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Über das Kind

In des Kindes Seele leuchten kristallene Testamente der Menschheit. Ein Kind ist darum wie eine Miniaturausgabe einer vollendeten Legende von allem Gewesenen und Gewordenen. Sein eines Händchen hält die Blume der Vergangenheit, das andere langt nach der Zukunft.

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Zwischen zwei verhüllten Zeiten
Steht die junge Gegenwart:
Kinder sind Unsterblichkeiten,
Die die Liebe offenbart.

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Um das Kind ist die Anmut holdester Selbstverständlichkeit ausgegossen. Nur ein Kind könnte einen Kaiser oder den Papst fragen: »Hast Du meine neuen Stiefel schon gesehen?« Diese kleinen Sendlinge reiner Menschlichkeit sind eben die größten Überseher aller Menschlichkeiten.

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Aufhören, kindlich zu sein, heißt: aus dem Paradies vertrieben werden. Nur ist das Flammenschwert des Erzengels zum – Federhalter geworden. Wer hat ohne heiße Schmerzen sein Kind nach dem ersten Schultage über die Fibel gebückt gesehen: diesen kleinen vom Spiel vertriebenen Engel mit verwirrtem Blick und der langsam steigenden Flut der Tränen im Auge?

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Kindlich sein, bedeutet: alle Werte umwerten können. Dem Kinde nur kann ein Stuhl zur Pferdebahn, ein alter Hut zur Krone werden. Es sind ihre kleinen Phantasieflammen, die das kalte Leben so warm machen.

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Wir können vielleicht vom Kinde ebensoviel lernen, wie so ein kleiner Schelm von uns. In mehr als einem Sinne wird niemand wieder so klug, wie er als Kind war. Das Kind hat vor allem den Mut des Egoismus ohne Schuld, das ist: des Glückes ohne Reue.

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Ich glaubte an die Möglichkeit des steuerbaren Luftschiffes allein, weil das Spiel mit dem Winddrachen Jahrtausende alt ist. Kinderinstinkte, die immer wieder kommen, irren sich nicht. So wird es auch mit Gott sein.

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Die geschickteste Diebeshand hat das Kinderhändchen. Je echter ein Herz, desto weniger sicher ist es vor ihm.

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Allein um das Wort: »Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich«, möchte ich immer Christ bleiben.

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Wem die Kindersehnsucht das erwachte Bewußtsein überflutet, wie die See den Damm: der wird ein Genie. Genie sein heißt: Sehnsüchten der Kindheit wahr machen.

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Wann wird die Zeit kommen, die nie mehr ein Kind fühlen läßt, ob es in Ehren geboren ist oder in Unehren? Niemand hob den ersten Stein auf gegen die Ehebrecherin; nach ihrem Kinde zielen noch heute alle Pfeile des Gesetzes und der Gesellschaft.

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Der schönste Geruch dieser Erde ist der Duft eines frischgewaschenen Kinderhalses.

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Der Ausdruck der Gemütsbewegungen eines Kindes steckt in den Beinen. Bei Kindern sind die Beinchen Seelenorgane. Strampeln hat viele Nüancen (Freude, Trotz, Wut, Wohlbehagen), Hängenlassen der Beine (Kummer, Melancholie, Langeweile), gekreuzte Füßchen (Verlegenheit, Sehnsucht, philosophisches Nachdenken) usw. Man wird es glauben, sowie man darauf achtet.

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Wie verblüffend tiefsinnig kann ein Kindermund plaudern! Als ich meinem Nichtchen von 4 Jahren den Tod ihrer Großmutter mit stillen Worten begreiflich zu machen suchte, sagte diese kleine Prophetin einer ganz neuen Weltanschauung: »Weiß schon, Großmama ist einfach zurückgeboren!« So geschehen am 5. März 1905.

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Eltern sollten die frappierenden Fragen und die geplapperten Drolligkeiten ihrer Kinder sorgsam aufzeichnen und sie erst den Zwanzigjährigen überreichen. Man könnte daraus mehr profitieren, als aus allen Philosophien zusammengenommen.

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