Johannes Scherr
Werther-Graubart
Johannes Scherr

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II. Peripetie

1. Der General an Hermann Hartwig

Bern, 2. Juni.

Eure letzten Episteln, liebe Kinder, und die übrigen Briefschaften sind mir in Luzern richtig zu Händen gekommen. Der Geschäftsbericht war überflüssig. Behellige mich, lieber Hermann, vor dem Herbste nicht wieder mit dergleichen. Dagegen dürfte Gertrud wohl etwas einläßlicher über die Kinder schreiben. Ich bin freilich kein zärtlicher Großpapa, aber darum noch lange kein liebloser. – Der sich fühlbar machende Mangel an Räumlichkeiten im Isoldesstift soll kein Hindernis für die Aufnahme weiterer Pfleglinge werden. Es soll unverzüglich zu den nötigen Neubauten geschritten werden. Weise die Gelder dafür sofort an, lieber Sohn. Ich will, daß noch für ungefähr fünfundzwanzig Kinder mehr als bislang Platz geschaffen werde. Was die armen alten Frauen in Gertrudsruhe angeht, so soll ihr Behagen durch die von Dir berührte mehr und mehr zunehmende Teuerung aller Lebensbedürfnisse in keiner Weise beeinträchtigt werden. Gib daher dem Stiftungskapital ohne Zögern die nötige Ergänzung. – Es war gut von Euch, obzwar nur billig, daß Ihr der uralten, blinden, endlich vom Leben erlösten Theres ihre Grabstätte bei den Gräbern unserer teuren Toten bereitet habt. Ehre solcher Dienstbotentreue, durch zwei Generationen hindurch unermüdlich bewährt! Die gute Theres hat mich zuweilen noch tüchtig abgekanzelt, als ich schon ein Mann war; aber ich wußte, sie wäre, wenn nötig, für meinen Vater, für meine Mutter, für Hildegard, für mich, für deine Mutter, Gertrud, und für Dich selbst gestorben, ohne auch nur mit den Wimpern zu zucken. Es ist ein Hauptfluch unserer Zeit, daß alles Vertrauen, alle Pietät, alle Treue aus dem Verhältnisse zwischen Dienstherrschaft und Dienstbotenschaft mehr und mehr schwindet oder schon geschwunden ist. Meister und Gesell, Herr und Knecht, Frau und Magd sind nur noch Feinde. Der Klassenkampf braucht also nicht erst anzuheben, er hat schon angehoben. Wehe denen, welche leben, wenn er in vollem Gang und Zug sein wird. Alle Greuel der Sklavenkriege des Altertums, der Jacqueries des Mittelalters, der Bauernaufstände des Reformationszeitalters werden sich erneuern und zwar in den riesenhaften Dimensionen, wie sie den heutigen Bevölkerungszahlen, den Verkehrs-, Kampf- und Mordmitteln entsprechen. Unsere raffinierte Kultur selbst wird alle Wege und Werkzeuge bieten, um die hereinbrechende Barbarei zur beispiellosen Grausamkeit hinaufzuraffinieren. Doch genug der Kassandraworte. Ich bin doch sonst schon lange nicht mehr so töricht, Warnungen an meine mehr oder weniger lieben Mitmenschen zu richten, und weiß gar nicht, wie ich heute dazu gekommen, so schreibselig zu sein. – Nach Engelberg, wohin ich, wie Ihr wißt, zu gehen beabsichtigt hatte, bin ich noch nicht gekommen. Ein Begegnis oder, besser gesagt, eine Begegnung oder eigentlich eine Wiederbegegnung brachte mich davon ab. Nach allerhand Kreuz- und Querzügen bin ich jetzt im Begriffe, von hier aus den Jura zu durchstreifen, und vielleicht laß ich mich dort irgendwo für eine Weile bleibend nieder

2. Imelda Vazzini an Tante Marget.

Auf dem Schwarzenstein, 7. Juni.

... Es ist schön hier oben, das ist wahr; groß, weit und schön. Ich wollte, Sie wären vorhin neben mir gestanden, an der Balustrade der vor der ganzen Langseite des Hauses hinlaufenden Terrasse, und hätten den roten Sonnenball hinter den langgestreckten Kämmen des Jura hinabsinken gesehen. Er warf seinen Scheidegruß für heute den Alpen drüben zu, und diese leuchteten auf in Purpur und Gold vom Säntis und Glärnisch im Nordosten bis hinunter zum Montblanc im Südwesten – eine grandiose Säulenkolonnade, wie hingestellt, Fries und Giebel des Tempels der Welt zu tragen. Mein Heimatland Italien ist schön, und auf edleren Schönheitslinien, als die Ufergelände von Amalfi und Sorrento darstellen, mag wohl selten oder nirgends anderwärts einem Menschenauge zu ruhen gegönnt sein; aber die Schweiz ist groß! Wäre ich so bewandert in dichterischen Vergleichungen, wie Dora schon von ihrer Mutter her ist, würde ich sagen: Italien ist wie ein Canto von Tasso, aber die Schweiz wie eine Tragödie von Shakespeare; oder jenes gleicht einer Goetheschen Elegie, diese einem Prachtstücke Schillerscher Gedankenlyrik. Doch ich sehe, liebe Tante Marget, wie Sie über diesen meinen Anflug von Blaustrümpfelei lächeln, in Ihrer sanften, aber mitunter doch sehr ironischen Tante-Margetweise lächeln, und ich will daher nur ganz einfach sagen, daß mir die Schönheit der schweizerischen Landschaften neben der Erhabenheit ihrer Gebirgsformen insbesondere zu beruhen scheint auf der unsäglichen Frische, welche aus ihnen atmet. Diese Wasserfälle! Diese rasch dahinschießenden klargrünen Ströme, diese blauenden Seen! Und doch wieder überall das Gebunden- und Gebändigtsein des flüssigen Elementes durch Granit, Porphyr und Basalt. Sie wissen, das Schrankenlose ist meiner Natur nicht sympathisch, und darum hat mir das Meer immer eine Empfindung von Monotonie erweckt. Die Alpen dagegen muten mich erhaben an. Hier ist Größe in scharfer Begrenzung und Formbestimmtheit. Diese Kolosse von Bergen füllen die Anschauung vollständig aus, aber sie bleiben für die Phantasie faßlich und begreiflich, sie muten derselben nicht mehr zu, als sie zu leisten vermag, wie dieses das Meer tut. Auch die Alpen erregen übrigens gleich dem Ozean in uns ein Gefühl von erhabener Traurigkeit, weil wir eben unwillkürlich mit ihrer Größe und Ruhe die Kleinheit und Unrast des Menschendaseins in Parallele bringen. Doch ich sehe Sie zum zweitenmal ironisch lächeln, teure Freundin, und das erinnert mich daran, daß ich eigentlich nicht philosophieren oder, weniger anspruchsvoll zu reden, nicht reflektieren, sondern nur referieren wollte.

Wir sind also glücklich auf dem Schwarzenstein eingehaust, wie Ihnen Dora bereits gemeldet hat. Es ist hier gut sein, denn das festgebaute Haus bietet jedes Behagen, welches man 4000 Fuß hoch über dem Mittelmeerspiegel fordern kann, und der Berg seinerseits Spielraum genug, daß die Luftkurgäste einander nicht im Wege sind. Man kann weite Spaziergänge machen ohne viel Beschwerlichkeit. Eine besondere Annehmlichkeit sind die auf dem Bergkamm vorhandenen Wälder, darunter sogar ein Buchengehölz, in solcher Höhe eine Seltenheit, wie man mir sagt. Während der ersten Tage unseres Aufenthaltes war die Witterung windig und frostig, und das hatte meine Brust sehr zu empfinden; seither jedoch ist es sonnig und windstill geworden und nun atme ich nicht allein ohne Beschwerde, sondern auch mit Genuß in dieser wunderbar reinen Luft. Viel Bewegung zu machen, vermag ich freilich noch nicht, sondern verbringe den größten Teil des Tages an einer vor dem Luftzug geschützten Stelle der Terrasse. Dora ist immer bei mir: ihre unerschöpfliche Güte will ja nichts davon wissen, mit der übrigen Gesellschaft – es sind recht viele gute und liebenswürdige Menschen darunter, meist schweizerische und deutsche Familien, Stammgäste des Schwarzensteins – weitere Gänge und Ausflüge zu unternehmen, solange ich solche nicht ebenfalls mitmachen könnte. Aber, liebe Tante Marget, es war seit einiger Zeit eine Veränderung mit unserer geliebten Dora vorgegangen, die mich beunruhigte, sehr beunruhigte. Jene sonnige Heiterkeit, wissen Sie, womit das teure Kind überall, wo es erschien, Frohsinn verbreitete, jener neckische Mutwille voll Harmlosigkeit und Grazie, der alle Welt ergötzte und bezauberte, jenes schuldlose, scheinbar nur tändelnde und doch auf einer nicht gewöhnlichen, sondern alles Ernstes erstrebten und erworbenen vielseitigen Geistesbildung beruhende Spiel mit den mehr oder weniger großen Fragen und Problemen des Lebens, das alles war ja, wie Sie selber bemerkt haben müssen, plötzlich wie verschwunden und hatte einer Stimmung Platz gemacht, welche zwischen trüber Ernsthaftigkeit und fieberischer Aufgeregtheit ebenso häufig als sprunghaft wechselte. Das war so gekommen, seitdem Dora jene Schlittenfahrt über den Gotthard gemacht hatte, und ihre bezüglichen Mitteilungen ließen mir über die Ursache keinen Zweifel. Ich sprach Ihnen ja davon, wenigstens andeutungsweise. Sie meinten aber der Sache keine Wichtigkeit beilegen zu sollen, indem Sie sagten, das werde so rasch vorübergehen, wie es gekommen, denn das Kind hätte ja doch wohl eine gute Dosis von Flüchtigkeit in seinem Wesen.

Es ist nun aber nicht vorübergegangen, teure und verehrte Freundin, das heißt, der Trübsinn sowie die fieberhafte Unruhe Doras, die sind in Wahrheit vorübergegangen, seit zwei Tagen fort und wie spurlos verschwunden, und das Kind lacht wieder mit den Augen und mit dem Munde so herzlich wie früher; aber das andere, ja das andere ist nicht vorübergegangen, sondern, furcht' ich, machtvoll, sehr machtvoll gegenwärtig und da.

Sie sehen mich fragend an, was ich Ihnen denn da für ein Rätsel aufgäbe? Ich löse Ihnen dasselbe sofort. Vorgestern war ich vormittags lange mit Papa und Mama und Dora auf der Terrasse hin und her gegangen und hatte mich dann müde an meinen gewohnten Platz gesetzt, um zu lesen. Mama ging in ihr Zimmer hinauf, Briefe zu schreiben, und Papa forderte Dora auf, mit ihm nach dem »Känzeli« zu gehen, einer Stelle unseres Berges, die man mir als reizend geschildert hat und die zumeist das Ziel für die Morgenausflüge der Kurgäste bildet. Man setzt sich dort zwanglos zusammen, die Damen nehmen ihre Handarbeiten vor, die Herren lesen, rauchen, erzählen, kurz, man geht, wie Papa sagt, mitsammen recht angenehm müßig. Dora wollte zwar bei mir bleiben, aber ich jagte sie förmlich fort. Sie mußte in Gesellschaft, da sie mir an diesem Morgen nicht nur trübe, sondern geradezu traurig vorgekommen war.

Als sie gegangen, war es, wie zu dieser Tageszeit immer, recht einsam auf der Terrasse. Der heiße Sonnenschein lag auf derselben, und ich dämmerte in meiner behaglich schattigen Nische ein wenig ein. Nach einer Weile weckten mich Männerstimmen, welche von rechtsher kamen. Ich konnte die Sprechenden nicht sehen, unterschied aber die Stimme unseres trefflichen liebenswürdigen Wirtes und hörte ihn fragen: »Also, mein Herr, Sie wollen sich einstweilen mit dem kleinen Zimmer begnügen, bis ein größeres und bequemer eingerichtetes frei wird?« Der Angeredete mußte ein neuer Ankömmling sein, denn seine tiefliegende, aber sonore Stimme war mir unbekannt. Es war etwas Kurzangebundenes, um nicht zu sagen Herbes oder Hartes in dem Tone, womit er auf die an ihn gerichtete Frage zur Antwort gab: »Ja, Herr Wirt.« Dieser begann wieder: »Was die Preise –« wurde jedoch sofort von dem Fremden unterbrochen mit den vornehm abweisenden Worten: »Lassen Sie das! Ich bin nicht gewohnt, um Gasthofspreise zu markten.« Ich konnte, wie gesagt, die beiden Sprechenden nicht sehen, möchte aber wetten, daß unser guter Wirt, welchem alltäglich die wunderlichsten Exempel von Markterei vorkommen, besonders von seiten hochnäsiger Engländer, auf die Bemerkung des neuen Kurgastes hin tief sich verbeugt habe. Dann rief die »Jungfer Telegraph«, wie unsere Telegraphistin allgemein genannt wird, aus ihrem auf die Terrasse hinausgehenden Fenster nach dem Wirte, und ich hörte diesen eilends in das Haus gehen. Kurz darauf kamen langsame Schritte das Terrassegeländer entlang auf meine Nische zu, und dann blieb dieser gerade gegenüber ein hochgewachsener Mann stehen, zweifelsohne der neue Ankömmling und – das hatte ich sofort weg – ein Gentleman jeder Zoll. In dem Augenblicke, wo er, ohne mich bemerkt zu haben, mit dem Rücken gegen die Nische gewendet, an dem Geländer stillstand und talwärts schaute, erschien neben ihm ein ungeheuer großer Hund mit langen Haaren, schwarz und glänzend wie Rabengefieder, das prächtigste Hundetier, welches ich je gesehen. Wie es nur kam, daß mir da plötzlich unsere Dora einfiel, so einfiel, daß ich mich fast getrieben fühlte, laut ihren Namen zu nennen? Jedenfalls mußte ich eine Bewegung gemacht haben wie eine Erschrockene, denn die Augen des Hundes richteten sich neugierig auf mich, und auch sein Herr kehrte sich um und bemerkte mich. Ein Blick der dunkeln Augen des Fremden glitt über mich hin, und ich glaubte wahrgenommen zu haben, daß ein Schimmer von Mitgefühl die strengen Züge dieses eigenartigen Charakterkopfes milderte. Gewiß hatte er sogleich erkannt, daß er eine Kranke vor sich hatte. Er nahm jetzt den breitkrempigen Hut ab und grüßte mich mit einem leichten, aber wohlwollenden Neigen des Hauptes. Ich weiß nicht, ob und wie ich diese Artigkeit erwiderte; denn ich sah nur den grauen von dem schwarzen Haupthaar seltsam abstechenden Vollbart des Fremden, und in mir rief es: Doras Ritter vom Gotthard! – Er wandte sich, zu gehen, blieb aber wieder stehen, näherte sich der Nische und sprach mich an und zwar in deutscher Sprache. Ich antwortete ebenso, meine Aufregung bemeisternd, aber er erriet aus meiner Akzentuierung sofort meine Heimat und setzte das begonnene Gespräch italisch fort. Wie mich das anheimelte! um einen jener deutschen Ausdrücke zu gebrauchen, in denen die Seele eurer Sprache atmet, und wie mir das wohlgefiel an dem Manne! Es war das so, scheint mir, eine jener Rücksichten, welche dem entspringen, was man die Höflichkeit des Herzens nennen könnte. Es benahm mir alle Befangenheit, als der Fremde, welchem ganz unverkennbar das Gepräge intellektueller Kraft und sittlicher Strenge aufgedrückt ist, so sanft und gut – Dora würde sagen: so lieb – mit mir redete. Schon nach den ersten Sätzen war mir, als spräche ich mit einem alten guten Bekannten. Es ist etwas so Vertrauen Weckendes im Antlitz wie in der Stimme des Mannes. Man fühlt, daß Gemeines niemals Zugang in seine Seele hatte; aber auch, daß über sein Haupt schwere, schwerste Geschicke hingegangen sein müssen. »Gebeugt zwar, doch gebrochen nicht« – diesen Vers Foscolos rief mir die ganze Erscheinung ins Gedächtnis zurück. Wir sprachen natürlich über das Nächstliegende, über unsern Berg, waren aber in diesem Thema noch nicht weit gekommen, als wir unterbrochen wurden.

Gerade der Mauernische gegenüber, in welcher ich saß und an deren Eingang der fremde Herr stand, öffnet sich das Terrassegeländer und führt eine Anzahl von steinernen Stufen abwärts, wo sich zwischen einem kleinen Gehölze von Zwergbuchen hindurch ein breiter Weg zu der prächtigen Matte hinabzieht, die sich, da und dort von einer gewaltigen Wettertanne beschattet, unter der Kuppe, worauf das Haus steht, hinstreckt. Leichte Schritte, auf dem Rasenweg kaum hörbar, machten sich von dort unten vernehmlich. Der Hund, welcher ruhig neben seinem Herrn gelegen hatte, erhob sich, bewegte die Ohren und trat an den Rand der Terrasse, über deren Niveau in demselben Augenblicke das von eiligem Gehen gerötete Antlitz Noras erschien. Der Fremde, mir zugekehrt, bemerkte ihr Kommen nicht. Sie aber sprang mit dem lauten Ausruf: »Lara! Lara!« die obersten Stufen herauf und überschüttete das Tier, welches sich sofort traulich ihr anschmiegte, mit Liebkosungen. Beim ersten Laut von Doras Stimme hatte sich der fremde Herr umgewandt, wie von einem Federdruck geschnellt. Mit einem Schritte war er am jenseitigen Rande der Terrasse, und dort hielt er jetzt Doras Hände in den seinigen; und diese beiden Menschen grüßten sich nicht mit den Lippen, aber mit Augen, aus denen eine wahrhaft selige Überraschung leuchtete.

Sie achteten meiner gar nicht, sondern verharrten minutenlang Aug' in Auge, Hand in Hand, alles um sich her vergessend, ganz erfüllt von dem Vollgefühle des Glückes, sich wiederzusehen. Daran ließ sich ermessen, wie tief der Eindruck gewesen sein mußte, den diese beiden Menschen, welche doch früher nur zweimal und beide Male nur so flüchtig einander gesehen, wechselseitig gegeben und empfangen hatten. Wie sie so dastanden im vollen Mittagssonnenlicht, der graubärtige, dem Greisenalter nahe Mann und das in voller Jugendfrische blühende Mädchen, und ihre Augen sich sagten, daß über die zwischen ihnen klaffende schwarze Kluft des Altersunterschiedes ein allmächtig Gefühl die Verbindungsbrücke geschlagen habe oder doch schlagen könnte, da mußte ich einer Stanze denken, welche mir Dora mal aus einem Eurer alten Dichter vorgelesen hat, und die in meiner Erinnerung haften geblieben: –

Der Minne Macht bewältigt
Die Nähe wie die Weite;
Minne hält auf Erden Haus,
In den Himmel gibt sie gut Geleite.
Wohl ist sie gewaltig
Der Jungen wie der Greisen;
Kein Meister lebt,
Der ihre Wunder alle könnte preisen.

Ihre Wunder? Jawohl, ich sah ja eins derselben leibhaftig vor mir: »Es zwang sie zueinander der sehnenden Minne Not,« abermals mit einem Eurer alten »Meister« zu reden, deren Worte und Weisen mich oft seltsam ergriffen und bewegt haben, mehr, als mir gut war und ist. »Es zwang sie zueinander,« ihn, der fast schon ein Greis, und sie, die fast noch ein Kind. Ach, mich überkam und übernahm die trübe Ahnung, daß auch diesmal, wie so oft, Minne nicht in den Himmel geleiten werde, sondern vielmehr, traurig zu sagen, in die Hölle der Enttäuschung, der Entsagung, vielleicht der Reue. Das innigste Mitleid machte mir das Herz schwellen, als ich die beiden Selbstvergessenen ansah: Mitleid mit ihr, die mir eine Schwester und mehr als eine Schwester geworden, und Mitleid auch mit dem fremden Mann, der mich so gütig angesprochen hatte, weil er gesehen, daß ich leidend.

Wunderliche, um nicht zu sagen wahnsinnige Verknüpfung und Verflechtung von Menschenlosen! Verhängnisvolle Zusammenfindung und Zusammenbindung von Menschen, welche zwei verschiedenen Generationen angehören und bestimmt scheinen, ein aus Illusion und Leidenschaft seltsam gemischtes Drama, das vor vielen Jahren gespielt hat, noch einmal durchzuspielen. Damals endigte das Spiel recht glücklich mit einer Doppelhochzeit. Nun aber sagt mir ein unerklärliches, vielleicht ganz kindisches Bangen, daß der Ausgang diesmal ein tragischer sein werde. O, liebe Tante Marget, mitunter kommt einem doch der Gedanke, jener Schwarzseher von Schriftsteller, der da meinte, das ganze Menschendasein, ja die ganze Weltexistenz sei nur ein traurig Narrenspiel, und die Endursache, die bewegende Kraft desselben heiße allmächtiger Wahnsinn, habe doch nicht so ganz unrecht.

Sie finden mein Gerede wieder sehr rätselhaft, nicht wahr? Sie werden aber sofort anerkennen, daß es viel weniger rätselhaft als wohlbegründet war, wenn ich Ihnen zum Schlusse meines Schreibens dieses sage: der fremde Mann, welchem Dora auf dem Gotthard begegnete, an dem sie dann auf dem Vierwaldstätter See vorüberfuhr und mit welchem sie jetzt auf dem Schwarzenstein zusammengetroffen ist, er ist kein anderer als der General Hellmuth, der Jugendgeliebte, Immergeliebte von Doras Mutter, der Beschützer Ihrer Kindheit, liebe Freundin, Ihr Ideal von einem Menschen und Mann.

3. Dora an den Professor.

Auf dem Schwarzenstein, 10. Juni.

Mein lieber guter Freund! Wie schade, daß Sie in Ihrer »Höhle« sitzen müssen, statt bei uns hier oben zu sein. Denn hier oben da lebt sich's herrlich und in Freuden! Was diese Luft für einen befreienden, aufhellenden, aufheiternden Einfluß übt, ist gar nicht zu sagen. In den ersten Tagen unseres Hierseins merkte ich noch nichts davon. Im Gegenteil, ich ließ – wenigstens meinte Imelda so – den Kopf hängen. Sie meinte auch, ich gebärdete mich ganz so, als ob ich etwas vermißte und beständig danach suchte. Die Menschen haben oft so kohlische Meinungen! (Jetzt brummen Sie vor sich hin: »Kohlisch? Kohlisch? Was soll denn das bedeuten? Wovon ist das abzuleiten? Etwa von Kohl in der Bedeutung von Bafel? Kohlen soviel wie Unsinn sprechen. Er hat mich angekohlt, das heißt, er hat dummes Zeug an mich hingeschwatzt.« Bemühen Sie sich nicht weiter, caro professore! (Ich habe das Wort kohlisch von einer Dame aus Mainz, woselbst dasselbe, wie sie mir sagte, ziemlich häufig gebraucht werde und zwar allerdings im Sinne von bafelig, dann auch spaßig, komisch usw.) Übrigens muß ich gestehen, Ihnen gestehen, da ich ja versprochen habe, Ihnen alles, gar alles zu schreiben, ja, ich muß gestehen, daß meine teure Imelda einen scharfen Blick hat. In der Tat, mir war so, als müßte ich etwas suchen, was mir fehlte, immer und überall fehlte. Ich kann Ihnen, so Sie es verlangen, feierlich schwören, daß es nicht der junge (übrigens recht hübsche und liebenswürdige) Herr Schnäbeli war, welcher angeblich luftkurgebrauchswegen hier oben weilt, eigentlich aber, um mir in bester Form den Hof zu machen. Denken Sie mal, lieber Freund, »Frau Schnäbeli«, wie närrisch das klingt, wie »kohlisch«, gelt? Übrigens ist er ein sehr netter Junge, dieser einzige Sohn eines großen Fabrikanten in Ihrer Nachbarschaft; vielleicht ein bißchen zu korpulent für sein Alter, aber sonst comme il faut. Große hellblaue Augen – Sie wissen ja, ich bin eine Augennärrin – ein frisches, gutmütiges, wenn auch etwas ins Kafferige hineinspielendes Gesicht, ein prächtiger hellbrauner Bart, weiße Hände – auch ein Faible von mir – dazu eine sehr schöne und wohlgeschulte Baritonstimme, ein geschmackvoller Gesangvortrag – »Beim Zeus« – so hör' ich Sie jetzt ausrufen – »das Kind ist verliebt, verliebt bis über die Ohren!«

Und wenn ich es wäre, was dann, Papa? Ich habe Ihnen nicht versprochen, mich nicht zu verlieben, sondern nur, es Ihnen ehrlich zu sagen, so ich es würde. Einstweilen bin ich es nicht. Nein, ich bin nicht, was man so, stell' ich mir vor, verliebt nennt; aber vielleicht liebe ich. Herrgott, da werden Sie nun wieder einmal in meinem Geplauder die Logik vermissen, never mind! Logisch oder unlogisch, es ist nun schon so.

Ich darf doch nicht unterlassen, Ihnen mitzuteilen, daß mich erst ein anderer Mann auf die Vorzüge des liebenswürdigen jungen Herrn Schnäbeli aufmerksam machen mußte, um mir dieselben zur Erkenntnis zu bringen. Es war vorgestern abend. Die Luft war so mild, daß die ganze Kurgesellschaft nach dem Abendtische noch lange auf der Terrasse verweilte, vor den offen stehenden Fenstern des Damensalon gruppiert. Da drinnen wurde musiziert. Eine Dame aus Straßburg spielte mit großer Eleganz eins jener Chopinschen Notturnos, welche die Nerven schmerzlich erbeben machen. Dann sang Herr Schnäbeli den Erlkönig von Schubert, und zwar ganz vortrefflich. Zufällig, ganz zufällig – hören Sie, Papa? – blickte ich während des Gesanges zu meinem neben mir stehenden Begleiter auf und bemerkte also, daß seine Augen auf mir geruht hatten. Natürlich nur, um die Eindrücke zu beobachten, welche die Schubertsche Melodie auf mich hervorbrächte; weshalb denn sonst? Er konnte unschwer bemerken, daß ich dem Liede mit voller Teilnahme lauschte, und nachdem es zu Ende und der allseitig gespendete Beifall verrauscht war, sagte er zu mir: »Der junge Mann hat eine sehr schöne Stimme und singt mit Verständnis und Gefühl. Er sieht auch sehr hübsch aus, ist unterrichtet, hat gute Manieren, und sein ganzes Benehmen läßt schließen, daß er gut und wacker.« Er sprach das so ernst und aufrichtig, wie eben sein ganzes Wesen ist, so neidlos, und das gefiel mir so unbeschreiblich wohl, daß ich, falls es sich nämlich für ein junges wohlerzogenes Mädchen schickte, so etwas zu denken, gedacht hätte, ich möchte ihn dafür küssen. Vielleicht Hab' ich es, um ganz ehrlich zu sein, doch gedacht, aber beileibe nicht getan. Nur die Hand drückte ich ihm, und das war doch nicht mehr als billig, nicht wahr? Doch halt, halt! Ich bin wieder mal in meine Gewohnheit, vom Texte abzukommen, verfallen und muß versuchen, mich zu unserem eigentlichen Thema zurückzufinden.

Was war es denn nur? Ja, richtig, daß es mir anfangs hier oben war, als müßt' ich nach etwas suchen. Dieses etwas – ich hab' es jetzt heraus – war ganz unzweifelhaft der schwarze Lara, dieser Prachtkerl von Hund. Denn seit er mich gefunden, seit er auf dem Schwarzenstein, ist mein Suchetrieb ganz weg. Ist das nicht wunderlich, Papa? Was sagen Sie dazu? Ich liebe den Lara, der sich mir von der ersten Stunde an merkwürdig zutunlich erwiesen hat, ganz unsäglich. Sein Herr ist auch da. Sie können sich gar nicht vorstellen, teurer Freund, wie lieb der Lara ist. Vorgestern abend hätt' ich, wie schon gesagt, ihn küssen mögen, nämlich seinen Herrn, weil er so gerecht und neidlos die Vorzüge des schönen Herrn Schnäbeli rühmte. So was kann und tut nicht jeder.

Nun werden Sie fragen: Wie ging es denn zu, daß der Lara Sie auf dem Schwarzenstein ausgewittert hat und zu Ihnen da hinaufgekommen ist? Das ging nun, mein' ich, ganz natürlich zu. »Liebe findet ihre Wege,« wissen Sie? Der Lara scheint mich eben damals am Gotthard droben plötzlich liebgewonnen zu haben, wollte demzufolge mich wiedersehen, und sintemalen er ein sehr gescheites Tier ist, mag er zu seinem Herrn gesagt haben: »Wie wär' es, wenn wir auf den Schwarzenstein gingen? Fräulein Nora ist dort, und wir sollten ihr doch anstandshalber Gelegenheit geben, ihre dazumal in der Eile vergessene Dankbezeigung an den Mann, das heißt, an uns zu bringen.« Begreifen Sie, Papa? Aber was Sie nicht begreifen können, weil es eben über das Begriffliche hinausgeht, das ist, wie meine Seele jubilierte, als ich, von einem Morgenspaziergange heimgekehrt und den übrigen vorausgeeilt, um schneller wieder zu Imelda zu kommen, auf der Terrasse mich plötzlich meinem Ritter vom Gotthard gegenübersah – ich will sagen: dem schwarzen Lara – das heißt, sein Herr hatte, als er mich wiedersah, eine solche Freude in den Augen, daß ich, aufrichtig gestanden, eine geraume Weile nur diese Augen sah und den Hund schnöderweise ganz vergaß.

Wie froh und frei und glücklich ich jetzt mich fühle, können Sie gar nicht glauben, lieber Freund. Ich habe auch volle Ursache dazu. Denn Imelda, das liebe Schwesterherz, befindet sich entschieden besser, und die herrliche Schwarzensteinluft scheint ein helles Wunder an ihr verrichten zu wollen. Dann hatte ich ja auch die Genugtuung, einen Auftrag meiner teuren Mutter ausrichten und ihre letzten Grüße bestellen zu können an den Mann, welchen sie in ihrer Jugend so heiß geliebt hatte und den sie auf dem Grund ihres Herzens getragen hat bis zuletzt.

Sie blicken erstaunt von diesen Zeilen auf, Papa? Ja, staunen Sie nur! Es gehen doch noch wunderbare Dinge vor in der Welt, Euch Skeptikern und Kritikern allen zum Trotz. Mein wiedergefundener Ritter vom Gotthard ist ja Ihr und meines Vaters und Propst Fabians Freund Hellmuth, dem ein ganz eigenartiges Leuchten über das strenge Gesicht fuhr, als ich ihm sagte, daß ich die Tochter seiner Freundin Julie sei. Ich muß ihn liebhaben, ich muß! Wie könnt' ich anders? Die Seele meiner Mutter ist in mir. – Ob das aber die rechte Liebe ist? Ich meine nicht das dumme Verliebtsein, nein, ich meine die Minne, von der unsere alten Dichter solche Wunder zu melden wissen, die Liebe, die »Flamme Gottes«, das allmächtige Feuer, »stark wie der Tod«. Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Ich fühle nur, daß ich mit diesem Manne gehen könnte bis an das Ende der Welt, daß mein Vertrauen zu ihm ein grenzenloses und daß ich vor Scham in die Erde sinken müßte, wenn eine Falte in meinem Herzen, in welche sein Auge nicht hineinsehen dürfte. Und das alles nach so wenigen Tagen des Zusammenseins mit ihm!

Wann ich ihn ansehe, wann ich mit ihm rede, wann ich an ihn denke – und wann täte ich das nicht? – dann ist mir, als fühlt' ich ein Joch auf meinem Nacken. Aber, o, wie süß und lieb ist dieses Joch! Auch kommt mir vor, ich sei in diesen letzten Tagen um Jahre älter und ernster geworden. Und doch durchzittert mich etwas Wonniges und lacht das liebe Leben mich an, wie es kaum in den sorglosesten Tagen meiner Kindheit mich angelacht hat.

4. Der Professor an den Propst. Z., 13. Juni.

... Das Unglück ist nun doch geschehen: unser alter Freund und die junge Tochter unserer Freundin Julie haben sich zusammengefunden. Sie sind mitsammen auf dem Schwarzenstein, und ein Brief, welchen mir das liebe Kind vor drei Tagen geschrieben, zeigt mir nur allzudeutlich, daß dieses Zusammensein folgenschwer sein muß. Es ist das ganze Leben und Weben einer jählings erwachten Mädchenseele in Doras hastig hingeworfenen Zeilen, und wenn ich damit die Art und Weise zusammenhalte, womit er bei seinem Hiersein von seiner ersten Begegnung mit dem Kinde gesprochen, so bin ich zu der Annahme gezwungen, daß vermöge einer jener geheimnisvollen Vererbungen, mit deren Erklärung die Physiologen noch lange vergeblich sich abmühen werden, die innerste Herzensneigung einer Mutter auf die Tochter übergegangen sei; sowie, daß Nora nur allzurichtig herausgefühlt hatte, als sie in unserem Freunde eine Heklanatur erkannte. Du wirst sehen, alter Fabian, Du wirst sehen, der erloschen geglaubte Vulkan tritt wieder in Tätigkeit. Sagte nicht das arme liebe Kind zu mir, bei der Lesung von Hellmuths Wanderbüchern sei ihr mitunter gewesen, als sähe sie die rote Lava über Firnschneefelder rollen? Wohl, so sagte sie, und ich glaube, ich bin überzeugt, die Lava ist im Fluß.

Möchte wohl wissen, ob das Zusammentreffen der beiden auf dem Schwarzenstein ein rein nur zufälliges gewesen. Doras Brief läßt das ganz im Dunkel. Ich habe aber so meine Zweifel. Warum ist Hellmuth auf dem Wege nach Engelberg plötzlich umgekehrt? Doch wohl nur, weil er der Tochter Julies auf dem See zum zweitenmal begegnet war. Ich vermute, er hat dann ihre Spur von Luzern ans verfolgt. Ja, ja, der Vulkan arbeitet wieder.

Aber der große Altersunterschied zwischen den beiden, sagst Du? Bah, lieber Alter, Du hast gewiß im Beichtstuhl sattsam Gelegenheit gehabt, zu erfahren, daß der Leidenschaft gegenüber der Verstand umsonst plädiert. Die Leidenschaft ist eine Springstange, womit unser liebes Ich über jede Kluft, und wäre sie so breit und so tief wie die zwischen dem Glärnisch und dem Wiggis gähnende, ohne Zagen und Zaudern sich hinwegschwingt. Und das, muß ich Dir gestehen, gefällt mir an der Leidenschaft. Das ist das Göttliche in ihr. Überhaupt, was wäre ohne sie das Leben? Infamer Bafel, sonst nichts! Beim ober- und unterirdischen Zeus, ich sage Dir, lieber alter Pfaff, mitunter beneid' ich unsern Freund Hellmuth ordentlich um die Fähigkeit, noch so leidenschaftlich fühlen zu können, wie er jetzt allem nach zu fühlen scheint. Du weißt auch, er darf es. Er hat ja den ihm von Jugend auf anhaftenden Vorzug, den Frauen ein Wohlgefallen zu sein, nie mißbraucht: es war in ihm allzeit etwas Keusches, Stoisches. Aber er hatte auch nie eine rechte Anlage zum Glück, worunter ich natürlich nicht die sogenannten Glücksgüter verstehe. Bei allem Stolze seiner Sinnesart ist er doch eigentlich immer zu bescheiden gewesen, insofern er lange, lange nicht so sich selber vertraute, wie ihm andere, andere viele, alle, die ihn kannten, vertrauten. Nach dem Tode seiner unvergleichlichen Frau hat er, wie Du mir mitteiltest, zu Dir gesagt: »Ich hatte diese Perle nicht verdient, ich konnte sie nicht verdienen; darum ward sie mir genommen.« And doch hatte er sie verdient, so ehrlich und gewissenhaft und treu verdient, als nur jemals ein Weib von einem Manne verdient worden ist. Siehst Du, gerade dieses geheime, nach so viel, so glänzend und so erfolgreich erprobter Kraft ganz unerklärliche Mißtrauen in sich selbst, welches unserem Freunde eigen ist, läßt mich jetzt für ihn fürchten. Das Leben, dessen Lockungen er, obgleich noch jung an Jahren, nach dem Verluste Isoldes verachtungsvoll den Rücken gewandt hatte, tritt noch einmal zu ihm heran und sagt schmeichelnd: »Lebe mich doch! Du vermagst es ja.« Aber gib acht, der Zweifel wird sich ihm in den Nacken setzen in Gestalt von übertriebenem Zartsinn, von superlativischer Gewissenhaftigkeit und so weiter. Möglich allerdings, daß die Leidenschaft triumphieren wird, weil sie ja in dieser keuschen Mannesseele die ganze Frische, Stärke und Glut der Jugend bewahrt hat. Aber ich vermag aus dem angegebenen Grunde vorderhand an diesen Triumph nicht zu glauben, und darum ist mir bang um das Ende.

5. Tante Marget an Imelda Bazzini.

Rothenfluh, 17. Juni.

Liebes Kind! Deinen Brief vom Schwarzenstein habe ich richtig erhalten, und gestern gab mir Onkel Fabian auch Kenntnis von einem Schreiben, welches er von unserem alten Freunde, dem Professor, empfing.

Was habt Ihr denn nur, der Professor und Du? Was macht Ihr für Ränke und Schwänke? Ihr tut ja wahrhaftig, als wollte der Himmel einfallen. Und warum? Weil der General und meine Nichte auf dem Schwarzenstein sich getroffen haben und weil Nora ihren Ritter vom Gotthard liebgewonnen hat. Was ist denn daran Besonderes? Wo ist denn das Mädchen oder Weib, welches ihn nicht liebhaben sollte, müßte? Klingt nicht aus Deinem Briefe, teure Imelda, auch ein leiser Ton, der laut genug sagt, daß gleich Deine erste Begegnung mit Hellmuth sympathisch und wohltuend auf Dich gewirkt habe? Ganz in der Ordnung das; ich würde nur das Gegenteil verwunderlich finden. Ich weiß zwar sehr wohl, es ist der Lauf der Welt so, daß nur selten geschieht, was von Rechts wegen geschehen sollte; aber ich sage Dir, und Du brauchst dessen kein Hehl zu haben, wenn meine Dora den General wirklich lieb hat und wenn er seinerseits sie liebgewinnen und in ihrem Besitze sein Glück finden könnte, ich, die ich, wie Du weißt, da auch ein Wort mitzureden hätte, ich würde mit heller Freude ja und Amen sagen. Denn es lebt kein zweiter Mann auf Erden, dem ich mit solchem Vertrauen meine geliebte Nora an die Brust legen würde. Ich habe gesehen, wie glücklich er seine Isolde gemacht hat, und ich weiß, er würde seine Dora ebenso glücklich machen.

Ihr deutet auf den Altersunterschied hin, Du und der Professor. Geht doch! So ein Mann wird gar nicht alt. Das sagte ich gestern auch dem Onkel Fabian, Er lächelte und meinte: » Sie sind ja Feuer und Flamme, Tante Marget.« – »Ja,« sagt' ich, »ich bin Feuer und Flamme, wenn es gilt, unsern Freund und meine Nichte glücklich zu wissen.« – »Aber, angenommen, es käme zu einer Heirat, so wäre das doch immer ein großes Wagnis.« – »Als ob nicht jede Heirat ein großes Wagnis wäre!« – »Das ist wahr, Tante Marget.« – »Ei,« mischte sich Gertrud ein, »was weißt denn du davon, Onkel? Und es ist auch gar nicht wahr. Ich wußte von keinem Wagnis, als ich meinen Hermann heiratete.« – »Aber was würdest denn du, liebes Kind, dazu sagen, wenn dein Vater zu einer zweiten Ehe schritte?« fragte der Propst. »Ich?« versetzte Gertrud. »Ich würde sagen: allen Segen des Himmels und der Erde auf die, welche meinen Vater liebt und beglückt!« – »Das sprach der Geist deiner Mutter aus dir, Gertrud, und gesegnet sei auch du für dieses Wort!« beschloß ich das Gespräch. –

Seht Ihr, so sehen wir hier in Rothenfluh die Sache an. Der Professor, der mir sonst ganz recht und lieb ist, soll nicht daran herumkritikastern. Ich will ihm noch heute den Text lesen, und zwar gründlich. Du aber leb wohl und halte mich auf dem laufenden, Schatz!

6. Der General an den Professor.

Auf dem Schwarzenstein, 25, Juni.

... Dir, mein Freund, muß es als einem alten Alpenwanderer erinnerlich sein, daß im Hochgebirge ein Wildwasser da und dort plötzlich ausgeht, verschwindet, wie von der Erde eingeschluckt, und dann fern von dem Orte seines Verschwindens ganz unvermutet plötzlich wieder hervorbricht, durch unterirdische Gletscherzuflüsse verstärkt, jugendlich ungestüm, schäumend, tosend. Auf meinen Reisen hab' ich das einmal – es war im Himalaja gegen Tibet zu – in großartigem Maßstabe zu beobachten Gelegenheit gehabt. Ein schöner Strom, der, nachdem er mehrere Hochseen durchflossen hatte, klar und tief und ruhig dahinwallte, wurde in seinem Laufe plötzlich unterbrochen durch einen jähen Absturz in eine ungeheure schwarze Felskluft, die ihn verschlang, einschlang, einschluckte, auf Nimmerwiedersehen, wie ich glaubte. Ich war den Strom entlang gewandert bis zur Stelle seines Verschwindens, und als ich an dem Katarakte stand, sprach ich unwillkürlich zu mir: Mein Schicksal! Du weißt ja, lieber Alter, wie nach den Prüfungen meiner Jugend mein Dasein so klar und tiefgehaltvoll und ruhigglücklich dahinfloß an der Seite von einer, die ihresgleichen nicht hatte unter dem Himmel, bis dieses Glück, dessen ich unstreitig nicht würdig war, jählings abstürzte in ein Grab, in ihr Grab, um für immer darin zu verschwinden. Für immer? – Damals, im Himavan, gelangten wir, eine der Terrassen des Gebirges nach der andern herabgestiegen, zu Ende des Tages in ein reizendes Tal, an dessen Eingang eine so kolossale und so bizarr gestaltete Felswand aufstieg, als hätte die Bergregion der Niederung noch einen letzten Beweis von der Mächtigkeit und Seltsamkeit ihrer Bildungen geben wollen. An dem Fuße dieser Felswand brach eine gewaltige Wassermasse aus der Erde hervor und schoß breit und voll das Tal hinab. »Der Kandalu!« riefen, auf den Strom zeigend, meine eingeborenen Führer und Begleiter. Der am Morgen verlorene, wie für immer unter der Erde verschwundene Fluß war am Abend wiedergefunden, war nach langem unterirdischen Laufe wieder unversehens erschienen, mit verstärkter Wassermenge und verstärktem Ungestüm aus seinem Scheingrabe hervorgebrochen.

Wenn mir damals, bei diesem Anblicke, geahnt hätte, daß ein Tag kommen würde, wo ich, des plötzlich wieder mit Macht erstandenen Bergstroms gedenkend, abermals unwillkürlich zu mir sagen müßte: Mein Schicksal! – Manfred hat recht: » We are the fools of time.«

Jahre lang, viele Jahre lang hab' ich kaum gewußt, ob ich noch ein Herz in der Brust trüge. Der Strom meiner Gefühle schien ganz verschwunden und versiegt. Er war überschneit, vergletschert. Da fällt der Strahl von einem Paar brauner Mädchenaugen auf die Eiskruste, sie berstet, sie schmilzt, und der Strom bricht wieder zutage mit dem Ungestüm dämonischer Gewalt.

Werther-Graubart, Graubart-Werther, eine sehr komische, eine exzessiv lächerliche Figur, nicht wahr? Lache immerzu, alter Pessimist und Ironiker! Es ist fürwahr lachenswert. Wenn Du aber ausgelacht hast, so sage mir, wenn Du kannst, was ich dafür konnte, daß die Tochter Julies eine Flamme in mir entzündete, die mich verzehren wird.

O, ich Tor, ich siebenfacher Tor, daß ich mein Kapital von Liebe und Leidenschaft nicht beizeiten aufbrauchte, vergeudete, verschleuderte wie die andern! Ich hätte dann nicht erleben müssen, daß es noch so spät, zu spät mir so bittere Zinsen trägt. – Bittere, sag' ich? Aber sind sie denn nur bitter? Mischt sich mit der wilden Bitterkeit des »Zu spät!« nicht mitunter wie Himmelstau das süße Gefühl: Dein Herz ist noch frisch und rein und stark genug, den holdesten Traum noch einmal zu träumen?

Du kennst das anmutige Geschöpf, welches die Unbefangenheit des Kindes mit der Grazie des Weibes verbindet. Dora ist keine Schönheit, und doch übt ihre Erscheinung, ihre bloße Gegenwart einen unwiderstehlichen Zauber. Du hast ihn ja auch erfahren. Worin besteht er? Ich vermag es nicht zu sagen; aber ich fühl' ihn, »freudvoll und leidvoll« saug' ich ihn mit allen Poren mir in die Seele.

An Mädchen, schön wie die Tugend, an Frauen, reizend wie die Sünde, bin ich, dessen Blut von Natur doch kein Fischblut, unter allen Himmelsstrichen vorübergegangen, ohne auch nur den Wunsch zu empfinden, einen zweiten Blick auf sie zu werfen. Und nun führt mich der wunderlichste Zufall mitten im Schnee des Gotthard mit der Tochter der Frau zusammen, der ich vorzeiten meine Seele gegeben hätte, falls sie noch mein eigen gewesen wäre, falls sie nicht schon einer gehörte, deren Name und Andenken auf dem Grunde meines Herzens ruht wie Dreimal-Heiliges, an das Irdisches nicht rühren darf, nicht rühren kann.

Wie diese Begegnung auf mich gewirkt hatte und zu wirken fortfuhr, magst Du mir wohl neulich abgemerkt haben, als ich bei Dir war. Ob ich mich gegen das, was ich anfangs Wahnsinn nannte und jetzt nur noch Verhängnis nenne, gesträubt, empört, gewehrt habe? Bis aufs äußerste, aber umsonst. Hast Du schon Gelegenheit gehabt, einen frischgefangenen Vogel in seinem Käfig nach Luft und Freiheit sich abmühen zu sehen? Je heftiger sein Sträuben, sein Aufflattern, sein Anrennen gegen die Umgitterung, desto peinlicher seine Bedrängnis. Und je älter der arme frischgefangene Vogel, desto größer seine Not. Jüngere fügen sich leichter dem übermächtigen Bann und Zwang.

Es ist auf mich gefallen wie ein Wetterstrahl. Nicht leise und mählich, nicht mit dem langsam-stetig der Blüte entgegentreibenden Wachstum einer Pflanze, wie meine erste Liebe gewesen, nicht so ist diese meine letzte geworden. Sie war das Kind des Augenblicks. Der Blitz zuckte auf, und mit Gedankenschnelle folgte ihm der Donnerschlag. Ich bleibe im Bilde, wenn ich hinzufüge, daß ich mal irgendwo gelesen zu haben mich erinnere:

Auf dem blitzgetroffnen Baume
Singt ein Vogel wohl noch Lieder,
Doch er baut kein Nest auf ihm.

Aber unter diesem Vogel will ich nicht mich verstanden wissen.

Ja, ihr ganzes Sein und Wesen und Gebaren alle diese Tage her war eine süße, herzbestrickende Frühlingsweise. Freilich, was kümmert es die hoch im Blauen sich wiegende Lerche, wenn ihr Tirilieren in einer Menschenbrust da drunten unnennbare Sehnsucht wachruft?

Oder sollte es die Lerche doch mitunter kümmern?

Tadle mich, schelte mich, nenne mich einen Gecken, einen Narren; aber fürchte nicht, daß ich vergessen könnte, was ich mir selbst und was ich dem geliebten Kinde schuldig bin. Nur etwas Unberechenbares, etwas, dessen Bewältigung über Menschenkraft hinausläge, könnte mich aus der Zurückhaltung, die ich mir auferlegt habe, heraustreiben.

Gestern abend erlebten wir hier oben einen jener Sonnenuntergänge, die man gesehen haben muß, um fühlen zu können, wie feierlich und fromm sie jedes empfängliche Menschenherz stimmen. In vollroter Majestät stieg der Sonnenball am goldgetränkten Westhimmel hinab, und während sein unterer Rand hinter den Jurakuppen zu verschwinden begann, warf er die Flut seines Lichtes den Alpen drüben zu, unterwegs mit göttlicher Verschwendung eine Strahlenfülle niederschüttend, daß die drei Seebecken im Nordwesten im wundersamsten Farbenspiel aufleuchteten und die Riesenschlangenringe, welche der Strom am Fuße unseres Berges durch die Niederung dahinwälzt, heraufblitzten wie lauter sich haschende Silberblicke. Und nun dies Aufglühen all der Kolosse gerade uns gegenüber unter dem Scheidekuß des Tagesgestirns! Dieser majestätisch in die Lüfte emporflammende ungeheure Brandopferaltar vom Montblanc bis hinauf zum Säntis! Und wie ein ins Grenzenlose hingespannter Purpurbaldachin wölbte sich uns zu Häupten das Firmament, und endlich verschwammen Himmel und Erde, Berge und Täler, Luft und Wasser in ein Meer von Licht und Glut und Glorie.

Ich habe die Urwälder der Tropen in der Riesenhaftigkeit ihrer Pracht, habe die Gletscher der Anden und des Himalaja, habe die Vulkane der Südseeinseln, die größten Ströme der Erde, den Ozean in der Majestät feiner Ruhe wie in der wilden Erhabenheit seiner Stürme gesehen, aber nie etwas so Herrliches wie den gestrigen Sonnenuntergang.

Du lächelst wohl über den alten Naturschwelger, Du errätst, was für mich das Schönste von allem Schönen dieser Abendstunde gewesen?

Jawohl, es war so, wie Du meinst: sie stand mir zur Seite.

Angefaßt von dem Zauber des Augenblicks hatte sie ihre rechte Hand auf meine linke gelegt, welche auf dem Geländer der Terrasse lag. Ich fühlte den sanften Druck ihrer Finger, und mir erbebte das Herz in der Brust.

Es war ein Widerschein von all dem Glanz um uns her in ihren lieben guten Augen, die sich wie in Wehmut umflorten, als die ganze Pracht unter dem kühlen Windhauch der rasch heraufdämmernden Nacht erlosch. »Ein Traum aus Eden,« sagte sie leise; »aber kurz wie alle Seligkeit!«

Da faßte mich etwas wie wilder Zorn, Zorn über meine Schwäche, meine wahnsinnige Betörung, mein klägliches Gefangensein. Aber statt mir selber zu zürnen, zürnte ich Tor ihr, ihr, die ich hätte in meine Arme reißen, der ich hätte zurufen mögen: Mache mir den Traum aus Eden zur seligsten Wirklichkeit! »Fräulein Dora,« stieß ich rauh heraus, »Sie brauchen sich über, das Ende der Sonnenuntergangsherrlichkeit nicht zu betrüben. Erinnern Sie sich doch gefälligst jener bekannten Heineschen Strophen vom Fräulein am Meere, das den Sonnenuntergang beseufzte. Auch einem Fräulein auf dem Berge kann man so tröstend sagen:

Dort hinten ging sie unter,
Dort vorne kehrt sie zurück.

Sie zog hastig ihre Hand von der meinen zurück und sah mich mit Staunen und Schrecken an. Auf ihren Lippen zitterte eine Frage, aber sie sprach dieselbe nicht aus. Ich aber biß die Zähne aufeinander, wandte mich rasch ab und ging die Terrasse hinauf. Nicht weit, denn ich mußte nach ihr umschauen, ich mußte. Da sah ich den Lara, welcher doch sonst von keinem Menschen wissen will außer von mir und welcher mir gefolgt war, umkehren, rasch zu ihr zurücktrotten und ihr, die wie erstarrt stehen geblieben war, die schlaff an der Seite herabhängende Hand lecken. Die Bestie, die treulose Bestie von Hund! Auch er steht in ihrem Zauber und Bann wie alle und alles hier oben.

Ich irrte bis tief in die Nacht hinein auf dem Berge herum. Ich wollte vermeiden, neben ihr am Abendtische zu sitzen. Ach, wie anmutig sie es zu bewirken gewußt hatte, daß ich ihr nächster Tischnachbar geworden. Es herrscht hier der Brauch, daß die Kurgäste streng nach der Reihenfolge ihrer Ankunft bei Tische sitzen. Man fängt unten an der Tafel an und ißt sich, sozusagen, allmählich aufwärts. Am Tage meiner Ankunft saß ich von Rechts wegen ganz unten, ziemlich weit von Dora und der höchst liebenswürdigen Familie Bazzini entfernt. Aber am folgenden Morgen sah ich während des Frühstücks Dora bei den Gästen herumgehen, als ob sie jeden und jede um irgend etwas bäte, und mittags sagte mir dann unser Wirt, es sei für mich neben Fräulein Bürger gedeckt. Sie hatte die über mir Sitzenden gebeten, sich meine rasche Hinaufbeförderung freundlich gefallen zu lassen, und wer hätte es ihr verweigern können?

Als ich gestern abend spät endlich zum Hause zurückkehrte, hatte die Gesellschaft sich bereits zerstreut und in die Schlafzimmer zurückgezogen. Auf der Terrasse war es dunkel. Als ich sie entlang schritt, vernahm ich in der noch erleuchteten Vorhalle zum Speisesaal, deren Türe offen stand, Doras Stimme, welche mit unverkennbarer Besorgnis fragte: »Wissen Sie nicht, Herr Wirt, ist der Herr General noch immer nicht heimgekommen?«

Sie war also noch nicht zur Ruhe gegangen? Meine Abwesenheit vom Abendtische, mein langes Fortbleiben hatte sie besorgt, ängstlich gemacht? Mußte ich nun nicht eilends hineingehen, um das geliebte Kind zu beruhigen?

Der Zauber war wieder da, der Bann hatte mich wieder.

Aber ich will den Zauber lösen und den Bann brechen, ich will, ich muß! Um ihrer willen, um ihrer willen! November und Mai, wie paßten die zusammen?

Du aber, alter Freundschaft halber, beklage mich!

7. Der Propst an den General.

Rothenfluh, 29. Juni.

..... Schweigen läßt sich nun einmal über die Sache nicht mehr. Es ist zwischen Tante Hildegard, Tante Marget, Gertrud und mir schon so viel darüber geredet worden, daß man sich, um ein dermalen gang und gäbes Modewort zu gebrauchen, den Standpunkt klarmachen muß.

Die drei Frauenzimmer – ich konstatiere diese denkwürdige Tatsache – sind durchaus einerlei Meinung, und zwar einer möglichst optimistischen Meinung. »Wenn über den Lebensabend meines teuren Bruders noch ein Morgenrot von Glück aufgehen will, warum sollte er es nicht dankbar hinnehmen?« fragt Tante Hildegard. Tante Marget und Gertrud sagen und fragen gerade so, nur setzt die erste an die Stelle des »teuren Bruders« den hochverehrten Freund und die zweite den geliebten Vater. Deine Tochter fügt wohl auch noch hinzu: »Was ich Gutes und Liebes ersinnen könnte, würde ich für die Trösterin und Beglückerin meines Vaters tun.« Gertruds Mann ist der Überzeugung, auch der bloße Schein einer Einmischung von unserer Seite müßte als höchst anmaßlich und unpassend vermieden werden.

Vielleicht hat er recht. Allein ich mache von dem Vorrecht einer Freundschaft Gebrauch, welche von unseren Knabenjahren an, wie Du weißt, nie auch nur für eine Stunde getrübt worden, wenn ich Dir folgendes zu bedenken gebe.

Meine Ansicht über das in Frage stehende Problem ist nämlich keine so optimistische wie die meiner drei Freundinnen. Ich würde, gerade herausgesagt, eine Verbindung zwischen Dir und der Tochter Julies für ein höchst gewagtes Experiment ansehen. Dasselbe könnte gelingen, vollständig gelingen – ich gebe es zu – aber das Mißlingen ist doch wahrscheinlicher. Nicht aus physiologischen, aber aus psychologischen Gründen, obzwar die Philosophie unserer Tage der Psyche und damit auch der Psychologie die Existenzberechtigung aberkannt hat. Jede Zeit will und muß eben, wie unser guter Professor zu sagen pflegt, ihre Art von Narrheit haben und austoben, und so wollen wir den Herren von der absoluten Materie die kindliche Freude an der ihrigen nicht vergällen. Aber die Sache von meinem altfränkischen Standpunkt aus angesehen, muß ich Dir sagen: Du bist kein ganzer Mann mehr; denn Du hast nur noch eine halbe Seele. Wo die eine Hälfte Deiner Seele ist, weißt Du: hier in Rothenfluh, auf unserem Friedhof, in dem Grabe von einer, die nicht vergessen werden kann. Wolltest Du, dürftest Du dem holdseligen jungen Wesen, welches allem nach, was ich von ihm hörte und höre, ein ganzes Glück verdient, wolltest Du, dürftest Du ihm nebst Deinem Graubart eine halbe Seele geben? Nein!

O, ich vermag Dein Weh nachzufühlen und Deine Lage zu verstehen, glaube mir; aber ich habe ja mit Dir und von Dir gelernt, daß der kategorische Imperativ der Pflicht unter allen Umständen Gehorsam heischt, und ich gehorche ihm, indem ich Dich warne, bevor es zu spät.

Mein zweiter Einwand ist dieser: Gesetzt, Doras Herz sei erwacht, für Dich erwacht, wird es auch für Dich wach bleiben? Ein so junges Mädchen voll pulsierenden Lebens vermag noch nicht für sich selbst gutzustehen und – jung und jung gesellt sich gern. Du hast zweifelsohne auf das Kind einen bedeutenden Eindruck gemacht, aber wird er vorhalten? Die Romantik Eures ersten Zusammentreffens war ganz geeignet, Doras reiche und lebhafte Phantasie angenehm anzuregen, und sie ist ja in dem glücklichen Alter, wo

Was Phantasie entwirft, das Herz verspricht –

aber kannst Du leugnen, daß ein Tag kommen könnte, vielleicht bald kommen könnte, wo Dora fände, Phantasiespiel und Lebenswirklichkeit seien doch zweierlei, sehr zweierlei?

Endlich mag noch etwas mit im Spiele sein, was ich sehr begreiflich und verzeihlich, aber schlecht geeignet finde, das Fundament einer glücklichen Ehe mitlegen zu helfen: mädchenhafte Eitelkeit. Du machst Dir freilich, wie mir wohl bewußt, nicht viel oder gar nichts aus Deiner »Berühmtheit«; aber Du bist nun einmal ein »berühmter Mann«. Von einem solchen ausgezeichnet zu werden, behagt den Frauen: das ist ganz natürlich. Und vollends einem vom edelsten Enthusiasmus vollen Mädchengemüt! Zudem hat Dora die beiden Personen, welche sie bislang auf Erden am höchsten geehrt und am innigsten geliebt hatte, von Dir immer nur reden gehört wie, sozusagen, von einem Wesen höherer Art. Für Tante Marget warst und bist Du ja geradezu ein wahrer Abgott. Aus alledem konnte sich, ich möchte sagen, mußte sich in der hochgestimmten Seele des Mädchens der schmeichelnde Jugendtraum zusammenweben, es müßte schön sein, Dich glücklich zu machen oder, wie sich unsere Hildegard poetisch ausdrückte, über Deinem Lebensabend das Morgenrot ihrer Liebe zu wölben. Aber Morgenrot verbürgt bekanntlich keinen schönen Abend, sondern das Gegenteil.

Ziehe aus allen meinen Prämissen Deine Konklusion. Du kannst über die Kluft des Altersunterschieds hinwegspringen; Du hast die Kraft dazu, ich weiß es. Aber die Kluft bleibt doch! In Deinen jungen Jahren hast Du eine ebenfalls plötzlich aufgeflammte Leidenschaft für Doras Mutter siegreich niedergerungen, weil Deine Vernunft Dir sagte, daß die Hingabe an diese Leidenschaft vom Übel wäre. Solltest Du nun jetzt in Deinen alten Tagen und nach alledem, was Du erlebt, erstrebt und erlitten, weniger Einsicht, weniger Selbstbeherrschung besitzen als damals? Ich kann es nicht glauben. Allerdings gegen Julies Liebreiz waffnete, feite Dich das Bild Isoldes. Aber ist denn diese Dir gänzlich gestorben, weil sie nicht mehr auf Erden wandelt? Es kann nicht sein! Blick in Dein Herz; ich bin gewiß, Du wirst sie dort wiederfinden, sie, die Dich sieben Jahre lang zum glücklichsten der Menschen gemacht hat. Sieben Jahre! Das ist viel, sehr viel, so viel, daß es mir wie eine frevelhafte Anmaßung erscheinen will, mehr von den Göttern zu verlangen.

8. Der Professor an Dora.

Z., 30. Juni.

Nur nicht mit dem Kopf durch die Wand, mein liebes Kind! Man kommt ja doch nicht durch, maßen die Wände – sie wären denn von Papier – stärker sind als die Köpfe. Es wäre doch schade für Deinen, wie ich gestehen muß, allerliebsten Kopf, wenn er bei dieser Gelegenheit in die Brüche ginge. Also sachte, Kind, sachte, und respektiere mir, wenn ich Dich um Deiner selbst willen bitten darf, gehörig die Wand, die aus dreißig, und etlichen Quadern, das heißt Jahren, aufgemauerte Wand, welche Dich von meinem Freunde trennt. Sieh Dir doch seinen grauen Bart mal genauer an! Das könnte für Dich ein remedium amoris abgeben, wie der alte Ovidius sagen würde. (Laß Dir den Ausdruck durch den jungen hübschen Herrn Schnäbeli – kommt vom schnäbeln her, ein bedeutungsvoller Name, beim Zeus! – ja, durch den Besitzer dieses zärtlichen Namens erklären; der Inhalt seines Schulsacks wird, hoff' ich, zu dieser Exegese wohl noch ausreichen.) .... Freilich, ich muß sagen – der Henker weiß, wie es kommt – daß ich mir recht lebhaft vorstellen kann, wie überaus angenehm es für den Besitzer des besagten Graubarts sein muß, wenn ihm ein gewisses achtzehnjähriges – genau gesprochen, achtzehn Jahre und zwei Monate altes – Kind welches ich nicht näher signalisieren will, so anmutig, wie es ohne Zweifel tut, darumgeht. So eine Darumgängerin nämlich – doch genug, ich verschlucke die kolossale Dummheit, welche ich sagen wollte, und beweise Dir damit, daß man in der Tat Kamele verschlucken kann, wie es im Sprichwort heißt. Nur das mußt Du wissen, daß ich, nachdem ich gestern Deine und meines alten Freundes letzte Briefe nochmals gelesen hatte, in eine ganz erschreckliche Philippika seu Katilinaria gegen den General ausbrach. Damit kam ich aber bei meiner lieben Frau übel an, sehr übel; denn »Ach, ach,« sagte sie, »schweige doch! Wärest du an der Stelle deines Freundes, würde es dir wohl auch ergehen wie ihm.« – »Beim Styx,« erwiderte ich kleinlaut, ungeheuer kleinlaut, kleinlaut wie ein richtiger Nationalliberaler gegenüber dem Bismarck, »beim Styx, ich glaub' es fast auch.«

Das »dumme Verliebtsein«, jawohl! In Wahrheit, es ist sehr dumm, dumm wie ein Dogma, dieses »Glück ohne Ruh'«, und aber doch ein Glück und noch dazu das höchste, vorausgesetzt, daß die Unruhe eine geteilte sei, eine mitgefühlte, mitgetragene. Merkwürdig zu sagen, aus den zwei Unruhen wird dann doch eine Art Ruhe. Es geht da wie in der lateinischen Grammatik: » Duplex negatio est affirmatio« – (ich verweise Dich wiederum an den Schulsack des schönen und schönstimmigen Herrn Schnäbeli). Freilich pflegt es mit dieser Ruhe bald wieder zu Ende zu sein. Was Dich betrifft, liebes Kind, so befindest Du Dich augenscheinlich im Stadium der höchsten Unruhe, geradezu der Zappeligkeit. Ich glaube zu hören, wie Dir das junge Herz in der Brust herumflattert, verwirrt, ängstlich, superlativisch »freudvoll und leidvoll«. Doch nein, nicht »leidvoll«. Du schreibst mir ja, das Leben lachte Dich an wie kaum jemals zuvor.

Natürlich! Es ist so hübsch, so angenehm, so interessant, so unterhaltend, mit dem Feuer zu spielen, gelt? So eine achtzehnjährige Spielerin denkt: »Wie das glüht und lodert, allerliebst! In die Länge freilich – bah! Aber hab' ich es satt, dreh' ich mich auf dem Absatz herum, schlage die Hände zusammen und rufe: Basta, ein ander Spiel, ein ander Spielzeug!« Das ist die Philosophie der Liebe eines achtzehnjährigen Mädchenherzens, und ich will Dir ganz offen sagen, Dora carissima, es würde mich ungeheuer freuen, wenn das auch Deine Philosophie der Liebe wäre. Es würde weitaus das Gescheiteste sein. Gerade deshalb aber zweifle ich, ob es so sein werde; denn bekanntlich pflegt nicht das Gescheiteste, sondern das Dümmste zu geschehen, da wir alle ja in dieses lumpige Erdendasein nur hereingeboren werden, um mehr oder weniger viele dumme, dümmere und dummste Streiche zu machen. Aber nimm Dich in acht, Kind, nimm Dich in acht! Das Spiel könnte gefährlicher Ernst werden. Dein Flackerfeuer könnte ein Steinkohlenfeuer entzünden oder schon entzündet haben – Du weißt schon, in wessen Seele – und so eine intensive Glut löscht man nicht im Handumdrehen. Stelle Dir einmal, und wär' es nur für eine Stunde lang, recht ernsthaft vor, Du stündest vor der Entscheidung Deines Schicksals, dann prüfe aufrichtig und streng Dein Herz! Du mußt Dir klar werden, und zwar rasch und ganz klar werden, ob Du es mit einer bloßen Fata Morgana Deiner Phantasie oder aber mit einer schicksalsmächtigen Tatsache Deines Seelenlebens zu tun hast, mit einer bloßen Laune oder aber mit einer Leidenschaft. Ich glaube einstweilen nur an jene.

Im übrigen teile ich Dir noch mit, daß ich mich, natürlich rein nur aus Kuriosität, nach dem hübschen jungen Herrn Schnäbeli hier herum genau erkundigt und nur Gutes und Löbliches von ihm gehört habe. Und er hat so große Augen und so weiße Hände, und er singt so schön! Mache die Nutzanwendung von alledem, liebes Kind!

9. Dora an den Professor.

Auf dem Schwarzenstein, 2. Juli.

Sie böser, lieber, garstiger Papa, Sie! Was haben Sie mir für einen Hudelbrief geschrieben! Sie schwanken darin zwischen dem Anreiz, sich über mich lustig zu machen, und der Absicht, mich auszuschelten wie ein unartiges Kind. Aber das Kind ist achtzehn Jahre, zwei Monate und zwei Tage alt und zudem, wie ich glaube, gar nicht unartig. Hätte ich nicht in den Zeilen Ihres Schreibens oder vielmehr zwischen denselben trotz alledem eine recht väterlich zärtliche Teilnahme und Besorgnis für mich gelesen, so würde ich alles Ernstes – da Sie mich ja doch recht ernsthaft haben wollen – den Versuch machen, Ihnen böse zu sein.

»Flackerfeuer?« Warum sagten Sie nicht geradezu Strohfeuer? Gemeint haben Sie das doch! Wenn es nun aber keins wäre, wie dann? Ihr gelehrten Häuser – dies Wort habe ich aus dem Schulsack des »schönen« jungen Herrn Schnäbeli, welcher, der Schulsack nämlich, ganz ordentlich gefüllt zu sein scheint – wißt eben auch nicht alles. So zum Beispiel nicht, daß es mit Eurer Logik, auf die Ihr Euch doch gewaltig viel zugute tut, mitunter sehr schlecht bestellt ist. Wie könnten Sie mich sonst wiederholt und mit Betonung ein »Kind« nennen und in einem und demselben Atem dem Kinde das »spielen« verargen? Was soll ein Kind denn anders tun als spielen? Mir scheint auch, Sie hätten bei dieser Gelegenheit an das so naheliegende Zitat denken können:

Tiefer Ernst liegt oft im kind'schen Spiele.

Das ist's ja! Ach, mein lieber guter Freund, ich versuche zu scherzen, und doch ist mir ganz und gar nicht scherzhaft zumute. Ganz und gar nicht! Könnten Sie nur in mein allerdings »ängstlich« mir in der Brust »flatterndes« Herz blicken, Sie würden dann nicht zweifelhaft sein, ob das arme dumme Ding von einer »Laune« oder aber von einer »Leidenschaft« erfüllt und getrieben sei. Zweifeln Sie nicht, schon hundertmal hab' ich mir die Frage vorgelegt: Was soll daraus werden? und habe nach einer Antwort gesucht, sehr »ernsthaft« fürwahr. Umsonst! Mit meiner Sorglosigkeit und Heiterkeit ist es in den letzten Tagen auch nicht mehr sehr glänzend bestellt gewesen. Das »leidvoll«, das »leidvoll« ist da.

Wissen Sie, warum? Ich muß es Ihnen sagen: Ihr Freund, Laras Herr, ist wie verwandelt. Er war anfangs, als wir uns hier oben getroffen hatten und ich darüber so glücklich mich fühlte, so gut und lieb mit mir, o, so gut und lieb! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie. Und jetzt? Seit vielen Tagen meidet er mich geradezu, und wenn ich ihn aufsuche und er mir nicht ausweichen kann, ist er auch mir gegenüber, was er allen hier oben gegenüber ist, das heißt, der kühl, ja schroff sich zurückhaltende General. Doch ich sagte mit Unrecht: allen hier oben gegenüber. Meine gute Imelda macht eine Ausnahme. Mit ihr spricht er gern und sanft, voll Güte, und ihr erweist er alle die Rücksichten und Dienste, wie sie so ein Bergleben mit sich bringt. Wäre mir Imelda nicht so teuer, wie sie mir ist, ich könnte jetzt erfahren, was Eifersucht ist. Pfui, es ist ein häßliches Wort und eine häßliche Sache, die Zwillingsschwester vom Neid, dem schlechten Kerl. Gut, daß wenigstens der Lara nicht aufgehört hat, mir gut zu sein. Der ist jetzt mein Trost; aber, ach, nur ein Hundetrost, wenn so ein Wort gestattet ist. Ich schreibe wohl törichtes Zeug durcheinander, nicht wahr? Und leider kann ich nicht mehr hinzufügen » Never mind!« Die übermütige Gleichgültigkeitsformel ist mir jetzt ganz abhanden gekommen. Seit etlichen Tagen ist in meiner Seele eine drückende Schwüle, als hinge ein Gewitter über ihr, und mir ist, als müßten Blitz und Donner mir willkommen sein, als müßte ich sie selber herbeirufen, sie herausfordern. So wie jetzt kann es nicht fortgehen, will ich nicht fortleben: die Pein ist zu groß.

Addio, mein guter Papa, und seien Sie gut und nachsichtig gegen Ihre Dora, welche doch vielleicht mehr von Treue weiß, als Sie ihr zutrauen.

10. Der General an den Propst.

Auf dem Schwarzenstein, 3. Juli.

Du hast recht, lieber Alter, und der Professor hat recht. Ja, Ihr beide habt vollständig recht. Ihr seid klug und weise und meint es gut. Schade nur, daß es etwas Mächtigeres gibt zwischen Himmel und Erde als alle Eure Klugheit, Eure Weisheit und Eure Wohlmeinenheit.

Eure Argumente sind so unbestreitbar, daß ich sie samt und sonders in Gedanken unterschrieb. Beruhigt Euch also, Ihr habt Eure Pflicht und Schuldigkeit redlich getan. Ihr seid getreue Eckarte gewesen und könnt Eure Hände in Unschuld waschen, wenn der törichte Tannhäuser nicht nur Vergangenheit und Zukunft, sondern auch seinen grauen Bart vergaß. Vorzeiten freilich da hat mich mal einer, der vierte in unserem Bunde, mit Erfolg vor der Tannhäuserei gewarnt. Aber das ist lange her, und ich bin jetzt nicht mehr so stark, wie ich damals war, als ich eine Versuchung besiegte, deren Besiegung doch wohl auch fast übermenschliche Kraft und Selbstbeherrschung erforderte.

Das Unberechenbare ist über mich gekommen und hat mich niedergeworfen und hat mich wieder emporgehoben mit göttlicher Gewalt.

Höre mich an! Ich will Dir beichten, Du bist ja ein Priester.

Ich hatte alles getan, alles, um Dora von mir zu entfernen. Ich war kalt, abweisend, sogar rauh gegen sie gewesen, hatte sie gemieden und hatte sie absichtlich sehen lassen, daß ich sie meiden wollte und wie ich sie geflissentlich mied. Wie ich es trug, als ich bemerken mußte, daß mein Gebaren sie unruhig, ängstlich, bekümmert und traurig machte, tut nichts zur Sache. Genug, ich hab' es getragen. Ich tat aber noch mehr. Ich ließ es mir angelegen sein, überall, wo ich konnte, den guten hübschen Jungen, den Herrn Schnäbeli, welcher, wie ich glaube, aufrichtig und ehrlich in das Mädchen sich verliebt hat, aufzumuntern, und ich sagte ihm auch nur die Wahrheit, wenn ich ihm meine Überzeugung mitteilte, daß er dem wundersamen Kinde keineswegs zuwider und unangenehm sei. Ich war ganz eifrig in dieser, wenn ich so sagen soll, Kuppelei. Hatte ich mich doch zu überreden gesucht und wohl auch gewußt, die Tochter Julies würde mit diesem jungen Manne glücklich sein, was man so nennt.

Wie reut mich zur Stunde all mein vergebliches Ringen und Dulden! Was sein muß, geschieht doch! Des Menschen Wille ist nur die arme Fliege, die sich, traurig und lächerlich zugleich anzusehen, erfolglos abzappelt in dem ungeheuren Schicksalsspinnennetz.

Die garstige Spinne! Aber sie will eben auch leben, weißt Du? Sie kämpft vielleicht auch ihren »Kampf ums Dasein« so müh- und schmerzvoll wie wir. Was wissen wir denn davon?

Hier oben ist im Wald eine Lichtung, die man den Naturpark nennt. Sie sieht auch wirklich so aus. Inmitten der Fichten und Föhren ein Rasenrund, da und dort malerisch mit Busch- und Baumwerk bestanden. In der Mitte dieses von der Natur angelegten »pleasure ground« stehen eine Fichte und eine Erle mit ineinander verschlungenen Ästen und Zweigen. Darunter sind Bänke angebracht. Denn hierher kommen an warmen Abenden häufig die Kurgäste, oft die ganze Schar derselben, und die jungen Leute tummeln sich dann in allerhand Spielen auf dem Rasen, während die älteren plaudernd unter der Baumgruppe sitzen.

Ich wollte heute nicht mitkommen, als die Gesellschaft vom Kurhause aufbrach. Da bat mich die Signorina Imelda, welche ihren ersten größeren Spaziergang versuchte, sie begleiten zu wollen. Dora, zu der ich außer einem »Guten Morgen!« den ganzen Tag über kein Wort gesprochen hatte, ließ es sich gefallen, daß Herr Schnäbeli ihr zur Seite ging und ihr nach allen Regeln des Komplimentierbuches den Hof machte. Doch war sie einsilbig und ihre Stirne, früher so frei und von Frohsinn strahlend, war bewölkt. Imelda und ich gingen zuletzt im Zuge, der sich weit über die Matten hindehnte, dann in eine Mulde hinabstieg und aus dieser den steilen Pfad hinanklomm, welcher zu dem Waldplateau führt, worauf der Naturpark gelegen ist. Die brustkranke Imelda hatte mir von der ersten Stunde meines Aufenthalts hier oben an große Teilnahme abgewonnen. Sie muß Tieftrauriges erfahren haben und trägt ihr Leid mit würdiger Fassung. Bald gewann ich sie recht lieb, weil ich wahrnahm, daß sie ihrer jungen Freundin mit höchster Innigkeit zugetan ist. Auf dem Wege sagte sie zu mir: »Sie tun meiner armen Dora sehr weh. Warum sind Sie so hart gegen das Kind?«– »Weil ich das Kind von mir fernhalten will.« – »Ich glaube Sie zu verstehen. Aber werden Sie für die Länge die Kraft zu solchem Fernhalten haben?« – »Ich weiß es nicht.« – »Und ich bezweifle es. Wäre es um Ihrer, um Doras willen nicht besser, Sie verließen diesen Ort?« – »Sie haben recht. Ich will fort; womöglich morgen schon.« – »Ich fühle, was dieser Entschluß Sie kostet. Aber entweder muß derselbe ausgeführt werden oder–« – »Oder?« – »Oder Sie müssen dieses mühselig hergestellte Eis der Zurückhaltung und Härte brechen. Dora leidet sehr.« – »Und leide ich etwa weniger?« – »Nein. Ich weiß, auch Sie –« Hier wurden wir durch Dora unterbrochen, welche, schon halb den steilen Waldweg hinaufgestiegen, zurückkam, um die Freundin beim Emporsteigen unterstützen zu helfen. »Es ist überflüssig,« sagte Imelda zu ihr; »der Arm des Herrn Generals reicht vollständig aus.« Ich vermied, Dora anzusehen, mit bitterer Selbstbezwingung vermied ich es. Sie ging schweigend hinter uns her.

Als die Gesellschaft droben sich zusammengefunden und mannigfaltig gruppiert hatte, suchte Imelda, die mir zur Seite saß, das vorhin abgebrochene Gespräch wieder aufzunehmen. Sie war offenbar um ihre Freundin höchlich besorgt. Aber sie konnte nicht zum Reden kommen, denn die jungen Leute hatten ihre Spiele begonnen, und bald widerhallte die ganze Lichtung von fröhlichem Rufen und Lachen. Man hörte sein eigen Wort nicht mehr. Dora, wie plötzlich verwandelt, gab sich als das mutwilligste der jungen Mädchen. Sie tollte förmlich, haschte und ließ sich haschen, und zwar, wie mir schien, gar nicht ungern von dem schönen Herrn Schnäbeli. Ich mußte hinsehen, obgleich ich mich zwingen wollte, es nicht zu tun. Da begegnete ihr Auge dem meinigen und, abermals plötzlich verwandelt, trat sie aus dem lärmenden Kreise, setzte sich an Imeldas Seite und blickte still vor sich hin. So blieb sie, alle Aufforderungen, weiter mitzuspielen, nur mit einem stummen Kopfschütteln ablehnend, bis die ganze Gesellschaft zur Heimkehr sich anschickte. Mir war so traurig zumute, daß ich die beiden Mädchen aufstehen und den Weggehenden sich anschließen ließ, ohne Imelda meine Begleitung anzubieten. Ich blieb wie gebannt unter der Fichte und Erle sitzen. Paar um Paar verloren sich die Heimkehrenden in den Windungen des schmalen Waldpfades, und mählich verklangen die Schritte und Stimmen. Dora und Imelda hatten den Zug beschlossen. Jene hatte, bevor sie mit ihrer Freundin hinter dem Buschwerk verschwand, noch einmal nach mir umgeblickt, und ich hatte es nicht über mich gebracht, nein, ich hatte es nicht über mich zu bringen vermocht, diesen Augengruß nicht zu erwidern.

Die Dämmerung senkte sich auf den Wald. Der Mond mußte über das Hochgebirge im Osten herauf sein, denn ein blasses Leuchten glomm über die Baumgipfel weg und am Himmelsgewölbe empor. Leisatmende Stille allum, jenes süße Schweigen der Sommernacht, in welchem die Nachtigall Erinnerung im Menschenherzen zu schlagen liebt: Nach und nach kam die Naturstille auch über mich. Ich gedachte fernab gelegener Zeiten, vergangener Freuden und Leiden, und endlich blieb mein Gedenken haften an dem Bilde meiner geliebten Mutter. Frischlebendig stand sie mir vor der Seele, wie sie gewesen in meinen Knabenjahren, damals an jenem Abend, als sie uns Kindern eine ihrer Goetheschen Lieblingsweisen sang: »Über allen Gipfeln ist Ruh'.« Die Melodie wurde so wach in mir, daß ich halb singend die Schlußworte vor mich hinsprach: »Warte nur, warte nur, balde ruhst du auch!«

Dann stützte ich meine Arme auf meine Knie, barg mein Gesicht in meine Hände und murmelte wieder und wieder das tröstliche: »Balde! Balde!«

Da, horch, ein leises Rauschen vom Waldwege her. Was mochte es sein? Was ging es mich an? Und doch mußte ich gespannt hinhorchen, und laut pochte mir das Herz in der Brust. Torheit! schalt ich meine Ahnung, aber sie rief, sie jubelte in mir: »Dora kommt zurück! Dora kommt zu dir!« Das Rauschen näherte sich, meine Seele war in meinen Ohren: ich erkannte den Tritt des heißgeliebten Mädchens. Jetzt schimmerte ihr helles Kleid hinter dem Blätterwerk des den Pfad säumenden Gebüsches auf. Dann trat sie auf die Lichtung heraus und kam langsam, aber festen Schrittes, wie von einem unbeugsamen Gedanken getrieben und geführt, auf mich zu.

Mit einer letzten gewaltsamen Anstrengung meiner Selbstbeherrschung zwang ich mich, meine Stellung beizubehalten und der Herankommenden mit geheuchelter Ruhe entgegenzublicken.

Jetzt stand sie dicht vor mir. Sie sah mich an in holdestem Bangen, in zitternder Verschämtheit, und doch arbeitete in ihren Zügen zugleich etwas wie übermenschliche, überweibliche Entschlossenheit.

Eine Purpurflamme überloderte ihr Antlitz, als ich zu ihr aufsah. Dann wurde es todblaß, und die Lippen bebten ihr. Aber das Göttliche war mächtig in ihr und hielt und stützte sie.

Sie legte mir die Hände auf die Schultern und sagte leise, aber deutlich und bestimmt: »Meine Mutter hat Sie geliebt, in ihrer Todesstunde noch, und ich – ich liebe Sie!« »Mich? Einen Großvater?«

»Dich!«

Da sprang ich auf – nicht Himmel, nicht Hölle hätten mich länger zurückzuhalten vermocht – und schlang meine Arme um sie und stand, von den ihrigen umfaßt, wie in einer Wolke von Licht und Feuer.


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