschaft von reinen Normalmenschen völlig unmöglich. Aber das drückte ihn nun nicht mehr. Er hatte sich mit einem kühnen Salto aus der kaufmännischen Welt befreit, in der er so lange die Rolle des bekannten fünften Rades gespielt hatte, und siedelte sich in den Niederungen des Parnaß unter dem bescheidenen Titel »humoristischer Schriftsteller« an. Das war er und blieb er nun bis zu seinem Tode, mit dem er sich und uns vor einem Jahr überraschte.

Freilich hatte er als solcher nicht den beliebten niederdeutschen Humor mit der berühmten Träne im Auge, sondern mehr den nihilistischen, zerstörerischen, auf Bubenstreiche und entsetzliche Finales ausgehenden Humor des von der Düsseldorfer Kunstakademie gejagten Historienmalers a. D. Herrn Wilhelm Busch aus Wiedensahl. Daher sind seine berüchtigten fürchterlichen Schlüsse zu erklären: dieses Tohuwabohu, in dem seine meisten Grotesken auslaufen, dieses Kaputtschießen seiner Figuren am Ende, dieses tief metaphysische germanische Gemütsbedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen und zu Leibe zu rücken, das den edlen Holsteiner Detlev von Liliencron beispielsweise, wenn er betrunken war, mit Vorliebe in eine Schießbude zu treiben pflegte.

Diese Wut gegen die Oberflächlichkeit, an die wir gebunden sind, und der Kummer, daß wir mit allen unseren Ideen und Philosophien nie dahinter kommen können, setzten auch unserem liebevollen Harry, so lange er lebte, hart zu. Er war ja im Grunde gar nicht der stets fidele Seifensieder und Spaßmacher, als den ihn die Leute ansahen, und hätte gern oft, wenn er dies nicht für geschmacklos gehalten, lauter als der Bajazzo aufheulen mögen. Er hat jahrelang an der Grenze, wo unser Erkennen aufhört und der Wahnsinn beginnt, und wo das heitere Lachen sich von der sinnlosen Grimasse scheidet, gelebt, und dies Grenzdasein hat ihn ernster als die meisten andern Menschen gemacht. Aber er hat der finstern Macht widerstanden mit der seltenen Energie, mit der er auch seine zahllosen körperlichen Leiden und Plagen, mit denen er wie das alte Ägypten überschwemmt war, überwand. Und in dem Augenblick, da er sich schon nicht mehr stark genug fühlte, diese Verwirrung und Verdüsterung, die einen jeden höheren Menschen bedroht, abzuwehren, da ging er von hinnen.

Er erhob sich unvermutet schnell und geräuschlos in jene Region, wo alle Berufs- und Konfessionsfragen ein Ende haben, und verschwand, ohne von jemand Abschied zu nehmen, wie einer, der ermüdet ist, sich nach einem langen stummen Blick auf seine Freunde und Bekannten schnell auf französisch von einem Feste drückt. Als hätte er nochmals sagen wollen: »Verzeihung! Ich will nicht stören!« stand er leise auf, ohne irgendwen zu belästigen, und ging mit einer seiner unvergleichlichen merkwürdigen Gesten zur Türe hinaus.

Er war ohne Zweifel die wunderlichste Gestalt, die seit dem Verschwinden des Gnomen und Geistes Christian Dietrich Grabbe, so im April des Jahres 1836 stattfand, das Pflaster der Stadt Düsseldorf beschritten hat, das im allgemeinen nur von regelrechten Staatsbürgern und von aufrecht gehenden zweibeinigen Lebewesen, die das Außergewöhnliche und Besondere vermeiden, wenn nicht verabscheuen, abgetreten wird. Und die, die ihn gekannt haben, werden ihn so leicht nicht vergessen. Glaubt man doch jetzt noch manchmal, wenn man dort in Düsseldorf um eine Straßenecke biegt, ihn wieder uns entgegenwandeln zu sehen mit seinem Stöckchen, das ein grinsender Mohrenkopf zierte, seinem rotgefütterten Mantel, seinen Handschuhen, seinen dünnen, langen, geisterhaften Händen, seinem hagern, sonderbaren Gesicht: Diese ganze eigentümliche menschliche Erscheinung, die, wie aus einem Gespensterroman von E. Th. A. Hoffmann entsprungen, über unsere Erde huschte. Das Eigenartigste waren seine meist ins Leere schauenden unendlich traurigen Augen, mit denen er einen nur zuweilen freundlich anblickte, als hätte er sagen wollen: »Danke für die Reisebegleitung. Eine höchst tolle Welt, nicht wahr?« Ich meinerseits werde nie den melancholischen Ausdruck dieser Augen vergessen, mit dem er, der sich zu der wehmütigen Kategorie der Spaßmacher zählen mußte, zeitweise das Podium betrat, um zum Besten irgendwelcher Armen, die meist reicher waren als er, etwas vorzutragen. Er starrte in den schwarzen Abgrund um uns und begann: »Ich bin eine Hängematte« oder: »Haben Sie jemals eine Nacht lang zu enge Lackschuhe tragen müssen?« oder, indem er seinen ihm jetzt völlig überflüssig gewordenen Chronometer hervorzog: »Ich gedenke drei Stunden, 55 Minuten und 37 Sekunden zu sprechen«.

In der letzten Zeit seines Lebens beschäftigte er sich viel mit der indischen Philosophie der Yoga, und »Läuterung« war das Lieblingswort seiner letzten Periode. Somit starb er auch im moralischen Sinne, wir ein deutscher Dichter nach dem Wunsch und Programm unserer Oberlehrer und Professoren zu sterben hat: Reif, gehoben, geläutert. Sein letztes verständliches Wort hieß: »Ich bin in tausend Himmeln«, – ultima verba, um die ihn ein Pastor und Erzbischof beneiden könnte.

Diese hier hinterlassenen Blätter umflattern fröhlich die Trauerurne, in der sein kleiner materieller Teil heute schlummert. Sie grüßen jeden, der ihn kannte und nicht kannte, mit dem besten und unzerstörbaren Teil seines Wesens, mit der angenehmsten Gabe, die uns Menschen für diese verflucht kurze Pilgerschaft über die bucklig. Erde verliehen sein kann, mit unendlichem Humore.

Im Sommer des sogenannten Jahres 1914.

Herbert Eulenberg.


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