Johannes Scherr
Die Tochter der Luft
Johannes Scherr

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch.

Die Liebessignale.

Das heißt wie ein tüchtiger Kerl gesprochen!
Shakespeare.

1. Der alte Brosi wird »fuchsteufelswild«.

Der Mai hat längst sein dichterisches Privilegium, für die schönste Zeit des Jahres zu gelten, eingebüßt, ohne daß unseres Wissens bis jetzt offiziell festgestellt worden wäre, welche Jahreszeit denn eigentlich fortan als die schönste betrachtet werden müsse. Und doch wäre im Interesse des Prinzips der Ruhe und Ordnung im allgemeinen sowohl, als auch in dem der Ästhetik im besonderen dringend zu wünschen, daß diesem Zustande der Ungewißheit ein Ende gemacht würde. Die Poeten wissen ja gar nicht mehr, woran sie sind, wenn sie eines hochzuverehrenden Publikums Naturgefühlen die rechten Wege weisen sollen, und das hochzuverehrende Publikum seinerseits weiß sich, wenn es einmal seiner Naturfreude den entsprechenden poetischen Ausdruck geben möchte, schlechterdings nicht die Frage zu beantworten, ob es Kleists Frühling oder Geibels Juniuslieder oder Rückerts Herbstlieder oder am Ende gar Schulers Winter zur Hand nehmen soll. Es ist aber sattsam bekannt, welches Unheil aller Art für die Staaten Europas aus derartigen anarchischen Zuständen zu entspringen pflegt. Neueste Forschungen der berühmten Gelehrtentrias Gerlach, Stahl und Leo haben unzweifelhaft dargetan, daß alle Schrecken der drei Revolutionen Frankreichs zum letzten Grund keinen anderen hatten als das durch einige Schwindelköpfe empfohlene Aufgeben der heiligen Regeln und Formen, welche der große Boileau für die französische Poetik für ewige Zeiten festgestellt hatte. Das Unglück ist aber leider einmal geschehen und hat sich, wie aus oben Gesagtem deutlich erhellt, auch rheinüber verbreitet. Daher ist eine Restauration der guten alten Ordnung vor allen anderen auf diesem Gebiet dringendes Bedürfnis. Sind wir recht berichtet, so enthält das Staatsgrundgesetz Chinas einen nachmals von dem berühmten Philosophen Tschu-Fu-Kiang nach allen Dimensionen gründlichst kommentierten Paragraphen, welchem zufolge die Blütezeit der Teestaude ein für allemal als offizieller Wonne- und Dichtermond im ganzen Umfange des Reiches der Mitte festgestellt und proklamiert ist, so zwar, daß Zuwiderhandelnden, respektive Zuwiderfühlenden je nach Maßgabe der Umstände von fünfundzwanzig bis zu hundert Bambusstockschläge gehörigen Ortes appliziert werden. Diese Einrichtung wäre zur Nachahmung sicher höchlich zu empfehlen, und indem wir Staatsrechtslehrer und Staatsmänner darauf aufmerksam machen, glauben wir einen nicht ganz unwichtigen Beitrag zur Gesellschaftsrettung geliefert zu haben, was uns, hoffen wir, mit dem Hochgefühl edler Pflichterfüllung zu bemerken erlaubt sein wird.

In Anbetracht jedoch, daß wir erstens im Augenblick nicht ganz genau wissen, in welchen unserer Monate der chinesische Wonne- und Dichtermonat fällt, daß wir zweitens nicht unbescheiden genug sind, von uns aus in dieser bedeutsamen Sache einen bestimmt formulierten Vorschlag zu machen, und daß uns drittens endlich die gehörige Fülle schwäbischer Pietät innewohnt, zitieren wir, um vorläufig auf einen unmaßgeblichen Anhaltspunkt hinzuweisen, den Vers unseres verewigten Landsmanns Gustav Schwab:

Heuernte, schönste Zeit im Fahr!

Jedenfalls war's ein wunderschöner wolkenloser Sommertag, an welchem die »Leute« des Goldforellenwirtes droben an der Berghalde auf der Lauchwiese »heueten«. Gestern war unter den »Sägesen«Sensen. der Knechte der üppige Graswuchs gefallen, heute hatte die Sonne die »verspreit'ten« Schwaden hinlänglich getrocknet und gedörrt, so daß das Heu »eingeführt« werden konnte. Baldung hatte in seinem Tagesbefehl erklärt, daß die Lauchwiese heute »agrumt«Abgeräumt. werden müsse, weil morgen die große Schüpfmatte »dransollte«.Darankommen sollte. Demzufolge rührten sich die Arme tüchtig, aber die Arbeit ging in aller Fröhlichkeit vor sich, und in das Klappern der Rechen und Heugabeln, in das Rauschen des trockenen Grummets hinein tönte das Juchzen und Jodeln der Knechte und das »G'sang« der Mägde, daß der Wald widerhallte, welcher die Matte von zwei Seiten her einschloß.

Als nach dem Imbißessen das Aivli seinen breitrandigen Strohhut aufgesetzt und den Rechen geachselt hatte, um an der Spitze der Mägde zur Lauchwiese hinaufzugehen, hatte Ottmar seinen Rock ausgetan, eine Heugabel zur Hand genommen und erklärt, daß er auch wieder mit in den »Heuet« gehen würde. Es war nicht das erstemal, denn er hatte bis dahin das ganze Geschäft der Heuernte redlich und rüstig mitgemacht. Seine ersten landwirtschaftlichen Versuche waren freilich nicht vorübergegangen, ohne daß Knechte und Mägde jene feixenden Gesichter dazu gemacht hätten, womit der Landmann von Geburt und Beruf die bäuerlichen Anwandlungen städtischer Dilettanten zu betrachten pflegt. Aber unser Freund hatte sich in Respekt zu setzen gewußt, denn auf dem Lande geboren und bis zum Jünglingsalter häufig mit bäuerlichen Dingen verkehrend, hatte er noch nicht vergessen, wie man Sense, Pflug und Flegel handhabt, und vorgestern hatte er trotz einem die Forgwiese drunten im Tal ihrer ganzen Breite nach mit abmähen geholfen, und gestern abend hatte er ein »rechtschaffenes« ländliches Meisterstück abgelegt, indem er vom Tale herauf ein vierspänniges Fuder Heu nach dem Bühl und in die Scheuer gefahren, vom Sattelgaul aus mit merkwürdiger Präzision das Gespann regierend und dabei eine bewundernswerte Fertigkeit in der edlen Kunst des »Knöllens«Des Knallens mit der Peitsche. entfaltend. »Brav gemacht, bi Gott!« hatte der Goldforellenwirt ausgerufen, als der rechtsgelehrte Fuhrmann den »Rank« um das Haus herum und zum Scheunentor hinein mit allem Anstand, der zu diesem wichtigen Unternehmen erforderlich war, getroffen. Das Aivli war auch dabei gestanden und hatte sich sölli verwundert, aber nichts gesagt. Heute früh jedoch hatte Ottmar, als er seinen Hut, welcher die Nacht über auf dem Söller gehangen, aufsetzte, an demselben den prächtigsten Strauß von Rosen, Levkojen und Reseda befestigt gefunden und sich wunderlicherweise eingebildet, diese Blumen kämen aus dem Blumengärtchen des Aivli. Noch wunderlicherer Weise aber hatte der alte Brosi unseren Freund offenbar um den schönen Strauß beneidet, denn er hatte, seinen zahnlosen Mund zu einem höhnischen Grinsen verziehend, zu Ottmar gesagt: »Der Donner schieß'! Herrle, Ihr seid ja g'sträußet wie ein Pfingstkönig.« Es war überhaupt eigen mit dem alten Brosi, daß er nämlich von allen Insassen des Bühls die einzige Person war, welche unseren Freund nicht gut leiden konnte und diese Abneigung schon bei verschiedenen Gelegenheiten in allerlei brummigen Redensarten verlautbart hatte.

Also Ottmar ging »in Heuet«. Der grimme Wate war freilich durch den Anblick seines hemdärmeligen und heugabelbewaffneten Freundes nicht sehr erbaut gewesen. »Soll ich heute abermals um meine mittägliche Dämmerungsstunde und Siesta kommen?« fragte er grämlich. »Das ist ja 'ne verfluchte Wirtschaft!«

»Du kannst ja allein dämmern, lieber Junge,« sagte Ottmar.

»Das ist bald gesagt,« versetzte der im Bart. »Ich habe mich nun schon wieder so daran gewöhnt, mit dir den Kaffee zu trinken, daß er mir ohne deine Gesellschaft nicht recht schmeckt. Es ist, Gott straf' mich, eine neue ungeheuerliche Schrulle von dir, daß du tust, als wolltest du mit aller Gewalt ein Bauer werden. Du bleibst halt dein Lebtag ein Romantiker.«

»Nun meinethalb, aber komm mit. Die Mittagssonne wird an deinem überflüssigen Fett einen sehr wohltätigen Schmelzprozeß vornehmen.«

»Ja, kommt mit, Herr Doktor,« sagte Aivli. »Ihr könnt Euch ja droben in den Schatten legen, 's hat weiches Moos dort.«

»Das ist ein gescheiter Gedanke, Aivli, Gott straf' mich!« versetzte der Grimme. »Ihr trefft den Nagel stets auf den Kopf. Ich will daher in Gottesnamen mitgehen, Euch zu Gefallen.« »Und dem Moos und dem Schatten, nicht wahr?« lachte das schöne Mädchen und ging flink, den übrigen voran, die Halde hinan.

Droben auf der Lauchwiese hatte der schnaubende und schwitzende Wate anfangs den Rat des Aivli befolgt und sich der Länge nach in den Schatten gestreckt, während die andern ihrer Arbeit nachgingen. Aber die muntere Tätigkeit, welche sich vor seinen Augen entwickelte, übte auch auf das Phlegma des Bärtigen einen solchen Einfluß, daß er sich erhob, herbeikam, zuerst spielend, dann in allem Ernst eine Heugabel ergriff und bald mit den andern in die Wette schaffte.

»Siehst du,« sagte Ottmar zu ihm, »man muß es nur erst probieren, dann findet man rasch Gefallen daran.«

»Ich tu's nur der Motion wegen, mein Bester,« entgegnete der im Bart. »Mein Bauch verrät seit einiger Zeit die bedenkliche Neigung, polizeiwidrig groß zu werden, und da will ich ihm ein bissel zu Leibe gehen.«

Das Heu ward zum letzten Male umgewendet, dann nach allen Regeln der Kunst des Heuens in große »Schochen« zusammengerecht, und hierauf fing man beim ersten Schochen wieder an, und die Knechte spreiteten mit ihren Gabeln das Heu auseinander, und die Mägde, geführt vom Aivli, ordneten es mit ihren Rechen in lange schmale Streifen, so daß es zum Aufladen bereit lag.

Als dieses geschehen war, hörte man Peitschenknall und Rädergerassel in dem Hohlweg, welcher vom Bühl sich heraufwand, und bald darauf kam der mächtige, mit des Goldforellenwirtes vier berühmten Rappen bespannte Leiterwagen aus dem Waldweg auf die Wiese heraus, geführt von dem rüstigen Baldung in eigener Person.

Der Wagen wurde gewendet, und nun ging es ans Aufladen. Der Goldforellenwirt nahm seinen Stand auf dem Wagen und umfaßte mit starken Armen die großen Bürden duftenden Grummets, welche ihm die Mannen an ihren langzinkigen Gabeln hinaufboten. Und da war es hübsch anzusehen, wie alle sich in fröhlicher Arbeit mühten, und wie der grimme Wate pustend seine bärenmäßige Stärke aufbot, es dem Freunde gleichzutun, und wie Ottmar, wenn er eine tüchtige Last an seine Gabel gespießt, seine schlanke Gestalt aufrichtete und mit einem kühnen Schwung seine Bürde auf den hoch sich türmenden Wagen hinaufschwang. Und auch das war hübsch anzusehen, wie das Aivli sein unter dem Strohhut glühendes Gesicht dem wackeren Freiwilligen beifällig zukehrte und wie es ihm lächelnd nachsah, wenn er mit einer neuen Last wieder dem Wagen zueilte, und wie das »dundersnette Meidli« mit seinem Rechen immer rein zufällig gerade da beschäftigt war, wo besagter Freiwilliger seine Gabel füllte, und wie es ihm die Schwaden bequem zurechtlegte und zierlich hinter ihm drein rechte.

»So, jetzt rauf mit dem Wellbaum!« rief der Goldforellenwirt, als der Wagen seine Ladung hatte.

Die Wiese war geleert, die Mägde brachten in ihren Schürzen die letzten Heureste herbei, und der Wellbaum wurde hinaufgehoben und der Länge nach über das mächtige Heufuder gelegt und die Stricke um seine beiden Enden geschlungen und drunten mittels der Wellhölzer angespannt, und dann glätteten die Mägde mit ihren Rechen die Seiten des wohlgelungenen Baues, und die Arbeit war getan.

Der Goldforellenwirt faßte das hintere Ende des Wellbaums mit beiden Händen, ließ sich an dem Fuder niedergleiten und sagte, nachdem er mit einem Sprung den Boden erreicht hatte:

»So, das wäre g'schafft, ihr Leut', und jetzt wollen wir, schätz' ich, rechtschaffen vespern.« 's Aivli hatte den großen Korb ausgepackt, in welchem der Vater das Vesperbrot mitgebracht, Brot und Käse und Rauchfleisch, Apfelwein und Kirschwasser, und das Mädchen wußte alle die schönen Sachen recht appetitlich auf der Höhe des schattigen Rains zu ordnen, der sich am Waldsaume hinzog. Man lagerte sich, und jeder griff wacker zu. Natürlich war es auch wieder der reinste Zufall, daß Ottmar neben das Aivli zu sitzen kam. Nur der Brosi schloß sich von der Gesellschaft aus, denn nachdem der alte Knabe den Pferden Futter vorgeworfen hatte, nahm er einen Schluck aus der Kirschwasserflasche, setzte sich mit saurem Gesicht seitwärts, zog einen Knäuel ungebleichten Garns hervor und wickelte einen guten Teil desselben um die Mundspitze seiner schwarzgerauchten Maserpfeife. Dies vollbracht, schlug er mit diversen Flüchen auf den »hundsföttischen« Schwamm, der nicht fangen wollte, Feuer und hüllte sich in eine Rauchwolke, als wollte er eine Schirmwand zwischen sich und der munteren Gesellschaft aufführen.

Denn munter ging es bei diesem Vespern her. Baldung neckte den Grimmen und meinte, selbiger könne mit Gottes Hilfe noch einen ganz passabeln Bauernknecht abgeben, worauf der Grimme etwas von »miserablem« Most murmelte, zugleich aber den Krug mit dem geschmähten Getränk an die Lippen führte und die gründlichste aller Mostproben anstellte. Man plauderte, scherzte und lachte bunt durcheinander, und allen bekam die Ruhestunde baß. Der kräftige Heuduft erfüllte die ganze Lichtung mit Wohlgeruch, die sinkende Sonne warf rötliche Lichter durch die Baumwipfel, und drinnen im Walde wurde das Abendkonzert der Vögel laut.

»Horch, wie da drüben die Drossel schlägt,« sagte einer der jungen Burschen, indem er sich auf den Rücken zurückfallen ließ und seinem inneren Wohlbehagen dadurch Luft machte, daß er einen lauten Juchzer in den blauen Himmel emporwarf. Ottmar fühlte sich dadurch unwiderstehlich animiert, zu versuchen, ob auch er die edle, in seiner Jugend vielgeübte Kunst des Juchzens noch nicht ganz verlernt hätte, und siehe da, der Versuch fiel gar nicht übel aus.

»Du qualifizierst dich, lieber Junge,« sagte Wate. »Du qualifizierst dich, Gott straf mich! Wenn's mal mit der Juristerei hapern sollte, so brauchst du bloß Lederhosen anzuziehen und einen Dreispitz aufzusetzen, und ich mache mich anheischig, dich auf dem nächsten besten Gehöft als Mähder, Rosselenker und Juchzer von Auszeichnung unterzubringen.«

»Warum nicht?« versetzte Ottmar wohlgelaunt. »Es könnte wohl sein, daß ich dich einmal beim Wort nähme, Alterle. Übrigens, warum sollt' ich's nicht zeigen, wenn's mir wohl zumute ist und mir die Welt schön vorkommt?«

»Nun ja,« meinte Wate, talwärts auf die prächtige Landschaft blickend. »Im allgemeinen ist sie schön, wie jener Engländer sagte, der bei Nebel und Regen auf den Rigi stieg, bei Nebel und Regen sechs Tage dort auf die Aussicht wartete und endlich wieder herabstieg, ohne etwas anderes als Nebel und Regen gesehen zu haben. Im besonderen aber –«

»Im besonderen,« unterbrach Baldung lachend den Sprechenden, »im besonderen haben wir jetzt kostbar's Heuwetter und haben prächtig's Heu gemacht. Drum schätz' ich, ihr Leut' im allgemeinen und ihr Meidli im besonderen, wir wollen noch eins singen und dann das Fuder abführen.«

»Ja, ja, Meister,« riefen die Mädchen. »D' Meisterstochter soll anstimmen. – Aivli, stimmt eins ein, stimmt an!«

»Was denn für eins?« fragte Aivli.

»'s ist einerlei – 's geraten Euch alle gut. – ›Willkommen, o seliger Abend‹. – Nein. – ›Auf dieser Welt hab' ich kein' Freud‹. – Warum nicht gar! – ›Wer wollte sich mit Grillen plagen?‹ – Das Lied vom strahlaugigen Mädichen und dem Jäger. – Ja, ja, das kihtKlingt. rechtschaffen gut. 's ist recht, das ist's recht!«

Nachdem sich der »vernünftige« Volkswille diesermaßen ausgesprochen, stimmte 's Aivli mit ihrer hellen runden Stimme das verlangte Lied vom Jägersmann und dem strahlaugigen Mädichen an.Heinrich Pröhle. welcher dieses schöne Volkslied in seine Sammlung: »Weltliche und geistliche Volkslieder und Volksschauspiele« (1855) aufgenommen, meint, dasselbe sei norddeutschen Ursprungs und nur in Norddeutschland daheim. Ich kann ihm aber die Versicherung geben, daß ich es in meiner Heimat, in den Talgebieten des Hohenstaufen, als Knabe hundertmal singen hörte und mitgesungen habe. Später, in meinen Studentenjahren, hörte ich es auch zu wiederholten Malen in verschiedenen Dörfern des Schwarzwaldes. Allerdings, die Pröhlesche Lesart »Mägdelein« kam nie darin vor. Auch nicht die süddeutschen Ausdrücke dafür: Mädele. Mädle. Maidle, Meidli, sondern stets: Mädichen. Die Mädchen fielen ein, die Burschen folgten, Ottmar sang aus Herzenslust mit, der ehrliche Wirt nicht minder, und der im Bart ließ einen Baß los, wie ihn die dickste Orgelpfeife nicht intensiver produzieren kann. Wie frisch und gut das klang, als ein »G'sätz« nach dem andern in den Wald hinein und die Berglehne hinan und ins Tal hinab scholl und die Echos an den Halden und Schluchten weckte! Es war 'ne wahre Freude. So sang das Aivli, und so sangen sie alle:

»Der Jäger in dem grünen Wald,
Da sucht er seinen Aufenthalt.
Er ging im Wald wohl hin und her,
Er ging im Wald wohl hin und her,
Ob auch nichts, ob auch nichts,
Ob auch nichts anzutreffen wär'.

Mein Hündlein, das ist stets bei mir
In diesem grünen Laubgestrauß.
Mein Hündlein wacht, mein Herz das lacht,
Mein Hündlein wacht, mein Herz das lacht,
Meine Augen, meine Augen,
Meine Augen leuchten hin und her.

Da ruft mir eine Stimme zu,
Ich weiß nicht, wo es ist, ja ist.
Wie kommst du in den Wald herein,
Wie kommst du in den Wald herein,
Du strahlaugig Mädichen,
Wie kommst du in das Laubgestrauß?

Um deiner aufzuspüren,
Kam ich in diesen grünen Wald.
Ich ging im Wald wohl hin und her,
Meine Augen leuchten hin und her,
Ob auch nicht, ob auch nicht
Ein Jäger anzutreffen wär'.

Nun hab' ich dich getroffen an
In diesem grünen Wald, ja Wald.
Drum, Jäger, tu nach unserm Wohl
Und lad die Büchse nicht zu voll;
Dann kannst du, dann kannst du,
Dann kannst du schießen, daß es knallt.

Du sollst mir nicht mehr wandeln
In diesem grünen Laubgestrauß.
Bleib du bei mir als Jägerin,
Bleib du bei mir als Jägerin,
Du strahlaugig Mädichen,
Bleib du bei mir als Jägerin.«

Die schöne Melodie verklang, und der Goldforellenwirt gab aufstehend das Zeichen, daß die Feierstunde vorüber. Aber einer der Burschen glaubte noch ein übriges tun zu müssen, indem er auf das lustige Vespern singend den Trumpf setzte:

»Und aus ist das Liedli
Und aus ist der Tanz.
Adies, herztausiger Schatz,
Und vergiß mi nit ganz.«

Dann noch ein allgemeines Jodeln und Juheien und die Pferde wurden eingespannt, Baldung bestieg den Sattelgaul, die Mannen nahmen ihre Gabeln und reihten sich dem Wagen zur Seite, um die schwankende Last zu stützen, und langsam verließ der ganze Zug die heimelige Waldwiese.

Ottmar war etwas hinter den anderen zurückgeblieben, weil eine obstinate Zigarre, die er anbrennen und die ihrerseits nicht »ziehen« wollte, ihn aufhielt. Als es ihm endlich gelungen, den Widerstand des Glimmstengels zu brechen, und er im Begriffe war, rascher auszuschreiten, um die Leute einzuholen, vernahm er Tritte hinter sich in dem Hohlweg und hörte eine grämelnde Stimme die Worte sagen: »Und ich sag', 's ist nicht recht; nein, 's ist numme nicht recht, und das sag' ich.«

»Beim Zeus, das ist der alte Brosi,« dachte Ottmar. »Will doch einmal sehen, was der alte Kamerad hat. Er macht mir immer ein Gesicht, wie etwa Sailers heilige drei Könige geschnitten haben mögen, als sie Herodes mit Schlippermilch und Kressensalat bewirtete.«

Er blieb stehen und ließ den Alten herankommen, welcher tat, als beachte er die Gegenwart unseres Freundes nicht.

»Nun, Brosi,« fragte Ottmar, um das Gespräch einzuleiten, »warum habt Ihr Euch denn nicht mit uns anderen allen lustig gemacht? Ihr wart doch früher kein solcher Griesgrämler. Wollt Ihr Euch nicht eine Zigarre anstecken?«

Und er bot dem Alten das Etui hin, aber der Brosi machte eine ablehnende Handbewegung.

»Behaltet das Zeug für Euch, Herrle,« sagte er. »Mag nichts davon wissen, 's ist lauer Firlefanz, wie all das städtische Wesen – nichts für ungut. Mein alter Maserkopf da wird mich, schätz' wohl, schon noch aushalten.«

»Nun, wie Ihr wollt. Aber Ihr habt mir auf meine Frage noch keine Antwort gegeben. Seid Ihr wohlauf, Brosi, oder ist Euch was im Leib nicht recht?«

»Warum nicht gar! Ich trag' meine achtzig Jährle und noch etliche dazu mit Gottes Hilf' so leicht wie nur irgendeiner. Etwas im Leib nicht recht? Jawohl! Der Donner schieß'!«

»Nun, was fehlt Euch denn?«

»Was mir fehlt? Nichts, schätz' wohl. Aber 's ist mir halt etwas nicht recht, sölli nicht recht – sellSelbiges. ist wahr.«

»Was denn?«

»Da Ihr doch mal selber von der Sach' angefangen, Herrle, so will ich auch kein Blatt nicht vors Maul nehmen – nichts für ungut, 's geht schon lang' allweil mit mir rum und plagt mich bei Tag und Nacht – der Donner schieß'!«

»Was, zum Teufel, habt Ihr für 'ne Ratte im Kopf, Alter? Versteh' ich Euch recht, so habt Ihr mir was zu sagen, nicht wahr?«

»Allweg hab' ich Euch was zu sagen, Herrle.«

»Nun denn, heraus mit der Sprache!«

»Ja, also gleich, Herrle. Ich sag', Ihr tut Euch um das Aivli um, wie es nicht recht ist.«

»Was?«

»Ich sag', Ihr setzt dem Meidli Flausen in den Kopf mit Euren Flattusen und Redensarten. Das ist nicht recht – der Donner schieß'!«

»Was tu' ich, Aller?«

»Ihr werdet mich, schätz' ich, wohl verstanden haben, 's ist so 'ne Herrenmode, weiß wohl, zwei oder drei Weibsbilder zugleich am Bändel z'haben. 's mag fürnehm sein das, aber ehrlich ist's nicht. Wenn Ihr's aber außerhalb dem Bühl so treiben wollt, Herr, so geht es mich kein Stäubli nicht an, und der alt' Brosi schwätzt nicht gern in anderer Leut' Sach' hinein. Aber herrentgegen, dazu schweig' ich nicht, wenn meines Meisters Tochter, meiner Meisterin selig ihr Aivli in dem Ding sein soll. 's ist nicht recht, daß Ihr ums Aivli rumstreicht, während Ihr doch in die Dundershexe, in die Gräfin, verschossen seid. Wollt Ihr denn mit dem Aivli Euren Jux treiben, Herrle? Solltet doch einsehen, schätz' ich, daß 's Aivli viel z'gut dazu ist.«

»Ich mit dem Aivli meinen Jux treiben? Was fällt Euch ein, Brosi?«

»Was mir einfällt? Der Donner schieß'! Das fällt mir ein, daß ich meines Meisters einzig Kind nicht verunehrt und verschimpfiert und unglücklich sehen will.«

»Ihr seid aus dem Häusli, Brosi, sonst würdet Ihr nicht solche Narreteien schwatzen.«

»Narreteien schwätz' ich? Warum nicht gar! Jawohl, ja! Ich sag', 's ist mir Purer Ernst mit dem, was ich gesagt. Ja, das ist es, Herrle. Und wenn Ihr ein ehrlicher Kerl seid, so macht Ihr, daß Ihr bald, sölli bald aus dem Bühl und dem Forgtal fortkommt. Ja, so tut Ihr, wenn Ihr – nichts für ungut – ein ehrlicher Kerl und kein Hundsfötter nicht seid – der Donner schieß'!«

Unserem Freunde stieg bei dieser peremptorischen Aufforderung des alten Knaben das Blut ins Gesicht, und der aufkochende Zorn gab ihm die Antwort ein:

»Ihr seid unverschämt, Brosi, und verrückt dazu. Nehmt Euch nicht wieder heraus, mir solche Unverschämtheiten ins Gesicht zu werfen. Ich würde sie nicht immer so geduldig hinnehmen wie heute. Beim Zeus, ich habe weder einen Moralprediger noch einen Aufseher nötig, und weiß, wie ich mich zu benehmen habe. Das fehlte noch, daß ein aberwitziger Kerl von altem Knecht mich hofmeisterte.«

Aber die Zähigkeit des Brosi war nicht so leicht zu überwinden.

»Nur stät,Langsam, sachte. Herrle, nur stät!« sagte er. »Daß ich aberwitzig sei, hat außer Euch noch kein Mensch gesagt – der Donner schieß'! Ein Knecht bin ich, sell ist wahr, und bin mein Lebtag einer gewesen, aber ein redlicher, wohlverstanden. Möchte den sehen, der anders reden könnte, und Ihr, Herrle, dankt Gott, daß Ihr's von Kindesbeinen auf so gut gehabt, kein Knecht werden zu müssen. Und herrentgegen, ja, was das Alter anlangen tut, so mein' ich, daß man's keinem sollt' vorwerfen, wenn er in Ehren alt worden; ja, so mein' ich, Herrle, und als Ihr noch ein kleiner Bub' gewesen seid und der alt' Brosi Euch dutzendmal Bolzen und Bogen und Spritzen und Holderbüchsen schnitzen mußt', da habt Ihr auch wohl nicht dran gedacht, daß Ihr mal selbigem Brosi vorrupfen würdet, daß er übel achtzig Jahr' alt worden sei.«

Ottmars Zorn war augenblicklich verflogen. Er blieb stehen und bot dem Alten die Hand hin.

»Brosi,« sagte er, »ich tat unrecht, ich schmatzte töricht, und ich bitt' Euch, mir zu verzeihen. Gewiß, ich hätte mehr Respekt vor Euren weißen Haaren haben und mich erinnern sollen, wie gut Ihr mit mir in meiner Fugend gewesen. Noch einmal, verzeiht mir!«

Der alte Knecht nahm zögernd die dargebotene Hand und versetzte:

»Ja, das war' nun schon recht. Jugend hat heißes Blut und das kommt leicht zum Aufsprudeln. Aber, Herrle –«

»Aber, Brosi, jetzt wollen wir vernünftig reden. Kommt, setzt Euch zu mir auf den Stein da und sagt mir alles, was Ihr auf dem Herzen habt.«

Der Alte nahm neben dem jungen Mann auf einem am Wege liegenden Felsstücke Platz und machte sich mit seiner Pfeife zu schaffen. Der ruhige und gütige Ton, womit Ottmar zuletzt zu ihm gesprochen, hatte ihm offenbar das Konzept verrückt, so daß er nicht gleich wußte, wie er die verfängliche Unterredung weiter führen sollte.

Ottmar kam ihm zu Hilfe, indem er sagte:

»Ihr erwähntet, ich sei in die Gräfin Bernwart verschossen, Brosi?«

»Ja, so sagen halt die Leut',« entgegnete der Alte. »Und warum sollten sie's nicht? Schätz' wohl, die Gräfin hat Euch auch am Bändel wie alle Mannsleut', die ihr nah' kommen. Das Weibsbild tut's nun halt allen an – der Donner schieß'! – und Ihr lauft und reitet so gut hinter ihr drein wie alle andern Narren – nichts für ungut, Herrle. 's geht mich auch gar nichts an, obwohl mich's von wegen Eures Vaters selig und von wegen Eurer Mutter selig kränken tut, daß auch Ihr wie Euer Bruder, der Scheinheilig – nehmt's nicht übel auf, Herrle – dem ungäbenAusgelassen, mutwillig, unbändig. Weibsbild nachlauft.«

»Wie, Brosi, es ist also ein öffentliches Geheimnis, daß mein frommer Bruder Jeremias in die Gräfin vernarrt ist?«

»Gott's Blitz, wer sollt' das nicht merken? Der Duckmäuser paßt ja der Gräfin auf allen Wegen und Stegen auf. Er ist verschossen wie ein RellingKater. im Hornung – der Donner schieß'! Und wißt Ihr denn nicht, welch ein artlicher Jux dem Pfarrer verwichenen Sonntag passiert ist?«

»Nein.«

Nicht? Schätz' wohl, 's ist schon der Rede wert. Der Pfarrer muß manchmal richtig aus dem Häusli kommen,Verrückt werden. sonst tät' er keine so Faxen machen.«

»Was machte er denn?«

»Nun, seht, er steht verwichenen Sonntag auf der Kanzel und predigt, was hast und was gibst. Und predigen kann er, sell muß man ihm lassen. Wie er nun so predigt, reitet die Gräfin an der Kirche vorbei und muß sie der Pfarrer durchs Fenster gesehen haben, denn, sagen die Moosbrunner, er sei halt gleich völli verwirrt worden. Nun, was geschah? Nach der Predigt hat er, wie's der Brauch, die Leut' abezulesen, die im verwichenen Monat in der Gemeind' gestorben. Da fangt er nun richtig an z' lesen: ›Selig sind im Herrn entschlafen der Hans Jörg Bagger und die Kresenz Hirbler‹; maßen er aber verliebt ist wie ein Maikäfer, denkt er nicht ans Sterben, sondern ans Heiraten und ans Kopulieren, und so liest er fix: ›Selig sind im Herrn entschlafen der Hans Jörg Bagger und die Kresenz Hirbler; wer etwas dagegen einzuwenden hat, soll es gehörigen Ortes anbringen.‹«

»Beim Zeus!« rief Ottmar lachend aus, »das ist in der Tat ein artlicher Jux, und es scheint mir nicht ohne, wenn Ihr meint, der Jeremias komme zuweilen aus dem Häusli. Hoffentlich weiß man von mir keine ähnlichen Beweise von Verschossensein aufzuzeigen.«

»Das nicht gerade, Herrle. Aber neulich hat halt der Forgauer Waldschütz in der Wirtsstube erzählt, daß Ihr 'nen ganzen Nachmittag mit der Gräfin im Forgforst 'rumgestrichen und dann bis tief in d' Nacht 'nein mit ihr im Bärenschlößli gewesen.«

»Der Teufel gebe dem Kerl eins auf sein Klatschmaul!«

»Ja, so hab' ich auch g'sagt, und wißt Ihr, warum? Darum, wei's Aivli in der Stub' war.«

»Ich versteh' Euch nicht recht.«

»Nicht? Habt doch sonst einen guten Merker, Herrle. Wohl, 's Aivli war in der Stub', als der Waldschütz seine G'späß machte –«

»Ich schlage dem Kerl den Schädel ein!«

»Warum nicht gar! Er hat nur g'sagt, was er g'sehen, schätz' ich. Aber ich hab' halt wohl g'merkt, daß es dem Aivli grün und blau vor den Augen wurde, obwohl es sich anstrengte, gleichgültig dreinzugucken, und da hab' ich erlickert, wie's dem Meidli ums Herz ist, und da bin ich halt fuchsteufelswild über Euch worden – nichts für ungut.«

»Ihr meint –«

»Ich mein', ich mein', jedes Meidli, auch das rechtschaffenst' und brävst' und g'scheitest' – und so eins ist's Aivli – der Donner schieß'! – hat 'ne Zeit, wo's ist wie Schießpulver, und kommt dann's aparte recht' Feuer dran, so geht der Schuß los, was hast, was gibst.«

»Aber, Brosi, ich kann Euch bei dem, was mir am heiligsten ist, beim Andenken meiner Mutter, versichern, daß ich mir dem Aivli gegenüber keines Unrechts bewußt bin. Wir kennen uns, wenn ich auch zehn Jahre älter bin als das Mädchen, noch von den Kinderjahren her, und kein Bruder könnte mehr auf die liebste Schwester halten, als ich auf das liebliche Kind halte.«

»Ja, das ist nun schon recht, und ich glaub' auch, daß Ihr's so meint. Aber 's Aivli hat Eure Freundlichkeit anders genommen, und ist das, schätz' ich, ganz natürlich, 's ist eine mächtige Veränderung mit dem Meidli vorgangen, seit Ihr da seid. 's ist gar nicht mehr so frohmütig wie sonst, und in seiner Unschuld merkt's selber nicht, daß es nur für Euch Augen hat. Ich sag' Euch, 's Aivli hat Euch lieb, tausendmal lieber, als 'ne Schwester ihren Bruder hat, und ich frag' Euch, ja, ich, der alte Brosi, dem das Kind am Herzen liegt, als wär's sein eigen, frag' Euch: Was soll aus der Sach' werden? Unrechte Absichten könnt' Ihr doch wohl nicht auf das Meidli haben, Herr Ottmar, 's tät den Meister umbringen, so was, und Ihr müßtet ja der schlechtest' Kerle sein, den der Erdboden trägt.«

»Jawohl, Brosi. Ich schlechte Absichten auf das Kind haben? Ich würde mich lieber gleich in den Forgstrudel stürzen, das dürft Ihr mir glauben. Wer könnte auch diesem Mädchen gegenüber auf Schlechtes sinnen? Eva Baldung würde einen König, das heißt, ich will sagen, den besten und angesehensten Mann ehren, wenn sie ihn mit ihrer Hand beglückte.«

»Wohl, das sind, schätz' ich, so Redensarten, wie die Herrenleut' sie im Munde führen. Aber – der Donner schieß'! – man lockt damit kein' Hund vom Ofen. Gucket, Herr, 's Aivli ist keine Prinzeß, 's Aivli ist ein Schwarzwälder Landkind, und Ihr, Herrle, Ihr seid ein Stadtherr. Wie paßt das z'sammen? G'setzt, Ihr habt redliche Absichten auf das Meidli, was könnt's helfen? 's Aivli tut nicht in die Stadt unter die Herrenleut' passen; 's Aivli muß Schwarzwälder Bergluft in der Lunge haben, wenn's g'sund sein soll. Weiß noch wohl, wie elendiglich es dem Kind z'mut war, als es selbigsmal bei der Bas' selig in der Stadt gewesen ist. 's tät kein' gut mit dem Aivli in der Stadt, und was Euch angeht, Herr, so schätz' ich, Ihr werdet kein' Lust haben, Euer Herrenhandwerk aufzugeben und ein Schwarzwälder Bauerng'werb anz'fangen. Drum schätz' ich, 's ist 'ne leide Sach' – der Donner schieß'!«

Ottmar war nachdenklich geworden. Er fühlte, daß mit oberflächlichen Einwürfen gegen die einfache Logik des Alten nicht aufzukommen sei, und zudem erschien ihm sein Verhältnis zu der schönen Tochter des Goldforellenwirts plötzlich in einem ganz neuen Licht, in einem Licht, welches seiner Eitelkeit hätte schmeicheln können, wenn es nicht mehr noch seine Redlichkeit beunruhigt hätte. Er warf einen raschen Rückblick auf sein ganzes Betragen gegenüber dem Mädchen, seit er den Bühl betreten hatte, und wenn er sich auch jetzt noch einreden wollte, sein Gebaren hätte sich stets in den Schranken brüderlichen Wohlwollens gehalten, so war er doch auch wieder ehrlich genug, sich zu gestehen, daß gerade in den letzten Tagen seine Gefühle wohl eine wärmere Färbung angenommen hätten. War es ihm doch vorhin, als er neben der Tochter Baldungs auf dem Raine saß, fast vorgekommen, als schäme er sich der Erinnerung an den Taumel, in welchen ihn die Tochter der Luft in jener Mondscheinstunde in der Ruine des Bärenschlößchens versetzt hatte.

Der Alte störte das Nachdenken des jungen Mannes nicht. Große Rauchwolken aus seinem Munde stoßend, begnügte er sich, von Zeit zu Zeit einen forschenden Blick auf Ottmar zu werfen.

Endlich äußerte dieser:

»Brosi, ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Ist es, wie Ihr sagt, so wollt' ich, ich hätte den alten Schwarzwald nie wiedergesehen. Denn wie könnt' ich's verantworten, daß ich dem Aivli, und wenn auch unfreiwillig, ein Leid angetan? Laßt mich glauben, daß es mit der Sache nicht so viel auf sich habe, aber – aber sagt mir doch mal, wenn Ihr's wißt, hat das Aivli dem Kerl, dem Waldschütz, geglaubt? Glaubt 's Aivli, daß ich – daß ich – wie soll ich sagen? – mit der Gräfin in einem Liebesverhältnis stehe?«

»Nein, Herrle, das glaubt 's Aivli nicht. Warum? Darum, schätz' ich, weil es dazu viel zu gut und zu unschuldig ist, Herr. Freilich, als der Waldschütz palaverte, da wurd' es dem Aivli schwach und schwindlig, Herr, und da merkt' ich, was die Uhr für 'ne Stunde geschlagen. Und hernacher, als der Schütz fortgangen und ich mit dem Aivli allein in der Stub' war, trippelte das Meidli um mich 'rum wie, schätz' ich, 'ne Henne, die ein Ei legen will und nicht weiß, wo damit aus und an. Ich sagt' aber nichts. Herr, denn ich war selber konfus im Kopf. Endlich konnt's das Meidli doch nicht mehr prästieren; das machte, Herr, 's war mehr, als Fleisch und Blut von 'nem Weibsbild aushalten kann. ›Brosi,‹ sagte sie, ›'s ist recht dumm von dem Waldschütz, so Zeug z' plappern. Der Herr Ottmar ist nicht schlecht, nein, er ist nicht schlecht.‹ Und dabei wurde sie Euch so eifrig, das arme Ding, als gält' es ihre Seligkeit z' verfechten. ›Nein,‹ sagte sie zum dritten Male, ›der Herr Ottmar ist nicht schlecht, und ich glaub's partout nicht, und wenn er die gnädig' Frau gern ansieht, so ist das nichts Arg's, weil sie gar so schön ist, und wenn er gern mit ihr redet, so ist das auch nichts Arg's, weil sie gar so gescheit ist und so viel weiß und kann, und es ist recht boshaftig von den Leuten, daß sie gleich Schlechtes denken.‹«

»Das liebe Kind!« sagte Ottmar bewegt.

»Ja freilich, Herr, 's Aivli ist ein lieb's Kind – der Donner schieß'! Jedennoch muß ich sagen, daß ihr's bei alledem doch nicht ganz leicht ums Herz war. Grad' konträre, schätz' ich, denn nach 'ner Weile sagte sie zu mir: ›Brosi, Ihr glaubt doch auch nicht, was der Waldschütz g'sagt? Ihr glaubt nicht, daß es der Herr Ottmar mit – mit der gnädigen Frau haben tät', nicht wahr?‹ Und dabei wurde Euch das arme Ding so feuerzündelrot, als hätt' es selber was Übles getan. Jetzt gucket, Herr, z'erst meint' ich, 's wär' vielleicht am besten, um dem Aivli den Kopf z'rechtzusetzen, wenn ich sagte, der Wildschütz hab' recht –«

»Was zum Teufel, Brosi! Ihr werdet doch nicht? Ich sag' Euch, Ihr hättet, wenn auch vielleicht nicht mir, so doch der Gräfin schweres Unrecht getan.«

»Hm, auf die wär' mir's grad' nicht sölli angekommen. Jedennoch, seht Ihr, einesteils mocht' ich Euch allerdings nicht unrecht tun und anderteils dauerte mich 's Aivli. Ja – der Donner schieß'! – 's Aivli dauerte mich, als es mich so anguckte, als ob ihr Leben von meiner Antwort abhängen täte. So sagt' ich denn: ›Ich glaub's nicht, Aivli‹ – und ich mein', das Wettersmeidli wär' mir drob schier um den Hals g'fallen.«

»Ihr konntet nein sagen, Brosi, mit dem besten Gewissen von der Welt.«

»Wohl, ich will's glauben, Herr. Aber das ändert doch an der ganzen Sach' blutwenig. Konträre, 's wär', schätz' ich, fürs Aivli besser, wenn es glauben müßte, Ihr wärt in die gnädig' Frau verschameriert und sie in Euch. Ja, 's wär' besser fürs Aivli – der Donner schieß'!«

Ottmar schwieg wieder eine Weile nachdenklich und sagte dann:

»Hört, Brosi, es gehen mir allerlei Gedanken im Kopf herum, aber ich muß sie mir erst zurechtlegen, bevor ich darüber sprechen kann. Einstweilen wird Euch die Versicherung genügen, daß mir das Glück des Aivli warm am Herzen liegt und daß ich jede meiner Geberden, jedes meiner Worte sorgfältig bewachen werde.«

»Ei, so schlag', wie der Meister zu sagen pflegt, hättet Ihr das nur all die Tag' her, insonderheit aber heut' getan. Habt Ihr denn nicht gesehen, daß 's Aivli ganz närrisch vor Glück war, weil Ihr Euch so rechtschaffen anstelltet beim Heuen? Jedennoch, wisset Ihr, was? Wenn Ihr's wirklich so gut meint mit dem Aivli, wie Ihr sagt, so machet, daß Ihr recht bald aus dem Forgtal fortkommet – nichts für ungut. Das wär' das G'scheitest', schätz' ich. 's Aivli ist noch jung, sehr jung, sie wird sich das Zeug wieder aus dem Sinn schlagen, wenn sie Euch nicht mehr vor Augen hat, schätz' ich. Die jungen Leut' können das, und unsre Schwarzwälder Meidli tun nicht an der Liebeskrankheit sterben, wie Eure Stadtjungfern. Ich glaub's auch von diesen nicht sölli. – Was meint Ihr, Herrle, zu dem Fortgehen?«

»Es wird am Ende das Klügste sein, Brosi. Wäre nur dieser verhenkerte Prozeß nicht. Ich muß ihn durchführen; meine Reputation hängt sozusagen daran.«

»Der Prozeß des Grafen mit seinem Bruder, dem Baron?« »Ja.«

»Von wegen dem Forgforst?«

»Ja.«

»Jetzt gucket, da könnt' ich Euch vielleicht helfen, Herrle.«

»Ihr, Brosi? Ihr seid doch nicht rappelköpfig, alter Knabe?«

»O, Ihr braucht gar nicht so zu lachen und so fürnehm zu tun, Herrle. Hört nur. 's Aivli, das sich leider um alles sorgen tut, was Euch angeht, sagte verwichen,Unlängst, neulich. es sei ein schweres Unglück, daß Ihr die alten Grenzsteine im Bärenbachtobel nicht finden könnt. Um die drehe sich sozusagen die ganze Prozeßgeschichte.«

»Ja, so ist es. Ich habe im Beisein des Aivli Herrn Baldung davon erzählt.«

»Wohl, seht Ihr, da eben könnt' ich Euch helfen. Ich weiß, wo die alten Steine sind.«

»Ihr, Brosi? Ach geht! Und wenn Ihr's wußtet, warum habt Ihr nicht schon lange gesprochen? Es war Euch doch bekannt, daß die ganze Existenz des gräflichen Hauses von diesem Prozeß abhängt.«

»Was geht mich in's Dreiteufelsnamen das gräfliche Haus an? Keinen Pfifferling, Herrle. Ja, und 's wär', schätz' ich, fürs ganze Forgtal ein groß Glück, wenn mal die liederlich' Wirtschaft mit Ach und Krach ein End' nähm' und die ganz' gräflich' Bagasche, mit Respekt zu sagen, zum Teufel fahren tät'. Ich würd' keinen Finger rühren, um sie aus der Schlamasse zu ziehen, nein, ich nicht; erstens, weil ich sie nicht leiden mag, und zweitens, weil ich von g'scheiten Leuten viel und oft hab' sagen hören, daß unsereiner immer schlecht fahre, wenn er sich in großer Herren Sachen mische. Wer sich unter die Kleie mischt, den fressen die Säue, wißt Ihr.«

»Ich kann nicht finden, daß dieses Sprichwort auf den vorliegenden Fall passe, Brosi.«

»Das tut nichts, Herrle. Ich will absolute nichts von der gräflichen Schmiere.«

»Aber laßt Euch sagen, Brosi, wenn Ihr das, was Ihr wißt, Eurem Meister gesagt, so hättet Ihr diesem einen guten Dienst geleistet.«

»Dem Meister? Wieso?«

»Vom Auffinden der Grenzsteine hängt der Ausgang des Prozesses ab. Gewinnt aber der Graf den Prozeß, so hat Euer Meister Aussicht, wieder zu seinem Gelde zu kommen.«

»Zu seinem Geld? Der Meister? Was wollt Ihr damit sagen, Herr Ottmar?«

»Ei nun, das ist ganz einfach. Herr Baldung hat ja dem Grafen eine beträchtliche Summe Geldes geliehen –«

Unser Freund hielt inne, denn er bemerkte, daß dieser Umstand, welcher für Brosi augenscheinlich eine Neuigkeit war, auf den Alten einen ganz merkwürdigen Eindruck machte.

Brosi stemmte die Hände auf die Knie und starrte unserem Freunde mit weitvortretenden Augen ins Gesicht. Er sah drein, als hätte er etwas Unerhörtes, ja geradezu Unglaubliches vernommen.

»Wa – wa – was?«

Dies war alles, was er hervorbringen konnte, und bei dieser Gelegenheit entfiel der Maserkopf seinem Munde, des um die Pfeifenspitze gewickelten Garnknäuels ungeachtet. Er vergaß auch, sich nach dem ihm sonst so unentbehrlichen Möbel zu bücken; er war ganz weg.

»Es scheint, Ihr wußtet von diesem Umstand nichts, alter Freund,« bemerkte Ottmar.

»Was? Was?« brach der Alte los, und seine Stimme schnappte vor Zorn in die Fistel über, während sein Gesicht vor Ingrimm braunrot wurde. »Dem Lumpengrafen Geld leihen? 's ist ja zum Verfluchen! Dem Geld leihen? Hätt' er's doch lieber gleich in Dreck g'schmissen. Ist der Meister letzköpfigNärrisch. worden? 's muß so sein – der Donner schieß'! Hat man je 'nen g'wissenloseren Mann g'sehen? Seinem eigenen Fleisch und Blut entzieht er's Geld und gibt's der fürnehmen Lumpenbagasche! Na, das geht noch übers Bohnenlied. Hat's ihm die Wetterhex', das Malefizweib, die Gräfin, etwa auch angetan? Schätz' wohl, 's muß so was um d' Weg' sein – der Donner schieß'! Und die ganz' G'schicht' hinter mei'm Rücken, ja, ja, recht gaunermäßig, als wär' der alt' Brosi nur gar nicht mehr da, als wär' er schon verlochet und vergraben. Gott's Blitz, so was hab' ich, schätz' wohl, um den Meister nicht verdient. – Den Schloßleuten Geld leihen, viel Geld, sagt Ihr? – Jetzt möcht' ich aber nur grad' fuchsteufelswild werden! Der Donner schieß'!«

Ottmar hatte anfangs Mühe, das Lachen zu verbeißen, als er den Alten so wütend gebaren sah. Aber die Aufregung, der Zorn, der Schmerz Brosis waren zu wahr und groß, um in die Länge komisch zu wirken. Unser Freund erkannte in dieser Bewegung die eines Dienstboten von altem Schrot und Korn, welcher sich mit der Familie, der er diente, völlig eins fühlte und wie für seine Pflichten, so auch für seine Rechte ein sehr lebhaftes Gefühl besaß.

»Nun, Brosi,« sagte der junge Mann, »faßt Euch doch. Geschehene Dinge kann man nicht ändern, im vorliegenden Falle aber lassen sich vielleicht die schlimmen Folgen beseitigen.«

»Ja, Herrle, Ihr habt gut schwätzen. Ist Euch je so was passiert? Fünfundfünfzig Jahre hab' ich jetzt im Bühl gedient, in Treu' und Ehren, und jetzt geht der Meister her und schmeißt sein Geld, des Aivlis Geld zum Fenster naus, ohne mir was davon z' sagen, mir, der ich allzeit drauf aus war wie der Teufel auf 'ne Seel', daß der Meister der stolzest' Bau'r und Wirt könnt' sein, müßt' sein, soweit man kocht, und der best' Mann im ganzen Schwarzwald. Und jetzt –«

Die Stimme des Alten brach im Weinen.

»Ihr müßt Euch das nicht so zu Herzen nehmen, Freund Brosi,« sagte Ottmar. »Der Meister hat die Sache wohl nur vergessen. Wahrscheinlich wurde er um das Darlehen angegangen, als Ihr gerade nicht daheim wart. Jetzt aber müssen wir sorgen, daß der Meister wieder zu seiner Sache kommt, und da Ihr, wie Ihr sagt, die verteufelten alten Grenzsteine zwischen dem Forgauer Forst und dem Forgforst –«

»Die von Anne 1744, Herrle?«

»Ja, eben die. Sobald wir die Steine haben, ist der Prozeß so gut wie gewonnen. Ihr braucht also bloß zu sprechen –«

»Ja, da könnt Ihr und der Meister und die ganze hundsföttische Welt lang' warten!« schrie der Alte wieder im höchsten Zorn. »War's dem Meister nicht drum zu tun, sein Maul aufzumachen, als er sein Geld wegschmiß, so ist's jetzt dem Brosi auch nicht drum zu tun, sein Maul aufzumachen, um dem Rabenvater, der so an seinem Kind handeln kann, wieder zu seinem Geld zu verhelfen. Wurst wider Wurst – der Donner schieß'!«

»Aber 's Aivli, Brosi, 's Aivli! Wenn mir recht ist, hat der Meister mir gesagt, das unglückselige Darlehen sei gemacht worden aus dem Geld, welches die Bas' in der Stadt dem Aivli vermacht hatte.«

»Da sieht man den Lotter von Goldforellenwirt! Was, was? Dem Aivli sein Geld ausleihen? Ohne recht's Unterpfand natürlich? Ich will's ihm schon sagen, wie's ihm sein Lebtag noch nie ist g'sagt worden – ja, das will ich, der Donner schieß'!«

»Aber, Brosi, das Aivli darf doch nicht durch Euren, wie ich zugebe, nicht unbegründeten Zorn benachteiligt werden.«

»Ja, da habt Ihr recht, Herrle. 's Aivli muß wieder zu seiner Sach' kommen, wenn's möglich z' machen ist. 's Meidli kann ja nichts dafür, daß es so 'nen leichtsinnigen Vetter von Vater hat – der Donner schieß'! Und Ihr meint also,« setzte der Alte hinzu, indem er aufstand, »der Dundersprozeß hänge von den alten Steinen ab?«

»Das ist meine feste Überzeugung.«

»Wohl, Herrle, Ihr sollt die Steine z' G'sicht kriegen. Morgen in aller Früh' klopf ich an Eure Türe und dann wollen wir mit Tagesanbruch ins Bärenbachtobel 'nauf.«

»Ach, du lieber Gott, Brosi, dort ist schon alles abgesucht worden, sozusagen jedes Gräschen umgewandt, links und rechts am Bach auf und ab.«

»Das kann, schätz' ich, wohl sein, Herrle. Und gefunden hat man nichts?«

»Keine Spur.«

»Glaub's wohl,« versetzte der Alte, den neben ihm hergehenden Juristen mit einem echt bäuerisch pfiffigen Lächeln von der Seite anblinzelnd; »man hat, schätz' ich, nur am Bach, nicht im Bach gesucht.«

»Was zum Teufel, Brosi! Wie meint Ihr das?«

»Wie's ist, Herr, akkurat so, wie's ist. Meine Mutter selig, Gott tröste sie! die ist als ein klein's Meidli dabeig'standen, als man die Steine setzte, und sie hat mir oft verzählt, daß sie bei dem Anlaß, wie's der Brauch, 'ne tüchtige Ohrfeig' hab' g'fangen. Viele Jahr' drauf, als ich ein kleiner Bub' war, gab's 'ne grus'lige Wassersnot im Schwarzwald und wurden auch unsere Täler schwer heimg'sucht. Bei dem Anlaß trat auch der Bärenbach aus und war so ungäb, daß er sich ein ganz neues Bett suchte, und in dem fließt er jetzunder noch, und das alte ist verwachsen und wissen die Leut' nichts mehr davon, 's muß einer so ein alter Kerle sein wie ich, um selbiger Zeit noch sich z' erinnern. Wohl, ein paar Wochen nach der Überschwemmung war ich mit der Mutter, die ein arm Weib gewesen, in den Forgforst ins Reisig gangen, und da schwätzten wir von dem und diesem und von der Wassersnot und wie sich der Bärenbach ein ander Bett g'machet. Und da verzählte sie mir auch wieder von dem Steinsetzen von Anno 1744 und von der Ohrfeig', die sie dabei g'kriegt, und da bin ich halt aus Wunderfitz,Neugier wie's so d' Kinder haben, gucken gangen und bin im Bach 'naufg'watet und fand richtig alle drei Stein', und ich weiß das noch, als wär's erst gestern gewesen, und ich wett', daß ich die drei Plätz' auf der Stell' find', und wenn der Teufel seither nicht hat die Stein' g'holt, so müssen sie noch unter dem Wasser des Baches stecken, denn sie waren Euch mächtig tief und fest in den Boden g'setzt – der Donner schieß'!«

2. Von Mägen, Dichtern und Weibern.

»Ja, meine Herren, das ganze Elend unserer Zeit rührt zweifelsohne daher, daß sie zu schnell ißt, überhaupt die erhabene Funktion des Essens und Verdauens nicht mit gehöriger Bedachtsamkeit, Gewissenhaftigkeit und Würde verrichtet. Man sollte sozusagen mit Andacht essen; ja, das ist das rechte Wort. Die Wissenschaft wird, wenn sie erst zur Erkenntnis der ungeheuren Wichtigkeit des Gegenstandes gelangt ist, auf diesem Felde eine Tätigkeit zu entwickeln haben, deren Resultate, mit Goethe zu sprechen, jetzt noch geradezu inkommensurabel genannt werden müssen. Man wird in Zukunft nicht mehr sagen: ein wissenschaftlich gebildeter Mann, sondern: ein wissenschaftlich gebildeter Magen; denn, meine Herren, die Zukunft wird endlich so frei und wahr sein, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, und sie wird so gerecht sein, den Inbegriff, Ermöglicher, Erhalter alles Lebens, den Magen, welcher faktisch das Zentrum alles menschlichen Daseins ist, auch de jure als solches zu proklamieren. Unsere Großväter haben das Zeitalter der Aufklärung und Klassik durchgemacht, unsere Väter hatten das der Romantik und Restauration zu ertragen, wir unsererseits, wir armen Teufel, wir haben den Hexenkessel einer Periode brodeln sehen, in welchem blaudunstiger Konstitutionalismus, bombastische Demokratie und gesellschaftsrettungsfreudige Despotie durcheinanderquirlen, so zwar, daß das Schmer des Absolutismus stets wieder siegreich obenauf schwimmt. Heil unseren Enkeln, das heißt unseren Enkeln im tausendsten Gliede, welche all dieses Jammers enthoben sein und die Gloria des Zeitalters des Magens sehen werden. Da wird man endlich so gescheit sein, die natürliche Basis alles Dichtens und Trachtens der Menschen, den Magen, auch zur politischen und sozialen zu machen. Vom Magen wird alles ausgehen, auf ihn alles zurückgeführt werden. Er wird in Wahrheit der Liberator, Pazifikator und Regulator der Gesellschaft sein. Wer gut gespeist hat, meine Herren, ist stets bereit, mit Schiller zu singen: ›Seid umschlungen, Millionen!‹ woraus folgt, daß die Philosophie des Magens die einzige wirklich erlösende und humanisierende ist. Aber ich spreche mit jenem berühmten Berliner Russen: ›Die Wissenschaft ist die Umkehr.‹ Auch die Gastrosophie muß sich dieses große Wort gesagt sein lassen. Ich überlasse es zwar meinen drei verehrten, hier anwesenden Freunden und Gönnern, dem hochwohlehrwürdigen Seelenhirten von Moosbrunn, wie den zwei lyrischen Zierden der Zeit, Don Rodrigo und Herrn Walter von dem Schmelz, diesen überlasse ich es, des breiteren darzutun, daß mit jener Umkehr die Umkehr zum Köhlerglauben gemeint sei; meinesteils aber und auf meinem gastrosophischen Standpunkt verstehe ich die Sache so: die Wissenschaft muß bei der Natur, beim Volke in die Schule gehen. Wer versteht zu essen, die sogenannten Gebildeten oder die Bauern? Offenbar diese, während jene eigentlich gar nicht essen, sondern nur schlingen, die schnödeste Barbarei, die man sich denken kann. Gibt es doch metaphysische Querköpfe genug, welche wähnen, das Essen als eine lästige Notwendigkeit möglichst geschwind abmachen zu müssen. Und solche Barbaren bilden sich ein, die Zivilisation gegen den Zarismus verteidigen zu müssen. Die Unglücklichen? Da seht euch dagegen mal einen essenden Bauer an. Wie breit, wie gemächlich, wie gesammelt, wie andächtig sitzt er da, um des Lebens wichtigstes Geschäft zu vollziehen! Sein linker Arm liegt bequem auf dem Tisch, und in der Fläche der linken Hand ruht das rechte Armgelenk, damit die Hand, welche die Speisen zum Munde bringt, eine solide Basis habe. Langsam fährt er mit dem Löffel in die gemeinsame Schüssel, methodisch langsam, aber stetig, und unter religiösem Schweigen läßt er einen Bissen dem anderen folgen. Er mutet seinem Magen Ungeheures zu, aber er darf es, denn er behandelt denselben zugleich auch mit all den Rücksichten, welche die Natur lehrt. So ißt der Naturmensch, und es ist herzerhebend, ihm dabei zuzusehen. Bei alledem ist so ein Bauernmagen zu sehr im Naturdasein befangen, um weiter in Betracht kommen zu können. Wie ganz anders stellt sich ein mit wissenschaftlichem Bewußtsein arbeitender Magen zum Leben, zur Geschichte, zur Kunst!«

Hier machte der, welcher diesen gastrosophischen Sermon hielt und natürlich kein anderer war als der grimme Wate, eine Pause, um mit einem nachdrücklichen Schluck Wein seinen Gaumen anzufeuchten.

Ort und Stunde zu seiner Predigt waren nicht übel gewählt.

Der Freiherr Adalbert hatte gestern in Bernwartshall die ganze Gesellschaft zu einem Fischzug eingeladen, welcher denn auch im Beisein der Gräfin diesen Morgen weiter oben im Tal, wo der Freiherr einen von der Forg gespeisten Teich besaß, unter allseitiger Heiterkeit vor sich gegangen war. Nachher hatte der lebenslustige junge Mann die Männer zu einem Junggesellenessen mit nach Hause genommen, und alle hatten es sich nach den munteren Strapazen des Vormittags gehörig schmecken lassen.

Sie saßen in dem großen Balkonzimmer über der Freitreppe des Schlosses. Der Nachtisch war aufgestellt, die Diener hatten sich entfernt, und die Flasche begann zu kreisen. Hatten auch nicht alle mit der Wissenschaftlichkeit und Andacht Wates, so hatten doch alle gut gespeist, die Weine waren vortrefflich, die zugleich mit den Süßigkeiten erschienenen Zigarren sublim, und so befand sich männiglich, selbst den frommen Pfarrherrn nicht ausgenommen, in jenem Zustand des Behagens, wo man sich auch eine Predigt gefallen läßt, eine solche sogar, die man nicht selber hält.

Wate ließ daher seine Augen an der Tafelrunde umherlaufen, und da er bemerkte, daß kein Einspruch gegen die Fortführung seines Sermons erhoben werden wollte: fuhr er fort:

»Ich habe lauter literarisch gebildete Leute vor mir, und wenn sich auch unser wohlgeneigter Seelenhirt von Moosbrunn weniger mit der profanen Literatur abgibt, so wird doch auch er mich verstehen, wenn ich ihn, wie alle die Herren, bitte, einen vollen Becher darzubringen dem Andenken eines Mannes, der meiner unmaßgeblichen Ansicht nach tausendmal edler war als sämtliche Mitglieder der jetzund auch selig im Herrn verflossenen Edlenmännerfirma Gagern und Kompanie. Meine Herren, es lebe der große Eulenbök!«

»Was ist denn das wieder für eine Schnurre, Herr Doktor?« fragte der Pfarrer, der wirklich nicht ganz sicher war, wen oder was Wate meine.

»Ach, der Herr Doktor zielt auf den Maler Eulenbök in Tiecks Novelle ›Die Gemälde‹,« bemerkte Don Rodrigo.

»Richtig, mein Teuerster«, versetzte der Gastrosoph. »Diese berühmte Person, die beste Figur, welche Meister Ludwig geschaffen, entwickelt in besagter Novelle eine Philosophie des Weintrinkens, gegen welche alles Orakeln der Kant-, Fichte-, Schelling-, Hegel-, Herbart-, Schopenhauerschen Philosopheme pures Wasser ist. O, ein Dichter, welcher eine ebenbürtige Philosophie des Essens aufstellte, der täte unserer Zeit not. Ein Königreich für einen solchen Poeten! Doch was greife ich sehnsüchtigen Wunsches in die Weite nach dem, was ich in nächster Nähe vor mir habe? Wie wahr sagt doch Goethe: ›Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da!‹ Wir haben an diesem gesegneten Tische einen Mann, dessen Lyrik das Entzücken unserer gebildeten protestantischen Jugend ist – (Don Rodrigo errötete geschmeichelt) – wir haben ferner unter uns einen Mann, dessen Lyrik-Epik das A und O unserer katholischen Söhne und Töchter gebildeter Stände ausmacht – (Herr Walter von dem Schmelz errötete mädchenhaft selig) – wie wäre es nun, wenn diese unsere berühmten Freunde an die Lösung der großen Aufgabe gemeinschaftlich sich machten? Ich verstehe unter dieser Aufgabe ein grandioses lyrisch-episches Lehrgedicht, eine Iias oder vielmehr Odyssee, nein, eine Faustiade des Magens, etwa betitelt: Der Magensaft der Weltgeschichte oder: Die göttliche Komödie der Verdauung. Würde dieses erhabene Thema so ausgeführt, wie ich dem Genie unserer Freunde es zutraue, so müßte ein wahrhaft Welt- und Menschengeschick bestimmendes Werk daraus werden.«

Der Pfarrer krümmte höhnisch seine Mundwinkel und warf einen Blick boshafter Freude auf die beiden Poeten. Ottmar und der Freiherr lachten, und Don Rodrigo war gutmütig genug, mitzulachen. Nur Herr Walter blickte, gehüllt in die Würde seines Ruhmes, wie ein Jupiter tonans drein.

Dann räusperte er sich und sagte vornehm:

»Wir sind es an dem Herrn Ex-Mediziner schon gewohnt, daß er alles Beste und Schönste in den Kot seines zynischen Materialismus herabzieht. Über Wesen und Würde der Poesie, über die Erhabenheit ihrer Aufgaben mit einem Manne zu streiten, der gar kein Organ dafür hat, wäre die unerquicklichste Sache von der Welt. Solange wir, mein verehrter Bruder in Apollo hier und ich, die Zustimmung der trefflichsten Männer und Jünglinge, der zartesten und frommsten Frauen Deutschlands für uns haben, können wir uns über die gottlosen und faden Späße der Nihilisten füglich hinwegsetzen.«

»Bah, bah, liebster Freund und Gönner, nur nicht so patzig!« entgegnete der Grimme. »Was wissen Sie von meinen Organen? Die sind, Gott straf' mich, in ganz leidlicher Verfassung. Wenn Sie aber meinen, ich sei ein Nihilist, so muß ich Sie belehren, daß Sie gewaltig auf dem Holzwege sind. Würde ich mir meine gastrosophischen Studien so angelegen sein lassen, wenn ich mich nicht um die Welt und das Heil der Menschheit kümmerte? Ich sage Ihnen, mir ist's ganz behaglich, ganz positiv, ganz realistisch zumute, keineswegs pessimistisch, negativ, nihilistisch, und ich schwimme in dem Sumpf, genannt Welt, so wohlig umher wie nur irgendeiner von Ihnen.«

»Wir sind keine Sumpfbewohner, Herr Doktor,« sagte Herr Walter empfindlich. »Sie haben eine eigene Manier, Ihre Sumpfgewohnheiten anderen zu vindizieren.«

»O, ich bitte tausendmal um Entschuldigung, mein Teuerster. Ich weiß ja recht gut, daß Sie ein Adler sind, der auf den Toilettentischen horstet.«

»Was ich bin, darüber steht Ihnen keine Entscheidung zu.«

»In der Tat, Herr Doktor,« bemerkte Don Rodrigo, seinem Freunde zu Hilfe kommend. »Ihre Laune nimmt heute wieder eine wunderliche Richtung. Wer wird die schöne Welt einen Sumpf nennen? Geschwind, nehmen Sie das garstige Wort zurück!« »Liebster Freund,« versetzte Wate, »wie gerne täte ich nach Ihrem Willen, aber meine Achtung vor der Poesie läßt es nicht zu.«

»Ihre Achtung vor der Poesie?«

»Ja, und vor poetischen Autoritäten. Ich bin glücklicherweise imstande, eine solche ersten Ranges für mich anzuführen, den Russen Puschkin. Hören Sie nur gefälligst:

In dieser Welt voll Toren, Laffen,
Verkäuflicher Gerechtigkeit,
In Uniform gesteckter Affen,
Auswürfe jeder Schlechtigkeit,
Spione, frömmelnder Koketten
Und Sklaven, stolz auf ihre Ketten,
In dieser Welt der Heuchelei,
Des Lugs, des Trugs, der Kriecherei,
Verschmitztheit, Roheit, Alltagsleere,
Klatschsucht, Verleumdung, Unnatur,
In diesem Tugendgrab, wo nur
Das Laster kommt zu Ruhm und Ehre –
In diesem Sumpf, in welchem wir
Uns, Freunde, alle baden hier –«

»Puschkin!« sagte Don Rodrigo mit wegwerfendem Achselzucken. »Ein glaubensloser, verschrobener Nachbeter von Byron, welcher seinerseits selber nur bei solchen für einen Dichter gelten kann, die keine Ahnung davon haben, daß Poesie die Versöhnung der Gegensätze durch den und in dem Glauben ist.«

»Danke für die gütige Belehrung,« entgegnete Wate mit einer tiefen Verbeugung.

»Ich gestehe,« nahm Ottmar das Wort, »daß ich, bei aller Achtung vor unseres Freundes Don Rodrigo ästhetischer Autorität, seine über Byron geäußerte Ansicht nicht zu teilen vermag.«

»Bewundern Sie diesen Dichter der Dissonanz?« fragte Don Rodrigo. »Es gab eine Zeit, wo ich ihn sehr liebte, bewundern tu' ich ihn noch jetzt. Gegen einen Childe Harold, Kain, Sardanapal, Don Juan gehalten, ist doch alles, was seither von Poesie höheren Stils erschien – entschuldigen Sie, ich meine in Epik und Drama – wahres Kinderspielzeug.«

Don Rodrigo ließ sich diese Meinung so ziemlich gefallen, da er ja die zugunsten der modernen Lyrik gemachte Ausnahme auf sich beziehen konnte. Herr Walter von dem Schmelz dagegen, der große lyrische Epiker, sah unseren Freund mit einem verachtungsvollen Seitenblick an, und auf seiner Stirne inthronisierte sich eine Hoheit des Bewußtseins, welche eines Dante nicht unwürdig gewesen wäre. In dem Stirnrunzeln des großes Mannes stand zu lesen: »Ich habe Chamoisina gedichtet und das Märchen vom Fichtenzapfen, ich! und dieser Erbärmliche wagt hier, an meiner Seite, von einem Lump von Byron zu reden.«

Der unglückselige Ottmar ahnte wahrscheinlich nichts von dem zermalmenden Verdammungsurteil, welches unter der Schädeldecke seines Nachbars für ihn kochte, denn er fuhr fort:

»Was man auch sagen mag und wie sehr die Frömmelei heutzutage in der ästhetischen Kritik wie in allem das große Wort führt, so ist und bleibt es doch ein närrisch Ding, Poesie und Poeten mit dem Maßstab des Glaubens und Unglaubens messen zu wollen. Ich weiß wohl, es gehört jetzt zum guten Ton, von der Kunst in einseitigster Weise als von einer Sache des Glaubens und der Versöhnung zu reden. Die lieben Leute, wohin kommen sie damit? Alle wahrhaft großen Dichter haben aber ihre Größe gerade dadurch erwiesen, daß sie die furchtbaren Widersprüche und Gegensätze des Menschenlebens aufzeigten, statt den Mantel der Lüge darüber zu werfen. So Goethe, so Schiller, Firdusi, Äschylos, Dante, Cervantes und Shakespeare. Nur die Voreingenommenheit eines Kommentators kann, wie ich glaube, in den Shakespeare Glauben und Versöhnung hineintifteln. Shakespeares Werke sind, bei Licht betrachtet, nur eine grandiose Variation von dem Thema des Predigers: Alles ist eitel! Seine Analyse der menschlichen Leidenschaften und ihrer Konflikte ist eine wahrhaft furchtbare Mikrokopie. Er kennt keine Illusion, und wo sich ihm eine in den Weg wirft, zertritt er sie erbarmungslos. Die Helden und Heldinnen seiner Tragödien gehen unter an der Welt, an sich selber, und soll etwa das Versöhnung sein, daß das Schöne, Edle und Große vor dem Häßlichen, Schlechten und Gemeinen nur das traurige Privilegium eines doppelt schrecklichen Verderbens voraus hat? Was aber Shakespeare in Form des Dramas auf dem Standpunkte seiner Zeit lautwerden ließ, den dämonischen Jubel über die Nichtigkeit der Welt, das verlautbarte auf dem Standpunkte der unserigen Byron als Lyriker. Ich bestreite nicht, daß die Poesie der Zukunft nicht möglicherweise eine Versöhnung finden könne, nur muß ich glauben, daß einer versöhnten Poesie zuerst eine Versöhnung der Gegensätze des Lebens vorhergehen müsse. Ist das wahrscheinlich? Ich weiß es nicht. Inzwischen wird man behaupten dürfen, daß Byrons Verschwinden jedenfalls einen leeren Raum gelassen hat, der noch nicht wieder ausgefüllt wurde. Der arme Grabbe hätte vielleicht das Zeug dazu gehabt, den großen Lord zu ersetzen, aber seine titanische Anlage verlief sich vom Anfang an so tief ins Fratzenhafte, daß er, statt ein Koloß zu werden, nur die Fratze eines Kolosses geworden ist.«

»Sie sprechen wie ein Buch, wie ein gutes nämlich, ohne Kompliment,« sagte der Freiherr, welcher, ein Liebhaber feuriger Weine, sich in eine kordiale Laune hineingetrunken und sein gewöhnlich steifes und hochfahrendes Wesen abgelegt hatte. »Aber,« fuhr er fort, »mir scheint, in Ihren Ansichten liege doch halbversteckt eine große Ungerechtigkeit gegen die poetische Literatur der Gegenwart. Sie hat ohne Frage manches hervorgebracht, was sich mit Älterem wohl messen kann. Ich will, um der liebenswürdigen Bescheidenheit meiner verehrten Dichtergäste nicht zu nahe zu treten, von den Werken derselben nicht einmal reden. Die gute Gesellschaft – und nur dieser kommt ja in solchen Dingen ein Urteil zu, nicht der Canaille – hat sich einstimmig für sie erklärt. Ich will nur, wie es meines Standes ist, an einen kriegerischen Dichter unserer Tage erinnern, wie ihn die deutsche, ja, ich möchte sagen, die europäische Literatur bis dahin noch nicht besessen. Sie erraten, daß ich den Dichter von ,Waterloo' meine. Zeigen Sie mir doch in einer dichterischen Schlachtschilderung eine Stelle, die sich an Sturmgewalt mit dieser vergleichen ließe:

Und überm Bergkamm und heran die Halde,
Den Säbel über'm Kopf, des Rosses Bauch
Fast auf der Erde, auf, herüber, vor,
Entgegen durch die eisernen Gassen schnaubend,
Zusammenschlägt die sausende Reiterschlacht,
Ein wirbelnder, rasender Föhn; Antreten zwanzig
Mal tausend ihren schwirren Schwertertanz,
Verschlingend paarend sich zum furchtbaren Reigen;
Trompeten schmettern, Nüstern schnaufen den Chorus,
Die stählernen Lüfte sprühn, der Boden funkt;
Vom trappelnden Tritt der Tanzplatz schwankt, und wenn
Die wirbelnden Paare sich fassen, lassen nicht los
Sie wieder, halten sie fest, bis rot der eine,
Der andre blaß, herunter von Leib und Leben:
Als tanzte Tod und Teufel auf Mont St. Jean
Den Bergtanz wieder mit hunderttausend Füßen.

Zertreten werden Bataillone, kalt
Zusammengehauen ganze Regimenter;
Vorwärts, zurück, Flut, Ebbe, Flut, schiebt hin
Und her sich die metallene See.«

Der Baron besaß ein schönes Organ, und da sich sein hübsches Gesicht beim Vortrage dieses Stückes Bataillenpoesie belebte, so war der Effekt des Zitats ein recht günstiger.

»Da ist in der Tat kriegerische Stimmung darin,« sagte Ottmar, »und eine sprachliche Energie, welche aller Anerkennung wert. Aber es scheint, daß die Erzeugnisse modernster Poesie dazu verdammt seien, nirgends reine Befriedigung zu gewähren. Am Ende hat jener Kritiker doch recht, welcher in allen diesen Sachen ein Haar gefunden haben wollte. Sehen Sie sich die Prachtpassage, welche Sie, Herr Baron, so gut vorgetragen, nur einmal näher an. Sie werden mitten im Aufschwung das Plumpste Herabfallen bemerken. ›Zusammengehauen ganze Regimenter‹ – wie das lahmt! Ist das nicht der allerordinärste Wachtstubenknaster? Daran erkennt man die Dilettantenarbeit. Doch ich bin, wie ich fürchte, pedantisch geworden.«

»Ach ja, lieber Junge,« bemerkte der Grimme, »ich fürchte es auch. Was aber mir an unserer gegenwärtigen Literatur am fatalsten, das ist ihre flagrante Impotenz, Gestalten aus Fleisch und Blut und Knochen zu schaffen. 's ist lauter Marzipangemäche, und stellt mal mitunter ein Poet einen wirklichen lebensfähigen Charakter auf die Beine, so fallen alle die Marzipänler wütend über ihn her, denn, sagen sie, die Charakterwahrheit beleidige das Zartgefühl. Ganz auffallend ist der Mangel an schönen, naturwahren weiblichen Charakteren. Seit der blonden Lisbeth Immermanns ist kein Frauenzimmer mehr gedichtet worden, in welches sich zu verlieben es sich für einen ordentlichen Kerl der Mühe lohnte, Gott straf' mich!«

»Lieber Herr,« warf der Pfarrer ein, welcher neuestens den beiden Poeten die offenkundigste Abneigung bewies, aus Neid und Eifersucht, wie Wate behauptete, »lieber Herr, Sie vergessen unseres berühmten Freundes von dem Schmelz unsterbliche Chamoisina.«

»In Wahrheit, die vergaß ich, bitte tausendmal um Entschuldigung, mein teuerster Herr Walter. Ihre Heldin ist so über alles Lob erhaben, so ätherisch zart, übermenschlich schön und superlativest heilig, daß ich in Demut vor ihr das Knie beuge. Aber was einem doch für wunderliche Ideenassoziationen kommen! Da fällt mir jetzt ein, daß der Grabbe mal eine tollschöne Komödie geschrieben, in welcher ein durstiger Schulmeister, glaub' ich, die Kamilla aus Houwalds Bild für ein Glas Sirup ansieht und sie austrinkt. Selbiger Grabbe, der meiner Meinung nach keine Fratze, sondern ein Prachtkerl war, hat auch mal von 'nem süßen Frauenzimmer gesagt, dasselbe wäre so süß, daß es ordentlich vor Süßigkeit stänke! Ich sage, zum Teufel mit den Traganthfiguren! Verschluckt man eine aus Versehen, so grimmt sie einem höllisch im Bauche, das ist der Humor davon. Im übrigen, meine Herren, laßt die Flasche herumgehen! So wahr ein Reicher durch ein Nadelöhr und ein Kamel ins Himmelreich eingeht, schwöre ich, jeden zu Müll, zu Atomen zu zerreiben, welcher sich weigert, mir Bescheid zu tun auf den Trinkspruch: Es leben die Frauen im allgemeinen!«

Der Toast wurde getrunken.

»Die Frauen im besonderen!« rief der Freiherr.

»Sie leben hoch!«

»Im besondersten!« rief Don Rodrigo. »Hoch! hoch!«

»Die Dame über dem Wasser!« rief Herr Walter, seinem Dichterantlitz den Ausdruck einer unbeschreiblich feinen Beziehung gebend.

Alle stimmten ein und tranken, nur der Pfarrer nicht.

»Was soll das heißen, Herr?« fragte ihn der ins Feuer geratene Herr Walter.

»Bitte um Entschuldigung,« versetzte der Seelenhirt. »Ich wollte durchaus nicht beleidigen, aber ich muß vor allen Dingen wissen, wem der Toast eigentlich gelten soll.«

»Welche Frage! Wer kann daran zweifeln?«

»Ich, verzeihen Sie. Es sind zwei Damen jenseits des Flusses.«

»Was zum Teufel fällt Ihnen ein, Ehrwürdiger?« schrie Wate.

»Bitte, beruhigen Sie sich, Herr Doktor,« entgegnete der fromme Jeremias kalt. »Ich habe es gar nicht mit Ihnen, sondern mit unserem verehrten Herrn Walter zu tun.«

»Allerdings,« sagte der Poet unwillig.

»Ich will mich Ihnen sogleich erklären,« fuhr der Pfarrer fort. »Haben Sie mir nicht vor einigen Tagen gesagt, die im Schlosse drüben weilende junge Indianerin, die Tochter Milimachs, sei ein bezauberndes Wesen? Und weiter, Sie seien entschlossen, das braune Ding zur Heldin einer großen Dichtung zu machen? Haben Sie nicht beigefügt, Estrella solle Ihrer Chamoisina würdig zur Seite stehen?«

»Es ist wahr, ich sagte so etwas,« erwiderte Herr Walter ziemlich verlegen. »Mein teurer und berühmter Freund Don Rodrigo hatte mir anvertraut, daß er das reizende Kind, welches auch ihn, gleich mir, interessiert, wie uns die Farbenpracht einer exotischen Blume ergötzt, zum Gegenstand eines Kranzes von Kanzonen und Sonetten auserkoren, welcher ohne Zweifel Deutschland entzücken wird. Dies reizte meinen dichterischen Wetteifer.«

»Bravo!« rief Wate, über diese Episode seelenvergnügt. »O, wie freue ich mich auf Chamoisina Nr. 2, betitelt Estrella. Und auch auf den in Aussicht stehenden Kanzonen- und Sonettenkranz freue ich mich unbändig. Dichten Sie zu, meine edlen Freunde, dichten Sie zu, was das Zeug hält! Welcher Gewinn für die gebildeten Stände deutscher Nation, wenn zwei christlich-germanische Dichterfackeln erster Größe die braune Heidin, die ehr- und tugendsame Jungfrau aus Atlantis, die exotische Blume aus Sonora einem verehrten Publiko in romantischer Beleuchtung vorführen. In Aussicht darauf laßt die Flasche herumgehen und laßt uns eins singen! Wollen Sie uns mit einem Liede erfreuen, Ehrwürdiger? wie der lustige Reporter von der Galerie des englischen Parlaments herab zu dem Sprecher sagte.«

»Ich, Herr? Sind Sie toll oder wenigstens in dem Zustande jenes Reporters?«

»Sie wollen nicht? Wohlan, so will ich Ihr Amt vertreten und den ›Vater Noah‹ anstimmen. Paßt auf und singt den Rundreim kräftig mit!«

3. Und hast du in der Liebe Glück,
So rat' ich: schweig fein still!

Ein verworrenes Geräusch von Stimmen drang unserem Freunde Ottmar durch die Türe des Saales entgegen, als er nach Verlauf einer Stunde wieder die Treppe heraufkam. Er hatte sich fortgestohlen, um einen Gang durch den Park zu machen, weil er, studentischem Zechen schon seit Jahren entwöhnt, das Bedürfnis gefühlt, sich in der freien Luft den Kopf zu kühlen.

Er blieb einen Augenblick vor der Türe stehen. Da drinnen ging es lebhaft, laut, fast hitzig zu.

»Seltsam,« dachte er, »was hat denn der Jeremias? Sollte der Rheinwein dem frommen Mann einen Spuk spielen?«

Wirklich war es die Stimme des Pfarrers, welche jetzt drinnen gehobenen Tones sagte:

»Nein, Herr Baron, ich glaube es nicht.«

Darauf hörte man den Freiherrn heftig ausrufen:

»Wie, Sie unterstehen sich, an meinem Wort, an dem Wort eines Kavaliers zu zweifeln? Auf meine Ehre, Ihr schwarzer Rock soll Sie nicht vor den Folgen einer solchen Unverschämtheit schützen!«

»Da scheint Unrat um den Weg zu sein,« sagte sich Ottmar, indem er die Türe öffnete und eintrat.

Er fand die Gesellschaft vom Tische aufgestanden und offenbar in sehr erregter Stimmung. Wenigstens das Gesicht des Freiherrn glühte von Wein und Zorn, und seine beiden poetischen Gäste schienen sich in jenem Stadium bacchischer Aufregung zu befinden, wo diese bereits in eine unbeholfene Abspannung überzugehen im Begriff ist. Offenbar hatte man des Guten zu viel getan. Der fromme Jeremias schien indessen völlig ruhig und gefaßt und stand fest und sogar nicht ohne Würde dem Freiherrn gegenüber, welcher, beide Hände auf eine Stuhllehne gestützt, den Pfarrer mit drohenden Blicken maß. Wate lehnte an dem Kamingesims, die Szene mit einer Art mephistophelischen Behagens betrachtend. Er war übrigens entschieden nüchtern, das heißt, sein »wissenschaftlich gebildeter« Magen vertrug den genossenen Wein ohne irgendwelche Benachteiligung seines Kopfes.

»Was gibt's denn da?« fragte Ottmar den Freund.

»Eine spaßhafte Geschichte,« erwiderte Wate leise, »oder, wenn du willst, eine dumme, eine herzlich dumme. Du kennst ja die Szene in Auerbachs Keller. Die Bestialität, mit Goethe zu sprechen, die Bestialität hat sich herrlich geoffenbart. Der Freiherr kann seinen Wein nicht führen, das ist die Sache.«

»Gut, daß Sie kommen, Herr Doktor Horst,« sagte der Freiherr. »Sie sind ja auch ein Anbeter meiner schönen Schwägerin und gehören demnach zum Ensemble des Stückes.«

»Ich bitte Sie, Herr Baron,« versetzte Ottmar, durch diese Unzartheit höchlich verletzt, »ich bitte Sie, was soll das heißen?«

»Was das heißen soll?« entgegnete der Freiherr. »Das will ich Ihnen sogleich sagen. Die Rede kam während Ihrer Abwesenheit auf meine Frau Schwägerin, und da warf Ihr Freund Wate die Äußerung hin, es sei doch recht wunderlich, daß wir, so wie wir da seien, durch die Bank Anbeter der schönen Frau, so kordial mitsammen kneipten. Das sei, meinte darauf Ihr Herr Bruder, gar nicht sehr wunderlich, denn keiner sei der Begünstigte, darum vertrügen wir uns so gut. Nun bin ich aber, müssen Sie wissen, ein Mann von Offenheit, und deshalb konnt' ich das nicht so hingehen lassen. Ich bin kein Geck – ein Schuft, wer sagen wollte, ich sei ein solcher! – und ja, nun, ich sagte Ihrem Herrn Bruder, daß er sich irre, denn die fragliche Dame hätte allerdings einen begünstigten Anbeter, und der sei kein anderer als ich.«

Der Freiherr brachte dieses mit einem Lächeln vor, welches hochmütig gewesen wäre, wenn es nicht so albern war. In Ottmars Fäusten zuckte der Gedanke, den Menschen zu Boden zu schlagen. Nur die Überraschung, womit die namenlose Gemeinheit ihn erfüllte, hinderte vielleicht diesen Gedanken, sofort zur Tat zu werden.

»Ihr Herr Bruder,« fuhr der Freiherr fort, »fand sich veranlaßt – durch aberwitzige Eifersucht, denke ich – mir zu widersprechen, und behauptete, daß er mir nicht glaube, ja, mir nicht glaube – mort de ma vie!«

»Ich weiß nicht, mein Herr,« sagte Ottmar, »welche Motive meinen Bruder zu seinem Unglauben bewogen; das aber weiß ich, daß auch ich Ihnen nicht glaube.«

»Wie, auch Sie? Das ist ja zum Totlachen!«

Und der Freiherr schlug ein hysterisches Gelächter auf.

»Nein,« wiederholte Ottmar voll Unwillen, »nein, ich glaube Ihnen nicht.«

»Darüber,« versetzte der Freiherr, augenscheinlich bemüht, sich ein stolzes Air zu geben, »darüber wollen wir nachher rechten. Zuvörderst ist etwas anderes zu tun. Ich bin angesichts dieser Herren von zwei Seiten der Prahlerei und Lüge bezichtigt worden. Ich muß beweisen, was ich sagte, und ich werde es.«

»Verschonen Sie uns mit Ihren Beweisen, Herr Baron,« sagte Ottmar. »Wollen Sie denn den Skandal zu einem unerhörten machen?«

»Ich will, was ich für gut finde – basta! Haben Sie mir etwa zu befehlen, Sie?«

»Laß doch,« flüsterte Wate dem Freunde zu, welcher sich zu einer heftigen Entgegnung anschickte. »Weißt du denn nicht, daß es Torheit ist, einen halb oder ganz Berauschten, welcher noch Herr seiner Gliedmaßen ist, von seinem Vorhaben abbringen zu wollen? Der Skandal kann doch nicht größer werden, als er schon ist, und jedenfalls dürfte es für dich, der du neulich vom Söller der Goldforelle so ekstatisch in die Nacht hineindeklamiertest, nur heilsam sein, über unsere Tochter der Luft einmal ins klare zu kommen.«

»Aber, Wate, es geht mir ganz gegen den Mann, eine solche Profanation –«

»Bah, bah, lieber Junge. Die Welt ist ein großes Narrenhaus. Glaubst du dadurch, daß du den Tugendhelden spielst, die Narren verhindern zu können, daß sie närrisch tun? Laß den Baron machen, sag' ich. Bin verdammt neugierig, wie er sich herausbeißen wird.«

Neugierig war nun aber Ottmar doch auch ein wenig, und so sah er kaum weniger gespannt als die andern dem Beginnen des Freiherrn zu.

Dieser holte aus einem Wandschrank einen in Leder gebundenen Quartband, eine eiserne Stange, an deren Ende eine Rolle angebracht war, über welche ein dünnes Tau lief, und endlich einen kleinen Tubus. Das Buch legt er auf einen Pfeilertisch nahe bei der auf den Balkon führenden Fenstertüre. Auch der Tubus wurde auf diesen Tisch gesetzt. Mit der eisernen Stange trat er durch die offenstehende Türe auf den Balkon hinaus und befestigte die Stange vermittelst einer dort angebrachten Vorrichtung an das Geländer, so daß sie aufrecht stand.

Zurückkehrend nahm er aus dem Schranke noch ein kleines Kistchen, stellte es auf den Tisch, schloß es auf und nahm ein Dutzend und mehr flaggenartig zugeschnittener Stücke Tuch von verschiedenen Farben heraus.

Er tat das alles mit der angespannten, hartnäckigen Gravität, wie sie Leuten seines Zustandes eigen zu sein pflegt.

»Sie sehen hier, meine Herren,« sagte er, »den Apparat, womit ich alle Zweifel an meiner Wahrhaftigkeit zu Boden schlagen werde. Um es aber zu können, muß ich mich vor allen Dingen versichern, ob die Dame über dem Wasser zu Hause ist.«

Er nahm eine rote Flagge vom Tisch, trat auf den Balkon, befestigte das Tuch an dem Tau, zog es ans Ende der eisernen Stange hinauf, und sogleich flatterte es lustig im Winde.

Nach Verfluß von einigen Minuten kam er wieder herein und sagte:

»Wir müssen uns ein klein wenig gedulden. Wollen Sie nicht Ihre Gläser neu füllen, meine Herren? Ich darf sagen, dieser Cliquot ist süperb.«

Es hatte niemand Lust, seiner Aufforderung zu folgen, was ihn selber jedoch nicht abhielt, ein großes Glas von dem anempfohlenen Wein hinunterzustürzen.

Eine drückende Stille herrschte im Saal.

»Das wird unheimlich,« sagte Don Rodrigo leise zu Herrn Walter. »Was sagen Sie dazu?«

»Ich – ich,« entgegnete der von dem Schmelz, »ich weiß in Wahrheit nichts zu – zu sagen.«

Nach einer peinlichen Pause trat der Freiherr zu dem Tubus und richtete ihn so, daß man damit durch die Türe die Avenue zu dem Fluß hinab und hinüber nach Bernwartshall sehen konnte.

Er ging dabei mit so abgemessenen Bewegungen zu Werke, daß sie hätten Heiterkeit erregen müssen, wenn die ganze Situation dem nicht widerstrebt hätte. Nur in Wate war der Humorist stark genug, daß es ihn Mühe kostete, über die Anstrengungen des Barons, einen nüchternen Ernst zu manifestieren, das Lachen zu verbeißen.

Nachdem der Freiherr durch den Tubus gesehen, nickte er befriedigt und sagte:

»Ungläubiger Herr Pfarrer, erweisen Sie mir den Gefallen, durch das Instrument hier zu schauen. Was sehen Sie?«, »Die Terrasse von Bernwartshall,« erwiderte Jeremias.

»Sonst nichts?«

»Doch. Dort auf der Signalstange auf der Flußböschung flattert eine rote Flagge.«

»Gut. Die Dame ist zu Hause.«

»Jetzt, meine Herren,« fuhr der Baron fort, »einen Augenblick Aufmerksamkeit. Wenn Sie den Quartband da aufschlagen, so sehen Sie kleine Tuchstückchen auf den Blättern angeklebt, wie in einem Musterbuch. Es ist auch sozusagen ein Musterbuch, man kann sich allerliebste Sachen daraus wählen, versichere Ihnen auf Ehre. Ich habe dieses Buch ausgearbeitet, gemeinschaftlich mit der Dame meines Herzens, welche ein zweites Exemplar besitzt. Es enthält gar keine üble Poesie, dieses Buch, und noch obendrein tatsächliche. Jede dieser bunten Farben hat eine hübsche Bedeutung, welche Sie unter jedem der Tuchläppchen in deutlicher Schrift geschrieben finden. Es wäre Ihnen jedoch zu viel zugemutet, das ganze Buch durchzustudieren. Ich werde Sie auf die entscheidenden Stellen aufmerksam machen. – So, jetzt will ich meine Operationen beginnen, aber ich muß Sie alle bitten, sich durchaus so zu halten, daß keiner von Ihnen allfällig durch die offene Türe wahrgenommen werden kann, nicht der Schatten von einem von Ihnen. Diese Bitte wird Ihnen einleuchten, wenn ich beifüge, daß da drüben auch ein Tubus sofort in Tätigkeit sein wird.«

So sprechend nahm er aus dem Schranke noch ein Taschenperspektiv, leerte das Flaggenkistchen, faßte die bunten Tücher in ein Bündel zusammen und kehrte damit auf den Balkon zurück.

Der Pfarrer hatte sein Auge fortwährend fest an dem Teleskop.

»Was sehen Sie?« fragte ihn Wate. »Auf der Terrasse bewegt sich eine weibliche Gestalt hin und her. Jetzt steht sie neben dem Flaggenstock.«

»Die Gräfin?«

»Ich kann ihre Gesichtszüge nicht deutlich unterscheiden. Warten Sie! Jetzt – ich glaube, sie ist es.«

Inzwischen hantierte draußen der Freiherr mit seinen Signalflaggen. Bald ließ er diese, bald jene, bald zwei oder drei zugleich an der eisernen Stange vermittelst der Zugschnur emporsteigen, worauf er mit seinem Perspektiv nach Bernwartshall hinübersah und die Signale wieder wechselte.

Ottmar hatte den Quartband, welcher den Schlüssel zu dieser Telegraphie enthielt, mechanisch zur Hand genommen, dachte aber nicht daran, von den Erklärungen Notiz zu nehmen.

»Was sehen Sie jetzt?« fragte Wate den Pfarrer.

»Die Dame auf der Terrasse beantwortet die Signale unseres Wirtes.«

»Meine Herren,« sprach der Freiherr von draußen herein, »jetzt passen Sie auf. Ich ziehe hier zwei Flaggen auf, eine grüne und eine blaue; die letztere steht über der ersteren. Suchen Sie im Buch, Seite sechs, wenn ich nicht irre, und Sie finden dort die Bedeutung des Signals.«

Wate nahm seinem Freunde das Buch aus der Hand, suchte nach und rief aus:

»Richtig, da haben wir das Signal: Hellblau über Hellgrün, und darunter steht: ›Ich muß dich heute noch sehen.‹«

»Gut. Schauen Sie durch den Tubus,« sagte der Freiherr.

»Das Signal ist drüben offenbar verstanden,« bemerkte der Pfarrer. »Eine gelbe und darunter eine weiße Flagge steigt am jenseitigen Flaggenstock empor.« »Die Erklärung dazu muß sich auf der nämlichen Seite vorfinden,« sagte der Freiherr.

»Ja, es ist so,« versetzte Wate. »Gelb über Weiß, und darunter steht: ›Ich erwarte dich.‹«

»Weiter, meine Herren,« fuhr der Freiherr fort, indem er die Signale wechselte, eine schwarze, gelbe und rote Flagge über dem Balkon flattern ließ und zur Türe hereinsprach: »Suchen Sie auf Pagina zwölf.«

»Da haben wir's,« sagte Wate. »Oben Schwarz, in der Mitte Gelb, unten Rot: ›Um Mitternacht, wann alles träumt.‹«

In fast fieberhafter Aufregung fragte Ottmar den Bruder:

»Nun, was siehst du drüben?«

»Nur sachte, lieber Ottmar. Die Dame hat erst das vorhergehende Signal zu beseitigen. – Jetzt zieht sie andere Flaggen auf – sie entfalten sich – Blau, Rot, Grün.«

»Das Signalbuch ist prächtig eingerichtet,« sagte Wate. »Da ist's: Oben Blau, mitten Rot, unten Grün: ›Da harrt die Lieb' der Liebe.‹ Die Antwort klappt famos, Gott straf' mich!«

Ottmar riß dem Freunde das Buch aus der Hand, warf einen Blick auf die Stelle, welche Wate gelesen, und machte eine Bewegung, als wollte er den unseligen Quartband durch die offenstehende Türe dem rücksichtslosen Profanierer draußen an den Kopf schleudern.

Aber er hielt noch an sich.

Ihm wurde so öde, so kalt ums Herz und dann wieder so heiß, so grimmig. Es klang ihm in die Ohren wie das Gekicher eines schadenfrohen Dämons: »Einen Liebhaber hab' ich!« Hatte das nicht Eva in jener Taumelstunde zu ihm gesagt? Er hätte mögen in diesem Augenblick die Welt anspeien. Längst zwar war jener Rausch, in welchen der Willitanz der Tochter der Luft im Mondlichtstrahl ihn versetzt hatte, verflogen. Er hatte seither Zeit gehabt, sein Herz streng zu prüfen, und es hatte ihm die Antwort gegeben, daß eine tiefe und edle Neigung eine reinere Quelle haben müsse als den Strudel sinnlicher Aufwallung. Er wußte, daß Eva in seiner Seele nicht jene heilige Flamme angefacht, die kräftig und nachhaltig genug ist, ein ganzes langes Menschenleben zu erleuchten und zu erwärmen. Aber ein Götterbild voll unendlichen Zaubers der Schönheit von zynisch gemeiner Hand in den Kot zerren zu sehen, das regte in ihm alle Gewalt sittlicher Entrüstung auf, das durfte er nicht ungestraft geschehen lassen, wenn er nicht der Achtung vor sich selbst verlustig gehen wollte. Und seinem Zorn mischte sich auch ein Gefühl von Stolz bei. Ja, er fühlte, einer Gemeinheit, wie er sie soeben vor seinen Augen sich hatte entwickeln sehen, würde er, der Plebejer, niemals fähig gewesen sein, nun und nimmer!

Der Pfarrer richtete sich von dem Teleskop auf und blickte mit einem seltsamen Lächeln im Kreise umher. Vielleicht wollte er den anderen damit sagen: »Ich bin nicht der allein Gefoppte.« Seine Gebärde fand indessen keine Beachtung: die Herren waren zu sehr verblüfft. Den beiden Poeten wollte die Poesie dieser Liebessignalsprache augenscheinlich nicht recht einleuchten: es ließ sich aus einer derartigen Telegraphie doch wohl kaum die Inspiration zu einem Minnelied oder zu einer Romanze schöpfen. Selbst Wate fand sich außerstande, die Sache humoristisch zu nehmen: sie war doch gar zu gemein.

Der Freiherr kam jetzt herein, warf den Apparat, dessen er sich zu seiner Beweisführung bedient hatte, auf den Tisch und sagte triumphierend: »Nun, meine Herren, was sagen Sie jetzt? Bin ich ein Aufschneider, ein Lügner?«

Wate sah in den Augen seines Freundes etwas Bedrohliches aufblitzen und näherte sich ihm daher, um irgend einem Ausbruch zuvorzukommen.

Allein Ottmar schob den Freund unsanft beiseite, trat auf den Freiherrn zu, gab ihm einen Schlag auf die Schulter und sagte laut und nachdrücklich:

»Kein Lügner, aber ein Niederträchtiger sind Sie!«

Der Freiherr stand wie vom Donner gerührt.

Die Sprache hat Worte, welche je nach Beschaffenheit der Umstände Öl für die Flamme oder aber kaltes Wasser für das glühende Eisen sind.

Ottmar hatte so ein Wort gesprochen. Es wirkte wie ein Duschebad auf das erhitzte Gehirn des Freiherrn.

Er trat einen Schritt zurück und wurde leichenblaß. Dann stieg ihm das Blut wieder so plötzlich ins Gesicht, als wollte es seine Gefäße sprengen. Er schüttelte sich, und mit einer gewaltsamen Anstrengung gelang es ihm, Herr über sich zu werden. Der Rausch des Leichtsinns, des Übermutes, des Weines war verflogen. Er gestand sich nicht, daß er schnöden Verrat geübt, eine ungeheuere Gemeinheit begangen hätte, wohl aber fühlte er, daß er eine tödliche Beleidigung empfangen, daß ihm ein Schimpf zugefügt worden, den nur Blut wegwaschen könnte.

Wate sagte seinem Freunde später, er hätte einen Augenblick geglaubt, der Freiherr würde wie ein wütendes Raubtier auf Ottmar einspringen, so furchtbar hätten seine Züge sich verzerrt.

Aber es geschah nichts derartiges.

Nicht der Mensch, aber der Kavalier war in Adalbert erwacht. »Sie haben mich einen Niederträchtigen genannt, in meinem eigenen Hause, Herr Horst,« sagte er.

»Es bedarf darüber keiner weiteren Erklärungen, Herr Baron,« fiel ihm Ottmar ins Wort. »Ich bedauere, daß ich, was ich tat, unter Ihrem eigenen Dache tun mußte; aber, wo es auch sei, ich wiederhole es: Sie sind ein Niederträchtiger!«

»Gut,« versetzte der Freiherr.

Und er ging zur Türe, nahm den Schlüssel herein, schloß von innen und steckte den Schlüssel in die Tasche, Dann schloß er auch die Balkontüre und sagte:

»Sie werden mir Satisfaktion geben, Herr Horst, und zwar auf der Stelle!«

»Auf der Stelle, Herr Baron.«

»Lieber Bruder –«

»Ottmar –«

»Meine Herren –«

Der Pfarrer, Wate und Don Rodrigo wollten so zu gleicher Zeit das Wort nehmen.

»Meine Herren,« sagte der Baron kalt, »sparen Sie Ihre Worte. Keiner von Ihnen, die Sie alle die mir widerfahrene blutige Beschimpfung mitangehört, verläßt diesen Saal, bis mir Genugtuung geworden. Wer sich aber zwischen meinen Gegner und mich stellen will, hat es mit mir zu tun. Ich bitte nur, haben Sie einen Augenblick Geduld.«

Er verschwand in ein Nebenzimmer und kehrte nach kurzer Weile aus demselben zurück, in jeder Hand ein zierlich aus Holz gefertigtes Kästchen tragend, deren eines lang und schmal, deren anderes kürzer und von länglicht viereckiger Form war. Beide setzte er auf den Tisch, wo noch die halbgeleerten Flaschen und Gläser des Gelages standen, das ein so unerwartetes Ende genommen. Während der kurzen Abwesenheit des Freiherrn führte Wate seinen Freund in eine Fensternische und sagte leise zu ihm:

»Die Sache wird ernst, lieber Junge. Ist dieser Baron auch ein Geck in Folio, so hat er doch, kentuckisch zu sprechen, mutiges Blut genug in den Adern, um ein Pferd schwimmen zu machen. Was für 'ne verdammte Ratte biß dich doch, daß du mit deiner romantisch ritterlichen Entrüstung herausplatzen mußtest! – Aber hör mal, du bist wohl an zehn Jährchen jünger als ich und ganz der Bursch, der noch etwas von der Narrenkomödie des Lebens zu erwarten berechtigt ist. Daher, weißt du was? Laß mich diesen Strauß für dich ausfechten. Ich habe ein famoses Mittel parat, die Kampflust dieses närrischen Liebestelegraphisten zuerst auf mich zu lenken.«

»Willst du mich beleidigen, Wate?« entgegnete Ottmar voll Unwillen.

»Ja, wenn du diese Narretei so hochtragisch nimmst, lieber Junge, dann ist Hopfen und Malz an dir verloren, Gott straf' mich! Tu mir aber wenigstens den Gefallen, dich bei dem bevorstehenden Tanz zu erinnern, daß du auf der Universität ein pompöser Schütze und Fechter gewesen bist. Spiele auch nicht etwa den Großmütigen! Der Baron hat es auf dein Leben abgesehen, Gott straf' mich!«

Der Freiherr hatte inzwischen die beiden Kästchen geöffnet und die Deckel zurückgeschlagen. Das eine enthielt ein Paar Pistolen von vorzüglicher Arbeit samt den dazu gehörigen Munitionskapseln, das andere zwei Stoßdegen mit damaszierten Klingen und prächtig ziselierten Stichblättern.

»Wählen Sie, mein Herr!« sagte Adalbert kurz, indem er auf die Stoß- und Schußwaffen deutete. »Ich überlasse Ihnen die Wahl, mein Herr,« versetzte Ottmar ebenso kurz angebunden.

»Nein, nein! Verlieren wir keine Zeit damit.«

»Mit Verlaub, Ihr Herren,« nahm Wate das Wort. »Das Pistol ist ein Ding, welches die Eigenschaft hat, unnötigen Lärm zu machen. Zudem sind hier zwei so prächtige Degen, daß einem ordentlich die Hand danach juckt, sie in Aktion zu setzen.«

»Also die Degen?« sagte der Freiherr mit einem fragenden Blick auf seinen Gegner.

»Mir einerlei.«

»Wohl, so nehmen wir die Degen.«

»Verehrter Freund, Herr Baron, und du, Ottmar,« sagte der Pfarrer mit würdigem Ernst, »ich darf diesen Frevel nicht sich vollenden lassen. Ich beschwöre Euch, wenn Ihr Christen, wenn Ihr Männer von Verstand und –«

»Bitte, Herr Pfarrer,« warf Adalbert mit verachtungsvollem Lächeln ein, »sparen Sie die Kraft Ihrer frommen Lunge. Sie könnten derselben benötigt sein, um einem von uns Gegnern die Leichenpredigt zu halten. Dann mögen Sie so viel Salbung entwickeln, als Ihnen beliebt. Vorerst aber brauchen wir weder Salbe noch Salbung.«

»Still, Jeremias!« sagte seinerseits Ottmar, als sich der fromme Herr noch speziell an ihn wenden wollte.

»Nun denn, wenn es doch sein muß,« bemerkte Wate, »mit was, um's Himmels willen, soll ich sekundieren? Und wer, Herr Baron, wird Ihr Sekundant sein, Don Rodrigo, Herr Walter oder der Wohlehrwürdige?«

»Bah,« erwiderte der Freiherr, »wir bedürfen all des Krimskrams nicht. Es ist das keine Studentenpaukerei. – Doch, warten Sie einen Augenblick,« setzte er hinzu, von einem plötzlichen Gedanken erfaßt. »Ich habe noch ein Geschäft abzumachen. – Wie gut sich das trifft, daß ein Jurist anwesend ist. Don Rodrigo, fragen Sie doch Herrn Horst, ob er die Güte haben wollte, mir für einige Minuten seine juristische Feder zu leihen.«

»Es bedarf der Umstände nicht,« sagte Ottmar; »ich bin bereit.«

»Gut. Nehmen Sie gefälligst Platz dort am Schreibtisch. Schreibmaterialien sind da, auch eine Kerze des Siegelns wegen, glaub' ich. – Ja, richtig. – Ich will mein Testament diktieren. – Die vier andern Herren werden mir die Ehre erweisen, Zeugen zu sein. – Wollen Sie gefälligst die Testamentsformel entwerfen, mein Herr? Sie soll dahin lauten, daß ich auf den Fall meines Todes alle meine liegende und fahrende Habe einem Universalerben hinterlasse. Für den Namen desselben bitte ich einen Raum offen zu lassen.«

Ottmar schrieb und sagte dann:

»Ich bin fertig. Welchen Namen soll ich hinsetzen?«

»Eva Gräfin von Bernwartshall.«

Als er diesen Namen geschrieben, fühlte Ottmar das Bedürfnis, seinem Gegner ins Gesicht zu blicken, ob dort etwa ein Zug von Reue über das vorhergegangene schmähliche Benehmen des Barons zu lesen wäre. Aber er unterließ es.

Der Freiherr setzte Unterschrift und Siegel unter das improvisierte Dokument, auf dessen Außenseite die vier Zeugen ihre Namen zeichneten, worauf es der Freiherr in den Schreibtisch verschloß.

»So, das wäre abgemacht, und jetzt –«

»Entschuldigen Sie, Herr Baron,« fiel der Pfarrer ein. – »Lieber Ottmar, du siehst, der Herr Baron hat seinen Pflichten genügt; wäre es nicht ratsam, wenn auch du? – Es ist um Lebens und Sterbens willen – ich meine –«

»Ah, lieber Jeremias,« sagte Ottmar, »du meinst, die Erbschaft könnte dir entgehen? Sei ganz unbesorgt. Deine Kinder haben mich schon öfters im Bühl besucht, und es sind gute Kinder. Eines Testaments bedarf es nicht. Falls mir etwas Menschliches begegnet, so fällt dir und den Deinigen ohnehin zu, was ich habe. Mein Pferd aber und meine Bücher soll Wate haben, hörst du? Und den Trauring der seligen Mutter, den ich am Finger trage, die Tochter meines Wirtes Baldung. So – ich bin bereit.«

Wate, der seinen Freund sowohl als auch den Freiherrn kannte und demnach wußte, daß jeder Vermittlungsversuch übel angebracht sein würde, überreichte mit dem Anstand eines in solchen Verrichtungen Wohlbewanderten den beiden Gegnern die Degen, nachdem er mit kundiger Hand die Spitzen der Waffen befühlt, ihre Elastizität geprüft und ihre Länge verglichen hatte.

Die Kämpfer nahmen in der Mitte des Saales ihren Stand, die Waffen kreuzten sich, und mit welchen verschiedenen Gefühlen auch die Zeugen des Kampfes diesen betrachten mochten, bald nahmen die Wechselfälle desselben ihr Interesse ausschließlich in Anspruch.

Ottmar und Adalbert, beide waren gewandte Fechter, und beiden begegnete es nicht zum ersten Male, daß sie zu einem Kampf auf Leib und Leben antraten.

Vielleicht hatte sich in beiden auf der einen Seite die Entrüstung und auf der andern die Rachewut, welche diesen Gang veranlaßt hatten, schon etwas abgekühlt, aber das Zusammenklirren der Waffen weckte wie ein elektrischer Funke in beiden wieder das Feuer der Leidenschaft.

Sie fochten mit steigender Erbitterung, und die Klingen zuckten hin und her wie Schlangen, die an ihrem Feind eine Blöße erspähen, wo der tödliche Biß haften könnte.

Sie wechselten die Stellungen, drängten sich von der Mitte des Saales bis zur Balkontüre und wieder zurück, auf und ab, hinüber und herüber: es war ein grimmiges Ringen.

Plötzlich zog sich der Freiherr zurück und tat dann blitzschnell einen wütenden Ausfall. Aber Ottmar war auf seiner Hut, lenkte mit seiner Parade den heftigen Stoß beiseite, daß ihm nur der linke Oberarm gestreift wurde, und stieß energisch nach. Die Parade seines Gegners kam zu spät, er hatte seine Klinge noch nicht wieder völlig in seiner Gewalt – die Degenspitze Ottmars saß tief in der Brust Adalberts.

»Halt!« schrie Wate, dazwischenspringend.

Ottmar zog seine Waffe zurück, das Blut quoll nach, und der Freiherr brach, die Linke an die Brust führend, in der Rechten noch den Degen haltend, mit einem dumpfen Schrei zusammen.

Wates unerschütterliche Besonnenheit beherrschte den jetzt ausbrechenden Tumult.

Er faßte den Verwundeten in seine Arme, nahm ihm den Schlüssel zur Saaltüre aus der Tasche und warf denselben dem Pfarrer zu.

Don Rodrigo riß wie wahnsinnig an dem Glockenzug.

Die Diener stürzten herein und brachen beim Anblick ihres blutenden Herrn in wirre Ausrufungen der Überraschung und des Schreckens aus.

»Still, ihr Leute,« herrschte sie Wate an, »kein Geschnatter! Das Unglück ist nur die Folge eines dummen Zufalls, die Herren fochten zum Spaß. Still! Reite einer, was das Pferd laufen mag, in den Bühl hinüber und lasse sich von des Goldforellenwirts Aivli mein chirurgisches Besteck geben. Sie weiß, wo es liegt. Fort! Und nun faßt an – sachte, sachte! Wir müssen den Verwundeten auf sein Bett bringen. – Schafft frisches Wasser in das Schlafzimmer und Linnenzeug. – So, jetzt vorwärts, aber behutsam!«

Im Saal allein zurückgeblieben, verbrachte Ottmar eine peinliche Stunde. Die Aufregung des Duells wirkte noch genugsam nach, um ein Bedenken über das Unheil, welches er angerichtet, in dem jungen Manne nicht aufkommen zu lassen. Außerdem war der Stoff, aus welchem er gebildet war, nicht weich genug, als daß er seiner gerechten Entrüstung Reue über die Folgen derselben hätte folgen lassen. Im Gegenteil, er fühlte sich auch jetzt noch in seinem Recht. Dennoch, es galt ein Menschenleben, ein junges Menschenleben mit allen seinen Hoffnungen, mit allen seinen Ansprüchen auf eine lange und glückliche Zukunft, vielleicht hingeopfert, um eine in halber Unzurechnungsfähigkeit begangene Torheit zu sühnen.

Diese Vorstellung machte unserem Freunde denn doch unbehaglich genug.

Er wollte fortgehen, er hatte schon zweimal die Türklinke gefaßt, und doch ließ es ihn nicht weg, bevor er über den Zustand seines Gegners etwas Bestimmtes erfahren.

Endlich kam Wate, welcher fühlen mochte, daß er dem Freunde eine Nachricht zugehen lassen müsse.

»Ja, lieber Junge,« sagte der Grimme, Ottmar derb die Hand drückend, »der Spaß hat verdammt dumm geendigt. Ich fürchte, du hast's ihm zu tüchtig gegeben. Der Stoß sitzt zwar, soweit ich bis jetzt im klaren bin, nicht in der Lunge, aber jedenfalls hart daneben. Aber was konntest du machen? Er hat dir höllisch zugesetzt, Gott straf' mich! Er wurde ohnmächtig, ist aber jetzt wieder bei Sinnen. Solange das Atmen geht wie jetzt, hoffe ich auf Rettung. Ich habe den ersten Verband schon angelegt. Bis morgen früh, vielleicht schon früher, muß die Entscheidung da sein. Aber du mußt dich einstweilen drücken, Alterle, verstanden? Ich mußte einen Reitenden nach ***stadt hinaufschicken, um einen zweiten Arzt und diverse Arzneien zu holen. Der Bote wird plaudern, wer weiß was alles! Die Geschichte wird in der Stadt 'rumgehen wie ein Lauffeuer und der Oberamtmann und der Oberamtsrichter und alle die Ober-Ober und Unter-Unter werden ihre Nasen dreinstecken. Wer steht dafür, daß nicht sogleich so ein Schutzengel von Ruhe und Ordnung sich spornstreichs hierher auf den Weg macht? Du kennst die Gesetze, und auch die Festungsatmosphäre ist dir bekannt. Spielen wir also den Klugen, das heißt, gehe ein bißchen beiseite. Vorerst nur für die kommende Nacht, und da fällt mir was ein. Mach dich die Hintertreppe hinab, geh durch den Park und begib dich hinauf ins Bärenschlößli. Dort sucht dich niemand, Gott straf mich! Etwelche Langeweile mußt du dir schon gefallen lassen. Sobald ich abkommen kann, such' ich dich auf, um dir Weiteres mitzuteilen. Oder auch, ich sende dir Botschaft durch eine verläßliche Person, und falls es morgen hier so aussieht, daß ein Verschwinden vom Schauplatze deiner Tapferkeit für dich ratsam ist, so lotsen wir dich über die Grenze hinüber, über den Rhein.«

So seine Rede schließend, drängte Wate den Freund ohne weiteres zur Türe hinaus.

4. Nacht und Morgen.

Es gibt Stunden im Leben, in welchen der Mensch Jahre durchlebt, Stunden bitterer, weil rücksichtsloser Selbstprüfung, Stunden der Selbsterkenntnis, der Läuterung. Solche Stunden, wie wir sie meinen, schließen zuweilen ein Leben ab, indem sie es der unfruchtbaren Reue, der Gleichgültigkeit, dem Überdruß und Menschenhaß überliefern, zuweilen aber auch geben sie einer menschlichen Existenz einen neuen Schwung, einen wahrhaften Aufschwung. Wer, an Wendepunkten seines Daseins angelangt, den redlichen Willen und die ausreichende Kraft hat, sich auf sich selbst zu besinnen und die in seiner Brust durcheinandergewirrten Gefühle, Neigungen, Leidenschaften auf ihre Quellen zurückzuführen, mit anderen Worten, wer ehrlich und stark genug ist, die Falten seiner Seele auszuschütteln und auszulüften, die Welt seines Inneren sich gegenständlich, ihre allseitigen Beziehungen zur Außenwelt sich klarzumachen, nichts zu verschweigen und abzuleugnen, begangenen Fehlern kein Mäntelchen umzuhängen, getaner Arbeit, wackerer Leistungen selbstbewußt sich zu freuen, der hat das Zeug in sich zu einem neuen, zu einem glücklichen Leben, der darf, wie er der Vergangenheit mutig ins bleiche Antlitz sah, auch der Zukunft getrost entgegenblicken. Die Entscheidung über das alles, dumpfe Resignation oder neues frisches Wagen, Verzweiflung oder zukunftsfrohes Anfassen der Handhaben des Lebens, drängen sich in solche Stunden einsamer Betrachtung zusammen. Wer sie beachtet, wer sie auf sich wirken läßt, für den werden sie auch sicher entscheidend.

Für Ottmar Horst wurde die Nacht, die er einsam in der Ruine des Bärenschlößchens zubrachte, so ein Wendepunkt seines Daseins. Es waren die entscheidendsten Stunden seines Lebens, diese Stunden einer lauen Sommernacht.

Er hatte die Türe der Sakristei geöffnet gefunden, wahrscheinlich noch von jener Mondscheinstunde her, wo der Willitanz so sinnbetörend auf ihn gewirkt. Er saß wieder auf dem morschen Stuhl, welchem der zur Seite stand, der damals die leichte Last Evas getragen. Er glaubte den tiefen Wohlklang der Stimme des wunderbaren Weibes noch an der Wölbung der Decke haften zu hören. Er ließ die seltsame Geschichte, die sie ihm erzählt, wieder an seiner Seele vorübergehen; es war etwas darin wie Poesie, ein Hauch von Calderonscher Romantik. Und doch, wie verschieden war der jetzige Eindruck von dem damaligen! Die Geschichte erregte noch jetzt seine Teilnahme, aber die Erzählerin? Zwischen ihr und ihm, fühlte er, hatte sich ein Abgrund aufgetan, auf dessen Boden ein trüber Strom floß, gemischt aus Torheit, Unglück, Leichtsinn und – Blut. Durfte er um dieses Weibes willen den Stahl auf die Brust eines Mannes zücken, welcher ihm kein Leid angetan? Am Ende hatte es sich doch nicht der Mühe gelohnt, um der weinlaunigen Tollheit eines Gecken willen so viel sittliche Entrüstung aufzubieten. Ottmar half sich nicht mit Sophismen über diesen Skrupel hinweg, nein, er fühlte tief und ganz seine Berechtigung, den Bruch des Sittengesetzes, und wäre dieser Bruch in dem gegebenen Falle auch nur in der Form eines Bruches der Konvenienz aufgetreten, entschlossen gerächt zu haben. Die Hingabe einer Frau zum Gegenstand trunkenen Scherzes zu machen, ihre Schwäche und damit zugleich auch ihre Ehre wie einen lumpigen Gegenstand der Neugier bei einem Trinkgelage von Hand zu Hand gehen zu lassen, eine derartige Nichtswürdigkeit mußte ihre Strafe erhalten. Ottmar dachte groß von den Frauen; stets hatte sich das edle Bild einer unvergeßlichen Mutter zwischen ihren Sohn und jene leichtfertigen Vorstellungen vom Weibe gestellt, wie sie in der jungen Männerwelt unserer Tage leider nur allzu gäng und gäbe sind.

Aber Ottmar fühlte auch, daß das Vertrauen, welches ihm die Gräfin bezeigt, mit dem Degenstoß, welchen er auf ihren Beschimpfer geführt, vollauf bezahlt sei. Fortan konnte ihm mit dieser Frau nichts mehr gemeinsam sein. Sein Herz und sein Verstand hatten seine Phantasie überwunden; seine Seele war frei von dem Zauber, womit die Tochter der Luft ihn bestrickt.

So schnell und entschieden diesen Zauber zu brechen, hatte es allerdings einer traurigen Katastrophe bedurft, vorbereitet jedoch war die Lösung schon seit vielen Tagen gewesen.

Ottmar war eine in ihrem innersten Wesen solide Natur, und die jugendlich törichte Schwärmerei, welche das Verhältnis des Mannes zum Weibe nur als einen Rausch der Leidenschaft und des Entzückens aufzufassen vermag, lag weit hinter ihm. Nicht weniger die Werthersche Sentimentalität, welche träumt, der Inhalt eines ganzen Menschenlebens solle und müsse in romantischer Liebesdüftelei aufgehen. Aber bei alledem war sein Herz frisch und jung und rein genug geblieben, um zu fühlen, daß es ein unermeßlicher Segen wäre, das Dasein in Gemeinschaft mit einer trefflichen Frau zu verbringen, sie beglückend durch sie beglückt zu werden.

Diese Überzeugung war in letzter Zeit still und mächtig gewachsen in dem Verkehr mit der Tochter seines Wirtes. Das Bild dieser Eva stieg jetzt um so deutlicher, reiner, schöner in seiner Seele auf, je blasser das der anderen in den Hintergrund schwand. Wie war das Mädchen lieb und gut, wie brav in allem! Wie wußte sie alles, was sie angriff, in ihrer rastlosen und doch stillen, von allem Geräusch, aller Prätension weit entfernten Sorglichkeit mit der unbewußten und anspruchslosen Anmut eines in sich wahren und sicheren Wesens zu tun! Wenn Ottmar jetzt in der nächtlichen Stille und Einsamkeit daran dachte, wie er das schöne Kind in Haus und Feld hatte walten sehen, mußte er der Verse eines Dichters denken, dessen Werke voll der innigsten Huldigungen sind, welche je ein Dichter dem Weibe dargebracht, der Verse Schefers:

Des Lebens Müh' ist ihr ein froh Geschäft;
Mehr als die reichste Königstochter ist sie
Am seligsten begabt mit Fleiß und Arbeit,
Am reichsten ausgestattet mit der Sorge!
Nicht eine auferlegte Pflicht, kein Dienst
Ist ihr des Lebens schweres Tagewerk –
Des Weibes mutig-unermüdet Wirken
Ist ganz ihr eignes, freies, göttlich Wesen,
Wenn irgend etwas göttlich ist im All.

Aber hatte er dem Aivli wirklich Neigung eingeflößt? Ottmar quälte sich mit der Erörterung dieser Frage redlich ab. Er gedachte der Anspielungen Wates, der Äußerungen des alten Brosi, der züchtigen und doch unverkennbaren Symptome, welche in dem Benehmen des Mädchens selbst lagen. Er gedachte alles dessen, und doch meinte er, es wäre Eitelkeit und Übermut von seiner Seite, daraus einen bestimmten Schluß ziehen zu wollen. Aber das stand fest in ihm, daß er sich Mühe geben wolle, die Achtung, die Zuneigung der Tochter Baldungs zu erwerben. Ihm war, als erkenne er jetzt erst den Wert dieser in den heimatlichen Bergen aufgeblühten Bergwaldblume, die keusche Frische ihrer Farben, den süßen Duft ihrer Seele. Sein Herz sehnte sich zu ihr.

Aber wie sollte es dann werden? Angenommen, die Liebe des Mädchens wäre ihm gewiß, wie sollte sich sein und ihr Leben gestalten, um ein ersprießliches zu sein? Aivli war dazu geboren und erzogen, auf dem Lande zu leben. Ihr ganzes Wesen war mit dem Landleben aufs innigste verwachsen, konnte sich nur auf heimatlichem Boden zur Fülle seiner Schönheit entfalten, mußte im Schatten der Stadtmauern verkümmern.

Das verhehlte sich Ottmar nicht.

Wenn jedoch ein guter Mensch redlich etwas Rechtes will, so sprudeln ihm aus der Tiefe seines Willens auch die rechten Hilfsquellen. Sobald unser Freund zu der Überzeugung gekommen, daß ihm an der Seite des Aivli ein neues Leben aufgehen würde, war er auch bereit, resolut in dasselbe hineinzuschreiten.

Der Ausgang der politischen Bewegung, an welcher er sich beteiligt, die ganze Gestalt, welche darauf die Dinge in Europa angenommen, hatten ihn zu der Einsicht geführt, daß die Zeit, in welcher von gewaltsamen Umwälzungen Heil für die Gesellschaft zu erwarten war, vorüber sei. Frankreich, nach seiner dritten Revolution, lieferte zur revolutionären Doktrin die abschreckenden Beispiele. Ottmar hatte, wie viele seiner Gesinnungs- und Schicksalsgenossen, erkannt, daß nur jene unermeßliche, rastlose, unmerkliche und unaufhaltsame Umgestaltung, welche im Gebiete der Ideen und der Wissenschaft wie der Industrie, des Verkehrs und der Staatswirtschaft vor sich gehe, die wahre Revolution in sich enthalte, eine Revolution, deren endlicher Sieg keinem Zweifel unterliegt. Er hatte einsehen gelernt, daß die Geschichte sich keine Sprünge diktieren lasse, und daß sie, zu Vorsprüngen gezwungen, sich für diesen Zwang durch Rücksprünge entschädige. Das mußte ihn um so mehr lehren, sich zu bescheiden, als er von der Großmannssucht unserer Tage unberührt war. Der Sturm und Drang seines Herzens hatte sich gesänftigt. Nicht etwa daß ihm, wie so vielen seiner Zeit- und Altersgenossen, die Begeisterung für das Ideal, für Freiheit und Recht, für das Vaterland, für alles Schöne und Große abhanden gekommen wäre, keineswegs, wohl aber gestand er sich, daß die Weltgeschichte ihre Vorschritte nicht nach Menschenaltern, sondern nach Jahrhunderten und Jahrtausenden bemesse.

Er hatte in der Hauptstadt seine Advokatur wieder aufgenommen, aber aus dieser Beschäftigung keine Befriedigung geschöpft. Das alles hing doch gar zu genau mit den Zuständen zusammen, um deren Bekämpfung willen er so viel gelitten hatte, und überdies war er keine advokatische Natur. So hatte er denn auch nicht ohne einiges Widerstreben dem Ruf des Grafen, dessen Prozeß zu führen, entsprochen. Aber der Schauplatz der lange hingeschleppten Streitsache war anlockend genug gewesen, ihn zu bestimmen. Er hatte eifrigst in der Sache gearbeitet, allein das Beste war doch nur durch einen glücklichen Zufall, durch jenes Gespräch mit dem alten Brosi getan worden. Der Brosi hatte auch wirklich nicht zu viel gesagt und versprochen. Unter seiner Anleitung und mit seiner Beihilfe war es Ottmar geglückt, die verlorenen Grenzsteine unter dem Wasser des Bärenbaches aufzufinden. Er hatte der Laune nachgegeben, die ganze Angelegenheit im geheimen zu betreiben, und nicht nur der alte Brosi, sondern auch die Gerichtsbeamten aus *****stadt, deren er zur Aufnahme eines rechtsgültigen Protokolls an Ort und Stelle bedurfte, hatte seinem Wunsche entsprochen, die wichtige Findung einstweilen zu verschweigen. Er war so verfahren, weil er, wenn der Prozeß, wie zu erwarten er jetzt berechtigt war, gewonnen würde, der Gräfin eine Überraschung hatte bereiten wollen. Erst gestern war er mit dem Ordnen sämtlicher Akten zustande gekommen, und er hatte beabsichtigt, nächster Tage nach der Hauptstadt zu gehen, um die Sache persönlich beim Obertribunal zu betreiben. Es mußte ihm höchst verdrießlich sein, wenn die unglückliche Duellgeschichte sein Vorhaben zunichte machen sollte, denn er hatte seine Ehre darein gesetzt, diese Angelegenheit zu einem glücklichen Ende zu führen.

Und dann? Ja, dann wollte er der Juristerei Valet sagen und mit ihr überhaupt einem Leben voll unerquicklichen Treibens, einem Leben in geschraubten, naturlosen Verhältnissen, welche nur zu sehr geeignet sind, einen Mann von starkem Gefühl und nicht alltäglichen Ansichten und Überzeugungen zu faustischem Weltekel hinzutreiben und Ruinen in seiner Brust aufzuhäufen, um die sich notwendig die seelentötende Schmarotzerpflanze der Blasiertheit winden muß. Er wollte ein Landmann werden.

Dieser Entschluß war eine Frucht des Nachdenkens, welchem Ottmar in dieser Nacht sich hingab, und er war der Mann dazu, denselben auszuführen.

Der Übergang, welchen er im Sinne trug, war auch kein solcher Saltomortale, wie es den Anschein haben könnte. Ottmar war ein Landkind. Das Paradies der Kindheit, auf welches jeder Mensch, der nicht schon von Geburt an ganz unglücklich gewesen, sehnsüchtige Rückblicke wirft, war für ihn ein ländliches Pfarrhaus gewesen. In Genügsamkeit und ländlich einfacher Sitte war er erzogen worden. Er kannte das Volk und liebte es. Der Schiffbruch seiner politischen Hoffnungen hatte ihn nicht auf der Sandbank der Volksverachtung sitzen lassen. Er wußte, daß der Saft, welcher im Volke zirkuliert, doch immer neue Sprossen treibt, neue Blüten ansetzt, neue Früchte zeitigt trotz alledem und alledem. Er hatte sich in Jugendjahren zu seiner Lust in ländlichen Geschäften geübt. Zu diesen, zu der Gesundheit des Landlebens zurückkehren, hieß für ihn zur Unmittelbarkeit eines naturgemäßen Daseins zurückkehren. Es war für ihn kein Sprung ins Blaue, ins Ungewisse, ins Unbekannte hinein; es war nur eine Rückkehr, die Rückkehr in ein Idyll, welches Raum genug zur Betätigung seiner Kräfte, zu verständigem Wollen, ersprießlichem Schaffen bot. Wie leicht, wie froh, wie gesund hatte er sich gefühlt, während er an der Seite des Aivli den Heuet mitmachte! Freilich, das Aivli, ja, das gehörte zum Idyll seiner Zukunft, fest, untrennbar.

Die verfallene Kapelle durchschreitend, hatte er unter solchen Gedanken die Mitternacht herangewacht. Er fühlte sich zuletzt so wunderbar beruhigt und befriedigt, die Spannung seiner Seele war so ganz gelöst, daß er, auf den alten Tisch in der Sakristei sich hinstreckend, den Schlaf nicht zu suchen brauchte. Er kam ihm von selbst entgegen.

Der kühle Morgenhauch weckte ihn. Er öffnete die Augen, meinte aber nur in einen schönen Traum hineinzublicken, nicht in die Wirklichkeit.

Die Türe der Sakristei stand offen, und so sah er das Innere der dachlosen Kapelle vom Morgenrot angeglüht, das draußen im Osten über den Wälderkuppen stand. In den roten Lichtkreis aber schritt eine weibliche Gestalt herein, so frisch und rosig wie das Morgenrot selber, und die Gestalt glich wunderbar des Goldforellenwirts Töchterlein, oder vielmehr gar nicht wunderbar, in Betracht, daß die Kommende keine andere war als das Aivli in eigener Person.

Voll freudigsten Erstaunens überzeugte sich Ottmar von seinem Wachen und sprang von seinem harten Lager auf.

Aivli war in der Kapelle stehen geblieben, atmete hoch auf und sah sich schüchtern um.

Wie war das Mädchen schön in der kleidsamen Volkstracht, um das prächtige Haar ein rotes Tuch gewunden, welches der landesübliche Morgenkopfputz der Schwarzwälderinnen jener Gegend ist.

Das Geräusch, welches Ottmars Aufspringen verursachte, lenkte die Blicke des Mädchens nach der Sakristei, und dunklerer Purpur ergoß sich über ihre Züge, als ihr der junge Mann aus der Türe entgegentrat.

Ottmar erriet mit dem Instinkt der Sympathie das Motiv ihres Kommens.

In der Fülle der Bewegung seines Herzens streckte er ihr beide Hände entgegen, ergriff die ihrigen und sagte:

»Aivli, liebes Kind, Ihr bringt mir eine gute Nachricht, nicht wahr?«

»Ja, Herr Ottmar,« versetzte sie, vor dem Funkeln seines Blickes die Augen mit neuem Erröten niederschlagend. Und sogleich das Wichtigste treffend, das, was Ottmar doch wohl am meisten interessieren mußte, setzte sie freudig laut hinzu:

»Der Baron lebt und wird nicht sterben!«

»Wie dank' ich Euch, Aivli! Und wie dank' ich meinem Geschick, daß Ihr es seid, welche mir diese gute Nachricht bringt. Wie ist das freundlich und gut von Euch!«

»O, saget nichts von dem, Herr Ottmar. Als Euer Freund Wate vor zwei Stunden heimkam, verzählte er mir die Sach' und sagte: ›Aivli,‹ sagt er, ›ich bin müd' zum Umfallen und will ins Bett. Aber man muß dem Ottmar Botschaft senden, daß alles gut gehe und er nicht mehr in dem alten Eulenneste droben zu hocken brauche. Wo ist der alt' Brosi?‹ fragt' er. ›Ich möchte sonst keinem vom Gesind' die Botschaft auftragen, die Leut' schwatzen gleich so dummes Zeug, wißt Ihr?‹ So sagt' er und –«

»Ihr waret also schon auf, Aivli? Es mußte ja lange vor Tagesanbruch sein.«

»Ja – ich –« stammelte das Mädchen, die Stirne senkend. »Seht, als der Reitknecht des Barons die Instrumenter des Doktors holte und man bald darauf vernahm, es habe im Schloß ein Unglück gegeben, und dann Ihr nicht heimkamt und der Doktor auch nicht heimkam, da wurde mir halt sölli bang und – und ich konnt' nicht schlafen und ich dacht' – ich weiß selber nicht mehr, was ich all's für Gedanken gehabt –«

»Ihr sorgtet Euch um mich, Aivli?«

»Warum sollt' ich nicht? Und – ja, nun, ich sagte zum Doktor: ›Wißt Ihr was? Der Brosi ist seit etlichen Tagen nicht so recht wohlauf; man darf ihn nicht schon 'rausjagen und ich denk', ich will selbst g'schwind ins Bärenschlößli hinauf.‹«

»Womit kann ich Euch diese Güte vergelten, Aivli?«

»O, redet doch nicht so, Herr Ottmar. Ich konnte mir halt wohl denken, wie's Euch wohlenWohlwerden. müßt', wenn Ihr erfahren tätet, daß kein Totschlag Euch auf der Seele liege. Ich mein', ich wär' hundert Stund' weit gangen, um's Euch zu sagen.«

Mit Entzücken vernahm Ottmar dieses Geständnis.

»Aivli,« sagte er, und er mußte sich große Gewalt antun, um einigermaßen ruhig zu sprechen. »Aivli, hat Euch Wate die Ursache meines Streites mit dem Baron mitgeteilt?«

»Er hat nur so von einem dummen Spaß geredet, der den schrecklichen Handel veranlaßt hätte.«

»Wohl, so höre, mein Kind. Ich focht mit dem Freiherrn auf Tod und Leben, weil er der Gräfin Bernwart einen tödlichen Schimpf zugefügt hatte.«

Aivli wurde sehr blaß, und ihre Hände zitterten in denen des jungen Mannes. Aber sie sagte nichts.

»Aivli,« fuhr er fort, »könntet Ihr glauben, daß meiner Handlungsweise ein unlauteres Motiv zugrunde gelegen? Daß mein Tun aus einer anderen Quelle entsprungen als aus der Entrüstung über eine Büberei? Daß ich zu der Gräfin in einem Verhältnis stände, welches mich etwa aus Eifersucht hätte gegen den Baron auftreten lassen? Könntet Ihr das glauben?«

»Nein,« erwiderte sie leise, »nein, ich glaube es nicht. Ihr seid ja allzeit brav und rechtschaffen gewesen. Nein, ich glaub' es nicht.«

»Segen über Euch, Aivli, um dieses Wortes willen. O, wie dank' ich Euch!«

Er legte die Arme um ihre Schultern und zog die Bebende sanft an seine Brust.

»Aivli,« flüsterte er tief und schön bewegt, »Aivli, ich bin dir herzlich gut!«

Sie hob erzitternd ihr glühend Antlitz zu ihm auf und sah ihn an, und ein Meer von Liebe strömte ihm aus diesen großen, keuschen, tiefblauen Augen entgegen.

»O, du!«

Weiter sagte sie nichts, aber große Tränen stürzten aus ihren Augen, und ihr Haupt an seiner Brust bergend schluchzte sie vor Glück und Seligkeit.

Er aber stieß einen hellen Freudenlaut aus, die Welt, das neue Leben, die aufgehende Sonne begrüßend, deren erster Strahl den ersten Kuß des glücklichen Paares sah.

Hand in Hand traten die beiden aus der Ruine und schauten trunkenen Auges in die schöne, morgenfrische Welt hinab und hinaus.

Wald und Berg und Tal und Fluß – wie war ihnen das alles jetzt doppelt schön, doppelt vertraut, doppelt heimatlich!

»Ich bleibe bei dir, Aivli, jetzt und immer!« sagte Ottmar. »Ich will ein rechter Schwarzwälder werden.«

Sie lehnte sich an ihn; sie wußte, daß er wahr sprach, daß er bei ihr bleiben würde.

»Aber,« fuhr er fort, »noch heute muß ich dich verlassen für eine kleine Weile, um in der Hauptstadt mich loszumachen von allen Banden und Verpflichtungen meines bisherigen Lebens. O, wie werd' ich Heimweh nach dem Forgtal haben und nach dir!«

»Und wenn du gehen mußt, Ottmar,« sagte sie, »so hab' ich dich doch, da in meinem Herzen. O, da wohnst du schon lange und wohlbehütet, und da sollst du bleiben all mein Leben lang.«

»Ich weiß es, Aivli, ich weiß es. Wir haben und halten einander. Jetzt hab' ich wieder eine Heimat!« fügte er fast jauchzend hinzu.

Sie konnten noch nicht von der Stelle, die Glücklichen.

Es war so schön, so morgenheilig, in ihnen, außer ihnen, nah' und fern. Ein stilles Säuseln ging durch die Wipfel der Wälder, die Vögel spielten auf, die Taunebel hoben sich drüben an den Bergen in phantastischen Bildungen empor, dort lag der Bühl so heimelig unter seinen Obstbäumen, und drunten rauschte und schimmerte der Fluß im Morgensonnenstrahl, der auch den Friedhofhügel drüben in Moosbrunn, wo Ottmars Eltern schliefen, freundlich beschien.

»O, Ottmar, was ist die Welt schön, und wie bin ich glücklich!«

Er küßte still ihre jungfräuliche Stirne und blickte dankbar hinauf zum blauen Himmel und hinab zur grünen Erde und hinüber zu den Gräbern der Eltern. Er sog die Fülle des Glückes eines neuen Lebens, welches sich vor ihm aufgetan, in seine Brust ein, zugleich mit der Morgenschöne seines Heimatlandes. Liebste Erinnerungen der Vergangenheit wurden in ihm wach, und die Zukunft umspielte ihm die Stirne wie ein glücklicher Traum. Er fühlte sich wieder jung, daheim, befähigt, das Leben zu lieben und zu tragen mit all seiner Lust und all seinem Leid. Und wie entzückte ihn des eigenen Glückes Widerschein, welcher ihm von dem Antlitz des schönen und guten Wesens an seiner Seite entgegenleuchtete. Ihm war fromm und gut zumute.

5. O, wecke die Dämonen nicht
Auf Frauenherzens Grund!

Morgenrot – Abendkot.

Ob wohl der fromme Jeremias an dieses Sprichwort dachte, als er, früh aufgestanden, in sein Studierzimmer trat, um die letzte Hand an ein höchst wirksames Werk zu legen, welches die Zentralverwaltung der inneren Mission bei ihm bestellt hatte? Wir glauben es kaum. Längst schon stand der Treffliche mit dem genannten Heilsgeschäft in genauester Verbindung, und seine Feder war sehr fruchtbar im Herrn. Praktischen Blickes, war er auf den Einfall gekommen, den Leitern der inneren Mission zu bedenken zu geben, ob es nicht ratsam wäre, die Kinder der Welt mit ihren eigenen Waffen zu bekriegen, das heißt, ob das »Rauhe Haus« nicht guttäte, zur Förderung seiner erhabenen Zwecke nicht allein in Traktätchen, sondern versuchsweise auch einmal in Romanen zu »machen«. Nebenbei hatte er angedeutet, daß er selber das Zeug dazu hätte, einen Innerenmissiönlerroman echtesten Stils sofort zu verfertigen. Die Idee war mit großer Befriedigung seitens der Oberen vernommen und gutgeheißen worden. Jeremias hatte die gewünschte Bestellung erhalten, und es waren sogleich alle rauhen und linden Brüder- und Schwesternhäuser in deutschen Landen vorsorglich in Kenntnis gesetzt worden, daß sie sich bereit halten möchten, eine volle Salve frommen Beifalls zu geben, wann der Roman erschiene. Das bestaunenswerte Buch, viel zu gut für unsere Zeit, sollte den beziehungsreichen Titel führen: »Eritis sicut Deus», und heute schrieb der gottselige Verfasser das letzte Kapitel, während ihm das Morgenrot, welches unserem Freund Ottmar sein Glück gebracht hatte, auf den Schreibtisch fiel. Wie bekannt, ist seither dieses Meisterstück von Roman erschienen und hat Tausende von Herzen wunderbarlich erquickt und dem Heile zugewendet.

Im Vorgenuß dieser Wirkung seines Werkes fühlte sich Jeremias sehr gehoben und beseligt. Er war daher auch den ganzen Vormittag ungewöhnlich mild und freundlich, hatte kein rauhes Wort für die arme stille Margaret, ließ es hingehen, daß sein ältestes Töchterlein den 101. Psalm, welchen er ihr gestern zum Auswendiglernen aufgegeben, nur sehr mangelhaft hersagen konnte, übersah es, daß die kleine Cölestina beim Mittagessen einen Teller zerbrach, und begnügte sich, als unmittelbar darauf der Theophil, der wilde Junge, mit seinem Ball eine Fensterscheibe einschmiß, ruhig zu dem Sünder zu sagen: »Die bezahlst du aus deinem Sparhafen.«

Den Kindern kam das alles ganz spanisch vor und der Pfarrerin sozusagen noch viel spanischer.

Inzwischen erfüllte das Morgenrot seine Voraussage. Es gab ein Gewitter, dessen Vorüberziehen Jeremias mit nicht geringer Ungeduld erwartete. Der Regen hatte auch kaum zu strömen aufgehört, als der würdige Herr Hut und Stock ergriff, um, wie er sagte, auf einem Spaziergange seine Predigt für übermorgen im Geiste sich zurechtzulegen.

Sein Thema schien ihm wirklich viel zu schaffen zu machen, denn er ging, den Fußpfad am Flusse nach Forgau hinaufwandelnd, ganz in sich versunken einher und hatte für die Dinge der Außenwelt so wenig Sinn, daß er die Grüße der ihm begegnenden Landleute kaum beachtete, geschweige mit der ihm sonst gewöhnlichen Leutseligkeit erwiderte. Übrigens mußte es mit der Zurechtlegung der Predigt ziemlich rasch gegangen sein, denn als er die Forgauer Brücke überschritt und in die nach Bernwartshall führende Allee einbog, beschäftigten sich seine Gedanken mit ziemlich weltlichen Dingen.

»Seid klug wie die Schlangen!« sprach er bei sich. »Was das für ein trefflicher Spruch ist! Mit der gehörigen Klugheit erreicht man am Ende alles, und wenn auch die Schlange in Windungen gehen oder kriechen muß, sie kommt doch an ihr Ziel. Wie ist es wohltuend, von der Warte der Klugheit auf die törichten Menschen herabsehen zu können, tief herab. – Da ist nun mein Bruder, der Ottmar. Ein keineswegs so platterdings auf den Kopf gefallener Mensch, und doch ging er gestern wie ein rabiater Büffel gegen den Tropf von Baron an. Ich sah es kommen, ja, ich sah es kommen, sowie ich das Gespräch einmal glücklich auf die Gräfin gelenkt hatte. Der Ausgang des Duells war zwar nicht ganz so, wie ich erwartet hatte. Ich hielt, scheint es, den Baron für einen geschickteren Fechter, als er wirklich ist. Aber die Sache macht sich doch. Ich müßte Eva schlecht kennen, wenn jetzt von dem baronlichen Gecken noch bei ihr die Rede sein könnte. Dieses Liebesband hat mein Brief sicherlich zerrissen. Aber auch Ottmars bin ich ledig. Vielleicht verschwindet er auf die gestrige Geschichte hin für immer von hier, und jedenfalls wird er, närrisch, wie er ist, keine Lust mehr haben, seine Bewerbung um Eva fortzusetzen. Er wäre ein gefährlicher Nebenbuhler geworden, ich habe es wohl gemerkt. Von dem bärtigen Lümmel, dem Wate, ist nicht viel zu besorgen, und was die beiden Grasaffen von Versemachern betrifft, bah! Das Terrain ist also rein, darum vorwärts mit festem Tritt! Dieses Weib muß mein werden, ja, es muß! Und wäre es nur für einen Tag, nur für eine Stunde, aber mein muß es werden. Sein Besitz soll mich rächen für all die Unrast, die Wut, die Pein, die es in mein Blut geschleudert. Ich will diese Eva besitzen und demütigen!«

Während so der fromme Mann der Stimme seiner innersten Mission Raum zur Äußerung gab, saß die Gräfin in ihrem Kabinett, welches wir dem Leser früher beschrieben haben.

Die schöne Frau war ungewöhnlich bleich, und der wundersame Schmelz ihrer dunkeln Augen war einem fast stechenden Feuer gewichen. Sie schien soeben einen heftigen Seelensturm durchgemacht zu haben und die Schwingen ihres Wesens waren wie geknickt.

In sich zusammengesunken auf der Ottomane sitzend, hatte sie links und rechts einen geöffneten Brief zur Seite liegen. Abwechselnd nahm sie diese Papiere auf, um sich in den Inhalt derselben zu vertiefen. Das eine enthielt nur wenige Zeilen, das andere war eine sehr ausführliche Epistel. Die Briefe kamen von der Hand zweier Brüder: in dem einen benachrichtigte Ottmar die Gräfin kurz, daß ihn die Fortführung des Forgforstprozesses schleunig in die Hauptstadt riefe, in dem andern gab ihr Jeremias in seiner Manier eine detaillierte Schilderung der gestrigen Ereignisse im freiherrlichen Schloß drüben.

Eva hatte lange über diesen Briefen gebrütet. Sie waren auch beide, der eine in seiner Kürze, der andere in seiner Länge, inhaltsreich genug. Es kam der Tochter der Luft aus diesen Papieren ein Wolkendruck des Schicksals entgegen, wie sie nie einen empfunden hatte.

Sie saß regungslos, starr vor sich hinsehend. Zuweilen aber schweifte ihr Blick durch das Fenster nach dem freiherrlichen Wohnsitz hinüber, und dann machte sie eine Geberde unbeschreiblichen Ekels oder auch, brach dann aus ihren Augen ein unheimlich düsteres Leuchten, wie Wetterleuchten aus mitternächtlichem Gewölke.

Es war nicht nordisch sentimentaler Frauenschmerz, was auf ihr lag, nicht nordisch resigniertes Weh; es war die mühsam verhaltene Wut und Glut südlicher Leidenschaft, bereit, verzehrend hervorzubrechen, wie der Blitz aus der Wolke.

Endlich fand, was sie bewegte, eine Bahn zu ihren Lippen.

»So ist er also gegangen, ohne Abschied zu nehmen?« murmelte sie. »Und doch hatte er sein Leben eingesetzt, um das Unerhörte, was mir widerfahren, zu rächen. Erst nachdem er alles gewagt, um meinen Namen nicht ungestraft in den Schmutz eines Trinkgelages treten zu lassen, hat er sich verachtungsvoll von mir gewendet. – O, dieser Ottmar – warum mußte dieser Mann mir nicht früher wieder begegnen? Warum erst dann, als es zu spät war? Viel zu spät, für ihn und für mich! Wie wäre alles anders geworden, anders und gut! Und jetzt ist alles vorbei, verschwunden, versunken, alles!«

Die Pein dieses Gedankens jagte die unglückliche Frau vom Sofa auf und trieb sie im Zimmer umher. Sie fühlte das Bedürfnis, freie Luft zu atmen, aber im Begriff, die Terrassentüre zu öffnen, fiel ihr Blick auf die Flaggenstange, und mit Abscheu trat sie zurück.

»Ich muß mir ein anderes Zimmer einrichten,« sagte sie; »hier halt' ich es nicht mehr aus.«

Bei dem großen Spiegel vorbeigehend, erblickte sie in demselben ihre Gestalt und blieb stehen, sie zu betrachten.

Sie beschaute sich mit dem Blick eines Kenners, welcher ein Kunstwerk mustert und eine Weile schwankt zwischen der Begierde, einen Fehler zu entdecken, und der Befriedigung, welche aus dem Anblick des Vollkommenen entspringt.

»O,« sagte sie dann, »wie bin ich noch so jung, wie bin ich noch so schön! Und so elend, so grenzenlos elend!«

In Qual sich verzehrend, rang sie stumm die Hände, bis ihr ein neuer Gedanke durch den Kopf fuhr.

Sie raffte ein Paar Bücher, wie sie gerade dalagen – armer Don Rodrigo, armer Herr Walter, zufällig waren eure neuesten Goldschnittsdichtungen darunter! – vom Tische auf und machte damit Feuer an im Kamin. Dann schloß sie ihren Sekretär auf, nahm aus verschiedenen Behältern zierlich kuvertierte Briefe, verwelkte Blumen, Schleifen, eine Haarlocke, hunderterlei kleine Erinnerungen an heiße Stunden, endlich auch ein Bündel jener unglückseligen Signalflaggen und warf alles zusammen in die lustig emporprasselnde Flamme. »Da brennt der Tand!« sagte sie, klatschte in die Hände und schlug eine helle Lache auf.

»Ei,« fragte sie sich, »wie heißt doch gleich der Poet, welcher so hübsch gesagt, daß uns noch das schöne gelle Lachen bleibe, wenn des Glückes Siebensachen uns von tölpischer Schicksalshand zerbrochen vor die Füße geworfen werden, wenn uns das Herz im Leibe zerrissen und zerstochen wurde? Ja, das schöne gelle Lachen, das bleibt mir und die –«

»Gnädige Frau,« meldete die eintretende Kammerjungfer, »der Herr Pfarrer von Moosbrunn ist da und wünscht Ihnen aufzuwarten.«

»Der Pfarrer von Moosbrunn?« entgegnete Eva, abermals laut auflachend. »Er ist willkommen. – Doch warte noch. Rufe mir zuvor geschwind den Milimach, Ich habe ihm etwas zu sagen, es wird schnell abgemacht sein. Führe den Pfarrer einstweilen in den Salon.«

Sie lachte wieder, und als sich die Türe hinter dem verwunderten Mädchen geschlossen, zeigten ihre Züge den Ausdruck ausgelassensten Mutwillens. Eine koboldartige Lustigkeit schien sich ihrer bemächtigt zu haben.

»Der garstige Schleicher!« sagte sie. »Der kommt mir gerade recht. Ich bin seiner mit Weihrauch geräucherten Huldigungen längst bis zum Übelwerden überdrüssig, und ich will seine fromme Flamme kühlen, daß er das Wiederkommen vergessen soll.«

Der gute Jeremias schien in der Tat von der Unterredung, welche er eine Viertelstunde nachher mit der Gräfin hatte, nicht im geringsten erbaut. Das Gespräch währte ziemlich lange, und das Kammermädchen, welches einem unbezweifelhaften Privilegium seines Standes zufolge an der Türe gelauscht, hörte gegen den Schluß der Unterredung hin den würdigen Mann, welcher sonst stets so gehalten und maßvoll war, leidenschaftlich laut sprechen und die Gräfin laut in seine Worte hineinlachen.

Als der Pfarrer endlich heraustrat, sah er aufgeregt aus wie ein Kämpfer, aber wie ein geschlagener. Seine Stirne war rot, aber augenscheinlich nicht von der Röte des Triumphes, und seine Augen blickten nichts weniger als befriedigt und siegesfreudig. Er beeilte sich auch, mit rascheren Schritten, als seiner Würde eben zuträglich war, aus dem »verwunschenen Schloß« fortzukommen, und hatte schon den äußeren Hof erreicht, als ihm die Kammerjungfer der Gräfin nachgerannt kam.

»Herr Pfarrer,« sagte das Mädchen mit pietätslosem Gekicher, »die gnädige Frau läßt Ihnen sagen, Sie möchten doch nicht vergessen, Ihre schwarzen Beinkleider um die Knie herum abzuwischen; der Fußteppich vor dem Sofa sei etwas staubig gewesen.«

Jeremias schoß einen höchst unchristlichen Blick auf die feixende Jungfer und schielte dann auf die bezeichneten Stellen seiner Beinkleider hinunter, wo allerdings zwei verdächtige Flecken sichtbar waren.

Aber er hielt es weder der Mühe wert, den Schaden zu reparieren, noch wollte er das unverschämte Ding von Zofe einer Antwort würdigen, sondern er warf stolz den Kopf in den Nacken zurück und schritt zum Tore hinaus, mit zum Himmel gerichtetem Blick, als suchte er dort Trost für die Unbill, die er soeben auf der sündigen Erde erfahren.

Es ist jedoch nicht jederzeit ratsam, den Blick vom Erdboden ab und den Sternen zuzulenken. Diese große Wahrheit sollte eine der Hauptsäulen der inneren Mission sogleich als eine unwiderlegliche erfahren, und zwar zu ihrem Schaden. Denn als der würdige Mann mit hochgetragenem Haupt über die Zugbrücke schritt, wich plötzlich eine der Bohlen unter seinen Füßen, und bevor er wußte, wie ihm geschah, war sein unsanftes Hinabplumpsen in den Graben eine vollendete Tatsache geworden.

Nun war zwar der Fall bis zum Wasserspiegel ein nicht sehr hoher und das Wasser brach die Gewalt des Sturzes, allein der Graben war tief, und da der Schlamm auf seinem Boden keinen festen, sondern im Gegenteil nur einen zurückweichenden Stützpunkt für die Füße Jeremiä abgab, so ging dem würdigen Manne das Wasser nicht nur über die Brust, sondern mitunter auch noch über den Kopf.

Ein nicht sehr frommer Ausruf, was man so gewöhnlich einen Fluch nennt, entfuhr dem Fallenden, als er auf dem Wasser aufschlug und in dasselbe hinunterfuhr. Als er dann sich wieder aufwärts geschnellt und das halbfaule, stinkende Wasser aus dem Munde blies, antwortete von der Torzinne aus ein schallendes und vielstimmiges Gelächter seinem Gepuste und Geschnaube. Er hatte keine Lust, hinzusehen; er konnte sich's leicht vorstellen, daß dort die ganze Schloßdienerschaft versammelt sei, um ihr herzliches Gaudium über seinen Unfall zu haben. Daß dieser kein zufälliger, sondern ein absichtlich präparierter sein mußte, war auch unschwer zu erraten.

Jeremiä Situation war eine um so unbehaglichere, als er sich das Lächerliche derselben nicht verbarg. Er wollte um Hilfe rufen, aber sein Stolz empörte sich dagegen. So ruderte und schob er sich denn durch Wasser und Schlamm, dessen Nachgiebigkeit ihm noch mehrmals das abscheuliche Naß über dem Kopf zusammenschlagen machte, dem Ufer zu. Zwischenhinein schoß ihm auch der Gedanke durch den Kopf: »Hatte es diese Teufelin am Ende auf dein Leben abgesehen?« Zuletzt erreichte er die Grabenböschung, kletterte daran hinauf und trug, droben angelangt und von Schmutz und Wasser triefend, kein Verlangen, das ihm von drüben nachschallende Gelächter länger mitanzuhören, sondern verschwand mit Entrüstung. Indessen war die furchtbare Prüfung noch nicht zu Ende, maßen seine barhäuptige, abenteuerliche Erscheinung in der Goldforelle, wo er unterkroch, weil er doch nicht in diesem Aufzuge Forgau passieren konnte, keine geringe Sensation erregte. Wate, dem die plötzliche Abreise seines Freundes Unbehagen eingeflößt, erheiterte sich an der wundersamen Erscheinung des unglücklichen Mannes und lachte mit dem ganzen Gesicht.

»Wie sehen Sie aus, mein Teuerster!« sagte er, indem er dem Pfarrer aus seiner Garderobe Kleider zum Wechseln hinbot. »Hat Sie Ihr Eifer denn verleitet, die innere Mission auch unter den Fischen und Kröten auszubreiten?«

Jeremias schluckte seine Gefühle, die, vermuten wir, nicht so ganz die eines frommen und versöhnlichen Kreuzträgers waren, in sich, brummte etwelches Undeutliche von schändlichen Nachstellungen und mörderischen Attentaten vor sich hin und machte sich in den Kleidern des »bärtigen Lümmels« sofort auf den Heimweg. Morgenrot – Abendkot!

Wate aber hatte keine Ruhe, bevor er das Abenteuer des Trefflichen bis ins Speziellste erfahren. Dann setzte er sich hin und verfertigte aus diesem tragischen Stoff ein großes Moritatlied, welches nach der Melodie »Es hat a mol a Baurama« geht und jetzt im Schwarzwald häufig gesungen wird.

Die Gräfin suchte an diesem Abend, seit langer Zeit das erstemal wieder, den Grafen auf seinem Zimmer auf und hatte mit ihm bei verschlossener Türe eine Unterredung, welche bis tief in die Nacht hinein währte. Nachdem sie ihn verlassen, ging Hippolyt noch lange mit verschränkten Armen tief nachdenklich in dem Gemach auf und ab.

Zuletzt stand er still, richtete seinen auf die Brust gebeugten Kopf in die Höhe und sagte, während der Bleiglanz seiner Augen matt aufleuchtete:

»Endlich! Wie gut ist es, daß ich meine Arbeit so beharrlich förderte! Ich ahnte, ich wußte, daß es eines Tages so kommen müßte. Und sie ist zu mir zurückgekehrt, sie! – Ich glaube, ich liebe dieses Weib noch immer und mehr als je vordem. Nun schmiede ich einen Ring, der sie aufs neue an mich kettet, für ewig. Endlich also!«


 << zurück weiter >>