Friedrich Schiller
Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen / 1
Friedrich Schiller

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Friedrich Schiller

Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen.Dieser Versuch, bisher in die sämmtlichen Werke Schillers nicht aufgenommen, seit 1838 aber von seinen Söhnen hiefür bestimmt, erschien schon im Jahre 1780 im Druck, und zwar als: »Eine Abhandlung, welche in höchster Gegenwart Seiner herzoglichen Durchlaucht, während den öffentlichen akademischen Prüfungen vertheidigen wird Johann Christoph Friedrich Schiller, Kandidat der Medicin in der herzoglichen Militärakademie. Stuttgard gedruckt bei Christoph Friedrich Cotta, Hof- und Canzlei-Buchdrucker.« [Anmerkung in »Schillers Sämmtliche Werke«, Stuttgart 1879]

§. 1. Einleitung.

Schon mehrere Philosophen haben behauptet, daß der Körper gleichsam der Kerker des Geistes sei, daß er solchen allzusehr an das Irdische hefte und seinen sogenannten Flug zur Vollkommenheit hemme. Wiederum ist von manchem Philosophen mehr oder weniger bestimmt die Meinung gehegt worden, daß Wissenschaft und Tugend nicht sowohl Zweck als Mittel zur Glückseligkeit seien, daß sich alle Vollkommenheit des Menschen in der Verbesserung seines Körpers versammle.

Mich däucht, es ist dies von beiden Theilen gleich einseitig gesagt. Letzteres System wird beinahe völlig aus unseren Moralen und Philosophieen verwiesen sein und ist, scheint es mir, nicht selten mit allzu fanatischem Eifer verworfen worden, – es ist gewiß der Wahrheit nichts so gefährlich, als wenn einseitige Meinungen einseitige Widerleger finden; – – Das erstere ist wohl im Ganzen am mehrsten geduldet worden, indem es am fähigsten ist, das Herz zur Tugend zu erwärmen, und seinen Werth an wahrhaftig großen Seelen schon gerechtfertiget hat. Wer bewundert nicht den Starksinn eines Cato, die hohe Tugend eines Brutus und Aurels, den Gleichmuth eines Epiktets und Seneca? Aber dessen ungeachtet ist es doch nichts mehr als eine schöne Verirrung des Verstandes, ein wirkliches Extremum, das den einen Theil des Menschen allzu enthusiastisch herabwürdigt und uns in den Rang idealischer Wesen erheben will, ohne uns zugleich unserer Menschlichkeit zu entladen; ein System, das allem, was wir von der Evolution des einzelnen Menschen und des gesammten Geschlechts historisch wissen und philosophisch erklären können, schnurgerade zuwiderläuft und sich durchaus nicht mit der Eingeschränktheit der menschlichen Seele verträgt. Es ist demnach hier, wie überall, am rathsamsten, das Gleichgewicht zwischen beiden Lehrmeinungen zu halten, um die Mittellinie der Wahrheit desto gewisser zu treffen. Da aber gewöhnlicher Weise mehr darin gefehlt worden ist, daß man zu viel auf die eigene Rechnung der Geisteskraft, insofern sie außer Abhängigkeit von dem Körper gedacht wird, mit Hintansetzung dieses letztern geschrieben hat, so wird sich gegenwärtiger Versuch mehr damit beschäftigen, den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den großen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helleres Licht zu setzen. Aber darum ist das noch gar nicht die Philosophie des Epikurus, so wenig es Stoicismus ist, die Tugend für das höchste Gut zu halten.

Ehe wir die höheren moralischen Zwecke, die mit Beihilfe der thierischen Natur erreicht werden, zu erforschen suchen, müssen wir zuerst ihre physische Notwendigkeit festsetzen und in einigen Grundbegriffen einig werden. Darum der erste Gesichtspunkt, aus welchem wir den Zusammenhang der beiden Naturen betrachten.

Physischer Zusammenhang.

Thierische Natur befestiget die Thätigkeit des Geists.

§. 2. Organismus der Seelenwirkung – der Ernährung – der Zeugung.

Alle Anstalten, die wir in der sittlichen und körperlichen Welt zur Vollkommenheit des Menschen gewahrnehmen, scheinen sich zuletzt in den Elementarsatz zu vereinigen: Vollkommenheit des Menschen liegt in der Uebung seiner Kräfte durch Betrachtung des Weltplans; und da zwischen dem Maße der Kraft und dem Zweck, auf den sie wirket, die genaueste Harmonie sein muß, so wird Vollkommenheit in der höchstmöglichsten Thätigkeit seiner Kräfte und ihrer wechselseitigen Unterordnung bestehen. Aber die Thätigkeit der menschlichen Seele ist – aus einer Nothwendigkeit, die ich noch nicht erkenne, und auf eine Art, die ich noch nicht begreife – an die Thätigkeit der Materie gebunden. Die Veränderungen in der Körperwelt müssen durch eine eigene Klasse mittlerer organischer Kräfte, die Sinne, modificiert und so zu sagen verfeinert werden, ehe sie vermögend sind, in mir eine Vorstellung zu erwecken; so müssen wiederum andere organische Kräfte, die Maschinen der willkürlichen Bewegung, zwischen Seele und Welt treten, um die Veränderung der ersteren auf die letztere fortzupflanzen; so müssen endlich selbst die Operationen des Denkens und Empfindens gewissen Bewegungen des innern Sensoriums correspondieren. Alles dieses macht den Organismus der Seelenwirkungen aus.

Aber die Materie ist ein Raub des ewigen Wechsels und reibt sich selbst auf, so wie sie wirket, unter der Bewegung wird das Element aus seinen Fugen getrieben, verjagt und verloren. Weil nun im Gegentheil das einfache Wesen, die Seele, Dauer und Bestandheit in sich selber hat und in ihrem Wesen weder gewinnet noch verlieret, so kann die Materie nicht gleichen Schritt mit der Geistesthätigkeit halten, und bald würde also der Organismus des geistigen Lebens, mit ihm alle Wirksamkeit der Seele dahin sein. Dies nun zu verhüten, mußte ein neues System organischer Kräfte zu dem ersten gleichsam angereihet werden, das seine Consumtionen ersetzt und seinen sinkenden Flor durch eine stetig an einander hangende Kette neuer Schöpfungen erhält. Dies ist der Organismus der Ernährung.

Noch mehr. Nach einem kurzen Zeitraum von Wirkung, nach dem aufgehobenen Gleichgewicht zwischen Verlust und Erneuerung tritt der Mensch von der Bühne des Lebens, und das Gesetz der Sterblichkeit entvölkert die Erde. Auch hat die Anzahl empfindender Wesen, die die ewige Liebe und Weisheit in ein glückliches Dasein wollte gerufen haben, nicht Raum genug, in den engen Grenzen dieser Welt zumal zu existieren, und das Leben dieser Generation schließt das Leben einer andern aus. Darum ward es nothwendig, daß neue Menschen an die Stelle der weggeschiedenen alten treten und das Leben durch ununterbrochene Successionen erhalten würde. Aber geschaffen wird nichts mehr, und was nun Neues wird, wird es nur durch Entwicklung. Die Entwicklung des Menschen mußte durch Menschen geschehen, wenn sie mit der Consumtion im Verhältniß stehen, wenn der Mensch zum Menschen gebildet werden sollte. Aus diesem Grund wurde ein neues System organischer Kräfte den zwei vorhergehenden zugeordnet, das die Belebung und Entwicklung des Menschenkeims zur Absicht hatte. Dies ist der Organismus der Zeugung. Diese drei Organismi, in den genaueren Lokal- und Realzusammenhang gebracht, bilden den menschlichen Körper.

§. 3. Der Körper.

Die organischen Kräfte des menschlichen Körpers theilen sich von selbst in zwei Hauptklassen: die erste enthält diejenigen, die wir nach keinen bekannten Gesetzen und Phänomenen der physischen Welt begreifen können, und dahin gehören die Empfindlichkeit der Nerven und die Reizbarkeit des Muskels. Da es bisher unmöglich war, in die Oekonomie des Unsichtbaren einzudringen, so hat man die unbekannte Mechanik durch die bekannte zu erklären gesucht und den Nerven als einen Kanal betrachtet, der ein äußerst feines, flüchtiges und wirksames Fluidum führet, das an Geschwindigkeit und Feinheit Aether und elektrische Materie übertreffen soll, und hat dieses als das Principium der Empfindlichkeit und Beweglichkeit angesehen und ihm daher den Namen der Lebensgeister gegeben. So hat man ferner die Reizbarkeit der Muskelfaser in einen gewissen Nisum gesetzt, sich auf Veranlassung eines fremden Reizes zu verkürzen und beide Endpunkte näher zu bringen. Diese zweierlei Principien machen den specifiken Charakter des thierischen Organismus.

Die zweite Klasse begreift diejenigen, die wir den allgemeinen bekannten Gesetzen der Physik unterordnen können. Hieher rechne ich die Mechanik der Bewegung und die Chemie des menschlichen Körpers, woraus das vegetabilische Leben erwächst. Vegetation also und thierische Mechanik, auf das genaueste vermischt, bilden eigentlich das physische Leben des menschlichen Körpers.

§. 4. Thierisches Leben.

Noch ist das nicht alles. Da der Verlust mehr oder weniger in der Willkür des Geistes liegt, so mußte es auch nothwendig der Ersatz sein. Ferner, da der Körper allen Folgen der Zusammensetzung unterworfen und im Kreis der um ihn wirkenden Dinge unzähligen feindlichen Wirkungen bloßgestellt ist, so mußte es in der Gewalt der Seele stehen, ihn wider den schädlichen Einfluß dieser letztern zu beschützen und ihn mit der physischen Welt in diejenigen Verhältnisse zu bringen, die seiner Fortdauer am zuträglichsten sind; sie mußte daher von dem gegenwärtigen schlimmen oder guten Zustand ihrer Organe unterrichtet werden; sie mußte aus seinem schlimmen Zustand Mißvergnügen, aus seinem Wohlstand Vergnügen schöpfen, um ihn entweder zu verlängern oder zu entfernen, zu suchen oder zu fliehen. Hier also wird schon der Organismus an das Empfindungsvermögen gleichsam angeknüpft und die Seele in das Interesse ihres Körpers gezogen. Jetzt ist es etwas mehr als Vegetation, etwas mehr als todter Model und Nerven- und Muskel-Mechanik, jetzt ist es thierisches Leben.Aber auch etwas mehr als thierisches Leben des Thiers. Das Thier lebt das thierische Leben, um angenehm zu empfinden. Es empfindet angenehm, um das thierische Leben zu erhalten. Also es lebt jetzt, um morgen wieder zu leben. Es ist jetzt glücklich, um morgen glücklich zu sein. Aber ein einfaches, ein unsicheres Glück, das die Perioden des Organismus nachmacht, das dem Zufall, dem blinden Ohngefähr preisgegeben ist, weil es nur allein in der Empfindung beruht. Der Mensch lebt auch das thierische Leben und empfindet seine Vergnügungen und leidet seine Schmerzen. Aber warum? Er empfindet und leidet, daß er sein thierisches Leben erhalte. Er erhält sein thierisches Leben, um ein geistiges länger leben zu können. Hier ist also Mittel verschieden vom Zweck, dort schienen Mittel und Zweck zu coincidieren. Dies ist eine von den Grenzscheiden zwischen Mensch und Thier.

Der Flor des thierischen Lebens ist, wie wir wissen, für den Flor der Seelenwirkungen äußerst wichtig und darf ohne die Totalaufhebung dieser letztern niemals aufgehoben werden. Er muß also einen festen Grund haben, der ihm nicht so leicht schwanke, das heißt, die Seele muß durch eine unwiderstehliche Macht zu den Handlungen des physischen Lebens bestimmt werden. Konnten also wohl die Empfindungen des thierischen Wohl- oder Uebelstands geistige Empfindungen sein und durch das Denken erzeugt werden? Wie oft würde sie das überwaltende Licht der Leidenschaften verdunkeln, wie oft Trägheit oder Dummheit begraben, wie oft Geschäftigkeit und Zerstreuung übersehen? Ferner, würde nicht von dem Thiermenschen die vollkommenste Kenntniß seiner Oekonomie gefordert, müßte das Kind nicht in demjenigen Meister sein, in dem unsere Harvey, Boerhave und Haller nach einer fünfzigjährigen Untersuchung noch Anfänger geblieben sind? – Die Seele konnte also schlechterdings keine Idee von dem Zustand haben, den sie verändern soll. Wie wird sie ihn erfahren, wie wird sie in Thätigkeit kommen?

§. 5. Thierische Empfindungen.

Noch kennen wir keine andern Empfindungen als solche, die aus einer vorgängigen Operation des Verstandes entspringen; aber jetzt sollen Empfindungen entstehen, bei denen der Verstand ganz exulieren muß. Diese Empfindungen sollen die gegenwärtige Beschaffenheit meiner Werkzeuge wo nicht ausdrücken, doch gleichsam specifisch bezeichnen, oder besser, begleiten. Diese Empfindungen sollen den Willen rasch und lebhaft zu Abscheu oder Begierde bestimmen, diese Empfindungen sollen aber doch nur auf der Oberfläche der Seele schweben und niemals in das Gebiet der Vernunft reichen. Was also bei der geistigen Empfindung das Denken gethan hat, das thut hier diejenige Modifikation in den thierischen Theilen, die entweder ihre Auflösung droht oder ihre Fortdauer sichert, das heißt, mit demjenigen Zustand der Maschine, der ihren Flor befestiget, ist eine angenehme, und im Gegentheil mit demjenigen, der ihren Wohlstand untergräbt und ihren Ruin beschleunigt, eine schmerzhafte Rührung der Seele durch ein ewiges Gesetz der Weisheit verbunden, und so, daß die Empfindung selbst nicht die geringste Aehnlichkeit mit der Beschaffenheit der Organe hat, die sie bezeichnet. So entstehen thierische Empfindungen. Thierische Empfindungen haben demnach einen zweifachen Grund, 1) in dem gegenwärtigen Zustand der Maschine, 2) im Empfindungsvermögen.

Nun läßt sich begreifen, warum die thierischen Empfindungen mit unwiderstehlicher und gleichsam tyrannischer Macht die Seele zu Leidenschaften und Handlungen fortreißen und über die geistigsten selbst nicht selten die Oberhand bekommen. Diese nämlich hat sie vermittelst des Denkens hervorgebracht, diese also kann sie wiederum durch das Denken auflösen und gar vernichten. Dies ist die Gewalt der Abstraktion und überhaupt der Philosophie über die Leidenschaften, über die Meinungen, kurz über alle Situationen des Lebens, jene aber sind ihr durch eine blinde Notwendigkeit, durch das Gesetz des Mechanismus aufgedrungen worden; der Verstand, der sie nicht schuf, kann sie auch nicht auflösen, ob er dieselben schon durch eine entgegengesetzte Richtung der Aufmerksamkeit um vieles schwächen und verdunkeln kann. Der hartnäckigste Stoiker, der am Steinschmerzen darnieder liegt, wird sich niemals rühmen können, keinen Schmerz empfunden zu haben; aber er wird, in Betrachtungen über seine Endursachen verloren, die Empfindungskraft theilen, und das überwiegende Vergnügen der großen Vollkommenheit, die auch den Schmerz der allgemeinen Glückseligkeit unterordnet, wird über die Unlust siegen. Nicht Mangel der Empfindung war es, nicht Vernichtung derselben, daß Mucius, die Hand in lohen Flammen bratend, den Feind mit dem römischen Blick der stolzen Ruhe anstarren konnte, sondern der Gedanke des großen ihn bewundernden Roms, der in seiner Seele herrschte, hielt sie gleichsam innerhalb ihrer selbst gefangen, daß der heftige Reiz des thierischen Uebels zu wenig war, sie aus dem Gleichgewicht zu heben. Aber darum war der Schmerz des Römers nicht geringer als der des weichsten Wollüstlings. Freilich wohl wird derjenige, der gewohnt ist, in einem Zustand dunkler Ideen zu existieren, weniger fähig sein, sich in dem kritischen Augenblick des sinnlichen Schmerzens zu ermannen, als der, der beständig in hellen deutlichen Ideen lebt; aber dennoch schützt weder die höchste Tugend, noch die tiefste Philosophie, noch selbst die göttliche Religion vor dem Gesetz der Nothwendigkeit, ob sie schon ihre Anbeter auf dem einstürzenden Holzstoß beseligen kann.

Eben diese Macht der thierischen Fühlungen auf die Empfindungskraft der Seele hat die weiseste Absicht zum Grunde. Der Geist, wenn er einmal in den Geheimnissen einer höhern Wollust eingeweiht worden ist, würde mit Verachtung auf die Bewegungen seines Gefährten herabsehen und den niedrigen Bedürfnissen des physischen Lebens nicht leicht mehr opfern wollen, wenn ihn nicht das thierische Gefühl dazu zwänge. Den Mathematiker, der in den Regionen des Unendlichen schweifte und in der Abstraktionswelt die wirkliche verträumte, jagt der Hunger aus seinem intellektuellen Schlummer empor; den Physiker, der die Mechanik des Sonnensystems zergliedert und den irrenden Planeten durchs Unermeßliche begleitet, reißt ein Nadelstich zu seiner mütterlichen Erde zurück; den Philosophen, der die Natur der Gottheit entfaltet und wähnet, die Schranken der Sterblichkeit durchbrochen zu haben, kehrt ein kalter Nordwind, der durch seine baufällige Hütte streicht, zu sich selbst zurück und lehrt ihn, daß er das unselige Mittelding von Vieh und Engel ist.

Wider die überhandnehmenden thierischen Fühlungen vermag endlich die höchste Anstrengung des Geistes nichts mehr, die Vernunft wird, so wie sie wachsen, mehr und mehr übertäubt und die Seele gewaltsam an den Organismus gefesselt. Hunger und Durst zu löschen, wird der Mensch Thaten thun, worüber die Menschlichkeit schauert, er wird wider Willen Verräther und Mörder, er wird Kannibal –

»Tiger! In deiner Mutter Busen wolltest du deine Zähne setzen?«

So heftig wirket die thierische Fühlung auf den Geist. So wachsam hat der Schöpfer für die Erhaltung der Maschine gesorgt; die Pfeiler, auf denen sie ruht, sind die festesten, und die Erfahrung hat gelehrt, daß mehr das Uebermaß, als der Mangel der thierischen Empfindung verdorben hat.

Thierische Empfindungen befestigen also den Wohlstand der thierischen Natur, so wie die moralischen und intellektuellen den Wohlstand der geistigen oder die Vollkommenheit. Das System thierischer Empfindungen und Bewegungen erschöpft den Begriff der thierischen Natur. Diese ist der Grund, aus dem die Beschaffenheit der Seelenwerkzeuge beruht, und die Beschaffenheit dieser letztern bestimmt die Leichtigkeit und Fortdauer der Seelenthätigkeit selbst. Hier also ist schon das erste Glied des Zusammenhangs der beiden Naturen.

§. 6. Einwürfe wider den Zusammenhang der beiden Naturen aus der Moral.

Aber man wird dieses einräumen und weiter sagen: hier endet sich auch die Bestimmung des Körpers. Ueber diese hinaus ist er ein träger Gefährte der Seele, mit dem sie ewig zu kämpfen hat, dessen Bedürfnisse ihr alle Muße zum Denken rauben, dessen Anfechtungen den Faden der vertieftesten Spekulation zerreißen und den Geist von seinen deutlichsten und hellesten Begriffen in sinnliche Verworrenheit stürzen; dessen Lüste den größten Theil unserer Mitgeschöpfe von ihrem hohen Urbild entfernen und in die Klasse der Thiere erniedern, kurz, der sie in eine Sklaverei verstrickt, woraus der Tod sie endlich befreien muß. Ist es nicht widersinnig und ungerecht, dürfte man fortfahren zu klagen, das einfache, notwendige, für sich Bestand habende Wesen mit einem andern Wesen zu verwickeln, das, in ewigem Wirbel umhergerollt, jedem Ungefähr preisgegeben, jeder Notwendigkeit zum Opfer wird? – Vielleicht sehen wir bei kälterem Nachdenken aus dieser anscheinenden Verwirrung und Planlosigkeit eine große Schönheit hervorgehen.

Philosophischer Zusammenhang.

Thierische Triebe wecken und entwickeln die geistigen.

§. 7. Methode.

Die sicherste Methode, einiges Licht auf diese Materie zu werfen, mag vielleicht folgende sein: man denkt sich vom Menschen alles weg, was Organisation heißt, das ist, man trennt den Körper vom Geist, ohne ihm jedoch die Möglichkeit, zu Vorstellungen zu gelangen und Handlungen in der Körperwelt hervorzubringen, abzuschneiden, und untersucht dann, wie er in Wirkung gekommen, wie er seine Kräfte entwickelt, was für Schritte er wohl zu seiner Vollkommenheit würde gethan haben; das Resultat dieser Untersuchung muß durch Facta bestätigt werden. Man übersieht also die wirkliche Bildung des einzelnen Menschen und wirft einen Blick über die Entwicklung des gesammten Geschlechts. Zuerst also den abstrakten Fall: es ist Vorstellungskraft und Wille da, es ist Kreis der Wirkung da und freier Uebergang von Seele zu Welt, von Welt zu Seele. Fragt sich nun, wie wird er wirken?

§. 8. Die Seele außer Verbindung mit dem Körper.

Wir können keinen Begriff setzen, ohne einen vorhergehenden Willen, ihn zu machen; keinen Willen, ohne die Erfahrung unsers durch diese Handlung verbesserten Zustands, ohne Empfindung. Keine Empfindung ohne vorhergehende Idee (denn wir schlossen ja zugleich mit dem Körper auch die körperlichen Empfindungen aus), also keine Idee ohne Idee.

Nun betrachte man das Kind, das hieße nach der Voraussetzung einen Geist, der die Fähigkeit, Ideen zu formieren, in sich begreift, aber diese Fähigkeit jetzt zum erstenmal in Uebung bringen soll. Was wird ihn zum Denken bestimmen, wenn es nicht die daraus entspringende angenehme Empfindung ist, was kann ihm die Erfahrung dieser angenehmen Empfindung verschafft haben? Wir sahen ja eben, daß dies wieder nichts als Denken sein konnte, und er soll nun zum erstenmal denken. Ferner, was kann ihn zur Betrachtung der Welt einladen? nichts anders als die Erfahrung ihrer Vollkommenheit, insofern sie seinen Trieb zur Aktivität befriedigt und diese Befriedigung ihm Vergnügen gewährt; was kann ihn zu Uebung seiner Kräfte determinieren? nichts als die Erfahrung ihres Daseins, aber alle diese Erfahrungen soll er ja zum erstenmal machen. – Er müßte also von Ewigkeit her thätig gewesen sein, und dieses ist wider den angenommenen Fall, oder er wird ewig niemals in Thätigkeit kommen, gleichwie die Maschine ohne den Stoß von außen träg und ruhig bleibt.

§. 9. In Verbindung.

Jetzt setze man zu dem Geiste das Thier. Man verflechte diese beiden Naturen so innig, als sie wirklich verflochten sind, und lasse ein unbekanntes Etwas, aus der Oekonomie des thierischen Leibes geboren, die Empfindungskraft anfallen, – man versetze die Seele in den Zustand des physischen Schmerzens. Das war der erste Stoß, der erste Lichtstrahl in die Schlummernacht der Kräfte, tönender Goldklang auf die Laute der Natur. Jetzt ist Empfindung da, und Empfindung war es ja auch nur allein, was wir vorhin vermißten. Diese Art von Empfindung scheint mit Absicht recht dazu gemacht zu sein, alle jene Schwierigkeiten zu heben. Dort konnten wir keine herausbringen, weil wir keine Idee voraussetzen durften; hier vertritt die Modifikation in dem körperlichen Werkzeug die Stelle der Ideen, und so hilft thierische Empfindung das innere Uhrwerk des Geists, wenn ich so sagen darf, in den Gang bringen. Der Uebergang von Schmerz zu Abscheu ist Grundgesetz der Seele. Der Wille ist thätig, und die Thätigkeit einer einzigen Kraft ist hinlänglich, alle übrigen in Wirkung zu setzen. Die nachfolgenden Operationen entwickeln sich von selbst und gehören auch nicht in dieses Kapitel.

§. 10. Aus der Geschichte des Individuums.

Nun verfolge man das Seelenwachsthum des einzelnen Menschen in Beziehung auf den zu erweisenden Satz, und gebe Acht, wie sich alle seine Geistesfähigkeiten aus sinnlichen Trieben entwickeln.

  1. Das Kind. Noch ganz Thier, oder besser: mehr oder auch weniger als Thier; menschliches Thier. (Denn dasjenige Wesen, das einmal Mensch heißen sollte, darf niemals nur Thier gewesen sein.) Elender als ein Thier, weil es auch nicht einmal Instinkt hat. Die Thiermutter darf ihr Junges eher verlassen, als die Mutter ihr Kind. Der Schmerz mag ihm wohl Geschrei auspressen, aber er wird es niemals auf die Quelle desselben aufmerksam machen. Die Milch mag ihm wohl Vergnügen gewähren, aber sie wird niemals von ihm gesucht werden. Es ist ganz leidend –
    Sein Denken steigt nur noch bis zum Empfinden,
    Sein ganzes Kenntnis, ist Schmerz, Hunger und die Binden.«
  2. Der Knabe. Hier ist schon Reflexion, aber immer nur in Bezug auf Stillung thierischer Triebe. »Er lernt,« wie Garve sagt,Anmerkungen zu Fergusons Moralphilosophie. S. 319. »die Dinge anderer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm (sinnliches) Vergnügen gewähren.« Liebe zur Arbeit, Liebe zu den Eltern, zu Freunden, ja selbst Liebe zur Gottheit geht durch den Weg der Sinnlichkeit in seine Seele. »Die allein ist die Sonne,« wie Garve an einem andern Orte anmerktEbendaselbst. S. 393. , »die durch sich selbst leuchtet und wärmt, alle übrigen Gegenstände sind dunkel und kalt; aber sie können auch erleuchtet und erwärmt werden, wenn sie mit ihr in eine solche Verbindung treten, daß sie die Strahlen derselben bekommen können.« Die Güter des Geists erhalten beim Knaben nur durch Uebertragung einigen Werth, sie sind geistiges Mittel zu thierischem Zweck.
  3. Jüngling und Mann. Oftmalige Wiederholung dieser Schlüsse macht sie nach und nach zur Fertigkeit, und Uebertragung will in dem Mittel selbst Schönheit gefunden haben. Er wird gerner darauf verweilen, ohne zu wissen warum? Er wird unvermerkt hingezogen werden, darüber zu denken. Jetzt können schon die Strahlen der geistigen Schönheit selbst seine offene Seele rühren; das Gefühl seiner Kraftäußerung ergötzt ihn und flößt ihm Neigung zu dem Gegenstand ein, der bisher nur Mittel war; der erste Zweck ist vergessen. Aufklärung und Ideenbereicherung decken ihm zuletzt die ganze Würde geistiger Vergnügungen auf – das Mittel ist höchster Zweck worden.

Dies lehrt mehr oder weniger die Individualgeschichte jedes Menschen, der nur einige Bildung hat, und einen bessern Weg konnte wohl die Weisheit nicht wählen, den Menschen zu führen; wird nicht auch jetzt noch der Pöbel gegängelt wie unser Knabe? Und hat uns nicht der Prophet aus Medina ein auffallend deutliches Beispiel zurückgelassen, wie man den rohen Sinn der Saracenen im Zügel halten sollte?

(Hierüber kann nichts Vortrefflicheres gesagt werden, als was Garve in seinen Anmerkungen zu dem Kapitel über die natürlichen Triebe in Fergusons Moralphilosophie auf folgende Art entwickelt hat: »Der Trieb der Erhaltung und der Reiz der sinnlichen Lust setzt zuerst den Menschen wie das Thier in Thätigkeit; er lernt die Dinge andrer Menschen und seine Handlungen gegen sie erstlich dadurch schätzen, weil sie ihm Vergnügen verschaffen. So wie sich die Anzahl der Dinge erweitert, deren Wirkungen er erfährt, so breiten sich seine Begierden aus; so wie sich der Weg verlängert, auf welchem er zu diesen Wirkungen gelangt, so werden seine Begierden künstlicher. Hier ist die erste Grenzscheidung zwischen Mensch und Thier, und hier findet sich selbst ein Unterschied zwischen einer Thierart und der andern. Bei wenig Thieren folgt die Handlung des Fressens unmittelbar auf die Begierde des Hungers; die Hitze der Jagd oder der Fleiß des Sammelns geht vorher. Aber bei keinem Thiere erfolgt die Befriedigung der Begierde so spät auf die Anstalten, die es zu diesem Ende macht, als bei dem Menschen; bei keinem wird die Bestrebung des Thiers durch eine so lange Kette von Mitteln und Absichten fortgeführt, ehe sie bis an dieses letzte Glied gelangt. Wie weit sind die Arbeiten des Handwerksmannes oder des Ackerbauers, wenn sie gleich alle auf nichts weiter abzielen, als ihm Brod oder ein Kleid zu verschaffen, doch von diesem Ziele entfernt? Aber das ist noch nicht alles. Wenn die Mittel der Erhaltung für den Menschen, durch Errichtung der Gesellschaft, reichlicher werden; wenn er Ueberfluß für sich findet, zu dessen Herbeischaffung er nicht seine ganze Zeit und Kräfte braucht; wenn er zugleich durch die Mittheilung der Ideen aufgeklärt wird: dann fängt er an, einen Endzweck seiner Handlung in sich selbst zu finden; dann bemerkt er, daß, wenn er auch völlig satt, bekleidet, unter einem guten Dach, mit allem Hausgeräthe versehen ist, doch noch für ihn etwas zu thun übrig bleibe. – Er geht noch einen Schritt weiter; er wird gewahr, daß in diesen Handlungen selbst, wodurch der Mensch sich Nahrung und Bequemlichkeit verschafft hat, insofern sie aus gewissen Kräften eines Geistes entstehen, insofern sie diese Kräfte üben, ein höheres Gut liege, als in den äußern Endzwecken selbst, die durch sie erreicht werden. Von diesem Augenblick an arbeitet er zwar in Gesellschaft mit dem übrigen menschlichen Geschlecht und mit dem Reich aller lebendigen Wesen dazu, sich zu erhalten und sich und seinen Freunden die Hilfsmittel des physischen Lebens zu verschaffen; – denn was wollte er anders thun? welche andere Sphäre von Thätigkeit könnte er sich schaffen, wenn er aus dieser herausginge? Aber er weiß nun, daß die Natur nicht sowohl diese vielen Triebe im Menschen erweckt hat, um ihm jene Bequemlichkeiten zu gewähren, als ihm vielmehr den Reiz jener Vergnügen und Vortheile aufstelle, um diese Triebe in Bewegung zu setzen; um einem denkenden Wesen Materie zu Vorstellungen, einem empfindlichen Geiste Stoff zu Empfindungen, einem wohlwollenden Geiste Mittel der Gutthätigkeit, einem thätigen Gelegenheit zu Beschäftigungen zu geben. – Dann nimmt jede Sache, leblose und lebendige, eine andere Gestalt für ihn an. Die Gegenstände und Verändernden wurden zuerst von ihm nur angesehen, insofern sie ihm nur Vergnügen oder Verdruß machen; jetzt, insofern sie Handlungen und Aeußerungen seiner Vollkommenheit veranlassen. In jener Betrachtung sind die Vorfälle bald gut, bald böse; in dieser sind sie alle auf gleiche Weise gut. Denn es ist keiner, wo nicht die Ausübung einer Tugend oder die Beschäftigung einer besondern Fähigkeit möglich wäre. – Zuerst liebte er die Menschen, weil er glaubte, daß sie ihm nutzen können; jetzt liebt er sie noch mehr, weil er das Wohlwollen für den Zustand eines vollkommenen Geistes hält.«

§. 11. Aus der Geschichte des Menschengeschlechts.

Nun noch ein gewagterer Blick über die Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts – von seiner Wiege an bis zu seinem männlichen Alter – und die Wahrheit des bisher Gesagten wird in ihrem vollesten Lichte stehen.

Hunger und Blöße haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehhirten, Ackermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen. Hier schon die ersten Wurzeln der geselligen Pflichten. Bald mußte der anwachsenden Menschenmenge der Acker zu arm werden, der Hunger zerstreute sie in ferne Klimate und Lande, die dem forschenden Bedürfniß ihre Produkte enthüllten und sie neue Raffinements, sie zu bearbeiten und ihrem schädlichen Einfluß zu begegnen, lehrten. Diese einzelnen Erfahrungen gingen durch Tradition vom Großvater zum Urenkel über und wurden erweitert. Man lernte die Kräfte der Natur wider sie selbst benutzen, man brachte sie in neue Verhältnisse und erfand – hier schon die ersten Wurzeln der einfachen und heilsamen Künste. Zwar immer nur Kunst und Erfindung für das Wohl des Thieres, aber doch Uebung der Kraft, doch Gewinn an Kenntniß, und – an eben dem Feuer, woran der rohe Naturmensch seine Fische bratete, spähte nachher Boerhave in die Mischungen der Körper; aus eben dem Messer, mit dem der Wilde sein Wildpret zerlegte, erfand Lionet dasjenige, womit er die Nerven der Insekten aufdeckte; mit eben dem Zirkel, mit dem man anfangs nur Hufen maß, mißt Newton Himmel und Erde. So zwang der Körper den Geist, auf die Erscheinungen um ihn her zu achten, so machte er ihm die Welt interessant und wichtig, weil er sie ihm unentbehrlich machte. Der Drang einer innern thätigen Natur, verbunden mit der Dürftigkeit der mütterlichen Gegend, lehrte unsere Stammväter kühner denken und erfand ihnen ein Haus, worin sie im Geleit der Gestirne auf Flüssen und Oceanen sicher dahinglitten und neuen Zonen entgegenschifften. –

Fluctibus ignotis insultavere carinae.

Hier wiederum neue Produkte, neue Gefahren, neue Bedürfnisse, Anstrengungen des Geistes. Die Collision der thierischen Triebe stößt Horden wider Horden, schmiedet das rohe Erz zum Schwert, zeugt Abenteurer, Helden und Despoten. Städte werden befestiget, Staaten errichtet, mit den Staaten entstehen bürgerliche Pflichten und Rechte, Künste, Ziffern, Gesetzbücher, schlaue Priester – und Götter.

Und nun die Bedürfnisse ausgeartet in Luxus – welch unermeßliches Feld eröffnet sich unserm Auge! Jetzt werden die Adern der Erde durchwühlt, jetzt wird der Grund des Meeres betreten, Handel und Wandel blühen –

Latet sub classibus aequor.

Der Ost wird in West, der West in Ost bewundert, die Geburten des Auslands gewöhnen sich unter künstlichen Himmeln, und die Gartenkunst bringt die Produkte von drei Welttheilen in Einem Garten zusammen. Künstler lernen der Natur ihre Werke ab, Töne schmelzen die Wilden, Schönheit und Harmonie veredeln Sitten und Geschmack, und die Kunst geleitet zu Wissenschaft und Tugend hinüber. »Der Mensch,« sagt Schlözer,Siehe Schlözers Vorstellung seiner Universalhistorie §. 6. »dieser mächtige Untergott, räumt Felsen aus der Bahn, gräbt Seen ab und pflüget, wo man sonsten schiffte. Durch Kanäle trennt er Welttheile und Provinzen von einander, leitet Ströme zusammen und führet sie in Sandwüsten hin, die er dadurch in lachende Fluren verwandelt; er plündert dreien Welttheilen ihre Produkte ab und versetzt sie in den vierten. Selbst Klima, Luft und Witterung gehorchen seiner Macht. Indem er Wälder ausreutet und Sümpfe austrocknet, so wird ein heiterer Himmel über ihm, Nässe und Nebel verlieren sich, die Winter werden sanfter und kürzer, die Flüsse frieren nicht mehr zu.« – Und der Geist verfeinert sich mit dem seinem Klima.

Der Staat beschäftiget den Bürger für die Bedürfnisse und Bequemlichkeiten des Lebens. Arbeitsamkeit gibt dem Staat Sicherheit und Ruhe von außen und innen, die dem Denker und Künstler jene fruchtbare Muße gewährt, wodurch das Zeitalter des Augusts zum goldenen Alter geworden. Jetzt nehmen die Künste einen kühneren ungehinderten Schwung, jetzt gewinnen die Wissenschaften ein reines geläutertes Licht, Naturgeschichte und Physik stürzen den Aberglauben, die Geschichte reicht den Spiegel der Vorwelt, und die Philosophie lacht über die Thorheit der Menschen. Wie aber nun der Luxus, in Weichlichkeit und Schwelgerei ausgeartet, in den Gebeinen der Menschen zu toben anfängt und Seuchen ausbrütet und die Atmosphäre verpestet, da eilt der bedrängte Mensch von einem Reich der Natur zum andern, die lindernden Mittel auszuspähen, da findet er die göttliche Rinde der China, da gräbt er aus den Eingeweiden der Berge den mächtig wirkenden Mercur und preßt den kostbaren Saft aus dem orientalischen Mohn. Die verhohlensten Winkel der Natur werden durchsucht, die Scheidekunst zertrümmert die Producte in ihre letzten Elemente und schafft sich eigene Welten, Goldmacher bereichern die Naturgeschichte, der mikroskopische Blick eines Swammerdamms ertappt die Natur bei ihren geheimsten Processen. Der Mensch geht noch weiter. Noth und Neugierde überspringen die Schranken des Aberglaubens, er ergreift muthig das Messer – und hat das größte Meisterstück der Natur, den Menschen entdeckt. So mußte das Schlimmste das Größte erreichen helfen, so mußte uns Krankheit und Tod drängen zum γνωθι σεαυτόν. Die Pest bildete unsere Hippokrate und Sydenhame, wie der Krieg Generale gebar, und der einreißenden Lustseuche haben wir eine totale Reformation des medicinischen Geschmacks zu verdanken.

Wir wollten den rechtmäßigen Genuß der Sinnlichkeit auf die Vollkommenheit der Seele zurückführen, und wie wunderbar drehte sich der Stoff unter unsern Händen! Wir fanden, daß auch ihr Uebermaß, ihr Mißbrauch im Ganzen die Realitäten der Menschheit befördert hat. Die Verirrungen vom ersten Zwecke der Natur, Kaufleute, Eroberer und Luxus haben unstreitig die Schritte dahin unendlich beschleunigt, die eine einfachere Lebensart regelmäßiger wohl, aber auch langsam genug würde gemacht haben. Man halte die alte Welt gegen die neue! Dort waren die Begierden einfach, und ihre Befriedigung leicht; aber wie abscheulich wurde auch über die Natur und ihre Gesetze geurtheilt! Jetzt ist sie durch tausend Krümmungen erschwert, aber welch volles Licht hat sich über alle Begriffe verbreitet!

Noch einmal also: der Mensch mußte Thier sein, eh er wußte, daß er ein Geist war; er mußte am Staube kriechen, eh er den Newtonischen Flug durchs Universum wagte. Der Körper also der erste Sporn zur Thätigkeit; Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit.


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