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Kreusa mit fliegenden Haaren
Weh mir, weh! Wohin entflieh ich? Welche Rettung find ich aus?
      
 Zu durchbohren meinen Busen, tausendfach von Qual durchbohrt.
      
 Kaum, o kaum noch hab ich Atem, meine Schritte hemmt die Angst,
      
 Statt sie leichter zu beflügeln, und ich sterb und sinke hin.
      
 Nein! Ich will noch nicht erliegen; aufgerafft die letzte Kraft!
      
 Hier am Tempel gilt kein Weilen, feindlich ist dies Heiligtum
      
 Phöbus ließ auf mich ja selber los des wilden Knaben Grimm,
      
 Und ihm war 's willkommnes Opfer, troff mein Blut hier am Altar.
      
 Drum, ihr Nymphen des Parnassus, rettet das verlorne Weib,
      
 Rettet, helft, empfanget, berget, die ihr an den Quellen wohnt,
      
 In den korycischen Bacchus-Grotten, und Dryaden und Napän,
      
 Habt ihr Höhlen, habt ihr Dickicht, manche dunkle Felsenschluft,
      
 O da laßt mich unterschleichen, wie ein aufgejagtes Wild!
(ab)
Ion ohne Mantel, Pfeil und Bogen in der Hand.
Wohin floh die giftge Mutter? Find ich hier sie oder dort?
      
 Lief sie wohl schon weit vorüber oder weilt sie in der Näh?
      
 Doch ein solches Ungeheuer trägt der heilge Boden nicht,
      
 Den ihr Fuß befleckt: Er stößt sie in die wüste Wildnis aus.
      
 Ihre Spuren seh ich dorthin, ja sie soll mir nicht entgehn.
      
 O ihr Götter! O Apollo, der du dies Geschoß mir gabst,
      
 Zu verscheuchen, zu vertilgen wilden Raubgefieders Brut!
      
 Laß ein größres jetzt gelingen! Jetzt begünstge meine Jagd!
      
 Daß ich nicht das Ziel verfehle, ihre morderfüllte Brust.
      
 Bist du doch der Drachentöter, der, von hohem Zorn entbrannt,
      
 Einst die Mutter Erd entlastet, da du hier den Python schlugst.
      
 Trägt die Schlange Weibesantlitz, die ich stracks erlegen will,
      
 Ist sie grimmer doch als Python, ihre Augen sprühen Gift.
      
 Nun, wohlauf! Was zaudr' ich länger? Und sobald den Pfeil ihr Blut
      
 Rötet, häng ich dir im Tempel diese frommen Waffen auf.
(ab)
Pythia Welch ein Getümmel und ein Aufruhr schlägt
      
 An diese Pforte, diese stillen Hallen,
      
 Die brünstiges Gebet nur und der Hymnen
      
 Melodische Gewalt bestürmen sollte?
      
 Schon seh ich niemand mehr: Doch eben erst
      
 Vernahm ich deutlich Stimmen und Geschrei,
      
 Der Flucht und der Verfolgung irre Tritte.
      
 Hat sich die Freude bei dem Gastmahl, brausend
      
 Wie junger Traubensaft, in sich entzweit?
      
 Und fechten, wie die Thrazier, mit Bechern
      
 Die Gäste des athenischen Beherrschers?
      
 Wofern nur nicht der Übermut, der dort,
      
 Von lauter Lust herbeigerufen, tobt,
      
 Im Taumel schweifet bis zur blutgen Tat,
      
 Und, wenn die angerichtete Zerstörung
      
 Ihn kalt ernüchtert hat, in Maß und Schranken
      
 Zu spät zurückkehrt mit vergebner Reu.
      
 Mein Ion (ach, nicht mein mehr!) war dabei:
      
 Galt ihm der Zwist? Betraf ein Unfall ihn?
      
 Wer kann mir 's melden? Doch ich höre nahn.
Pythia, Xuthus, dessen Gefolge den Phorbas in Fesseln herbeiführt
Xuthus
(noch hinter der Szene:)
Hier führt ihn her! Hieher! Und gebt wohl acht,
      
 Daß er euch nicht entrinne.
      
(auftretend:) Priesterin!
      
 Zum Glücke treff ich dich: denn dein bedarf 's.
Pythia Was stürmt zu solcher Eil dich her?
Xuthus Ein Frevel ohnegleichen ist verübt.
Pythia Sag an: Ich bin auf Schreckliches gefaßt.
Xuthus Noch fehlen Worte dem verstörten Mut.
Pythia Hat Blut die Becher deines Mahls genetzt?
Xuthus Gift und der Furien Geifer troff hinein.
Pythia Wen zu verderben wurden sie gemischt?
Xuthus Mein teures Pfand, den kaum gefundnen Sohn.
Pythia Ist Ion hin? Schlang ihn der Orkus ein?
Xuthus Vorbei an seinen Lippen ging der Todestrank.
Pythia O himmlisches Gewölk! Ich atme wieder.
Xuthus Auch ohn' Erfolg bleibt, was sie war, die Tat.
Pythia Wer hat sie ausgesonnen? Wer vollbracht?
Xuthus Kreusens Rat und dieses Knechtes Hand.
Pythia Dein treuer Diener und dein liebend Weib?
Xuthus Wenn Treu Verrat ist, Liebe Meuchelmord.
Pythia O der Verblendung sterblicher Geschlechter
      
 Und ihrer vom Beginn heillosen Werke!
      
 In der Verwirrung suchen sie Gedeihn,
      
 Aus nächtlicher Verbrechen Graun soll ihnen
      
 Die Sonne eines neuen Glücks hervorgehn.
      
 Da ist kein noch so stark gewobnes Band
      
 Des Bluts, der Liebe, der Genossenschaft,
      
 Das hielte, wenn hier stolze Herrschbegier,
      
 Dort eignen Vorteils Sucht gewaltsam reißt,
      
 Indes die Fäden Tück' und Neid zernagt;
      
 Nur der lebt ruhig, der der Lebensgüter
      
 Sich ganz verziehn, wie abgeschiedne Seelen.
      
 Kaum daß mein teurer Ion aus dem Hafen
      
 Des Heiligtums den kleinen Nachen wagt,
      
 So wirbeln ihn die trüben Strudel fort,
      
 Und an der Klippe lag' er schon zerschmettert,
      
 Wenn nicht der Göttersorge günstger Wind
      
 Ob ihm gewaltet und in die Umarmung
      
 Der stillen Bucht ihn hätte heimgeführt.
      
 Ach, daß er nimmer sie verlassen dürfte!
      
 So müßt' ich nicht nachschauend stehn am Ufer,
      
 Und sorgenvoll ihm mit Gelübden folgen, –
      
 Doch melde mir, o König, den Verlauf:
      
 Wie es ans Licht gekommen, welch ein Wunder
      
 Von unserm Ion die Gefahr gewandt;
      
 Denn noch kann sich mein Geist nicht überzeugen,
      
 Daß nicht ein falscher Argwohn euch verstört.
Xuthus Nur zu gewiß ist, was die Sonn' erröten,
      
 Die heilgen Haine schauern machen muß,
      
 Was der Stiefmütter schon verhaßten Namen
      
 Noch schwärzer zeichnet und in ihrer Brust,
      
 Dem Kelch der Mutterliebe sonst bei Frauen,
      
 Die milde süße Milch in Gift verwandelt.
      
 Hör an! Auf daß du glaubest, was unglaublich ist.
      
 Dort auf der frisch begrünten Wiesenfläche
      
 Vor Delphi ward das Mahl mit Fleiß bereitet.
      
 Die ganze Ebne wimmelte von Dienern,
      
 Die hin und wieder Opfertiere führten
      
 Und mancherlei Gerät in Händen trugen.
      
 Ich selber sorgte für der Speise Fülle,
      
 Und was zur Lust und Anmut sonst gehört,
      
 Für Salben, Kränze, Blumen, Weihrauchdüfte;
      
 Mein Knab' indessen übernahm, die Stätte
      
 Den Gästen anzuordnen, wie er es
      
 Gar wohl verstand und oft zuvor gesehn.
      
 Für ein geräumiges Gezelt den Platz
      
 Maß er und steckt' ihn ab; und in die Ecken
      
 Hieß er die Zimmerleute Fichtenstämme
      
 Als Pfeiler treiben, die er obenher
      
 Mit quergelegten Balken fest verband.
      
 Dann wurden sie mit Teppichen bekleidet,
      
 Die euer reicher Tempelschatz verwahrt
      
 Für solche Festlichkeiten und worunter
      
 Die köstlichsten er mir zu Ehren wählte.
      
 Die Häupter schirmte vor den Sonnenstrahlen
      
 Ein Himmel, kunstreich in den blauen Stoff
      
 Gewirkt mit Gold und Silber, wo der Mond
      
 Mit seinen Hörnern und die mildre Fackel
      
 Des Hesperus zu sehn war; hier am Rande
      
 Die Nacht, umwallte vom sternbesäten Schleier,
      
 Hinanfuhr und ihr gegenüber sich
      
 Der Sonnengott mit seinen Flammenrossen,
      
 Forteilend, in den Schoß der Fluten tauchte.
      
 So waren auch die rings behangnen Wände
      
 Mit Kämpfen der Zentauren, wilden Jagden,
      
 Der Satyrn und Bacchanten lustgen Tänzen
      
 Bevölkert und belebt: Es schien der Bau
      
 Des schnell emporgewachsnen Saals, damit
      
 Der Gäste Blick sich nicht ins Freie sehnte,
      
 In seinem engern Raum die Welt zu fassen,
      
 Des Äthers Umschwung und das Erdgewühl.
      
 Nicht war nach Mittag zu die offne Seite,
      
 Noch auch nach Mitternacht gerichtet, sondern
      
 Ließ zwischen beiden Luft, nicht Sonne, zu.
      
 Als zum Empfang nun für des Mahls Genossen
      
 Die Polster ringsumher gebreitet waren,
      
 Und in des Zeltes Mitte aufgestellt
      
 Die Krüge Weins und Tische mit den Schalen:
      
 Da trat der Herold auf die Zehn und rief:
      
 Wer schmausen wolle, sei hereingeladen.
      
 Der Greis hier nun bewies sich gleich geschäftig,
      
 Den Wein zu mischen und dann einzufüllen,
      
 Auch muntert' er die Diener hier und dort
      
 Ihn hinzureichen auf, geschürzt und rüstig,
      
 Als hätt' er sich vor Freude ganz verjüngt.
      
 Das Mahl ging fort: Es tönten schon die Flöten,
      
 Dazwischen priesen viele Zungen laut
      
 Athen und seine glücklichen Beherrscher.
      
 »Was sollen noch die kleinen Trinkgefäße,
      
 Die kaum die Lippen netzen?« sprach der Alte.
      
 »Laßt tiefe Becher kommen, denen voller
      
 Die Fröhlichkeit als ihrem Quell entsprudle.«
      
 Er hoffte wohl im allgemeinen Rausch
      
 Sein Tun den Zeugen leichter zu entziehn.
      
 So trugen denn die Diener, schwer von Silber
      
 Und Gold, in Körben neu Geschirr herbei.
      
 Das wurde stracks gefüllt, und einen Becher,
      
 Mit schön getriebner Zierat auserlesen,
      
 Nachdem er ihn mit klarem Naß gekränzt,
      
 Bot seinem neuen Fürsten
      
 Phorbas dar.
      
 Mein Sohn trat vor, Trankopfer erst zu spenden;
      
 Doch eben da entfuhr ein frevelnd Wort
      
 Der Knechte einem in geschäftger Hast.
      
 Der holde Jüngling, fromm und rein gewöhnt,
      
 Für schlimme Vorbedeutung dies erachtend,
      
 Trank nicht, goß allen Wein aus auf den Boden
      
 Und hieß die andern auch das gleiche tun.
      
 Erwartung war nun im Gezelt und Stille,
      
 Bis man die Becher wiederum gefüllt.
      
 Und sieh! Indem kam eine Schar von Tauben,
      
 Die zahm und furchtlos hier im Haine schwärmen,
      
 Hereingeflattert durch das Tor. Sie ließen
      
 Sich nieder, pickten die Brosamen auf
      
 Und tauchten ihre Schnäbel in den Wein,
      
 Der hier und da noch stand in kleinen Seen.
      
 Die nun an andern Stellen dies getan,
      
 Erlitten nichts; doch zwei, die da getrunken
      
 Und durstig in den glatt beflaumten Hals
      
 Den süßen Trank geschlürft, wo Ion eben
      
 Den Becher hingoß, fingen an zu taumeln
      
 Mit schlaffen Fittigen, wehklagend girrten
      
 Sie seltsam dumpfen Laut und streckten zuckend
      
 Die Purpurfüßchen aus und waren tot.
      
 Erstaunen faßte jeden, der es sah;
      
 Mein Ion aber warf den Kranz vom Haupt,
      
 Zerriß den Mantel und mit lauter Stimme:
      
 »Dank dir, Apoll, der mich prophetisch warnte!
      
 Sonst war dahin mein Leben«, rief er aus.
      
 Alsbald erhob sich ein verwirrt Geschrei,
      
 Beschuldigend den Alten, der den Wein
      
 Gemischt und dargereicht. Ich, voll Entsetzens,
      
 Ergriff ihn schleunig, stellt' ihn hart zur Rede,
      
 Der, auf der Tat gefangen, nicht versuchte
      
 Zu leugnen, sondern trotzig rühmend gar
      
 Beteuerte, es wisse niemand drum,
      
 Er hab's allein entworfen und vollbracht.
      
 Mit Müh' hielt ich die Menge nur zurück,
      
 Die schon im ersten Grimm ihn steingen wollte.
      
 Da sprang, bacchantisch wild, Kreusa plötzlich
      
 Hervor und schrie: »Er lügt! Glaubt nicht dem Greise
      
 Unschuldig ist er, ich gebot die Tat.
      
 So tötet Pallas mit dem Gift der Gorgo
      
 Durch meine Hand Bastarde fremden Bluts,
      
 Die ein sich drängen in ihr Königshaus!
      
 Dies dacht' ich triumphierend jetzt zu rufen:
      
 Doch es mißlang, und nur Verzweiflung bleibt mir.«
      
 Als ob die Schlangen Gorgo selber schüttelte,
      
 Starrt alles bei der Greuel Offenbarung,
      
 Und niemand dachte, Hand an sie zu legen;
      
 Ich selbst war wie von Finsternis betäubt.
      
 Doch Ion duldet' ihren schnöden Frevel nicht,
      
 Nach seinen Waffen rannt' er, welche friedlich
      
 Am nächsten Baume hingen, Pfeil und Bogen,
      
 In ihres Herzens Blut die gastlichen
      
 Schutzgötter und dies Heiligtum zu rächen.
      
 Da sie den Jüngling mit hochglühnder Wange
      
 Und mit des Zorns verachtungsvollem Blick
      
 Ein auf sie stürmen sah, hielt sie's nicht aus;
      
 Es wandelte die Frechheit sich in Zagen,
      
 Und sinnlos riß sie sich durch alle hin und floh.
Pythia Und wo ist nun Kreusa? Wo ist Ion?
      
 Xuthus Sie wandten sich hierherwärts, mir voraus.
Pythia Ich hörte hier vorbeifliehn und verfolgen,
      
 Doch weit war alles weg, als ich hinaustrat.
Xuthus Sie hofft sich wohl in des Gebirges Irren
      
 Zu retten, doch ereilen wird er sie,
      
 Denn ihre Schuld umstellt sie wie ein Netz.
Pythia O sende, König, deinem Sohne nach,
      
 Laß eiligst ihn zu dir zurück entbieten,
      
 Eh er den Streich gewaltsam rasch vollführt,
      
 Der ihn – wer weiß? – dann ewig könnte reun.
Xuthus Zwar lieb ich, Pythia, den hohen Zorn
      
 Des Jünglings, der sich königlich bewährt;
      
 Audi ist Kreusens Haupt dem Tod verfallen:
      
 Die Straf ist ihr so oder so gewiß.
      
 Doch nicht mit wütgen Händen, wie bei Raub und Krieg,
      
 Ziemt es dem Herrscher, an des Schuldgen Leibe
      
 Die Rache zu ersättgen: Nach Gesetz
      
 Und Spruch des Rechts teil er Vergeltung aus,
      
 Entäußre selber sich des Richteramts,
      
 Wo das Verbrechen gegen ihn gerichtet war.
      
 Drum geb ich deinem weisen Rat Gehör. –
      
 Geht ihr, sucht mir den Prinzen, sagt, er solle
      
 Für jetzo den gerechten Grimm noch hemmen;
      
 Und greift die Königin, wo ihr sie trefft.
(Einige aus dem Gefolge ab)
Pythia So willst du deine Gattin nach Athen
      
 In Fesseln führen, wie den Diener dort?
Xuthus Mitnichten. Nimmer sollen sie die Heimat wieder
      
 Mit Augen sehn: Der Ort, den ihre Mordsucht
      
 Befleckt hat, sei auch der Vertilgung Bühne,
      
 Und diese Sonne geh nicht drüber unter.
      
 Es gibt ja hier in Delphi Richtersitze,
      
 Gibt Urnen, welche Todeslose still
      
 In sich versammeln und ans Licht dann bringen.
      
 Ein Gast auf diesem Boden, laß ich nicht
      
 Mein Zepter furchtbar winken, sondern will
      
 Nur Kläger sein; nackt liegt der Greuel da;
      
 Das ganze Volk ruf ich zum Zeugen an.
Pythia Jedoch, wenn du nun heimkehrst in dein Reich
      
 Verwitwet von der Enkelin und Tochter
      
 Der Helden, die sie göttlich dort verehren,
      
 Mit einem unbekannten Sohn des Auslands
      
 Auf deinen Stamm geimpft, dem du bestimmst,
      
 Auf jenen heimisch eignen Thron zu steigen:
      
 Bedenk, was für ein Argwohn aller Bürger
      
 Aufrührisch murmelnd dich umgeben wird.
Xuthus Das Recht ist stark, wenn Mannheit es behauptet.
Pythia So laß es Richter dort an ihr verwalten.
Xuthus Bald wird die Schlaue da sich schuldlos lügen,
      
 Wo niemand Spuren ihres Frevels sah.
      
 Die alte Gunst besticht dann, Mitleid mit
      
 Dem Rest des Fürstenhauses spricht sie los.
Pythia Habt ihr nicht dort des Mords geschworne Richter,
      
 Areopag genannt von ihrem Sitz,
      
 Die Griechenland als unbestechlich kennt,
      
 Wo selbst die Waage der Gerechtigkeit
      
 Minerva hält und strengen, ernsten Blicks
      
 Auf jedes Schwanken ihres Züngleins merkt?
      
 Dort stelle sie, bis dahin schieb es auf!
      
 Nur jetzt verfahre wider sie nicht weiter,
      
 Weil dich die erste Heftigkeit erregt.
Xuthus Die Erechthiden liebt und hegt ja Pallas
      
 Und würfe wohl hinzu das weiße Steinchen,
      
 Das gleich die Zahl macht und die Schuldgen löst.
Pythia O glaube mir, kein ganz verfluchtes Haupt
      
 Ist das, worüber noch Olympier
      
 Die Hände waltend strecken! Scheint es doch,
      
 Als wäre nicht ohn' eines Gottes Obhut
      
 Der Tat Erfolg vereitelt und verwehrt,
      
 Daß augenblicklich rasende Verblendung
      
 Ein ewig unersetzlich Unheil schaffte,
      
 Damit der Weg der Sühnung offen bliebe.
Xuthus Dein Ansehn wähnt' ich hilfreich mir zu finden,
      
 Allein du scheinst dem Weibe sehr befreundet,
      
 Das am Apollo frevelnd, deinen Pflegesohn,
      
 Von ihm als mein verkündigt, morden wollte.
      
 So will ich denn von hinnen, in der Stadt
      
 Die Alten, denen obliegt, Recht zu sprechen,
      
 Auf mahnen zum Gericht; in Delphis Schutz
      
 Begab ich mich als Fremdling mit den Meinen:
      
 Sie werden mir nicht weigern, was bei Griechen
      
 Die Sitte heischt, was selbst Barbaren täten.
Pythia Laß, eh du gehst, den Greis hier mich befragen.
      
 Sprich, hat Kreusa mit darum gewußt?
Phorbas Sie litt nur, was ich aussann und betrieb.
Pythia Und was bewegte dich, ihr so zu raten?
Phorbas Uralte, unerschütterliche Treu.
Pythia Du übtest doch Verrat an deinem Herrn.
Phorbas An dem; die Längstgestorbnen ehr' ich mehr.
Pythia Den Erichthonius und Erechtheus meinst du?
Phorbas Sie zeugen bei den Schatten noch von mir.
Pythia Und strebte heut dein Anschlag auch für sie?
Phorbas Ja, vom Verderben ihr Geschlecht zu retten.
Pythia Stand das bevor von dem harmlosen Knaben?
Phorbas Trophonius hat es deutlich prophezeiht.
Pythia Das war es, daß ihr nicht Apollen euch
      
 Allein vertraut und jenes Nachtweissagers
      
 Aussprüche mit den seinigen gepaart.
      
 Die Unterwelt wühlt aus den düstern Klüften
      
 Herauf und möchte gern was Köstliches
      
 Zu sich herunter ziehn: So schickt sie Träume,
      
 Manch ängstigendes Phantom, das wirklich wird,
      
 Weil wir es fürchten; so erteilt sie Sprüche,
      
 Die der Erfüllung Grund bloß in sich tragen.
      
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 Begebenheiten blindlings mißgeordnet,
      
 Ein wunderbar Verhängnis ahn' ich drin,
      
 Das dich und deine Gattin, edler König,
      
 Und, samt euch beiden, den geliebten Sohn,
      
 Verstrickt hat: Bald entwirrt wird dieser Faden,
      
 Gesponnen an der Parzen ewgen Spindeln,
      
 Aus Labyrinthen der Feindseligkeit
      
 In liebeselige Gefild' euch führen,
      
 Auf daß ihr glauben lernt an höhern Rat.
Der Gott will nicht bestürmt sein: Freie Gabe
      
 Ist des Orakels Wort, und fruchtlos wär's,
      
 Das Gefragte wiederum zu fragen.
      
 Doch hier in seiner Nähe darf ich ruhn,
      
 Mich einsam still versenken in Beschauung,
      
 Ob er mir Licht in die Gedanken sendet;
      
 Durch Wolken strahlen ist ja seine Art.
      
 Du, zögre noch zu handeln, opfre, bete,
      
 Daß neuverliehne Gabe nicht um den Besitz
      
 Dich täuschen mag, daß nicht sich Sohn und Gattin
      
 Einander wechselweise dir entziehn.
Xuthus Tu, was dir weise dünkt; ich, was mir geziemt.
      
 Ich führ' es aus, was ich dir angekündigt:
      
 Denn Ungestraftheit ist Entheiligung,
      
 Und wer die Bösen anklagt, dient den Göttern.
(Pythia zieht sich unter die Vorhalle des Tempels zurück. Xuthus mit Phorbas und Gefolge ab.)