Johannes Scherr
Werther-Graubart
Johannes Scherr

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III. Katastrophe.

1. Dora an Tante Marget.

Auf dem Schwarzenstein, 4. Juli.

Tante, Herzenstante, ich hab' es ihm gesagt! Ich mußte es ihm sagen! Es hätte mir ja sonst das Herz abgedrückt. Mein eigen Weh hätte ich vielleicht noch länger schweigend getragen, aber sein Leid konnt' ich nicht mehr mitansehen, nachdem ich es gestern mit einmal klar erkannt hatte. Ich mußte zu ihm, es zog mich unaufhaltsam; ich mußte zu ihm sprechen, wie ich tat. Du wirst mich nicht tadeln, Du nicht! Aber ob die ganze Welt, ja, auch Dich, auch Dich inbegriffen, mich tadelte und schelte – ich frohlockte doch über mich und über das, was ich gestern abend getan. Denn ich bin jetzt grenzenlos glücklich, und wenn morgen der Himmel über mir einstürzte, ich könnte sagen: Ich habe gelebt! Ja, Tante, Schwester meiner Mutter, nun weiß ich, was leben ist und heißt. Seit gestern weiß ich es, seit der Stunde, wo ich, nachdem ich ihm gesagt, was ich mußte, mein brennend Antlitz an seiner Brust barg und er mich heimgeleitete durch die himmlich-stille Nacht und auf meine nimmersatte Frage, ob ich ihm denn recht von Herzen lieb sei, mit erhobenem Arme zur Antwort gab: »Sieh die Sterne da droben! Ich würde sie, so ich es vermöchte, vom Firmamente reißen, um daraus den Staub deines Weges zu machen, unbekümmert, ob ich dadurch den Weltbau in Trümmer risse. So lieb' ich dich!«

2. Imelda an Tante Marget.

Auf dem Schwarzenstein, 5. Juli.

... Sie haben sich also doch gefunden, die »süße, die sehnende Not« hat sie doch zueinander gezwungen. Ich hätte es hindern mögen; ich wollte, daß ich es gekonnt. Denn die Stimme geheimer Besorgnis will nicht schweigen in mir.

Freilich, wenn man diese beiden Menschen mitsammen verkehren sieht, begreift man, daß sie sich finden mußten. Ihr Gebaren ist nicht das von Verliebten, wohl aber das von Liebenden, welche gewiß sind, einander in tiefster Seele zu haben und zu halten. Ich habe auch die Bemerkung gemacht, daß, wenn sie beisammen sind, der große Altersunterschied zwischen ihnen ganz verschwindet oder wenigstens alles Auffällige verliert. Es mag dies seine Erklärung finden in der vollen Harmonie ihrer Anschauungen, Gefühle und Stimmungen und daß diese Harmonie sie auch äußerlich mit einem gleichmäßigen und ausgleichenden Nimbus von Glück umgibt.

Soweit ist alles gut. Könnte ich nur den Zweifel los werden, ob dem General, wenigstens mitunter, die ganze Situation nicht wie ein bloßer Traum, wie eine plötzlich gekommene und rasch wieder schwindende Phantasmagorie vorkommen mag. Ich erhaschte ja schon mehrmals den Schatten einer Wolke, welche über seine Stirne flog. Allerdings flog, rasch vorüberflog, aber doch sich bemerkbar machte. Auch hab' ich heute, gerade vorhin, sein Auge momentan unsäglich traurig blicken gesehen.

Es ist ein Regentag, und wir sitzen seit dem Morgen mitten in grauen kalten Wolken. Da dehnen sich denn hier oben die Stunden bleiern. Uns wurden sie jedoch gegen Abend zu beschwingt. Denn wir, das heißt Papa, Mama, Dora und ich, hatten uns in dem Zimmer des Generals versammelt, und er erzählte uns, auf Doras Bitte, von seinen Reisen. Wie das Kind an seinen Lippen hing! Wir anderen übrigens auch. Denn er erzählt gut, ganz anspruchslos und ohne alle Phrase. Was aber seine Rede so anziehend macht, ist das Gefühl, daß jede Silbe, die er sagt, wahr sei, daß jedes Wort, welches er vorbringt, aus einer Seele ohne Arg und Falsch komme. Papa, welcher doch, wie Sie wissen, das ist, was so ziemlich alle gebildeten Italiener sind, nämlich ein Skeptiker durch und durch, hat gestern geäußert, es sei ihm noch kein Mann vorgekommen, welcher ihm so ganz den Eindruck der Wahrhaftigkeit gemacht habe wie der General. Derselbe hatte, um dies und das in seinen Schilderungen zu illustrieren, einen kleinen Koffer hervorgeholt, in welchem sich allerhand Andenken und Merkwürdigkeiten, die er auf seinen weiten Wanderfahrten gesammelt hatte, beisammen fanden: getrocknete Pflanzen, Mineralien, Schmucksachen, Geräte, Waffen. Mama, Dora und ich kramten neugierig darin herum, als der Besitzer dieser Herrlichkeiten seine Erzählung beendigt hatte. Doras Blicke wurden durch einen Dolch mit geflammter Klinge und prachtvoll orientalisch-phantastisch ziseliertem Goldgriff angezogen. Sie nahm die Waffe in die Hand, prüfte spielend mit Daumen und Zeigefinger der Linken die scharfe Spitze und Schneide und fragte: »Was ist das?« – »Ein malaiischer Kris. Ich erhielt ihn als Gastgeschenk von einem Häuptling auf Sumatra, welchem einen für ihn wichtigen Dienst zu leisten ich Gelegenheit gehabt hatte. Aber nimm dich in acht, Kind, es ist ein schneidig Ding.« Dora, welche aufgestanden war, schwang in einem Anfall von mutwilliger Laune den Kris über ihrem Haupte hin und her. Dann, mit einem jener plötzlichen Übergänge der Stimmung, die bei ihr vorkommen, betrachtete sie nachdenklich die Waffe und sagte: »Wie eigen ist doch der Gedanke, daß ein einziger Stoß mit so einem schneidigen Ding hinreicht, ein Menschenherz von aller Lust und allem Leid zu ledigen.« Der General nahm ihr sanft den Dolch aus der Hand mit den Worten: »Das ist kein Spielzeug für Mädchenhände, und auch mit so düsteren Gedanken soll die Jugend nicht spielen.« Indem er so sprach, sah ich den Wolkenschatten über seine Stirne fliegen, und sein Auge hatte jenen unsäglich traurigen Ausdruck, dessen ich oben erwähnte. Doch ging das rasch vorüber. Der General, wie um nicht etwa eine trübe Stimmung aufkommen zu lassen, tat den Kris in den auf dem Tisch stehenden Koffer und nahm aus demselben verschiedene bizarr-zierlich geformte kostbare Frauenschmucksachen von indischer und chinesischer Arbeit. Er bat Mama und mich, sie von ihm freundlich annehmen zu wollen als Erinnerungszeichen an unser Zusammensein auf dem Schwarzenstein, und er tat dies mit jener einfachen Güte und Herzlichkeit, welche das Zurückweisen einer Gabe so schwer oder ganz unmöglich machen. »Und ich soll leer ausgehen?« fragte Dora in allerliebst komischem Schmollton. »Nein, Kind,« versetzte der General. Dann brachte er nach langem Suchen aus dem Behältnis ein kleines Samtetui zutage und nahm daraus einen Goldreif, der in schmaler und einfacher Fassung einen großen Saphir vom herrlichsten Feuer enthielt. Diesen Ring streifte er schweigend an den Ringfinger von Noras linker Hand. Sie aber führte das Juwel an ihre Lippen, küßte es und sagte: »Blau wie die Treue!« – »Ja, wie die Treue!« wiederholte er tiefbewegt, und die aneinander hängenden Augen der beiden strahlten von Zärtlichkeit und Glück.

So wäre denn soweit und für jetzt alles gut. Aber was weiter, liebe Freundin, was weiter?

3. Tante Marget an Imelda.

Rothenfluh, 8. Juli.

Was weiter, Schatz, was weiter? Eine Hochzeit, natürlich! Es ist der Lauf der Welt so. Diesmal sprech' ich aber mein Leibwort mit größter Freudigkeit und im hoffnungsreichsten Sinne aus, während dasselbe sonst, wie Du weißt, nur ein gesprochenes Achselzucken zu sein pflegt. Habe auch meiner geliebten Dora schon gestern von ganzem Herzen gratuliert und werde mich binnen heute und zehn Tagen nach Eurem gesegneten Berg aufmachen, um ihr persönlich meinen Segen zu überbringen. Mir ist, als müßten meine armen kranken Augen wieder ganz gesund werden, so es denselben gegönnt sein wird, zu sehen, daß die beiden Menschen, welche mir, seitdem meine Schwester tot, die liebsten auf Erden, mitsammen glücklich sind.

4. Gertrud Hartwig an den General.

Rothenfluh, 9. Juli.

Teurer Vater! Ich habe lange hin und her gesonnen, habe lange mit mir gekämpft, bevor ich mich entschloß, die nachstehenden Zeilen an Dich zu richten. Mein geliebter Mann war bis gestern dagegen, daß ich es täte, weil er glaubte, es vertrüge sich nicht mit der kindlichen Ehrfurcht, die wir Dir schulden und zollen. Endlich habe ich ihn aber doch zu überzeugen oder wenigstens zu überreden gewußt, daß Du in einem unwiderstehlichen Antriebe meiner töchterlichen Liebe unmöglich eine vorlaute Anmaßung, eine unbefugte Einmischung würdest sehen können, und so willigte er ein, daß ich Dir schriebe.

Du fühlst, teurer Vater, es kommt mir aus der Seele, wenn ich zu Dir sage: Vervollständige die Fülle von Glück und Segen, welche Deine Liebe und Güte mir bereitet hat, vervollständige sie dadurch, daß Du mich in den Stand setzest, auch Dich glücklich zu wissen und zu sehen. O, zögere nicht, die mittels einer wundersamen Schicksalsfügung Dir gebotene Gelegenheit, es zu sein, mit Deiner ganzen Kraft zu ergreifen. Entsage Deinem traurigen Wanderleben und laß Dir die traute Heimat noch einmal zu einem Eden werden. Führe Dora als Herrin in Dein Haus und Heim. Sie wird hochwillkommen sein. Ich hatte sie schon zum voraus lieb als die Tochter ihrer Mutter; aber ich liebe sie innig, seit ich weiß, daß sie Dich liebt. Bringe sie, bringe sie bald zu uns, die wir sie alle mit herzlichem Vertrauen, mit aufrichtiger Zärtlichkeit empfangen werden, und von mir sage ihr, daß ich sie mit Schwesterarmen an mein Herz schließen und sie hochhalten und lieben werde mein Leben lang, wenn sie meinen teuren Vater den Seinigen, der Heimat, dem Leben, dem Glücke wiedergibt.

5. Dora an den Professor.

Auf dem Schwarzenstein, 12, Juli. ...

Was war doch, lieber Papa, das für ein dummer Mensch, welcher behauptete, das Glück sei stumm! In mir da drinnen jubiliert es, als schlügen mir hundert Lerchen in der Brust, und ich möchte von der Höhe dieses Glücksberges hinausrufen in die Lüfte, daß es drüben am Riesenwall der Alpen widerhallte: Hei, wie glücklich ich bin! (Das »Hei« hab' ich von Ihnen gelernt, gelt? Sie sagten mir, es sei der Jauchz- und Jubellaut im Nibelungenlied. Hei! Wieviel Frohmut und Freudigkeit in dieser einen Silbe! Sag Ihnen, Papa, mir ist zumute, als wär' ich ein personifiziertes Hei! – Item, es ist ebenfalls nicht wahr, wenn irgend ein anderer alter Schartekenverfertiger meinen zu müssen wähnte, das Glück mache die Menschen selbstsüchtig. Du lieber Gott, seitdem ich selber mich so beglückt fühle, möchte ich erst recht alle Menschen glücklich wissen. So namentlich auch den schönen, guten, artigen Herrn Schnäbeli, welcher seit etlichen Tagen verzweifelte, mitunter stark ins Komische fallende Anstrengungen macht, herumzugehen wie der melancholische Jacques in der Komödie Shakespeares. – Wenn mir vormals jemand gesagt hätte, es würde eine Zeit kommen, wo ich einen Menschen, einen Mann meinen Herrn und Gebieter nennen werde, mit Wonne meinen Herrn und Gebieter nennen werde, wie hätte ich den ausgelacht, und war' es selbst mein lieber brummender Höhlenbär von Papa gewesen. Und jetzt? Jetzt beseligt es mich, meinen Meister gefunden zu haben, denn, o, mit welcher Güte und Liebe meistert er mich! Die Extrafreude vollends heute, als mir der geliebte Mann einen Brief mitteilte, welchen er soeben von seiner Tochter Gertrud erhalten hatte. Sie will mir eine zärtliche Schwester sein, und ich weiß, sie wird es mir sein. O, Papa, wie ist doch, Euch Pessimisten allen zum Trotz, die Welt so schön und das Leben so gut und lieb! Packt Euren trübseligen Kram von Zweifeln und Ängsten und Schwarzsichtigkeiten ein! Ist es denn schlechterdings nötig, beim Anblick einer Perle immer daran zu denken, daß sie aus der dunkeln Tiefe stamme? Ja, mein lieber väterlicher Freund, seit ich liebe und mich geliebt weiß, ist mir im Herzen der Vollsinn vom christlichen Symbolum aufgegangen: Glaube, Liebe, Hoffnung!

6. Der General an den Professor.

Basel, 20. Juli.

... Was ich Dir, lieber Alter, im vorstehenden geschrieben, wie ich der Gewalt einer wunderbaren Leidenschaft nachgegeben, wie ich mit Dora, deren unwiderstehliche Holdseligkeit Du ja kennst, Geständnisse und Gelöbnisse ausgetauscht und dann mit ihr auf dem Schwarzenstein paradiesische Tage verlebt habe, Tage voll reinsten Glückes, wie es eigentlich dem Menschen nicht von Rechts wegen zuteil werden sollte, das alles wird Dir vorgekommen sein wie ein Akt aus irgend einer phantastischen Dichtung, etwa aus Calderons »La vida es sueño«.

Nun, der Traum war kurz und das Erwachen jäh.

Gestern habe ich den Berg verlassen und befinde mich auf dem Wege zum Kriegsschauplatz.

In Rom, fabrizierten sie den unfehlbaren Aftergott, in Paris den Krieg gegen Deutschland. Es ist dieselbe Fabrik, dieselbe Ware, dieselbe Firma, dasselbe Geschäft, derselbe Ansturm romanischer Lüge und romanischer Despotie gegen den germanischen Geist der Wahrheit und Freiheit. Aber das große Komplott zwischen Jesuitismus und Galliertum, auf welches die Banditenbande, welche die Tuilerien seit zwanzig Jahren zu einer Spelunke (zugleich Räuberhöhle und Lupanar) gemacht hat, ihre letzte Hoffnung setzte, wird an der Kraft unseres Volkes zuschanden werden. Ich glaube festiglich, daß es daran zuschanden werden wird.

Warum ich so plötzlich vom Schwarzenstein fort? Nun, ich denke, Du wirst es ganz in der Ordnung finden, daß ein gesunder Mann mit rüstigen Gliedern dem Vaterlande in dieser Not sich zur Verfügung stelle. Doch nein! Weh mir, es war nicht das, was mich forttrieb, wenigstens nicht allein und nicht in erster Linie. Schmach über mich, wenn ich lügen wollte. Du sollst die ganze Wahrheit wissen.

Es war beim Frühstück von Kalifornien die Rede gewesen, und ich hatte meines kurzen Besuches in den dortigen Goldgräberdistrikten erwähnt. Dora wünschte die golddurchsprengten Quarzbrocken zu sehen, von denen ich beiläufig gesagt, daß ich deren etliche in den Minen aufgelesen, und so ging ich in mein Zimmer hinauf, um das Verlangte aus meinem Raritätenkoffer zu holen. Wir hatten neulich darin herumgekramt, und er stand noch auf dem Tische. Ich schloß ihn auf und mußte ihn bis auf den Grund leeren, um zu den kalifornischen Quarzbrocken zu gelangen.

So beschäftigt, vernahm ich mit einmal durch das offenstehende Fenster das liebliche Lachen Doras. Ich konnte mich nicht enthalten, hinauszusehen. Sie kam an der Seite des schönen Herrn Schnäbeli die Terrasse entlang, schäkernd und lachend. Ich sah, wie der junge Mann mit seinen Augen das holde Kind verschlang; ich sah, wie Doras freundliche Worte seine Stirne vor Freude leuchten machten.

Ich trat zurück vom Fenster. »Blau wie die Treue!« murmelte ich vor mich hin. Wie mir nur gerade jetzt dieses Wort auf die Zunge kam? Dora hatte es unlängst gesprochen, als ich ihr einen Saphir an die Hand gesteckt.

Und doch war es nicht Eifersucht, was mir so grimmig-eisig das Herz anfaßte, nein, es war nicht Eifersucht! Es war Besseres und – Schmerzlicheres.

Beim Zurücktreten vom Fenster hatte mein Blick den Spiegel gestreift, und dieser hatte mich meinen grauen Bart sehen lassen. Und drunten der schöne junge Mann an der Seite des schönen jungen Mädchens!

Diese zwei Bilder, das meines Alters und das ihrer Jugend, November und Mai, schossen blitzschnell in mir zu einem furchtbaren Eindruck zusammen.

»Aus und vorbei!« schrie es in mir, und bevor ich mich es versah, hielt ich den malaiischen Kris in der Hand, welchen Dora vor etlichen Tagen spielend in der ihrigen gewogen hatte. Und an der Stelle, wo ich stand, und mit derselben Waffe in ihrer Rechten hatte sie damals gesagt: »Es ist doch ein eigener Gedanke, daß ein einziger Stoß mit so einem schneidigen Ding hinreicht, ein Menschenherz von aller Lust und allem Leid zu ledigen.« Wie träumend wiederholte ich diese Worte, und schon hob sich unwillkürlich mein Arm, als mich eine blitzschnell kommende Erwägung innehalten machte. Nicht hier, sagte ich mir, nicht hier. Der Schrecken soll ihr erspart werden. Ich weiß ja fernab im Bergwald ein kaum zugänglich Felsgeklüfte. Damit steckte ich den Kris zu mir, nahm meinen Hut und ging der Türe zu.

Ich hatte sie noch nicht erreicht, als von der Terrasse herauf ein plötzliches Getöse erscholl. Mechanisch ans Fenster geeilt, bemerkte ich, daß drunten der ganze Schwarm der Kurgäste vor dem Fenster der »Jungfer Telegraph« tumultuarisch sich zusammendrängte. Aus dem Fenster beugte sich unser Wirt, abgebrochene Worte laut rufend. Ich vernahm und verstand: »Telegramm« – »Paris« – »Gesetzgebender Körper« – »Der Krieg ist erklärt.«

Hei! stieß ich aus hochaufatmender Brust hervor, unwillkürlich das Nibelungische Ausrufswort gebrauchend, welches ich in den letzten Tagen mehrmals von Dora vernommen, wenn sie recht frohbewegt gewesen. Augenblicklich war mein Entschluß gefaßt, der Entschluß, alles einem Gottesurteil anheimzustellen. Ja, ein Ordal im Sinne unserer Altvorderen sollte diesen schrecklichen Rechtsstreit zwischen meiner Leidenschaft und meinem Zweifel, die Geliebte so beglücken zu können, wie sie es verdiente, zum endgültigen Austrage bringen. In den Krieg! in den Krieg! Wenn keine Kugel und kein Schwert mich fällt, wenn ich heil und gesund von den Walstätten heimkehre, das soll mir ein Zeichen sein, ein Schicksalsschluß, Dora zu meinem Weibe zu machen, allen Bedenken, ja der ganzen Welt zum Trotz.

Eine Stunde später saß ich mit Dora auf der Bank unter der Fichte und Erle, wo unsere Herzen einander sich aufgeschlossen hatten. Es war ein ernstes Gespräch, das wir führten, und tiefe Trauer mischte sich darein. Aber mein Entschluß hatte mir die ganze Kraft des Gemütes wiedergegeben, und der große Sinn Doras kam meiner Fassung so zu Hilfe, daß sie sich zu einer Art von Freudigkeit emporhob. Ich hätte in dieser Stunde das holde Geschöpf noch herzinniger liebgewonnen, so das möglich gewesen. Denn jetzt erst erfuhr ich ganz, daß Doras bezaubernde Anmut nur ein untergeordneter Vorzug ist, verglichen mit dem weiten und freien Blick, der Seelenstärke und edeln Gefaßtheit des wundersamen Mädchens. – Höre, Alter, wenn das Ordal, welches anzurufen ich im Begriffe bin, wider mich, wider meine Zukunftshoffnung entscheiden sollte, dann gib Du Dora jeden Trost, den Du ihr geben kannst. Sie verdient es auch wohl um Dich, denn sie hält große Stücke auf Dich. –

Ich sagte ihr: »Von Kindheit auf lehrte mich mein trefflicher Vater, die erste Pflicht eines Menschen sei die für sein Vaterland. Gegen das meinige ist plötzlich eine ungeheure Gefahr aufgestanden, es hat vielleicht einen Kampf um Sein oder Nichtsein zu führen. Du weißt, mein Kind, der Krieg ist mir nichts Unbekanntes, und ich kann, in den Reihen meiner Volksgenossen fechtend, der gerechtesten Sache, für welche jemals ein Banner entrollt und ein Schwert gezogen wurde, vielleicht diesen oder jenen, wenn auch noch so unbedeutenden Dienst leisten. Du bist keine Bürgerin meines Landes, Dora; aber stelle dir vor, dein Heimatland sei von einem Kampf auf Leben oder Tod heimgesucht. Würdest du einen Mann, der sich demselben in solcher Not versagte, achten und lieben können?« – »Nein!« sagte sie klar und fest und, o, wie ehre ich sie um dieses Nein willen!

Die Frage war demnach entschieden.

Ich verabredete dann mit Dora, daß sie mit der Tante Marget, welche stündlich auf dem Schwarzenstein erwartet wurde und an die ich einen Brief zurückließ, für die nächste Zeit nach Rothenfluh gehen sollte. Diese Anordnung meldete ich an Gertrud und ihren Mann, dem ich zugleich auf alle Fälle hin meine letzten Willensbestimmungen übermittelte. Auch der Fürsorge des Onkels Fabian empfahl ich das geliebte Kind noch nachdrücklich, obzwar das alles überflüssig; denn ich weiß ja, die mich geliebt haben, werden auch Dora lieben.

Heute bin ich bei dem ersten Frührot vom Schwarzenstein aufgebrochen. Dora hat mich eine Wegstrecke bergabwärts begleitet. Den Lara ließ ich ihr zurück: mein mehrjähriger Wandergefährte hat ja die junge Herrin über den alten Herrn zu stellen gelernt. Doch mußte ich ihm, als er mich gehen sah, streng befehlen, daß er bliebe. Sonst nichts von diesem Abschied! Genug, mir war, als ich einsam den Bergwald hinunterstieg, zu Sinne, als stiege ich Schritt für Schritt hinab in mein Grab.

7. Dora an Gertrud.

Auf dem Schwarzenstein, 21. Juli.

O, Gertrud, Schwesterherz, das mir so liebevoll entgegenkam, er ist gegangen! Und jetzt erst, in dieser schrecklichen Leere, die er zurückgelassen, ist mir vollbewußt geworden, wie grenzenlos lieb und teuer er mir. Ich weiß ja, er mußte gehen, er mußte, wie er sagte, dem kategorischen Imperativ der Pflicht gehorchen; aber was es mich gekostet hat, ihn gehen zu lassen, weiß nur ich.

Drunten an einer Biegung des Bergweges steht eine Bank, welche die Kurgäste halb im Ernste, halb im Scherze das Tränenbänkli nennen; denn gar viele Trennungsworte und Abschiedstränen werden sommerlang dort ausgetauscht. Da hab' ich gestern in heiliger Morgenfrühe von ihm Abschied genommen und erfahren, daß alle Bitterkeit des Lebens in einem Augenblick sich zusammendrängen kann. Als er fort, als er mir von der nächsten Waldecke seinen letzten Gruß heraufgewinkt hatte und nun die teure Gestalt hinter dem Blättergrün verschwunden war, da bändigte ich gewaltsam die mich verzehrende Herzenspein und kniete nieder an der Bank und legte in meiner Seele Tiefe ein feierlich Gelübde ab und schwur mir selber einen hohen Eid.

Abends kam Tante Marget. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich sie fassungslos, als ich ihr sagte, daß ihr angebeteter Freund in den Krieg gezogen sei. Nachdem sie sich wieder zusammengenommen, sagte sie: »Kind, du mußt dich darein finden, und wir alle müssen es. Was der General beschloß und tat, ist ohne alle Frage das Rechte und Richtige; denn sonst hätte er es ja nicht beschlossen und getan.« Übermorgen reisen wir. Auch meine liebe gute Imelda mit ihren Eltern. Sie hat sich zwar hier oben in erfreulichster Weise erholt, aber die eingetretene rauhe Witterung macht ein längeres Verweilen für sie unrätlich. Am Fuße des Berges werden wir uns trennen, indem die Familie Bazzini über Genf direkt nach Italien heimkehrt, während wir nordwärts zu Euch eilen: zu Euch, die zu lieben man mich von Kindheit auf gelehrt hat; zu Euch, die Ihr meine Sorge und meine Liebe, meine Angst und meine Hoffnung mit mir teilen werdet. O, seid mir gut! Ich hab' es so nötig, so nötig!

8. Hauptmann K. B. vom 5. Armeekorps an den Propst

Beiwacht bei Reichshofen, 7. August, abends.

Hochwürdiger Herr! Ich erfülle eine Soldatenpflicht, indem ich Ihnen den angeschlossenen Brief, der Ihre Adresse trägt, durch die Feldpost übersende. Diesen Brief nahm ich eigenhändig aus der Brieftasche eines der vielen, vielen ruhmvoll Gefallenen, welche wir auf der gestern von uns ersiegten Walstatt von Wörth heute in der Frühe bestattet haben. Die Brieftasche selbst, die Uhr und alle sonstigen Wertgegenstände, welche bei dem Gefallenen gefunden wurden, werde ich von unserem nächsten Rastort aus nachsenden. Wer der Tote gewesen und daß ich einen amerikanischen General unter meinem Kommando gehabt, wurde mir erst durch den Inhalt der Brieftasche bekannt. Ebenso, daß Sie mit ihm enge befreundet sein müßten. Den an Sie adressierten Brief zur Feldpost zu geben, hatte er wohl nicht mehr Zeit gehabt, da die gestrige Schlacht mehr eine improvisierte als geplante war. Wenigstens war sie nicht für gestern geplant.

Der alte rüstige und stattliche Herr, Ihr Freund, war während unseres Vormarsches zum Rhein zur Division gekommen. Nach einer Unterredung mit unserem General wurde er von diesem meiner Kompagnie als Freiwilliger zugewiesen und mir mit achtungsvollen Worten empfohlen. Ich gestehe, ich hatte ein Aber gegen den Zivilanzug des so plötzlich in unsere Reihen gekommenen Freiwilligen, merkte aber schon am ersten Tage, daß derselbe ein Mann von ganz anderem Metall als jenem, woraus die Nichtsnutze gegossen sind, welche unsern Train vermehren und denen wir die Benennung Schlachtenbummler geschöpft haben. Ich habe aber keine Zeit, weiter davon zu reden, auch keine, Ihnen die gestrige Schlacht zu schildern, und muß mich darauf beschränken, Ihnen zu sagen, wo und wie heldisch Ihr Freund gefallen ist.

Es war zwei Uhr nachmittags, als von deutscher Seite der entscheidende Angriff auf die furchtbar feste Hauptstellung der Franzosen bei Fröschweiler geschah. Mac Mahon hatte dort alle zum hartnäckigsten Widerstande dienlichen Verteidigungsmittel massiert und die Gunst des terrassenförmig ansteigenden Terrains in jeder Weise zu benutzen verstanden. Seinen geschickten Anordnungen entsprach vollkommen die hartnäckige Tapferkeit, womit seine Regimenter jede Fußbreite des Bodens verteidigten. Nur mit äußerster Anstrengung und schrecklichen Verlusten gewannen die fächerförmig vorgehenden Bataillone unseres Korps allmählich Boden. Im Vordringen wirrten sich die einzelnen Regimenter, dann weiterhin die preußischen und die bayrischen Sturmkolonnen ineinander. Ein höchstes Wetten und Wagen, ein wilder Wetteifer hob an. Wer eine solche Wut, in welcher Himmel und Hölle sich zu mischen scheinen, nicht selber mitgemacht hat, wird sich niemals eine Vorstellung davon bilden können. Mit klingendem Spiele ging es durch die Gassen von Wörth hindurch und jenseits hinan gegen die Höhen von Fröschweiler. Ein wahres Höllenfeuer schlug uns entgegen, sobald wir Wörth hinter uns hatten. Wie eine ungeheure erdrückende Bleiwolke senkte sich der Kugelhagel der Mitrailleusen und Chassepots auf uns nieder, breite Lücken in der Front und rechts und links in unsere Reihen reißend. Tod und Verderben vor uns, Tod und Verderben hinter uns. Viermal stürmten wir an, viermal brach sich unser wütender Stoß an der gleich wütenden Gegenwehr. Dann ein kurzes Atemholen, und wieder vorwärts ging es, mitten hinein in das dämonische Rasen. Unser graubärtiger Freiwilliger schritt mit jugendlichem Ungestüm mir zur Seite. Da stürzt hart ihm zur Linken der Fahnenträger. Der Mann rafft die Fahne auf, und hoch sie hebend eilt er uns voran. Eine Kugel zerschmettert den Fahnenstock und zugleich die rechte Hand ihres neues Trägers. Er faßt den Stumpf des Fahnenstabs mit der Linken, schiebt die verstümmelte Rechte, aus welcher das Blut hervorschießt, in die Brustöffnung seines Rockes und schwingt uns zur Ermutigung dreimal die Fahne um sein Haupt. Seine Wangen glühen, seine Augen leuchten, sein grauer Bart weht im Winde, er ist herrlich anzusehen in seiner todverachtenden Begeisterung. Und wieder schreitet er uns voran, in Feuer und Rauch und Tod und Blut hinein. Noch einmal durchschneidet hell wie ein Trompetenstoß sein freudiges »Vorwärts!« das schreckliche Getobe und Getöse. Dann stürzt die hohe Gestalt mit einem ellehohen Sprung vornüber und schlägt mit dem Antlitz zur Erde. Eine Mitrailleusekugel war ihm mitten in die Brust gefahren. So fiel und so starb er.

Das Weitere gehört nicht hierher. Darum nur noch folgendes, hochwürdiger Herr, weil ich vermute, daß die Angehörigen des Helden, der also dem Vaterlande seine Pflicht geleistet hat, seine Überreste gerne heimholen werden. Da, wo wir gekämpft und wo er gefallen, an der von Wörth nach Fröschweiler hinaufführenden Straße, hab' ich den Toten in die Erde senken lassen. Die Stelle ist unschwer zu finden. Sie ist links von der Straße, von Wörth aus gemeint, etwa tausend Schritte von diesem Ort entfernt. Unter einem der wenigen von den Kugeln verschonten Nußbäume, welche, abwechselnd mit Kirsch- und Birnbäumen, die hügelan sich ziehenden Reben- und Hopfengärten einfassen, befindet sich das Grab. Links von dem Nußbaum steht der mannshohe Strunk eines Birnbaumes, den eine Granate zerschmetterte. Daran werden Sie die Stelle noch leichter erkennen. Im übrigen habe ich, soweit die Umstände es gestatteten, dem Toten alle kriegerischen Ehren erweisen lassen, wie sie einem solchen Tapferen zukamen.

9. Der Propst an den Professor.

Rothenfluh, 16. August 1871.

... Ja, alter Freund, Du hattest recht mit Deiner neulich gemachten Bemerkung, daß wir hier mitsammen ein Jahr großer Trauer verlebt haben müssen. Und unsere Trauer ist noch nicht zu Ende: die Lücke, welche ein Mann wie unser Herzensfreund hinter sich zurückläßt, ist ja überhaupt nicht mehr auszufüllen. Für uns alte Menschen gewiß nicht, und ich fürchte, fürchte sehr, auch für andere, für weit jüngere nicht. Du errätst leicht, daß ich die arme Dora meine. Nicht als ob etwas Auffälliges in ihrem Gebaren wäre, aber ihre ganze Haltung seit Jahresfrist ist doch so, daß man besorgen muß, die Kugel, welche bei Wörth unsern Freund niederwarf, habe noch ein zweites Herz unheilbar verwundet. Zucke nicht über diese Alltagsphrase Deine Skeptikerachseln! Mitunter trifft ja auch eine Alltagsphrase das Wahre und Richtige.

Heute jährt es sich, daß wir mit den der blutgetränkten Walstatt von Wörth entnommenen Überresten unseres Freundes heimgekehrt sind. Du weißt, daß, wie Gertrud, so auch Dora es sich nicht hatte nehmen lassen, meine und Hermanns schmerzliche Heimholungsfahrt mitzumachen. Erschütternderes als damals unter dem Nußbaum unterhalb Fröschweiler habe ich nie erlebt. Seither ruht unser Freund im Schatten der Linde, welche er vordem zu Häupten der Gräber seiner Eltern gepflanzt hatte; inmitten seiner ihm vorangegangenen Lieben ruht er, Großmutter, Vater, Mutter, Weib und Sohn um ihn her. Und Tag für Tag, beim Sonnenschein wie beim Sturm und Regen, kommt ein junges bleiches Mädchen zu seiner Ruhestätte gegangen, eine fromme Grabopferspenderin, nicht »mit wildem Händeschlag« wie die Choëphoren des Äschylos, sondern gefaßt und ruhig wie eine, die zu klagen aufgehört hat, nimmer aber vergessen kann.

Wie Dir noch nicht bekannt, haben sich Dora und die gute Tante Marget, die sich gerade wie Du einbildet, an die traurige Botschaft des Pessimismus zu glauben, bleibend bei uns niedergelassen und haben sie sich in der alten Rentei eingerichtet, dem elterlichen Hause unseres Freundes, das nun wieder ist, was es vorzeiten gewesen, eine Zufluchtsstätte der Armen und Hilfebedürftigen. Schön ist ein letzter Wunsch unseres Freundes, daß seine Tochter und Julies Tochter einander wie Schwestern lieben und halten sollten, in Erfüllung gegangen, und mit unendlicher Zärtlichkeit hängt Dora an Gertruds Kindern, deren Anzahl sich im Laufe dieses Jahres wieder um eins vermehrt hat. Im übrigen lieft sie ihre Dichter, treibt mannigfaltige literarische Studien, macht, von dem schwarzen Lara begleitet, weite Gänge in unseren Bergen, Wäldern und Feldern, widmet manche Stunde des Tages Werken der Milde und Barmherzigkeit und läßt wohl kaum einen Tag zur Rüste gehen, ohne etwas ausgesonnen zu haben, was einem der von ihr geliebten Menschen Freude macht. Das mutwillige Kind von ehemals würdest Du in ihr nicht mehr wiederfinden. Ihre Anmut, die Dich so sehr entzückte, ja die ist geblieben; aber der Mutwille hat einem Ernste Platz gemacht, der nichts Grämliches, sondern nur etwas Achtunggebietendes hat. Mit einer anspruchslosen Würde trägt sie ihr Los. Ihr Mund hat sein altes liebes Lächeln, das ihr so vieler Menschen Wohlgefallen und Wohlwollen erworben, noch nicht verlernt; aber es ist nicht mehr das Lächeln zukunftsicheren Frohsinns und schuldloser Koketterie, sondern nur noch das der Resignation.

Ich sah es heute abend schmerzlich um ihre Lippen spielen, droben auf dem Friedhof. Sie saß auf der Bank an der Mauer und ließ ihre Blicke zwischen dem Grabhügel, welcher ihr Liebstes deckt, und dem Sonnenuntergange, dessen Glührot auf den Kuppen der Bergwälder im Westen lag, hin und her gehen. Vielleicht drang sich ihr in dieser Stunde mit besonderer Bitterkeit der Gedanke auf, wie früh und jäh die Sonne ihres Daseins untergegangen. Denn der Ausdruck ihrer Züge war kummervoll. Der schwarze Lara, welcher zu den Füßen seiner Herrin gelegen, erhob sich und legte ihr, als ob er ihren Schmerz mitfühlte, den Löwenkopf sanft auf das Knie. Sie streichelte das Tier, und wie ihre weiße Hand auf seinem schwarzen Zottelhaupte lag, funkelte der Saphir an ihrem Finger im letzten Sonnenstrahl. Ihr Blick fiel auf das leuchtende Juwel, dann wanderte er zu dem Grabe hinüber, und zum Lara sich niederbeugend sagte sie mit jenem resignierten Lächeln selbstvergessen und leise: »Ja, du und ich, wir bleiben treu unserem Herrn und Helden!«

Tante Marget hatte mit dem scharfen Gehör einer nahezu Erblindeten das Wort, welches unwillkürlich den Lippen ihrer Nichte entfallen war, ebenfalls gehört. Als wir den Friedhof verließen und ich mit ihr hinterdrein ging, sagte sie zu mir: »Dora wird tun, was sie denkt und sagt, und so hätten wir denn da wieder eine Szene mehr in der traurigen Komödie, welche unser Freund Professor mit Fug und Recht das Weltnarrenspiel nennt. Wenn Sie, Onkel Fabian, ihm wieder schreiben, so sagen Sie ihm doch, ich ließe ihn bitten, mir mitzuteilen, wie er über den Kasus dächte, daß zwei so gute Menschen, so durchaus edel angelegte Naturen, statt mitsammen glücklich zu sein, so schrecklich voneinander gerissen werden mußten. Doch ich kenne ja seine Antwort zum voraus. Er wird sagen: Gerade darum, weil sie seelisch so zusammenpaßten, mußten sie voneinander gerissen werden; gerade darum, weil sie so gut und edel waren, konnten sie nicht glücklich werden. Und er hat recht! Es ist der Lauf der Welt so.«

10. Der Professor an den Propst.

Z., 16. August 1872.

Liebe, weil sanft und friedsam brennende Kirchenkerze! Tu mir doch mal den Gefallen, in diejenige meiner Sammelmappen hineinzuleuchten, welche die Überschrift »lnsania amatoria« führt. (Es ist, wie Du ja weißt, eine der vielen, vielen Mappen, in welchen ich das kaum übersehbar-massenhafte Material zu meiner »Geschichte der menschlichen Narrheit« aufgestapelt habe.) Aus selbiger Mappe klaube ich einen Schreibebrief von Dir heraus, der, wie mir das Datum zeigt, heute gerade ein Jahr alt wird. Er muß in ein anderes Behältnis versetzt werden und zwar in das, welches überschrieben ist »Aktenstücke, so dartun, daß alle die tragisch-großen Sachen ein komisch-kleines Ende zu nehmen pflegen.«

Pflegen sie nicht? Kalkuliere, sie pflegen. Ist ein Fakt, wie unser verewigter, das heißt eigentlich verzeitlichter, das heißt ab- und ausgestrichener Freund Bürger auf gut amerikanisch zu sagen liebte.

Ja, ja, alter Fabian, heute jährt es sich gerade, seit Du bemeldeten Brief an mich geschrieben, welcher so voll der rührendsten Rührung, daß ich unsern teuren Hellmut ordentlich beneidete, nicht allein um seinen gloriosen Tod, sondern auch um die Treue, welche über seinem Grabe trauerte. Nun, die Treue ist auch wirklich kein »leerer Wahn«. Die gute Gertrud hat mir ja gemeldet, daß der schwarze Lara seinem Herrn bald nachgestorben sei. Hatten mal, beiläufig bemerkt, eine schwarze Katze, die mit unserem Spitz Prinz, einer Perle von Hund, viele Jahre in innigster Freundschaft lebte. Als die Perle den Weg der Hunde und der Prinzen gegangen, rührte die Katze keinen Bissen mehr an und starb binnen acht bis zehn Tagen ihrem vierbeinigen Freunde nach. Die obstinaten Viecher! Da nehmen wir Zweibeinigen doch ganz anders Vernunft an. O, wie ist es tröstlich und erhebend, ein Mensch zu sein!

Ich entwickelte den daraus sich ergebenden Gedankengang gestern abend meiner guten Freundin Dora, und sie nickte zustimmend dazu.

Die Tochter unserer Freundin Julie ist natürlich noch ganz so anmutig, liebenswürdig und gut, wie sie nur je gewesen. Und gescheit ist sie, beim ober- und unterird'schen Zeus! Ganz merkwürdig gescheit und vernünftig. Beweis: Gerade vor einem Jahre hat auf dem Friedhof von Rothenfluh die Szene gespielt, welche Du, alter Krachmandolino, mir so rührsam beschrieben hast, und heute ist Dora Frau Schnäbeli und geht mit ihrem ersten Kinde.

»Man muß ja doch einmal heiraten,« sagte sie zu mir, als sie sich kurz nach ihrer Übersiedelung an hiesigen Ort mit dem jungen, schönen und reichen, obzwar ein bißchen dicken und dummen Herrn Schnäbeli verlobte. Richtig, man muß ja doch einmal heiraten. So hatte ihre Mutter vorzeiten ebenfalls gesagt, und »junge Leute wollen auch leben«, meint Sir John Falstaff. Es untersteht also gar keinem Zweifel, daß meine liebe junge Freundin klug und gut gehandelt hat. Tante Marget, die binnen wenigen Tagen zu Euch nach Rothenfluh zurück will, um für immer dort zu bleiben, ist freilich entschieden anderer Meinung. Ich habe auch umsonst versucht, ihr eine richtigere Ansicht von der Sache beizubringen. Es klang nur bitter ironisch, als sie mir zuletzt sagte: »Nun ja, Professor, Sie haben recht! Es ist der Lauf der Welt so.«


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