Johannes Scherr
Werther-Graubart
Johannes Scherr

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I. Exposition.

1. Propst Fabian an Gertrud Hartwig-Hellmuth.

X. 1. März 1870.

Liebes Kind! Ich kann Dir nicht länger verbergen, daß ich Deines Vaters wegen in Unruhe bin. Sein letzter Brief an mich war datiert »Tahiti, 25. Februar 1869.« Er wollte von dort, wie Du weißt, durch die Magelhaensstraße, über Brasilien und Westindien nach Europa zurückkehren. Hat er Euch etwa neuerlich geschrieben? Ich weiß zwar wohl, seine Reiselaune ist ein rasch wechselndes, springendes Ding; aber – kurz, ich sorge mich um ihn. Habt Ihr Kunde von ihm, so teile sie mir ungesäumt mit. Ich kann leider noch nicht in meine stille Rothenfluher Klause zurückkehren. Die noch dazu ziemlich unerquicklichen Geschäfte des Landtags halten mich länger in der Hauptstadt fest, als ich anfänglich besorgte. Warum ließ ich mich auch von Deinem Manne bestimmen, die Wahl anzunehmen? Der Schlaue hat es gar hübsch zu machen gewußt, daß eine Bürde, die, wie Dir wohlbekannt, eigentlich für seine Schultern bestimmt war, auf die meinigen geladen wurde. Was macht er? Immer rüstig und tüchtig und hellauf, wie es von jeher seine Art gewesen? Und Eure beiden Kleinen, die den armen unsteten Wanderer von Großvater noch nicht gesehen haben? Tante Hildegard dürfte mir wohl auch mitunter schreiben. Grüße, sie und Deinen braven Hermann recht herzlich von mir ... Beigeschlossen send' ich Dir einen Brief, an dessen Schreiber Du Dich vielleicht wirst erinnern können. Du hast ihn ja zur Zeit, als Du ein freilich noch ein recht kleines Mädchen warest, oft gesehen. Er ist ein alter vertrauter Freund von Deinem Vater und mir. Schon seit langen Jahren lebt er in der Fremde, und so haben wir ihn und er hat uns aus dem Gesichte verloren. Aber die Wärme seiner Gefühle für uns ist, wie sein Brief zeigt, nicht erkaltet, und der Anblick seiner Schriftzüge hat auch in mir die Erinnerung an gemeinsam mit dem alten Freunde verlebte gute und böse Zeiten wieder lebhaft aufgerührt. Er klagt, daß seit Jahren aus der alten Heimat nur spärliche und unbestimmte Nachrichten zu ihm gelangt seien, und wünscht dringend zu erfahren, wie es Deinem Vater und mir und uns allen diese ganze Zeit her ergangen sei. Während des großen Bürgerkrieges in den Vereinigten Staaten habe er in den amerikanischen und englischen Zeitungen häufig von einem General Hellmuth gelesen und sei einmal auf den »tollen« Einfall geraten, das könnte am Ende sein alter Freund sein, von dem er gerüchtweise vernommen hatte, daß er nach Amerika gegangen. Ich antwortete dem Freunde natürlich mit aller Herzlichkeit, aber nur kurz. Was mich angehe, sagt' ich, so sei von mir nur zu melden, daß ich aus einem jungen resignierten Priester nachgerade ein alter resignierterer geworden, dem man – er wisse selber nicht, warum? – den Propsttitel aufgehängt habe. In allem übrigen verwies ich den Frager an Dich, liebes Kind; ja an Dich, und Du wirst aus seinem Briefe ersehen, daß ich dazu berechtigt war. Denn er erkundigt sich ja ganz besonders angelegentlich nach der »kleinen Gertrud«, welche freilich derweil eine ganz anständig große, wenn auch keineswegs zu große Gertrud geworden ist. Ich versprach ihm, Du würdest um alter Freundschaft willen die Mühe, für ihn die Familienchronistin zu machen, wohl auf Dich nehmen, und Du wirst mich, hoff' ich, nicht zuschanden machen. Vergiß aber auch der »bürgerlichen« Seite der Chronik nicht, hörst Du? Unser Freund war ja in die Beziehungen Deiner Eltern zu Herrn Bürger und seiner Frau, die nun beide dahingegangen sind, ganz eingeweiht und gehörte mit zu unserem jetzt, ach, so schmerzlich zerrissenen engsten Freundschaftskreise. O, mein gutes Kind, das Altwerden! das Altwerden! Dieses Verlieren von Freund auf Freund – man vermag doch mit der ganzen Philosophie der Ergebung nicht gegen das trostlose Gefühl der Vereinsamung aufzukommen! Ihr jungen Leute könnt davon nichts wissen. Aber frage die Tante Hildegard, was es heißen wolle, alle, mit denen man jung gewesen und die man geliebt hat, einen nach dem andern und eine nach der andern zu Grabe gehen zu sehen. Wie gerne ginge man mit! ...

2. Dora Bürger an Hildegard Hellmuth.

Pallanza, 3. März 1870.

Verehrte Freundin! So dürfe ich Sie nennen, hat meine teure Mutter noch in einer der letzten Stunden ihres Lebens mir gesagt. O, lassen Sie die Liebe und Treue, welche Sie für die Mutter hegten, auch der Tochter zugute kommen! Wenigstens ein bißchen, gelt? Ich kann es recht gut brauchen, ich armes einsam in der Welt stehendes junges Ding von einer Waise, und ich werde Sie auch recht liebhaben; ich habe Sie schon lieb, weil mir die Mutter und Tante Marget soviel Gutes und Liebes von Ihnen erzählten. So auch von Ihrer Nichte Gertrud, welche das leibhafte Abbild ihrer Mutter Isolde sei, die, sagte meine Mutter oft unter Tränen, das holdeste Geschöpf gewesen, welches sie jemals gesehen. Und so jung, so schön, so edel, wie sie war, mußte sie in ein frühzeitig Grab sinken, und Ihr armer Bruder, mit dessen Namen auf den Lippen meine Mutter gestorben, wurde dadurch zum heimatflüchtigen Wanderer! »Es ist der Lauf der Welt so,« pflegt Tante Marget mit einem ganz eigenen Zusammenziehen der Mundwinkel zu sagen; sie, die doch das sanfteste, ergebungsvollste Wesen von der Welt ist. Ach, wenn ich die nicht hätte! Sie ist mir alles, alles, unter anderem auch mein »Vogt«, wie wir Schweizer statt Vormund sagen. Denn laut testamentarischer Bestimmungen meiner Eltern steht ihr die Oberaufsicht über die Verwaltung meines Vermögens, sowie die entscheidende Stimme zu, wenn ich mich mal verheiraten wollte. Das könnte mir aber einfallen, jawohl! War nicht meine Mutter so glücklich verheiratet wie menschenmöglich? Verheiratet mit dem bravsten, großherzigsten, treuesten der Menschen, wie sie meinen Vater immer nannte? Und doch mußte ich schließlich erfahren, daß sie in tiefster Seele unglücklich gewesen. Wie oft Hab' ich, schon als Kind, die Teure, wenn sie sich unbelauscht glaubte, die Lenausche Klage leise vor sich hinmurmeln gehört:

»O, Menschenherz, was ist dein Glück?
Ein rätselhaft geborner
Und, kaum gegrüßt, verlorner,
Unwiederholter Augenblick!«

Wir sind auf der Reise zu dem Grabe meines Vaters begriffen, welches ich noch nicht gesehen habe. Auch soll ich mein Heimatland, dessen Alpenpracht mich schon hier verheißungsvoll begrüßt, kennen und lieben lernen, damit ich nicht vollends ganz »veritalienere«, sagt Tante Marget. Sie mag Italien nicht, und wir werden uns wohl in der Schweiz bleibend niederlassen. Tante Marget beabsichtigt es, und sie kann bei all ihrer unendlichen Güte auch recht energisch sein, wann und wo das not tut. Wir reisen mit der Familie des Senators Bazzini aus Neapel, mit welcher Mutter und Tante seit langem in vertrauter Freundschaft gelebt haben. Die jüngste Tochter dieser vortrefflichen Familie, Imelda, ist meine liebste Freundin, hat von mir deutsch gelernt und soll, an den Folgen einer Brustkrankheit leidend, drei volle Monate auf einem hohen Berge verbringen. Dasselbe haben die närrischen Herren von Ärzten auch mir verordnet, obgleich ich wohlauf und munter bin wie eine Bergforelle in ihrem Bach. Sie taten es wohl nur der guten Imelda zu Gefallen. Auf was für einen Schweizerberg wir gehen werden, wissen wir heute noch nicht. Man hat uns den Schwarzenstein sehr empfohlen. Tante Marget will, sobald wir uns entschieden haben werden, einen Abstecher ins Schwabenland machen. Sie hat gar so große Sehnsucht nach Ihnen und Ihrer Nichte Gertrud und verlangt, ich hab' es wohl gemerkt, wahrhaft schmerzlich, wieder einmal von Herrn Hellmuth, Ihrem Bruder, zu hören. Der ist ja, wie Sie wissen, verehrte Freundin, das Ideal der Tante. Da ich sie einmal damit neckte, sagte sie mir mit einem Ausdruck der Miene und der Stimme, dessen ich nie vergessen werde: »Als ich in meiner Jugend, in meiner Kindheit von Gott und den Menschen verlassen war, hat Herr Hellmuth mir, dem ihm unbekannten Kinde, aus innigem Erbarmen Worte des Trostes gesagt und hilfreich die Hand gereicht.« Weiter sagte sie nichts. Sie geht ja überhaupt jeder Erwähnung ihrer Jugendzeit konsequent aus dem Wege. Aber soviel glaub ich doch aus ihr und aus meiner Mutter herausgelauscht zu haben, daß über die Tante in ihrer frühen Jugend etwas Furchtbares gekommen sein müsse. Sie, verehrte Freundin, sind gewiß in das Geheimnis eingeweiht. Bringt mich im nächsten Herbste die Tante, wie sie mir versprochen hat, zu Ihnen, so werde ich nicht nachlassen mit Bitten und Betteln, bis Sie mich ebenfalls einweihen, gelt? ...

3. General Hellmuth an Hermann und Gertrud Hartwig-Hellmuth.

Paris, 5. März 1870.

Liebe Kinder! Vor zwei Wochen bin ich aus Westindien in London angelangt, woselbst ich Eure Briefe und die Rimessen richtig bei Hope & Comp. vorfand. Meine Rückkehr nach Europa verzögerte sich, weil ich mich länger, als ich beabsichtigt hatte in Südamerika herumtrieb, die Anden wiederum durchzog und den Amazonenstrom bis zu seinen Quellen hinauffuhr. Dort herum liegt ein gewaltiges Stück Zukunft der Menschheit, welche sich ja bereits anschickt, all ihr großes und kleines Elend in die erhabene Stille jener paradiesischen Wildnisse hineinzutragen. – In London traf mich die Kunde, daß Julie Bürger gestorben. Nichts davon. Zu dem übrigen zu legen. Aber ruft Euren Jungen nie anders als Hanns, meinem Freunde Bürger zu Ehren, und falls zu Eurer kleinen Isolde noch ein Töchterchen kommt, so soll es Julie heißen. – Jetzt bin ich hier in der Weltkloake, wo alles an das evangelische Wort von den übertünchten Gräbern erinnert und ein abscheulicher Verwesungsgeruch sich verbreitet. L'infame, das zweite Kaiserreich, fault entschieden seinem Ende zu. Der Ekel treibt mich fort. Wohin? weiß ich heute noch nicht. Vielleicht in die Pyrenäen, vielleicht in die Alpen. Möglich, daß ich im Herbste nach Rothenfluh komme. Mir ist, als müßt' ich die vier Gräber auf unserem Friedhof noch einmal sehen, bevor ich meine große Reise ins innere Afrika antreten werde. – Von Geschäftssachen schweigt mir! Ich weiß ja alles treu verwahrt und gut verwaltet in Deinen Händen, lieber Hermann. Handle in allem und jedem nach Deinem eigenen Ermessen. – Um meine Gesundheit braucht Ihr Euch fürwahr keine Sorge zu machen. Die ist gefeit, so gefeit, daß ich unschwer zu dem Glauben gelangen könnte, ich sei zum Leben verflucht wie der ewige Jude. – Grüßt mir den Fabian, drückt der Hildegard die Hand, küßt Eure Kleinen für mich und lebt wohl!

4. Gertrud Hartwig-Hellmuth an den Professor.

Schloß Rothenfluh, 12. März 1870.

Lieber alter Freund! Unser Fabian, welcher in der Familie nie anders als »der Onkel« genannt wird, hat mir Ihren an ihn gerichteten Brief zugestellt, worin Sie sich so freundlich der »kleinen« Gertrud erinnern. Die Gertrud, welche derweil einem schon nicht mehr ganz kleinen Hännschen und einer kleinen Isolde das Leben gegeben hat, erinnert sich Ihrer ebenfalls noch recht lebhaft: Sie waren ja der Vierte im Bunde mit dem Vater, Fabian und Bürger. Darum setze ich mich heute gerne hin, um Ihnen vorzuplaudern, was Sie teilnahmevoll von uns zu wissen wünschen, und ich tu' es viel leichteren und freieren Gemütes, als ich es noch vor etlichen Tagen getan hätte. Denn wir sind inzwischen eine sehr quälende Sorge losgeworden: der geliebte Vater hat uns von Paris aus seine Rückkehr nach Europa gemeldet, und wir wissen ihn jetzt doch wenigstens wieder mit uns im gleichen Erdteil, sowie, daß er gesund. Daß er auch zufrieden oder gar glücklich, darf ich leider nicht hinzufügen. Sie wissen ja wohl, seines Glückes Stern ist untergegangen in jener traurigen Nacht, wo meine Mutter Isolde starb, nachdem sie mich, ihr zweites Kind, geboren hatte. Tante Hildegard, das »Tantenideal«, wie mein geliebter Eheherr sagt – Tante Hildegard, welche nach Aufhebung des Klosters Gnadenbrunn zu uns gezogen war, hat mir, als ich zu den Jahren gekommen, wo man so etwas fassen kann, mitgeteilt, daß der Tod meiner Mutter den Vater versteinert habe. Sie hatten so glücklich mitsammen gelebt, so sehr glücklich! Ihre Ehe war sprichwörtlich weitum als eine, als die Musterehe. In ihren Haushalt brachte der Vater die Tüchtigkeit und Tätigkeit eines, ganzen Mannes, die Mutter alle die Schönheit, Anmut, Güte und Harmonie einer vollkommenen Frau. Wie muß sie schön und gut gewesen sein! Noch jetzt kommt ein Aufleuchten in die Augen der Leute, wenn sie von ihr sprechen ... Sie wissen, lieber Freund, wie der Vater das Evangelium der Arbeit betätigte, wie er zu arbeiten liebte und verstand. Nicht nur machte er das Schloßgut Rothenfluh binnen kurzem zu einem Mustergut, sondern auch stellte er im Verlaufe von wenigen Jahren die ganze Herrschaft, wie sie der Großvater dereinst besessen, in ihrem vollen Umfange wieder her. Und das genügte seinem Tätigkeitstrieb noch nicht. Er hatte ja lange im kaufmännischen Fache gearbeitet und daran Geschmack gefunden. In Kompagnonschaft mit seinem Herzensfreunde Bürger führte er großartige Handelsunternehmungen glänzend durch. Die Reichtümer strömten ihm zu. Welchen großherzigen Gebrauch er davon machte, wie er jedes gemeinnützige Streben und Tun anregte und förderte, wie er in der ganzen Gegend, ja im ganzen Lande als der stets rat- und tatbereite Helfer und Tröster, als die Zuflucht der Mühseligen und Beladenen berühmt und geehrt war, wie er es dabei stets einzurichten wußte, daß alles Gute und Segensreiche, was er tat, nicht von ihm, sondern nur von meiner Mutter zu kommen schien, ist Ihnen bekannt. Ebenso, daß das »Glück von Edenhall« nur sieben kurze Jahre währte. Am Schlusse des ersten derselben hatte meine Mutter meinen teuren, herrlichen, armen Bruder Fritz geboren, am Schlüsse des siebenten kam ich und tötete, ich Unglückliche, durch mein Kommen meines Vaters Lebensfreude. Nie hab' ich ihn lächeln, aber zweimal weinen sehen. Das erstemal, als mein Bruder, zum stattlichen Jüngling herangewachsen, nach beendigten Gynmasialstudien die väterliche Einwilligung erbat, sich der soldatischen Laufbahn widmen zu dürfen. Wenn der Fritz bat, wer konnte da widerstehen? Dennoch wollte der Vater ziemlich lange nichts von der Soldaterei wissen, aber zuletzt gab er doch nach. »Der Fritz hat also seinen Willen durchgesetzt?« hörte ich eines Abends den Onkel Fabian sagen. »Ja, was willst du, lieber Alter?« entgegnete der Vater – »der Junge hat mich mit den Augen seiner Mutter angesehen, und da half kein Widerstreben.« Indem er das sagte, bebte ihm die Stimme, und er wandte sich ab, um sich die Augen zu trocknen. Zum zweitenmal – aber soweit bin ich noch nicht in der Chronik... Wenige Wochen nach ihrer Hochzeit hatte meine Mutter den Knaben einer armen Taglöhnerin, deren Mann kurz zuvor beim Holzflößen verunglückt war, über die Taufe gehalten. Die Wöchnerin starb, und meine Eltern hielten ihre schützenden Hände über den Hermann Hartwig, welcher jetzt mein hochgeliebter Mann ist. Das kam aber so. Hermann wuchs, ganz als ein Kind des Hauses gehalten, mit meinem Bruder auf. Wie dieser entwickelte auch er glänzende Geistesgaben, ein tüchtiges Streben, eine ausdauernde Arbeitslust, und daneben war er so lieb, so lieb, gerade wie der Fritz, ja noch lieber! Sein praktisches Sinn und Trieb, das Leben mit geschickten und starken Händen zu packen, zu formen und zu meistern, hatte ihn frühzeitig zum Studium der Volkswirtschaft geführt, und schon als Zwanzigjähriger war er befähigt, die ihm vom Vater anvertraute Verwaltung von Rothenfluh und unseres ganzen Besitztums mit gutem Gewissen zu übernehmen. Der Vater hatte nämlich nach dem Tode der Mutter alle seine gewohnte Geschäftstätigkeit eingestellt, hatte die Führung des Haushalts und die Pflege und Erziehung seiner Kinder der Tante Hildegard und unsern Unterricht dem treuen Jugendfreunde Fabian übergeben und hatte, als wäre ihm die sonst so geliebte Heimat unerträglich geworden, fast seine ganze Zeit auf Reisen verbracht. Er ist ja auch wider seinen Willen ein »berühmter Reisender« geworden. Onkel Fabian ließ nämlich dem Widerstrebenden keine Ruhe, bis der Vater es endlich zugab, daß die lange und inhaltvolle Reihe von Briefen, worin er seine weiten Fahrten, seine Forschungen und Findungen dem Freunde geschildert hatte, gedruckt wurde, obzwar ohne den Namen ihres Verfassers. Vor zehn Jahren übergab der Vater die Verwaltung seines ganzen Vermögens an Hermann, der ihm und uns allen eine grenzenlose Dankbarkeit und Treue weihte. Dann ging er zum zweitenmal nach Amerika, ausdrücklich in der Absicht, den großen Krieg gegen die Sklavenbarone mitzufechten. Er tat so, errichtete auf eigene Kosten ein Regiment von Freiwilligen, zeichnete sich als Führer wie als Soldat höchlich aus, wurde zum General ernannt und gewann seinem Namen Ruhm und Ehre. Aber ich weiß, er suchte, schmerzlich zu sagen, nur eins: den Tod. Nach der Niederwerfung der großen Rebellion in der Union schickte er sich gerade an, nach Mexiko zu gehen, um die in Gestalt eines Schwindelkaisertums daselbst sich blähende Bonapartesche Schurkerei bekämpfen zu helfen, als ihn der Ausbruch des deutschen Krieges von 1866 ins Vaterland zurückrief. An einem Tage bittersten Jammers kehrte er heim, an dem Tage, wo Hermann Hartwig den Sarg nach Rothenfluh brachte, in welchem mein toter Bruder ruhte. Fritz, unser aller Stolz und Liebe, war als Generalsstabsoffizier in einem der Gefechte gegen die preußische Mainarmee gefallen, von einer Zündnadelgewehrkugel mitten in die Stirne getroffen. »Laßt mich allein mit dem Toten!« gebot der Vater tränenlos, und so hielt er die Nacht über die Totenwache. Es war etwas in seinem Blicke gewesen, was uns zittern machte, und angstvoll lauschten wir hinter der Türe des anstoßenden Zimmers. Es war still drüben, nur zuweilen ein Ton, wie wenn ein Mann aufstöhnt in herbster Seelenqual. Einmal auch vernahmen wir deutlich, wie der Vater ausrief: »O, mein geliebtes Weib, nun war es doch wohlgetan von dir, daß du von mir gegangen. Dieses Furchtbare hättest du nicht zu ertragen vermocht. Mitten in die Stirne, wehe! Und von einer deutschen Kugel, dreimal wehe!« Als es Morgen geworden, bestatteten wir den Bruder zwischen seiner Mutter und seiner Großmutter Gertrud. Da, am Grabe, als ich ängstlich besorgt auf den Vater blickte, wie ihm die trocknen Augen brannten, die bleichen Lippen zitterten und die Hand, womit er die Erdscholle aufraffte, um sie auf den Sarg hinabzuwerfen, den Dienst versagen wollte, da bemerkte ich mitten in meinem Leid und meiner Angst eine Veränderung, welche seit gestern an ihm vorgegangen. Sein Bart, dessen Schwarz bei seiner Heimkehr nur ganz spärlich mit Grau durchsprenkelt gewesen, war über Nacht vollständig grau geworden, und dieses Bartgrau bildete zur Schwärze der buschigen Brauen und des dichten Haupthaars einen seltsamen, die düstere Strenge seiner bedeutenden Züge noch mehr hervorhebenden Gegensatz. – Wenn ich mir die Erinnerung an die nächstfolgenden Wochen zurückrufe, fühlt sich noch jetzt meine Seele beklommen. Der Vater schwieg im Leide tagelang, Speise und Trank kaum berührend. Ich schrieb in meiner peinlichen Sorge an Julie Bürger, sie möchte doch versuchen, ihn aus seinem starren Hinbrüten aufzuwecken. Und da will ich Ihnen nun gerade sagen, lieber Freund, daß der vorzeitige Tod von Hanns Bürger wie für die Seinigen, so auch für den Vater und demnach für uns alle ein schwerer Schicksalsschlag gewesen ist. Wie Sie wissen, hatte Julie ihrem Gatten mehrere Kinder gegeben, von denen aber keins am Leben geblieben war. Beim plötzlich erfolgten Tode Bürgers abermals guter Hoffnung, zog sie nach Neapel, wo ihr dort verstorbener Vater unweit von Amalfi eine prächtige Besitzung erworben und dem Wunsche seiner Tochter gemäß Villa Byron benannt hatte. Dort gebar sie eine Tochter, welche die Mutter nach einer Heldin ihres Lieblingsdichters Medora nannte und die jetzt zu holdseliger Mädchenblüte herangewachsen ist. Sie steht, seit ihre uns allen so unvergeßliche Mutter vor Jahresfrist gestorben, unter der Obhut ihrer trefflichen Tante Marget, die Ihnen wahrscheinlich unter ihrem Kindernamen »das Gritli« erinnerlicher sein wird. Erst vor wenigen Tagen schrieb Medora gar herzig an Tante Hildegard, daß sie den Soüimer in ihrem schweizerischen Heimatlande verbringen werde, und die Tante, welche an alles denkt, machte in ihrer Antwort das einzige Kind Bürgers und Julies darauf aufmerksam, daß es an Ihrer Türe, als an der eines der vertrautesten Freunde ihrer Eltern, nicht vorübergehen sollte. – Wohl also, ein Brief von Julie Bürger hat damals den armen Vater wirklich aus seiner Erstarrung aufgerüttelt. In der kürzen und bestimmten Weise, welche wir seit dem Tode der Mutter an ihm kennen, erklärte er, daß er eine Fahrt um die Erde machen werde. Er traf rasch seine Vorbereitungen. Dann arbeitete er, um alle Geschäfte für lange hinaus zu ordnen, eine Woche lang angestrengt mit Hermann, welcher mir in den letzten zwei Jahren unsäglich lieb geworden war. O, wie gerne hätt' ich es dem Vater gesagt! Aber, ich wagte es nicht; denn gar oft beschlich mich das quälende Gefühl, er müßte mich hassen, weil meine Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte. Wie tat ich ihm unrecht! Eines Frühmorgens hatte der Vater mit Hermann einen langen Ritt durch Feld und Wald gemacht, und heimgekehrt fand er mich mit der Aufräumung seines Arbeitszimmers beschäftigt. Ich mochte dieses Geschäft nie einem Dienstboten überlassen, wie das auch meine Mutter so gehalten hatte. Der Vater stand lange im Fenstererker, nachdenklich in den Park hinunterblickend. Dann kehrte er sich plötzlich gegen mich um, und sein Auge schien mir milder, als ich es jemals gesehen, »Gertrud« – fragte er sanft – »du hast den Hermann Hartwig lieb?« Ich erbebte und das Blut schoß mir jählings ins Gesicht; aber ich zwang meine Angst nieder, als ich seinen Blick voll innigster Liebe und Güte auf mir ruhen sah, und sagte: »Ja, Vater, von Herzensgrund.« – »Und Hermann hat dich lieb, Gertrud?« – »Ich weiß es nicht.« – »Aber du glaubst es?« – »Ja, ich glaub' es.« – »Ihr habt es einander nie gesagt?« – »Niemals, Vater.« Da faßte er mich in seine Arme, und die Tränen stürzten ihm gewaltsam hervor. »O, mein Kind, mein geliebtes Kind« – rief er tief erschüttert aus – »du bist wie deine Mutter! An Leib und Seele wie deine Mutter! Wahr bis in die innerste Herzenstiefe hinein!« Sehen Sie, lieber Freund, das ist für mich ein unbeschreiblich glüklicher Augenblick gewesen, und nie in meinem Leben war ich stolz wie zu jener Stunde; denn höher vermochte kein Lob mich zu stellen, als das aus dem Munde eines solchen Vaters vernommene es tat. Bevor ich recht wußte, wie mir geschah, stand mir der vom Vater herbeigerufene Geliebte zur Seite und hielt meine Hände in den seinigen und lagen die väterlichen segnend auf unsern Häuptern. So wurde ich verlobt. Zwei Wochen später war meine Hochzeit, und am Tage darauf reiste der Vater ab. Doch genug jetzt, lieber Freund. Ich bin zu bewegt, um weiter plaudern zu können; auch verlangt mein Töchterlein nach der Mutterbrust. Leben Sie wohl!

5. Tante Marget an Tante Hildegard.

Gersau, 15. April 1870.

...... Nach Z. hinüber mochte ich nicht gehen.

Du weißt ja, Liebe, was für gräßliche, unaustilgbare Erinnerungen für mich an jene Stadt und ihre Umgebung sich knüpfen. Dora freilich will nächster Tage hinüber. Sie hat ja Haus und Heim dort, die sie doch einmal sehen möchte. Auch treibt es sie, das Grab ihres Vaters zu besuchen, und endlich will sie unsern alten, lieben, wunderlichen Freund, den Professor, kennen lernen und ihm sagen, daß ihre Mutter ihm bis zuletzt ein treues Gedenken bewahrt habe. Der berühmte Augenarzt, welchen ich zu Rate ziehen wollte, hatte die Güte, von dort nach Luzern herüberzukommen. Er gibt wenig Hoffnung, hat mir aber zunächst den Gebrauch von Brillen entschieden verboten, indem er den allerdings sehr scharfen Gläsern, deren ich mich bedienen mußte, die auffallend rasche Verminderung meiner ohnehin von Kindheit auf schwachen Sehkraft beimißt ober wenigstens mit beimißt. Wenn ich aber die Brille ablegen soll, so kann ich ja auf zwei Schritte weit Weg oder Steg nicht mehr sehen und nicht einmal die Züge meiner geliebten Dora erkennen. Die ist gut, grundgut! Dabei hochgestimmt und frohgemut wie eine Lerche. Der Ausspruch des Arztes in betreff meiner Augen machte sie erst sehr traurig; dann aber sagte sie in ihrer tröstlichen Weise: »Tante Marget, sei du nur ganz ruhig. Solange ich zwei Augen habe, wird es dir nie an einem fehlen, gelt?« So ist sie. Im Herbste bring' ich sie zu Euch, ich selber aber komme, denk' ich, schon im Mai für etliche Wochen, im Mai oder Juni, sobald die Bazzinis über die Berge herübergekommen sein werden. Imeldas Zustand erlaubte diese Reise bis jetzt noch nicht. Die Postfahrt über den Gotthard auf Schlitten war auch kein Spaß, sag' ich Dir, obschon Dora ihren Spaß daran hatte, während ich meinesteils bei dieser Gelegenheit mich gewissermaßen über meine sonst so lästige und peinliche Kurzsichtigkeit freute. Nun sitzen wir hier am Vierwaldstätter See in der trefflich eingerichteten Pension Müller und harren des Frühlings, der aber nur zögernd sein Kommen anmeldet, und warten auf unsere italischen Freunde. Habt Ihr noch immer keine Kunde, wo Dein teurer Bruder weilt? Ich bin so in Sorgen um ihn...

6. Dora Bürger an Imelda Bazzini.

Gersau, 1. Mai 1870.

Cara mia! Verzeih mir, daß ich meinem Telegramm, welches Euch meldete, daß wir glücklich über die Alpen hinweggekommen, erst heute den versprochenen Brief nachfolgen lasse. Mein prächtig Heimatland hat aber so überwältigend auf mich gewirkt, und ich hatte mir auch sonst manchen bedeutenden Eindruck zurechtzulegen, so daß ich erst heute dazu komme, Dir zu schreiben. Zum Dank für Dein langes Warten will ich Dir aber ganz methodisch und in aller Reihenfolge meine neuesten Erlebnisse erzählen, gar nicht im gewohnten und Dir so anstößigen Durcheinander-Dorastil, wie mein neugewonnener lieber Freund, der Professor, sagen würde, der mir neulich ein bißchen Ordnungsrespekt beibrachte mittels seiner Bemerkung: »Ohne Ordnung, liebes Kind, wäre es in diesem leidigen Gerümpel von Welt gar nicht auszuhalten: man würde ja, wenn alles nur so durcheinander läge, gar keinen Schritt mehr tun können, ohne über eine Dummheit oder über eine Niederträchtigkeit zu stolpern.« Also hübsch der Ordnung und Reihenfolge nach, Schatz, gelt?

Du erinnerst Dich, daß wir die »hesperischen« Lüfte, welche schon vor Monatsfrist drüben an Euren schönen Seegestaden wehten, ver- und Euch in Pallanza zurückließen, weil das Augenleiden der armen lieben Tante Marget ein längeres Zögern, endlich die Hilfe eines tüchtigen Spezialarztes anzusprechen, nicht zuließ. Die besagten hesperischen Lüfte wandten uns aber noch jenseits des Alpenwalls treulos den Rücken, und schon in Faido erhielten wir einen richtigen borealen Vorgeschmack dessen, was auf der Nordseite der Berge in Luftsachen Mode sei. Je höher wir dem alten Kerl von Gotthard auf den Leib rückten, ein desto griesgrämigeres Gesicht machte er uns, und er trieb es so ungalant, daß er mir zum Willkomm einen Schneesturm entgegensandte. Nur gut, daß die Tante durch ihre Kurzsichtigkeit verhindert war, zu sehen, wie die Gegend eigentlich aussah: sie hätte sicherlich die Weiterreise von Faido aus nicht zugegeben. Nicht etwa aus Besorgnis für sich selbst, aber für mich. In Airolo wurden wir sämtlichen Passagiere auf Schlitten gepackt, jeder und jede einzeln auf einen kleinen einspännigen Schlitten, und so ging's, weiter den Berg hinan zum Hospiz. Es war ganz lustig und machte mir viel Spaß. Der Postillion, welcher mich fuhr, war ein hübscher junger Bursch aus Lugano. Er hatte große schwarze Augen, so groß – Du weißt, ich bin auf schöne Augen versessen – und erzählte mir allerhand Geschichten von diesen Schneefahrten, über den Santo Gotardo. Auf der Höhe angelangt, das heißt in dem von Granit, Eis und Schnee eingewandeten Kessel, in welchem das Hospiz liegt, überkam mich in dieser von schweren schwarzen Wolken überhangenen und unvorstellbaren Wildnis zum erstenmal ein deutliches Gefühl von der wilden Erhabenheit und Trauer der Hochgebirgseinsamkeit. Dann ging's hussa, im Zickzack abwärts ins Urserental, daß mir der Wind nicht übel um die Pelzkapuze pfiff und ich manchmal glaubte: jetzt fliegst du bei der nächsten Krümmung des Weges samt Schlitten und Pferd und Postillion unfehlbar in, den leeren Raum hinaus oder kein Mensch weiß wohin. Es war aber doch recht ergötzlich, besonders wenn, was gar nicht selten vorkam, einer der ganz niedrig gebauten Schlitten in der Reihe umkippte, der darin sitzende, Passagier auf den Schnee hinauskollerte und unter Vonsichgabe, jener populären Redensarten, welche man Flüche nennt, in den rasch wieder aufgerichteten Schlitten zurückkrabbelte. Da sich keiner der Umgeworfenen Schaden tat, so mußte ich jedesmal hell auflachen, gar nicht daran denkend, daß die Reihe, auch an mich kommen könnte. Sie kam aber auch an mich, und das war mir ganz lieb; denn höre nur, ich erlebte bei dieser Gelegenheit ein richtiges Abenteuer.

Von der Station Andermatt aus war mein Schlitten zufällig der letzte in der Reihe. Der Himmel hatte sich aufgetan und wölbte sich in wolkenloser Bläue über dem Reußtal. Fast schmerzend scharf schimmerten die unzähligen Kämme, Kuppen und Zacken ringsum im winterlich weißen Sonnenlicht. Wir aber sausten munter durch das Urnerloch, über die Teufelsbrücke und hinab in die enge Talspalte, welche die tosende Reuß bis gen Amsteg hinunter gebohrt hat. Jetzt freilich lag der Unband noch ganz zahm und still im Banne von Eis und Schnee. Mir fiel die von Kennern als wunderbar schön und zutreffend gerühmte Beschreibung ein, welche Schiller im Teil von der Gotthardstraße gegeben hat, ohne sie jemals gesehen zu haben, bloß vom Hörensagen, nach mündlichen Andeutungen seines Freundes Goethe. Den hat, weißt Du, den Goethe, meine teure Mutter zuletzt sehr geliebt, weit mehr noch als ihren früheren Lieblingsdichter Byron, und darum wollte sie mich auch nicht mehr mit dem Byronschen Namen Medora, sondern mit dem Goetheschen Dora – lies doch mal gleich »Alexis und Dora«, Imeldaleta mia! – rufen und gerufen wissen. Doch was schwatz' ich nicht wieder alles kunterbunt durcheinander? Herrgott, wenn das mein professorlicher Freund wüßte! Was wollte ich denn eigentlich zunächst sagen? Ja, richtig, die Verse Schillers wurden mir im Gedächtnisse wach, aber was ich rechts und links und geradeaus sah, wollte nicht zu diesen Versen passen: es war eben nur eine kolossale Schneewildnis, die aber mit dem über sie hingebreiteten ungeheuren Schweigen ganz feierlich wirkte.

Meine feierliche Stimmung nahm freilich ein possierliches Ende und doch auch wieder, wenn Du willst, gar kein possierliches. Diesen Widerspruch verstehst Du nicht, gelt? Tut aber nichts. Unterhalb Göschenen läuft die Straße durch eine lange zum Schutze gegen die Lawinen erbaute »Galerie« und wendet sich dann scharf rechts in eine wilde Schlucht hinab. Da sah ich aus dieser herauf einen einsamen Fußwanderer mir entgegenkommen oder vielmehr einen zweisamen. Denn der Mann, der Herr – er sah in der Nähe in seinem einfachen dunkeln Anzuge mit umgehängter Seitentasche, über die Schulter geworfenem Kapuzenmantel und langem Bergstock durchweg gentlemännisch aus – war eigentlich zweisam, insofern ihm ein ungeheuer großer, rabenschwarzer Hund – Du kennst meine Schwache für diese wie überhaupt für alle nicht gar zu häßlichen Tiere – ja ein wahres Ungeheuer von Hund mit einem Lüwenkopf und prachtvollem Schweife zur Seite ging. Mein Schlitten fuhr in vollem Schuß auf den Wanderer zu, welcher sich beim Herankommen des Gefährtes behend auf den Rand der Schneewand rechts am Wege schwang. Der Hund folgte seinem Herrn, der, wie ich im Heranfahren – die Sonne schien hell – bemerkte, einen kurzgehaltenen grauen Vollbart um Lippen, Wangen und Kinn trug. Da, bevor ich an ihm vorüberschoß, rrratsch! krachte das Schlittengestell unter mir, das Pferd machte einen Seitensprung – nein, der Seitensprung kam zuerst und dann das Gekrach – kurz, der Schlitten rollte jäh nach links, und das Ende vom Liede war, daß er umkippte, ich aber von meinem Sitze auf den Schnee hinausgeschleudert wurde und etliche Ellen weit den gegen das Flußbett steil abfallenden Abhang abwärts kollerte. Bevor ich nun wußte, ob ich lachen oder weinen sollte – das erstere stand mir näher als das letztere, denn ich fühlte gar keinen Schmerz und kam mir die ganze Geschichte weit mehr komisch als tragisch vor – fand ich mich in den Armen des Herrn mit dem Graubart. Ja, Imeldinetina mia, in seinen Armen, denke Dir! Er hatte mich wie ein Kind aufgehoben, und ich sträubte mich auch gar nicht, sondern ließ mich ganz ruhig den Abhang hinauftragen und in den Schlitten setzen, welchen der recht dumm und tappig dastehende Postknecht inzwischen wieder aufgerichtet hatte. Ich muß Dir auch sagen, Schatz, daß ich während der Prozedur des Getragenwerdens meine Augen gar nicht zimperlich niederschlug oder schloß, wie ich doch von Anstands wegen hätte tun sollen, sondern vielmehr meinen Träger, dessen Gesicht nur eine Spanne von dem meinigen entfernt war, recht neugierig anguckte! Das war »frech«, gelt? Aber Du begreifst, ich mußte doch den Mann ansehen, der mir so rasch zu Hilfe geeilt war, daß ihm dabei der Hut vom Kopfe gefallen. So sah ich denn einen bedeutenden Kopf und ernste, ja düstere, dunkelgebräunte Züge, fast bronzeartig, als wäre die Sonne der Tropen lange über sie hingegangen. Die Wangen hager, die Nase scharf vorspringend. Von ihrer Wurzel lief eine tiefe Falte zwischen den starken Brauen weit in die hohe, massive Stirne hinauf. Dies Gesicht hatte etwas seltsam Starres, fast Eisernes; nur der gebietende Blick der großen Augen, vom dunkelsten Blau belebte die düstere Strenge des ganzen Kopfes ganz eigenartig. Doch das Sonderbarste kommt noch: der mir bis dahin noch gar nie begegnete Kontrast zwischen dem grauweißen Bart und den kohlschwarzen Brauen und dem dichten ebenso schwarzen Haupthaar des Mannes. Wie ich mir mittels immerhin nur flüchtigen Anschauens das alles so einprägen konnte? Ja, siehst Du, das kann ich Dir nicht erklären und auch mir selber nicht. Aber ich könnte diesen Kopf, dieses Gesicht malen, ganz getreu, ganz deutlich, und – nun ja, 's ist ja wahr – ich habe es alle diese Tage her oft, sehr oft vor mich hin in die Luft gemalt.

Ich kam doch ein bißchen in Verlegenheit, als der fremde Herr die Pelze und Decken sorgsam um mich herbreitete. Da zog mich der prächtige Hund daraus, nämlich aus der Verlegenheit. Er leckte mir die über den rechten Schlittenrand hinausreichende Hand. Ich tätschelte ihm dafür den Löwenkopf und fragte: »Wie heißt du denn, du schönes und gutes Tier?« – »Er heißt Lara,« sagte der Fremde; »aber haben Sie sich nicht etwa wehgetan, mein Kind?« – »O, gar nicht!« gab ich zur Antwort, und weiter wußte ich nichts zu sagen, nicht einmal: Danke Ihnen recht sehr, mein Herr. War das dumm! Ich schäme mich fürchterlich. Aber siehst Du, lieb Herz, das »mein Kind,« wie der fremde Herr es sagte, klang so eigen. Ich denke mir, so muß es klingen, wenn ein zärtlicher Vater zu seiner inniggeliebten Tochter sagt: Mein Kind! oder auch, wenn – ei, was weiß ich? Kurz, es klang sehr lieb, und dabei sah mich der seltsame Mann mit seinen gebietenden Augen an, gar nicht gebieterisch, sondern mild und gütig. Aber der alberne Postknecht knallte ungeduldig mit der Peitsche, ich hörte den Fremden nur noch nachdrücklich zu ihm sagen: »Fahrt vorsichtig, Bursch!« und der Schlitten trug mich weiter. Es ging über eine Brücke, dann wandte sich der Weg linkshin, und ich kehrte, bevor wir aus dem engen Kessel heraus waren, den Kopf rückwärts, in der Hoffnung, den hilfebereiten Wanderer noch einmal zu sehen. Richtig, dort droben stand er auf einem Schneehügel, der schwarze Lara neben ihm. Scharf hob sich im hellen Sonnenschein die hohe Gestalt des Mannes von dem blendend weißen Hintergrund ab. Ich sah ihn den Hut zum Abschiede schwenken, ich schwenkte zum Gegengruß mein Taschentuchs dann schoß der Schlitten um einen Felsenvorsprung und alles war vorbei. Eine wunderliche Traurigkeit überfiel mich. Sollte ich diesen Mann zum erstenmal und zugleich zum letztenmal gesehen haben? Wie heftig warf ich mir vor, daß ich ihm nicht gedankt, ihm nicht meine Karte gegeben, ihn nicht nach seinem Namen gefragt hatte. In Wasen holte ich die Karawane ein, und in Amsteg hatte dann die Schlittenpartie ein Ende.

Abends.

Heute ist der erste Mai und mein achtzehnter Geburtstag. Ich hätte gar nicht daran gedacht, falls mir nicht Tante Marget beim Aufstehen einen frischen Veilchenstrauß glückwünschend überreichte. Sie weiß, wie ich die Veilchen liebe, und hatte die Blumen droben am Rigi für mich zusammensuchen lassen. Und ich undankbares Geschöpf dankte der Guten nur flüchtig. Ein Traum, den ich in der Nacht gehabt, hatte mich zerstreut und traurig gemacht. Auch waren die Veilchen so dunkel, fast schwarzblau, daß sie mich an Augen erinnerten, die – doch was schwatz' ich Dir da für wirrseliges Zeug vor! Ich will Dir lieber erzählen, daß ich in Z. gewesen bin und die Bekanntschaft des schon erwähnten Freundes meiner Eltern gemacht habe. Wie der mich freundlich empfing in seiner mit Büchern eingewandeten »Höhle«, wie er seine Stube nennt, sobald ich ihm gesagt hatte, ich sei die Dora Bürger. Er bemerkte ganz gerührt: »Sie haben die Augen und das Lächeln Ihrer Mutter, Kind; auch ihre Gestalt. Aber nehmen Sie mir es nicht übel, ich kann doch nicht mit dem alten Horaz zu Ihnen sagen: › O, matre pulchra filia pulchrior‹« – »Was heißt das, Herr Professor?« – »Das heißt oder will wenigstens sagen – hm, es muß schon heraus – so schön wie Ihre Mutter« – »Bin ich lange nicht. O, da sagen Sie mir nichts Neues. Aber für Ihr Nichtkompliment sollen Sie ein Gegennichtkompliment haben: ich habe keins von Ihren Büchern gelesen.«– »Desto besser.« – »Was? Wieso desto besser?« – »Ja, desto besser, weil Sie darum keine Ursache haben, mich für einen Isegrim zu halten, was zu tun meine Leser und Leserinnen nur allzu geneigt sein dürften.« Siehst Du, so plauderten wir schon in der ersten Viertelstunde ganz behaglich und find rasch recht gute Freunde geworden. Er hat mich dann auf dem traurigen Gange durch mein Besitztum am See begleitet und mir die düsteren Eindrücke wegzuscherzen versucht. Das Haus, die Gärten, wie groß, stattlich, öde und unheimlich das alles ist! Selbst meines neugewonnenen Freundes Humor hielt nicht durchweg stand, und der Professor ließ sich beim Durchschreiten der Gänge und Gemächer des Hauses das Wort entwischen: »Es riecht da nach Verlassenheit.« Mir wollte die Erinnerung nicht aus dem Sinne, daß einmal meiner Mutter die Äußerung entfallen war, es hätte schon den Großvater nicht mehr in diesen Räumen gelitten, seit ihm darin die Kunde von einem Greuel in der Familie geworden. Was war es nur mit diesem Greuel? Es muß mit Tante Marget zusammenhängen. Der Professor weiß sicherlich davon; aber als ich mit gewiß sehr ungeschickten Fragen daran herumtastete, setzte er mir mit eiserner Beharrlichkeit die Vorzüge eines großen Viehstückes auseinander, welches in dem Gartensaale hängt. Beim Nachhausegehen – ich mußte natürlich bei ihm wohnen, er tat es nicht anders, und ich tat es sehr gern – gab er mir jedoch deutlich zu verstehen, daß er meine Fragen keineswegs überhört habe. »Sagen Sie, liebes Kind,« fragte er, »Sie haben doch wohl auch schon etliche Romane und Novellen gelesen?« – »Allerdings.«– »Nun wohl, da müssen Sie also wissen, daß es so ziemlich in jedem alten und angesehenen Hause ein Spukzimmer zu geben pflegt, welches fest verschlossen ist und welches fest verschlossen zu lassen sehr ratsam sein soll.« – Ich mußte, wie das Kind des Hauses gehätschelt, schlechterdings einige Tage bleiben und wäre gar gerne noch länger geblieben, so ich nicht gewußt, daß Tante Marget in Gersau sehnsüchtig meiner Rückkehr harrte. Täglich besuchte ich das Grab meines Vaters, von welchem mir der Professor viel erzählte. Einmal schloß er seine Erzählung mit den warmen Worten: »Kind, Ihr Vater das war ein prächtiger Mensch! Den mußte man lieben, sobald man ihn kannte. Er ließ sich freilich nicht so leicht und gern kennen. Aber kannte man ihn, so hatte man ihn lieb. Was für gute, beste Stunden hab' ich mit ihm und dem Hellmuth und dem Fabian verlebt! Die beiden waren auch wie Ihr Vater, jeder in seiner Art. Wir sind wie Brüder mitsammen gewesen, wie treueste Brüder. Den Hellmuth hätten Sie bei seinen Arbeiten, in seiner politischen und gemeinnützigen Arbeit sehen sollen! Ich habe keinen zweiten Menschen gekannt, der so ganz wie mein armer Freund dazu geschaffen war, glücklich zu machen und glücklich zu sein. Da fiel aus blauem Himmel der erbarmungslose Schlag. Nun, Sie wissen ja aus dem Munde Ihrer Mutter, wie Hellmuths Frau und was sie ihm war. Und dann der tragische Hingang seines einzigen Sohnes, gefallen im Kampfe Deutscher gegen Deutsche. Wie muß es in meinem von Natur hochleidenschaftlichen Freunde gestürmt, gewühlt haben, bis es ihm gelang, den wilden Scherz notdürftig niederzuringen. Was für eine sozusagen unzerstörbare physische und moralische Kraft setzte es voraus, mit solchem Weh, in der Seele allen den Strapazen und Gefahren zu trotzen, welchen er getrotzt hat, um nach verlorenem Lebensglück und nach erloschener Hoffnung sich noch in beiden Erdhälften einen berühmten Namen zu machen. Freilich, wozu das alles? Aller Ruhm der Erde wägt nicht ein Tausendstel des Glücksmomentes, wann in vier Augen dasselbe Himmelsfeuer glüht und zwei Herzen aneinander pochen in einem und demselben Gefühle: Mag die Welt in Trümmer gehen, wenn nur der Trümmersturz uns nicht auseinanderreißt! Wohl weiß ich, auch dieses beste und schönste, dieser holdeste Wahn, die Liebe, ist nur eine Masche in dem großen Lug- und Trugnetz, in welches die dunkle Macht, welche unerbittlich über uns waltet, uns von Kindheit auf verstrickt, um uns schließlich damit zu erwürgen. Aber, o, mein liebes Kind, glauben Sie einem Manne, welchem die grenzenlose Nichtigkeit alles Menschlichen längst zum Bewußtsein gekommen ist, Goethes Klärchen hat doch recht: ›Glücklich allein ist die Seele, die liebt!‹ und wer das ›Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt‹ – nicht wenigstens einmal in seinem Dasein ›freudvoll und leidvoll‹ durchgenossen und durchgelitten hat, der ist der Ärmste von uns Armen allen und mag mit Hiob sprechen: ›Verflucht sei die Stunde, wo ich ward geboren!‹«

Ich weiß gar nicht, wie es kam, daß ich mich gerade nach diesem Ausbruch, wie er dem ganzen Wesen meines Freundes zufolge gewiß ein seltenes Vorkommnis ist, wunderlich gedrungen und getrieben fühlte, ihm, wozu ja gar keine äußere Veranlassung vorlag, mein kleines Gotthardsabenteuer mitzuteilen, welches ich doch der Tante verschwiegen hatte. Warum? weiß ich selbst nicht. Um sie nicht noch hinterdrein unnötigerweise zu erschrecken, glaub' ich. Der Professor wurde während meiner Erzählung immer aufmerksamer und zuletzt so unruhig, daß er hastig im Zimmer auf und nieder ging. »Ich langweile Sie wohl, verehrter Freund?« sagte ich. »Nicht doch,« entgegnete er; »sagten Sie nicht, Kind, Ihr quasi Retter und Ritter hätte auffallenderweise tiefschwarzes Haupthaar und einen ganz grauen Bart gehabt?« – »Allerdings.«– »Kurios! Kurios! In dem Briefe von Gertrud – aber es wäre ja ein ganz abenteuerliches Zusammentreffen. Nein, es kann nicht sein.« – »Was haben Sie denn?« – »Nichts, nichts. Es ging mir nur ein närrischer Einfall durch den Kopf. Möchte aber doch wissen, wer der seltsame alte Mann wohl war.« – »O, caro professore, er war gar nicht so alt!« Das fuhr mir nur so heraus. Der Freund stand vor mir still, sah mich scharf an, so scharf, daß ich vor seinem Blicke die Augen senkte, und sagte, wohlwollend meine Hände in die seinigen nehmend: »Kind, Kind, wenn Sie sich nur da droben am Gotthard am Ende nicht dennoch wehgetan, haben!«

Dieses Wort senkte sich mir mit merkwürdiger Schwere in die Seele. Gestern mußte ich während der ganzen Dauer der Rückfahrt hierher darüber nachdenken. Ich bin überhaupt recht nachdenklich seit einiger Zeit. Auch recht wechselnd und launisch in meiner Stimmung. Bald unruhvoll und hastig, bald träge und traurig. Liebe Seele, was ist denn das? Der guten Tante muß etwas an mir auffällig vorkommen. Heute sagte sie zu mir: »Dora, wo hast du denn dein Losungswort Never mind! hingebracht? Ich habe es viele Tage lang nicht von dir gehört.« – » Never mind!« erwiderte ich lachend, aber, siehst du? das Lachen wollte mir nicht so recht vom Munde gehen. Letzte Nacht schlief ich schlecht, oder vielmehr ich schlief erst gegen den Morgen zu ein, und da träumte mir, ich stände mitten in einer wunderschönen fremden Frühlingslandschaft. Alles leuchtete, blühte, duftete ringsum, und aus tiefblauer Luft hörte ich die Lerchen jubilieren. Wie ich aber vorwärts gehen wollte auf dem beblümten, sammetweichen Rasen, hörte derselbe plötzlich auf, und ich fand mich am Rande einer ungeheuren schwarzen Kluft, über welche gar nicht wegzusehen war. Von drüben aber, wie aus weiter Ferne, rief es: »Zu früh und zu spät, mein Kind!« und die rufende Stimme, ja sie war die des rätselhaften Fremden. Sie klang so zärtlich-besorgt und zugleich so traurig, daß es mir das Herz beklemmte und ich angstvoll erwachte. Ein sonderbarer Traum, gelt? Ich glaube, ich habe darob meinen achtzehnten Geburtstag mit Weinen angehoben. Wie, wenn der gute Professor recht gehabt hätte! Wenn ich mir wirklich wehgetan hätte »da droben am Gotthard!« Du wirst mich auslachen von wegen all der Torheit, welche ich an dich hingeschrieben habe. Tu' es immerhin, liebe Imelda; aber es ist doch seltsam, daß mir mein leichtherzig Never mind! abhanden gekommen zu sein scheint.

7. Der Professor an den Propst.

Z., 17. Mai 70.

Lieber Alter! Ich will mich für die Kürze Deines Briefes von neulich in großmütigster Weise rächen, indem ich Dir einen recht langen schreibe. Und zwar will ich Dir altem Pfaffen – das Wort natürlich nur im harmlosen Sinne des Mittelalters gebraucht – die Wohltat erweisen, Dich im Geiste mit dem liebenswürdigsten jungen Mädchen bekannt zu machen, welches mir seit dreißig Jahren vorgekommen ist. Ja, wenn ich recht erwäge, hab' ich überhaupt all mein Lebtag kaum jemals ein liebenswürdigeres Geschöpf gesehen als dieses. Nun wett' ich, Du sprichst bei Dir: »Oho!« brummst etwas von einem »alten Enthusiassinus« und denkst oder sagst auch wohl: »Es hat nie etwas Liebenswürdigeres gegeben auf Erden als Tante Hildegard, da sie noch jung war.« Ich bin sogar überzeugt, Fabiane carissime, Du lässest den von mir vorausgesetzten Nachsatz weg, alldieweilen Dir Tante Hildegard noch jetzo, wie vor dreißig Jahren, das Liebenswürdigste unter der Sonne ist. Wer ist nun in Wahrheit und Wirklichkeit ein »alter Enthusiassinus«, Du oder ich? Warte nur, Du sollst sehen, daß ich nicht umsonst schon von Amts wegen Skeptiker und Kritiker bin.

Du weißt noch von früher her, daß ich gern allerhand Brotlosigkeiten treibe. So dermalen Studien über die Urgeschichte Amerikas, wozu die zentralamerikanischen Forschungen und Findungen von Squier und Stephens mich angeregt haben. Sitze da eines Morgens sozusagen auf der Ruinenterrasse des Palastes von Palenque und spintisiere, grüble und tiftle über die mutmaßliche Zeit der Entstehung dieses rätselhaften Baudenkmals. Da wird mir gemeldet, daß eine junge Dame mich zu sprechen wünschte. »Soll kommen!« sagt' ich nicht sehr erbaut; denn vormittägliche Störungen mag, weißt Du? der Teufel holen. Dieser fromme Wunsch mochte nicht sehr undeutlich auf meinem Gesichte zu lesen sein, als die junge Dame eintrat; denn sie blieb wie verdutzt oder verschüchtert an der Türe stehen. Gerade lange genug, daß ich Zeit hatte, zu bemerken, sie sei recht morgenfrisch und kleidsam, aber ganz einfach angezogen. Nichts von all dem infamen Pompadourmodezeug, nichts von den schamlosen Entblößungen, nichts von den abscheulichen Bauschungen und Polsterungen, womit sich unsere jungen und alten Tagesmodenärrinnen als das signalisieren, was sie sind. Hatte auch das liebe Kind keinen jener greuelhaften Wülste, keins jener Rattennester, keinen jener Biberschwänze, die jetzo auf modischen Damenköpfen wuchten und übelduften, auf dem Kopfe, dessen reiche schwarzbraune Haarfülle in simpelster Weise zu zwei trotz ihrer Aufnestelung lang in den Nacken hinabhängenden Zöpfen geflochten war. Mittels dieser Ergebnisse eines raschen Überblickes hatte mich meine junge Besucherin schon halb weg, und es währte dann kaum eine Stunde, so hatte sie mich ganz weg. Auf meinen so freundlich, als eben meine Mittel mir erlauben, ihr gebotenen guten Morgen, tat sie einen Schritt vorwärts und sagte mit einer allerliebst zwischen Sopran und Alt auf- und absteigenden Stimme: »Entschuldigen Sie die Störung, Sor Professore. Aber ich komme als die Überbringerin eines Grußes, welchen meine selige Mutter mir an Sie aufgetragen hat.« – «Ihre selige Mutter, Fräulein?« – »Ja, ich bin die Nora Bürger aus Amalfi.« – »Die Tochter meiner hochverehrten und sehr lieben Freundin Julie?« – »Ja.« – Du kannst Dir denken, wie herzlich ich sie jetzt willkommen hieß. Während ich ihre beiden Hände in den meinigen hielt, ließ sie ihre Augen, die noch den ganzen Zauber kindlicher Unmittelbarkeit haben, neugierig in meiner Höhle herumgehen und rief naiv aus: »Herrgott, wieviele Bücher!« – »Lieben Sie denn die Bücher, Kind?« fragte ich. – »Das will ich meinen.« – »Aber natürlich nur die Dichterbücher?« – »Da kennen Sie mich aber schlecht! Allerdings hab' ich die Dichterbücher vor allen lieb, aber doch auch andere. Meine teure Mutter, sehen Sie, sagte oft zu mir: Du hast zuviel Phantasiephosphor in deinem Gehirn, Dora, und darum könnte dein Lebensfahrzeug im ersten besten Sturme umschlagen, so man es nicht mit dem Ballast ernsten Wissens versorgte. Glaub' mir, Kind, es tut nicht gut, im Traumreiche der Poesie allzu heimisch zu werden. Und dazu seufzte sie und sah mich so liebevoll-besorgt an, daß ich mich entschloß, mir all den schrecklichen Ballast geduldig einladen zu lassen. Herrgott, was hab' ich bei diesem Einladungsgeschäfte für Langeweile ausgestanden! Am meisten Teilnahme hat mir noch die Geographie und was damit zusammenhängt abgewonnen. Ich lese so gern Reisebücher, höre so gern von ganz wildfremden Ländern und Leuten, wo nicht alles so zahm und ordinär und polizeiuniförmlich hergeht wie bei uns. Auch die Literaturgeschichte hab' ich gern, obgleich sie im Grunde traurig zu lesen ist, weil sie zeigt, daß so ziemlich alle die großen Seher und Lehrer der Menschheit recht unglücklich waren. Aber Orthographie, Geologie, Mythologie und wie alle die anderen Logien und Graphien heißen mögen – Schauder! Sagen Sie, Sor Professore, könnte man denn die Wissenschaft nicht ein klein bißchen kurzweiliger machen? Das müßte doch hübsch sein, gelt?« Dieses zutrauliche Fragwort weiß sie so allerliebst anzubringen und auszusprechen, daß man sie nur gleich dafür küssen möchte. Aber sie sieht bei all ihrer harmlosen Zutulichkeit doch keineswegs aus, als ob sie sich nur so küssen lassen würde. Es ist in ihrem Wesen etwas abweisend Jungfräuliches, etwas herb Mädchenhaftes, reizend gemildert durch einen dann und wann flüchtig auftauchenden Zug unschuldiger Koketterie. Da hast Du eine Probe davon, lieber Alter. Eines Tages kramte Nora, wie sie manche liebe Stunde tat, in meinen Bücherrepositorien herum, und bei einer raschen Bewegung, welche sie im Eifer dieser Büchermusterung machte, löste sich das Geschlinge ihrer Zöpfe, so daß ihr diese über den Rücken hinunter fielen, bis an die Kniekehlen reichend. »Was Sie für prächtige Zöpfe haben, Kind!« sagt' ich. »Gelt?« entgegnete sie lachend; »und Sie dürfen kecklich daran ziehen, Sor Professore, ohne befürchten zu müssen, daß Ihnen die Dinger in der Hand bleiben. Sind echtes und eigenes Gewächs, wurzeln auf meinem Kopfe, wissen Sie?« Hundert junge Mädchen hätten so sprechen können, und es wäre ihnen schlecht zu Gesichte gestanden; der Tochter unserer Freundin Julie stand es allerliebst. Warum? Weil sie die Grazie einer ursprünglichen Natur besitzt. Als sie in meiner Bücherei auf die Reisewerke unseres Hellmuth stieß, rief sie aus: »O, die kenn' und lieb' ich sehr! Meine arme Mutter kannte sie auswendig. Einmal fragte ich sie: Sag' mir doch, warum halten diese Bücher die Seele so fest? Weil sie, gab mir die Mutter rasch zur Antwort, von einem geschrieben sind, auf welchen das Dichterwort:

Dir liegt, o Mensch, ein felsenfester Grund
Des Gut- und Edelseins – du bist es selbst!
Dir brennt, o Mensch, ein unauslöschlich Feuer
Der Liebe, Kraft und Tat – das ist dein Herz!

so paßt, als wäre es eigens auf ihn bezogen und nur für ihn gesprochen.« – »Da ist etwas daran, liebes Kind; ja, da ist etwas daran. Aber wodurch hielten denn diese Bücher Ihre Seele eigentlich fest?« – »Ich kann das nicht so bestimmt angeben. Vielleicht war, was mich so anzog und fesselte, die mannhafte Resignation, welche daraus spricht. Zuweilen kam mir Hellmuths Stil wie eine blanke Eisdecke vor, unter welcher man aber den Strom der Erfindung voll und mächtig dahinrauschen hört. Dann wieder hatt' ich den dummen Einfall, der Mann müßte so eine Art von Hekla sein.« – »Eine Art von Hekla? Das ist in der Tat ein Einfall, obzwar vielleicht kein dummer. Wie meinen Sie denn das, Kind?« – »Ja, sehen Sie, ich hatte nur so das Gefühl, Ihr Freund müßte trotz der Gefaßtheit und Ruhe, der erhabenen Gletscherruhe seiner Sprache, möcht' ich sagen, eine Welt von Feuer in der Brust tragen.« – »Sie fühlten richtig, Kind.« – »Ja, wenn man aufmerksam in diesen Büchern liest, wird einem oft, als sehe man plötzlich rote Lava über Firnschnee rollen, gelt?«

Du erkennst schon aus meiner Ausführlichkeit unschwer, Fabiane, wie sehr dieses holde und liebe Geschöpf mich angezogen hat. Heil dem Manne, welchem Dorn dereinst ihre Neigung zuwendet! Aber wehe ihm und ihr, wenn er sie nicht mit der Seele zu lieben versteht. Sie ist nicht für eine ordinäre Liebe, nicht für eine Alltagsehe geschaffen. Sie verlangt jenen »höchsten Sinn«, von welchem Shakespeare spricht, in Fassung und Führung des Daseins. Ob sie den ihr wahlverwandten und ihrer würdigen Lebensgefährten finden wird? Mögen die Götter es geben, aber ich muß es leider bezweifeln. Sie findet ihn vielleicht schon darum nicht, weil die ganze Fülle ihrer Liebenswürdigkeit nicht sofort, sondern erst im Umgange mit ihr und auch nur Menschen gegenüber, welche ihr ein entschiedenes Vertrauen einflößen, offenbar wird. Auch ist sie nicht, was man eine Schönheit nennt. Ihre Gestalt zwar, hoch, schlank, von schönen Formenverhältnissen, ist eine rechte Wohlgestalt; aber Füße und Hände dürften kleiner sein, als sie sind; auch der Mund, welcher freilich unwiderstehlich anmutig zu lächeln und zu lachen versteht. Die hellenisch geformte Stirne, der hellbräunliche Sammetschimmer der Gesichtsfarbe, das anmutige Oval des Kopfes, die unter dunkeln schöngeschweiften Brauen bald schalkhaft, bald nachdenklich, aber immer voll Seele hervorblickenden braunen Augen, welchen in Momenten der Erregung ein goldenes Leuchten entflimmert – alle diese Vorzüge sind groß. Aber die Wirkung von Doras Persönlichkeit beruht doch nicht auf diesen schönen Einzelnheiten, sondern auf dem kräftigen Hauch von Poesie, den ihr ganzes Wesen atmet, der aus ihren Blicken weht und auf ihren Lippen schwebt. Geniale Anschauung, lauterste Naturwahrheit und reinste Herzensgüte prägen sich so unbefangen, so zwanglos, so lieb und hold in ihrem Gebaren, Reden und Tun aus, daß alle überhaupt empfänglichen Menschen ihr gut sein müssen. Es geht von dem Mädchen eine Erfrischung der Seele aus, wie sie mir in solchem Maße schon lange nicht mehr kund geworden. Dora gehört zu jenen seltenen Menschenkindern, welche schon mittels ihrer bloßen Gegenwart Glück und Behagen hervorrufen. Das klingt ja ganz dithyrambisch, wirst Du sagen, alter lieber Pfaff; aber mag es klingen, wie es wolle, ich sage Dir: es ist so!

Mehrmals kam Dora noch auf Hellmuth zurück, dem sie augenscheinlich von Haus aus, sozusagen, große Teilnahme widmet. Einmal sagte sie mit Beziehung auf ihn: »Es ist doch recht traurig, daß gerade die guten, die besten Menschen so selten glücklich, ja gewöhnlich sehr unglücklich sind.« Das war nun Wasser auf meine pessimistische Mühle, siehst Du? »Traurig, liebes Kind, ist das allerdings, aber doch ganz in der Ordnung,« entgegnete ich. – »Wieso?« – »Weil es logisch ist.« – »Logisch?« – »Ja, die guten, die besten Menschen nehmen den dummen Spaß des Erdendaseins für heiligen Ernst und wollen aus dem absoluten Unverstand dieses Daseins mit aller Gewalt etwas Vernünftiges machen. Dadurch setzen sie sich in Widerspruch mit der Welt, wie auch mit sich selbst, das heißt mit den wirklichen Bedingungen ihres eigenen Wesens, und an diesem Widerspruche gehen sie zugrunde. Die Sache unbefangen angesehen, geschieht ihnen ganz recht. Wer heißt sie die Weisen und Redlichen spielen in unserer Komödia Humana, inmitten dieses ungeheuren Narren- und Gaunerspiels?« – »Das ist abscheulich, was Sie da sagen, caro amico.« – »Et freilich, es klingt nicht angenehm in jungen Ohren. Die Wahrheit, Kind, ist weder ein Flötenkonzert noch eine Erdbeerentorte. Wenn Sie aber einmal so alt sind wie ich und erfahren haben, auch nur etzliches von dem erfahren haben, was ich erfuhr, so werden Sie in der Philosophie ungefähr soweit sein wie ich, das heißt, Sie werden wissen, daß das Leben nur um der paar hübschen Fiktionen und lieben Illusionen willen, die es enthält, wert ist, gelebt zu werden, und dannzumal verwundern Sie sich sicherlich auch nicht mehr darüber, daß es den guten und besten Menschen schlecht ergeht, schlecht ergehen muß, von Rechts wegen schlecht ergehen muß ›hier unter dem wechselnden Mond‹.« Sie schüttelte lachend den Kopf und sagte: »Brummbär Sie! Ich hoffe, der Mond werde noch unzählige Male wechseln, bevor ich mich zu Ihrer Philosophie bekehre.« – Die leider nur wenigen Tage, welche Dora bei uns verbrachte, erscheinen mir jetzt wie ein sonniger Traum. Es ist doch merkwürdig, wie viele Sonnenteile so ein junges, reines, gutes und anmutiges Geschöpf in seiner Seele hat. Beim Abschiede verabredeten wir einen Briefwechsel. »Sie haben zwar eine brummbärische Philosophie,« sagte sie; »aber trotzdem sind Sie so ein Mensch, dem man alles sagen darf und kann.« – «Alles, Kind? Werden Sie mir es zum Beispiel auch schreiben, so Sie sich mal verlieben?« – »Gewiß, und das erst recht! Aber nur unter einer Bedingung.« – »Unter was für einer?« – »Daß Sie mir gegenüber den steifen Sie-Stil aufgeben und mich du nennen. Ich habe Sie ja recht liebgewonnen und mochte mir einbilden, ich sei Ihre Tochter.« – »Wärest du es nur, Kind! Beim ober- und unterirdischen Zeus, eine geliebtere gäbe es nicht auf Erden.« – »Sie guter Papa! Dafür sollen Sie aber auch beim Abschiednehmen auf dem Bahnhof einen herzlichen Tochterkuß haben – gelt?«

Als sie fort war, fand ich es nicht zum Aushalten einsam in unsern vier Wänden. »Nimm dich in acht,« sagte meine liebe Alte neckend, »du hast dich in das Kind verliebt.« – »Meiner Treu,« gab ich zur Antwort, »es kommt mir fast auch so vor.«

Kaum waren die Wellenkreise, welche Noras Erscheinung auf der einförmig-stillen Oberfläche unseres Zweisiedlerlebens hervorgerufen hatte, verzittert, als eine zweite, nicht minder liebe Störung eintrat. Ich hatte mir soeben aus den Morgenzeitungen die Überzeugung geholt, daß drüben im Seinebabel der nachgerade kläterig gewordene Bonapartismus oder Verhuellismus wieder mal auf einen großen »Coup« sinnen müßte, so er sich noch länger auf den wassersüchtigen Beinen halten wollte, als mitten in meine nicht eben angenehmen Gedankenzirkel die willkommenste Überraschung trat in der Person unseres Freundes Hellmuth. Ja, er war es. Freilich ohne das, was seine Tochter mir unlängst über ihn geschrieben, hätt' ich Mühe gehabt, den alten lieben Freund wiederzuerkennen. Er machte mir den Eindruck einer hoch und stolz ragenden, aber entblätterten Eiche. Die Gestalt fest und aufrecht, ungebeugt, geschweige gebrochen. In den Zügen etwas Strenges, Starres, nicht Abstoßendes, aber doch Zurückweisendes. Es steht darauf geschrieben: »Laßt mich unbehelligt!« Der düster-kalte Blick scheint das Aufleuchten verlernt zu haben, und der festgeschlossene Mund, der, sozusagen, recht generalisch aussieht, scheint sich nur noch öffnen zu wollen, um kurze Befehlsworte auszusprechen. Ich habe mir jedoch das alles erst nachmals so zurechtgelegt, denn der erste Eindruck seiner Erscheinung auf mich war ein ganz verworrener. Nämlich ich übersah zuerst alles andere ob dem allerdings auffallend seltsamen Kontrast zwischen dem Grauweiß von des Freundes Bart und dem Tiefschwarz seiner Brauen und seines Haupthaars, und einer leicht begreiflichen Ideenverbindung zufolge rief diese Seltsamkeit mir sofort Dora und ihr Gotthardsabenteuer in die Erinnerung zurück. Übrigens fand ich, daß der Kontrast zwar beim ersten Anblick etwas Verblüffendes, dann aber weiter nichts Störsames oder gar Mißfälliges hat. Unser Freund ist auch weit entfernt, greisenhaft auszusehen. Das Vollgepräge der Kraft, welches seine Persönlichkeit früher kennzeichnete, hat nicht viel von seiner Schärfe verloren. Man erkennt unschwer, daß man einen Mann vor sich hat, welcher seit lange nichts mehr fürchtet, weil er seit lange nichts mehr hofft, und dem darum kein Schicksal mehr zu einem Schrecksal werden kann.

Mit mir war er der alte, gute, liebe Mensch, wie ich ihn früher gekannt. Nur seine jetzige Wortkargheit machte einen Unterschied. Ich bemerkte, daß er, so man ihn nicht zum Antworten veranlaßte, halbe, ja ganze Stunden lang schweigend dasitzen konnte, die Hand auf den Kopf seines regungslos ihm zur Seite sitzenden Lara gelegt, welcher wirklich ein prächtiges Tier ist, der schönste Hund, den ich jemals gesehen. Von seinen Wanderfahrten zu reden vermeidet er. Als ich davon anfing, sagte er: »Was in der Hauptsache darüber zu berichten ist, kennst du. Der Fabian hat es ja drucken lassen. Die Summe meiner Reiseerfahrungen aber lautet, daß der Mensch, sei er halb oder ganz zivilisiert, halb oder ganz wild, immer und überall dasselbe aus lauter Widersprüchen zusammengesetzte Geschöpf ist, unter allen Himmelsstrichen und unter allen Lebensbedingungen dazu bestimmt, dazu verdammt – wenn du willst – zu sorgen, zu hassen, zu lieben und zu leiden.« Unsere deutschen Verhältnisse sieht er mit den Augen eines wissenden Menschen an und beurteilt sie mit der Unbefangenheit eines Mannes, welcher alle Parteiborniertheit gebührend verachtet und nur vor einer Fahne sich neigt, vor der des Vaterlandes. Zum Schlusse unseres Gespräches über die neuesten deutschen Schickungen äußerte er: »Wer überhaupt Augen hat, womit man Menschen und Dinge, Völker und Staaten sieht, wie sie sind, der muß erkennen, daß die Schlußfolgerung aus der Prämisse von 1866 oder weiter zurück von 1848 oder 1815 oder gar 1763 rasch und unaufhaltsam sich vollziehen wird: die vollständige Verpreußung Deutschlands.« – »Du meinst, es führe kein anderer Weg nach Küßnacht?« – »Du willst sagen: zum deutschen Nationalstaat? Nein!« – »Das ist aber für uns Süddeutsche ein verteufelt widerwärtiger Weg.« – »Gewiß! Aber kennst du einen andern?« – »Ich nicht. Anno 1848, das heißt etwa vier Wochen lang, gab es einen andern, aber du weißt so gut wie ich, daß nur eine verschwindend kleine Minderheit der Nation diesen Weg betreten wollte. Unsere großen Demokratenhäuptlinge neuester Sorte behaupten freilich, sie hätten noch eine ganze Menge nicht durch Preußen und doch zur deutschen Einheit führende Wege zu beliebiger Auswahl bereit.« – »Ach ja, Wege, die allesamt ins gewohnte Schwatzland führen, allwo geistesarme und kenntnislose Schwatzschweiflinge großmäulige Resolutionen fassen, um welche sich weder Mann noch Maus, weder Kind noch Kegel kümmern.« – »Glücklicherweise! Das Ende dieser Mauldemokraten, welche keinen Demos, sondern nur etzliches Pack hinter sich haben, wird sein, daß sie von den Kommunisten als Kuriere, Wegknechte und Quartiermacher verwendet werden. Haben die rötlichen Schwachköpfe diese Dienste getan, so werden die roten Halunken ihnen den wohlverdienten Fußtritt geben.« – »So wird es kommen. Selbstverständlich wäre es rein vergeblich, gegen den Strom des Unsinns ankämpfen zu wollen.« – »Natürlich! Selbiger Strom will, muß und wird seinen Verlauf haben. Zum Glück sind wir alt genug, um galgenhumoristisch sagen zu können: Après nous le déluge!«

Als der Freund gelegentlich erwähnte, wie ihn vor kurzem der Ekel aus Paris fortgetrieben habe, warf ich, unwiderstehlich neugierig, etwas Gewisses in betreff von etwas Gewissem in Erfahrung zu bringen, die Frage hin: »Und wo hast du dich denn seither herumgetrieben, du ewiger Wanderer?« – »Ich ging nach Marseille, wo ich mich nach Spanien oder Italien oder Afrika – was weiß ich? – einschiffen wollte, plötzlich aber ein Verlangen oder so was nach den Alpen bekam. Kehrte um und kam über Lyon an den Genfer See. Es reizte mich, die Alpen noch in ihrem vollen Winterkleide, in ihrer ganzen Einsamkeit zu sehen; vielleicht nur weil das körperliche Anstrengung kostete, die mir Bedürfnis ist. Durchstrich die Hochtäler des Berner Oberlandes, wo mir von alters her Wege und Stege vertraut sind. Dann kam ich über den Brünig herüber, um auch in der Gotthardsregion herumzustreifen.« – »War es schön dort oben?« – »Sehr schön!« – Mir kam vor, Hellmuth habe das in einem ganz veränderten Tone gesprochen; wärmer, teilnahmevoller, sozusagen. – »Die ganze Größe des Hochgebirges,« fuhr er fort, »kennt nur, wer es in der Erhabenheit seiner winterlich-einsamen Wildheit gesehen. Ich hatte noch dazu droben am Gotthard ein anmutig Abenteuer.« – Holla! dachte ich, jetzt kommt die Dorageschichte. Und richtig, sie kam. Bei den ersten Worten von des Freundes Erzählung wollte meine Frau, die uns gegenübersaß, überrascht auffahren. Ich aber bedeutete ihr mittels eines Augenwinkes stillzusitzen und still zu sein. Seltsam! Dieser Mann hatte in allen fünf Erdteilen eine Menge der buntesten, absonderlichsten, mitunter gefährlichsten Abenteuer erlebt und bestanden und hielt es nicht für der Mühe wert, davon zu sprechen. Dagegen dieses im Grunde doch sehr gewöhnliche Begebnis, daß auf der Schneebahn einer Gebirgsstraße ein Postschlitten um- und eine darin sitzende Passagierin herausgeworfen wird, das schien ihm erzählenswert. Und wie erzählte er es? Mit dem Herzen, gerade so, wie es Dora erzählt hatte. Mich überkam und übernahm, während Hellmuth sprach, ein unerklärlich banges Gefühl, geradezu eine Sorge, eine Angst, und mir war, als spräche mir eine Stimme, meine eigene Stimme leise in das Ohr: Die beiden sollen und dürfen nicht mehr zusammenkommen! Sonst gibt es ein Unglück.

Was sagst Du dazu, Fabiane? Natürlich glaub' ich heute selber, daß die rätselhafte Besorgnis, die mich angewandelt hatte, dummes Zeug sei. Aber – aber was ist denn eigentlich dumm oder nicht dumm in diesem urdummen Dasein? Item, ich gab meiner Frau einen zweiten Augenwink, als unser Freund seine Geschichte auserzählt hatte. Ich bemerkte gar wohl, daß während der Erzählung die starre Strenge seiner Züge sich gemildert und sein dunkles Auge sich belebt hatte. Er schwieg eine Weile, wie in die Erinnerung des mitgeteilten Erlebnisses ganz versunken. Dann sagte er mit einem tiefen Atemzug: »Wer wohl die junge Reisende gewesen sein mag?« Das sollst du hübsch nicht erfahren, schwur ich still beim ober- und unterirdischen Zeus. Dann fragte ich, um den Freund auf andere Gedanken zu bringen: »Wirst du den Sommer bei uns in der Schweiz verbringen?« – »Ich denke wohl,« erwiderte er. »Du weißt, im nächsten Herbste will ich ins heiße Afrika, wie es in des armen Schubart Kaplied geschrieben steht. Da gibt es nun mancherlei zu ordnen und vorzubereiten, und zu diesem Ende will ich mich in irgend einem stillen Alpental oder auf irgend einem abseits der großen Touristenstraßen gelegenen Berge für etliche Wochen oder auch Monate niederlassen.« Ich empfahl ihm eifrig das Engadin, weil ich rechnete, dasselbe sei für die brustkranke Freundin Noras jedenfalls zu hochgelegen. »Kenne es wohl,« sagte der General, »war früher prächtig dort oben. Jetzt aber wimmelt und wuselt es von Leuten. Also nichts für mich.« – »Nun denn, die Engstlenalp droben am Susten.« – »An diese hab' ich auch schon gedacht. Kann mir ja den Ort mal ansehen. Jedenfalls tu' ich es dir zu wissen, wann ich mich irgendwo gesetzt. Vielleicht besuchst du mich dann.« – »Sehr gern, vorausgesetzt, daß du im August noch dort wärest. Denn früher, weißt du, kann ich nicht abkommen.«

Unser Freund blieb noch etliche Tage hier, aber alle meine Mühwaltung, ihm den Aufenthalt angenehm zu machen, war umsonst. Er fiel in seine Düsternis zurück. Die Erinnerung an die bunten, für ihn so schicksalsmächtigen Erlebnisse, die in früherer Zeit am hiesigen Orte ihm widerfahren, war ihm störsam, obzwar ihm, was sein Verhalten dabei angeht, diese Erinnerung nur zur Befriedigung gereichen konnte. Auch kann er wohl überhaupt nirgends mehr still sitzen. Es ist, als müßte er fortwährend körperlich in Bewegung sein, wie in beständiger Flucht vor den eigenen Gedanken. Er ist ein unglücklicher Mann. Auch sein Reichtum ist ein Unglück für ihn. Der Geier Gram zehrt am quälendsten an einem Menschenherzen, wenn er es ganz ungestört tun kann, das heißt, wenn von außen andringende Nötigungen und Sorgen ihn nicht für Tage, für Stunden oder nicht einmal für Augenblicke verscheuchen. Heil jedem, welcher zum Kampf ums Dasein im allerprosaischsten Sinne des Wortes gezwungen ist. Denn nur dieser Kampf, der » trabajo de vivir« – mit einem alten Spanier zu reden – macht das Dasein erträglich. – Als ich den Freund zum Bahnhofe begleitete, sagte er mir, daß er nach Luzern gehen wollte und von da demnächst nach Engelberg. Dort gedenke er zu bleiben, bis die Touristenschwärme sich ankündigten. Dann will er über das »Joch« zur Engstlenalp hinauf, um daselbst, so es ihm gefällt, bis zum Hochsommerende zu verweilen. Er versprach mir einen Brief, ich versprach ihm einen Besuch im August. Es lag und liegt mir gar nicht recht, daß er nach Luzern ging und dort noch eine Woche verbringen will. Gersau ist so nahe dabei. Du siehst, meine Besorgnis hat mich noch nicht verlassen. Vielleicht kommt sie Dir sehr töricht vor, alter Fabian. Mir mitunter auch. Aber es gibt nun einmal so dumme Vorgefühle und ich gesteh' Dir, um Nora tat' es mir leid, sehr, sehr leid!

8. Imelda an Dora

Pallanza, 20. Mai 1870.

...... Du fragst mich: »Was ist denn das?«

Ich will es Dir sagen: Amore. Du armes törichtes Kind, Dein Herz spricht und Du verstehst nicht, was es sagt. Du hast dem fremden alten Herrn, der aber nach Deiner Meinung, daß heißt nach Deinem Gefühle »gar nicht so alt ist,« zu tief in die schwarzblauen Augen gesehen, als er Dich den Abhang hinauf und in den Schlitten zurücktrug. Deine Phantasie ist voll von ihm: Dein ganzer Brief bezeugt es. Nimm Dich in acht, teure Nora, nimm Dich in acht! Hinter so einem Phantasiespiel birgt sich ein furchtbarer Ernst. Wähne nicht, mit der Flamme tändeln zu können! Wie sie brennt, zu Asche brennt, ich hab' es leidvoll erfahren, Du weißt es. Hoffentlich war Dein Zusammentreffen mit dem seltsamen Wandersmann zu flüchtig, um einen bleibenden Eindruck hinterlassen zu haben. Hoffentlich wirst Du ihm nie wieder begegnen. Schon Deine einmalige Begegnung mit ihm hatte einen viel zu poetischen, einen viel zu romantischen Charakter, als daß Gutes davon kommen könnte, wenn Du den Fremden wiedersähest. Du bist ohnehin viel zu poetisch angelegt, viel zu romantisch gestimmt. Das ist ein übles Angebinde, glaube mir. Die Poesie selbst ist ja nur eine störende Episode in der Prosa des Lebens. Es ist ja doch nur, um uns arme Menschen noch mehr leiden zu machen, wenn sich ein Himmel idealer Anschauungen und Wünsche über der Erde wölbt und uns zu nie gestillter und unstillbarer Sehnsucht reizt. Nicht wahr, ich rede recht »weise«? Aber Du wirst Dir meine Weisheit schon gefallen lassen; Du weißt ja, was sie mich gekostet hat. Nur das Glück, nur die Gesundheit, nur das Leben: nicht eben viel, aber doch gerade genug. – Wir sind im Begriffe, von hier aufzubrechen, um Euch in Gersau abzuholen. Den »Berg« haben wir gewählt, vorausgesetzt, daß unsere Wahl, welche auf den Schwarzenstein gefallen ist, Euch genehm sei. Eine deutsche Familie, mit welcher wir hier Bekanntschaft machten und die allsommerlich einige Wochen auf dem genannten Berge verbringt, hat uns den Aufenthalt daselbst sehr anempfohlen. Solltet Ihr inzwischen einen noch empfehlenswerteren Luftkurort ausgekundschaftet haben, so fügen wir uns natürlich. Auf baldiges Wiedersehen also!

9. Dora an den Professor

Interlaken, 31. Mai.

Gestrenger Herr Professor und lieber Papa! Da haben Sie den ersten meiner versprochenen Briefe. Nun machen Sie aber kein allzu langes Gesicht über meine nichts weniger als zierliche Handschrift, gelt? Und finden Sie stilistische oder gar orthographische Fehler, so kritisieren Sie nur tüchtig darauf los; ich lasse mich ja gerne schulmeistern, aber nur von Ihnen. Ob es jedoch anschlagen wird, dafür kann ich nicht gutstehen. Ihr Adoptivkind hat einen etwas harten Schädel. Doch soll sich, wie wenigstens Imelda behauptet – und sie versteht 's – das Organ der Treue daran vorfinden. – Jetzt aber muß ich Ihnen erzählen: 1. eine Freude, 2. ein Leid und 3. ein Abenteuer. (»Was, schon wieder ein Abenteuer?« hör' ich Sie brummen, Sie lieber Brummbär! Aber es ist nun schon so.) Die Freude heißt Imelda, welche mit ihren Eltern endlich über die Alpen herübergekommen ist und uns in Gersau abgeholt hat. Das Leid aber heißt auch Imelda, weil meine arme Herzensfreundin nicht gesunder geworden, seit wir uns in Pallanza von ihr trennten. Im Gegenteil! Und ich bin deshalb in großer Sorge um sie. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut und klug und lieb sie ist und wie schön! Auch jetzt noch in ihrer Krankheit. Aber wie war sie es erst früher, bevor ein Elender ihr das Herz gebrochen. O, ihr Männer, ihr seid doch wohl eigentlich lauter Ungeheuer, wobei es kurios, daß es unter euch recht liebe Ungeheuer geben soll. Das kommt mir spaßhaft vor. Mir soll keiner das Herz brechen, das glauben Sie mir nur, Sor Professore. Aber sagen Sie mir doch, wie verhält es sich denn eigentlich mit dem »Herzbrechen?« Ich habe davon keine klare Vorstellung. Als ich das neulich der Tante Marget sagte, meinte sie: »Bewahre dich der Himmel davor, Kind; daß du dir hiervon jemals eine Vorstellung bilden könntest. Es gehen leider mehr, viel mehr Menschen mit gebrochenen Herzen herum, als man weiß oder ahnt.« – »Aber das ist ja schrecklich, Tante.« – »Was willst du? Es ist der Lauf der Welt so.« – Nun komm' ich zu dem Abenteuer. Wir fuhren mitsammen den See hinab gen Luzern, von wo wir über den Brünig ins Berner Oberland reisen wollten, um noch ein Stück Alpen in der Nähe zu sehen, bevor wir nach dem Schwarzenstein gingen – (dahin gehen wir nämlich und zwar morgen). Wir waren schon im Angesicht von Luzern, als ein Dampfer uns entgegenkam, und wie derselbe an unserem Boot vorüberglitt, Herrgott, was hatte ich da für einen Schreck! Aber einen lieben! Denn, denken Sie, da drüben auf dem Verdecke des vorbeigleitenden Schiffes sah ich den schwarzen Lara, den prächtigen Hund, wissen Sie? Da hab' ich unwillkürlich einen kurzen Schrei der Überraschung ausgestoßen. Hat der Hund ihn gehört? Was weiß ich? Ich sah nur, wie Lara an die Bordgalerie sprang, die Vordertatzen darauf legte und zu mir herübersah, schweifwedelnd, als hätte er mich wiedererkannt. Da rief ich voll Freude »Lara!« hinüber, und in diesem Augenblicke sah ich den Wanderer vom Gotthard dem Tiere zur Seite treten. Sein Blick begegnete dem meinigen, aber nur mit der Flüchtigkeit des Blitzes; denn schon waren die beiden Boote aneinander vorbeigestrichen. Wie es mich drängte, dem dahinschießenden Fahrzeug nachzusehen! Aber das Verdeck unseres Bootes war so mit Menschen angefüllt, daß es lange währte, bis ich die kleine Treppe zum Hinterdeck, wo das Steuerrad sich befindet, hinaufgelangen konnte, und dann war nur noch für einen Augenblick der andere Dampfer sichtbar, wie er gerade in den Seearm einbog, der sich rechtshin gegen Stanzstad ausbuchtet. Wie dumm! Jetzt hab' ich auf dem ganzen Wege hierher und überall hierherum, wo es doch wundersam schön ist, in Meyringen, am Gießbach, auf der Heimwehfluh, in Grindelwald, auf der Wengernalp, kurz nirgends hab' ich den Gedanken an den Lara loswerden können und – und – nun ja, an – seinen Herrn. Das werden Sie ganz in der Ordnung finden, lieber Papa, gelt? Denn, sehen Sie, als das wohlerzogene Mädchen, welches ich immerhin bin, muß ich mich doch sehr beschämt fühlen über mein ungeschicktes Verhalten damals in der Geschichte vom umgeworfenen Schlitten. Nicht ein Dankwörtchen hab' ich meinem Ritter gesagt, und er hat sich doch so artig, so hilfebereit, so – so lieb gegen mich benommen. Für was für ein albernes, undankbares Geschöpf muß er mich halten! Ich könnte weinen darüber. Ist mir auch in den Sinn gekommen, in die Zeitungen eine Danksagung einrücken zu lassen an den freundlichen Unbekannten, welcher an dem und dem Tage da und da auf der Gotthardsstraße einer jungen Dame so wohlwollend beigesprungen. Was meinen Sie dazu, Sor Professore? Aber, ach, das ist alles nichts, ist nur dummes Zeug. Ihnen darf und soll ich ja alles sagen. Die Wahrheit ist: mich verlangt sehnlich, den Herrn des schwarzen Lara wiederzusehen. Ich weiß nicht, warum; ich weiß nur, ich habe nicht Rast, nicht Ruhe, bis ich ihn wiedersehe. So was nennen die Gelehrten eine Monomanie, gelt? Die arme Imelda hat mir noch von Pallanza aus wunderliche Sachen darüber geschrieben, nämlich über mein Gotthardabenteuer, das heißt über meine Erzählung desselben. Herrgott, was sie nur alles daraus herausgelesen hat! Zum Glück ist mir gestern eingefallen, daß, was mich drängt und treibt, eine Monomanie sei, und das sagt' ich ihr. Aber sie schüttelte den Kopf dazu. Bin recht begierig, Ihre Meinung zu hören, lieber Papa. – Also morgen geh' ich mit der Familie Bazzini nach dem Schwarzenstein. Tante Marget trennt sich unterwegs von uns, um erst einen Besuch in Rothenfluh zu machen, bevor sie zu uns auf den Berg kommt. Und nun leben Sie wohl für heute und – aber halt! Hören Sie, ich habe noch eine Bitte. Wenn Sie dem Herrn mit dem schwarzen Hunde irgendwo begegnen sollten, so schreiben Sie mir's doch schleunig, bitte, bitte! Ich – nun, ich grüße Sie aus Herzensgrund.


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