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Die deutsche Dichterin.

 

Ob es ein Traumgesicht,
Das meinen Geist umflossen?
Vielleicht ein Seherlicht,
Das ihn geheim erschlossen?

Annette von Droste.

 

Unsere Herren »Realpolitiker« haben sich, auf der schiefen Fläche der Anbequemungspraxis lautvergnügt abwärtsrutschend, jetzunder glücklich zu Opportunitätsschwätzern verfasert. Mit den Zauberformeln »Opportun« oder »Inopportun« weiß die Allerwelthexe Charakterlosigkeit alles auszugleichen, alles zurechtzulegen, alles glattzustreichen, das heißt, sie thut so, als wäre alles ausgeglichen, zurechtgelegt und glattgestrichen. Halb- und Dreivierteltalente schießen überall auf, massenhaft wie Pilze und gerade so gehaltvoll. Nur an Männern beginnt es mehr und mehr zu fehlen. Aber wozu brauchen wir Männer? Sie würden sich ja doch nur als »Principienreiter« lächerlich machen – weg damit! Man muß seine Ueberzeugungen – was sag' ich? dummes Wort! – seine »Belleitäten« genau auf den hochofficiösen Ton zu stimmen wissen, man muß vor jedem augenblicklichen Erfolg mit Grazie zu byzantinern verstehen, um für einen richtigen Deutschen und patentirten Patrioten vom »strammen« Reichsnormalmaß zu gelten.

Ja, die unfehlbare Opportunitätspolitik ist nunmehr in das bekannte nationalservile System gebracht, wofür ja auch unter der studirenden Jugend nicht ohne Erfolg geweibelt und geworben wird. Die junge Generation wächst heran unter der Einwirkung einer plattbanausischen Stimmung, um nicht zu sagen unter dem Druck der gemeinen Berechnung, daß ewige Grundsätze über flüchtigen Zeiterscheinungen vergessen werden dürften, ja sogar müssten. Der richtige Liberalismus sei, jeden gerade in den höheren und höchsten Regionen streichenden Wind für direkt aus dem großen Orient der Staatsweisheit kommend auszugeben, und der wahre Patriotismus bestehe darin, aus der eigenen Person möglichst viel zu machen. Denn –

»Wenn die Rose selbst sich schmückt,
Schmückt sie auch den Garten.«

In der Literatur vollends ist seit Heine's Spottorakel: »Kein Talent, doch ein Charakter« – das Lumpenthum obenauf gekommen. Und doch könnte ein nicht auf der Schwindelhöhe der Gegenwart stehender Mann sich versucht fühlen, die »inopportune« Frage aufzuwerfen, ob wohl derselbe Heine, auf dessen Autorität schon so viele Literatur-Lumpe stillschweigend sich berufen und gestützt haben, nicht ganz anders, nicht viel bedeutender in unserer Kulturgeschichte dastände, als er immerhin dasteht, falls mit seinem Genie auch Charakter sich verbunden hätte? Was machte und macht den Friedrich Schiller zum wirksamsten und geliebtesten Dichter und Seher seines Volkes? Das Gewissen, welches, wie die Frau von Staël treffend und schön bemerkt hat, seine Muse gewesen ist. Woran sind die Romantiker, denen es doch an Talent wahrlich nicht gefehlt hat, so jämmerlich gescheitert und so elend zu Grunde gegangen? An ihrer Charakterlosigkeit. Die literarische Lumpokratie kann für eine Weile Spektakel machen und, alle Trommeln und Trompeten der schamlosesten Reklame schlagend und blasend, den Markt beherrschen; aber nach kurzer Herrlichkeit verschwindet sie für immer in der literargeschichtlichen Lumpenkammer. Kein großer Denker, Dichter, Künstler ist ein Lump gewesen. Groß zu fühlen, zu denken, zu schaffen, ist nur auf breiter und fester Charakterbasis möglich. Und auch für jene Region der Hervorbringung, welche nicht zur Aetherhöhe hinanreicht, gilt das. Woraus erklärt sich der nachhaltige Einfluß Platens? Daraus, daß aus dem blanken Marmor seiner Verse ein ganzer Mann, ein edler Charakter athmet. Charakter und Talent verhalten sich zu einander wie Gehalt und Form: zwei aufsteigende Flammen sind es, die in eine zusammenlodern, um auf ihrer Spitze den großen Gedanken, das seelenvoll-formschöne Lied, die muthige That zu tragen.

So soll es sein und dieses harmonische Zusammenstimmen der intellektuellen und sittlichen Anlagen hat uns Deutschen, wenn nicht eine große, so doch eine wirkliche, eine echte Dichterin gegeben: Annette von Droste-Hülshof.

Eine echte Dichterin, ja! Neben der deutschen kann nur eine Literatur noch einer ebenbürtigen Poetin sich rühmen: die englische in der Person ihrer Felicia Hemans. Natürlich will ich hierbei den Begriff »Dichterin« im strengsten Sinne genommen, das heißt auf die dichterische Thätigkeit in metrischer Form beschränkt wissen.

Und was machte Annette von Droste zu einer rechten Dichterin? Der vollkommene Einklang, nein, das einssein von Intellekt und Charakter. Anschauung und Gefühl, Phantasie und Gedanke, Geist und Form – alles war bei ihr aus einem Guß. Ihr Leben wie ihr Dichten, ihr Dichterleben war von einer Wahrhaftigkeit getragen, welche aus jeder ihrer Verszeilen spricht und der man in solcher Großheit nicht gerade häufig begegnet. Dieses zarte, gebrechliche Weib trug ein starkes Herz in der Brust und fest, bestimmt und deutlich wie ihre Anschauungen waren auch ihre Ueberzeugungen. Nichts schwankend und wankend in ihr, alles gediegen und klar.

Diese ihre Ganzheit und Wahrhaftigkeit fand die entsprechende formale Ausprägung in ihrem Stil voll Nerv und Mark. Von Seideglätte und Sahnesüßigkeit ist in ihren Versen nichts zu spüren, auch nichts von Mondschein, Empfindsamkeit und Thränenseligkeit, wohl aber überall ein gesundes und starkes Gefühl, reiner und stählender Lufthauch wie von Berghöhen und aus Waldgründen und eine drastisch-plastische, eine wahrhaft gestaltungsmächtige Kraft der Diktion. Keine zweite Frau hat Rhythmus und Reim mit solcher Energie zu handhaben gewusst wie diese prächtige Westphalin. Man sehe nur, wie sie in ihren Gedichten »Die Jagd« und »Die Krähen« eine Fuchshetze im Moor und Tann und das Gewühl eines Reitertreffens gemalt hat. Welcher Realismus! Welche Naturwahrheit! Man erblickt den »über Kraut und Schmehlen setzenden« Reineke leibhaftig, man sieht »die fallenden Reiter radschlagen von den Rossen« und glaubt das Geknirsche zu hören, womit die »Kanone fuhr ihr Hirn zu Brei«. An Härten und Absonderlichkeiten fehlt es in der Sprache Annette's freilich nicht und die Satzverbindung ist mitunter bis zur Dunkelheit verschränkt, was alles Rudolf Rodt Veranlassung gab, in seinen übrigens allerliebsten »Gedichten in allerlei Humoren« (1853) den Stil unserer Westphalin grausam zu persifliren. A. a. O. S. 60: »Dröstliche Hülsenblüthen.« Aber gerade in der Knappheit von Annette's Stil liegt häufig eine bedeutende Wirkung, und wer Sinn für das malerische und zieltreffende der Volkssprache hat, wird auch die westphälischen Provinzialismen, von welchen die Dichterin am passenden Orte Gebrauch macht, nicht vermissen wollen. Hat sie doch dadurch ihren Landschaftsbildern von der rothen Erde eine ganz eigenthümliche Klangfarbe zu geben verstanden.

Eigenart und Ursprünglichkeit der Form verlangen aber, um haltbar, ausdauernd und wirksam zu sein, einen nicht gemeinen Inhalt. Entspricht die Seele von Annette's dichten seinem Leib? Allerdings. Und welches ist das geistige Charaktermerkmal dieses dichtens? Reichthum der Phantasie und Tiefe des Gemüthes, sowie Energie des Gedankenwurfes innerhalb der Schranken edelster Weiblichkeit. Dieses »innerhalb« unterstreiche ich doppelt. Annette ist keine Jungfer Zimperlich, sie geht geradaus und nennt die Dinge ohne weiteres mit ihren Namen. Sie ist nichts weniger als ein Theekesselpoet nach neuester Mode. Sie beint ihre Empfindungen nicht aus und kocht ihre Worte nicht zu einem süßlichen Brei zusammen, um denselben alten Betschwestern einzustreichen, die früher etwas anderes gewesen waren. Sie spricht frisch vom Herzen weg, aber dieses Herz war jungfräulich in seiner innersten Falte und nie hat eine reinere Hand auf dem Altar des Schönen die Opferflamme entzündet als die Annette's von Droste. Ihre Poesie ist Kraft im Dienste dessen, »was sich ziemt«. Ihr männlicher Gedankenernst muthet uns doppelt an, weil er durchweg die Signatur einer Frauenseele ohne Falsch und ohne Eitelkeit trägt. Aus der Fülle dieser weiten und lichten Frauenseele heraus hat sie in ihrem Zuruf »An die Schriftstellerinnen Deutschlands und Frankreichs« goldene Wahrheiten gesagt, eindringlich warnend, daß auch die Frau von Talent doch immer Weib bleibe, bleiben solle, bleiben müsse. So eine Warnung klingt freilich übel in den Ohren der emancipirt kauderwelschenden, rauchenden, kneipenden, kurzum möglichst unweiblich und ekelhaft sich gebärenden Sansculotterie von heutzutage, für welche alles, was verständig und anständig, nur noch Philisterei und überwundener Standpunkt ist. Immerhin jedoch hat unsere Westphalin in einem ihrer zwei kleinen Finger mehr Geist, Wissen und Talent gehabt, als der gesammte emancipirte Auskehricht mitsammen aufzubringen vermag. Halbtalent und Halbbildung müssen Spektakel machen und auf dem Markte sich ausstellen, um die Beachtung zu finden, nach welcher ihre liebe Eitelkeit dürstet: das wirkliche Talent und die echte Bildung dagegen sind sich bewusst, daß sie die Aufmerksamkeit und die Huldigung, das Lob und den Tadel des großen Haufens entbehren können und verachten dürfen. Das in sich gefasste, edelbescheidene Wesen Annette's kannte die heutzutage mit der äußersten Schamlosigkeit betriebene Kunst der Reklame nicht einmal vom hörensagen und gewiß hat sich selten mit solcher Befähigung, mit solcher Charakterstärke und mit so klarem Selbstbewusstsein eine solche Anspruchslosigkeit so innig verbunden wie in ihr. Auch dieses kennzeichnete die deutsche Frau und erhöhte den Werth der deutschen Dichterin.

Sie wurde auf dem Stammgut ihrer Familie, auf dem Hülshof unweit Münster, am 10. Januar 1797 geboren und hat, nachdem ihr Vater, Klemens August von Droste zu Hülshof, im Jahre 1826 gestorben, mit ihrer Mutter das »Ruschhaus«, den Witwensitz des Geschlechtes, bezogen. Hier verbrachte sie in ländlicher Stille fortan den weitaus größeren Theil ihres Daseins.

Hier lernte sie auch im Jahre 1830 der junge Levin Schücking kennen und verehren, welcher später das Lebensbild der dahingegangenen Freundin liebevoll gezeichnet hat. Annette von Droste. Ein Lebensbild von Levin Schücking. Hannover, 1862. Ihr Porträt hat Annette mit eigener Hand entworfen in einer leider nicht zu Ende geführten novellistischen Arbeit, welche unter dem Titel »Bei uns zu Lande auf dem Lande« ein Bild von westphälischen Sitten und insbesondere von dem Leben auf einem Edelhofe der rothen Erde zu geben bestimmt war. Hier wird uns zuerst der junge Herr Everwin vorgeführt und dann seine Schwester, Fräulein Sophie. Jener ist eigentlich Annette's Bruder, diese Annette selber. Von jenem ist gesagt: »Neunzehn Jahre ist er alt und lang aufgeschossen wie eine Erle, blond, mit hellblauen Augen, durch die man glaubt bis ins Gehirn sehen zu können.« Dann heißt es:

»Fräulein Sophie gleicht ihrem Bruder aufs Haar, ist aber mit ihren achtzehn Jahren bedeutend ausgebildeter und könnte interessant sein, wenn sie den Entschluß dazu fasste – ob ich sie hübsch nenne? Sie ist es zwanzigmal im Tage und ebenso oft wieder fast das Gegentheil; ihre schlanke, immer etwas gebückte Gestalt gleicht einer überschossenen Pflanze, die im Winde schwankt; ihre nicht regelmäßigen, aber scharf geschnittenen Züge haben allerdings etwas höchst adeliges und können sich, wenn sie meinen Erzählungen von blauen Wundern lauscht, bis zum Ausdruck einer Seherin steigern, aber das geht vorüber und dann bleibt nur etwas gutmüthiges und fast peinlich sittsames zurück; einen eigenen Reiz und gelegentlichen Nichtreiz gibt ihr die Art ihres Teints, der für gewöhnlich bleich, bis zur Entfärbung der Lippen, ganz vergessen macht, daß man ein Mädchen vor sich hat – aber bei der kleinsten Erregung, geistiger, sowie körperlicher, fliegt eine leichte Röthe über ihr ganzes Gesicht, die unglaublich schnell kommt, geht und wiederkehrt, wie das aufzucken eines Nordlichtes über den Winterhimmel; dies ist vorzüglich der Fall, wenn sie singt, was jeden Nachmittag zur Ergötzung des Papa's geschieht. Ich bin kein natürlicher Verehrer der Musik, sondern ein künstlicher – mein Geschmack ist, ich gestehe es, ein im Opernhanse mühsam eingelernter, dennoch meine ich, das Fräulein singt schön – über ihre Stimme bin ich sicher, daß sie voll, biegsam, aber von geringem Umfange ist, da lässt sich ein Maßstab anlegen – aber dieses seltsame moduliren, diese kleinen, nach der Schule verbotenen Vorschläge, dieser tief traurige Ton, der eher heiser als klar, eher matt als kräftig, schwerlich Gnade auswärts fände, können vielleicht nur einem gebornen Laien, wie mir, den Eindruck von gewaltsam bewegendem machen; die Stimme ist schwach, aber schwach wie fernes Gewitter, dessen verhaltene Kraft man fühlt – tief, zitternd, wie eine sterbende Löwin: es liegt etwas außernatürliches in diesem Ton, sonderlich im Verhältniß zu dem zarten Körper. Ich bin kein Arzt, aber wäre ich der Vater, ich ließe das Fräulein nicht singen; unter jeder Pause stößt ein leichter Husten sie an und ihre Farbe wechselt, bis sie sich in rothen, kleinen Fleckchen festsetzt, die bis in die Halskrause laufen – mir wird todangst dabei, und ich suche dem Gesange oft vorzubeugen.«

So stellte sich die Dichterin als junges Mädchen dar, nachdem ihre von Geburt an sehr zarte Körperlichkeit unter der Einwirkung sorgsam-mütterlicher Pflege und der Landlust einigermaßen sich gekräftigt hatte.

Es war eine altfränkisch-steife, hochkonservative, aber ehrenfeste Atmosphäre, in welcher Annette heranwuchs. So ein richtiger westphälischer Edelhof ist ja, von den Wogen des 19. Jahrhunderts kaum gestreift, noch in unsern Tagen ein lebendes Bild der »guten alten, frommen Zeit«. Ich meine das hier nicht etwa, nur im spöttischen Sinne, sondern auch im aufrichtig anerkennenden. Neben vielen lächerlichen Junkereien und gemeinschädlichen Egoismen sind doch auch etliche der besten Eigenschaften und Tugenden unseres Volkes in solchen Häusern konservirt worden und die Luft, welche in denselben weht, kann, obzwar für unsern Geschmack mit viel zu viel Weihrauch versetzt, immerhin noch als eine gesunde bezeichnet werden, verglichen mit den Miasmen, welche in den mit mehr oder weniger gestohlenen Millionen erbauten und eingerichteten Palästen der modernen Geldprozerei brüten. Es fehlte im väterlichen Hause auch nicht ein gewisses geistiganregendes Element. Die Droste und die Haxthausen – Annette's Mutter war eine Haxthausen – standen mit dem Kreise der Fürstin Gallitzin in Münster, also mit den Fürstenberg, Hemsterhuys, Hamann und Stolberg in Beziehung; weiterhin auch mit den Romantikern, mit den Boisserée, Grimm, Brentano. Es wurde in der Familie viel gelesen, aber noch mehr musizirt. Aennchen genoß den Unterricht des Hauslehrers ihrer Brüder mit, auch im Latein und in der Mathematik. Geraume Zeit litt die Kleine an einer uferlosen Lesesucht, dazu gesellte sich ein frühzeitiger Sammlerfleiß, welcher, später methodisch geregelt, die Dichterin eine hübsche Sammlung von Münzen und Gemmen, Mineralien und Autographen zusammenbringen ließ. Diese Schätze hat sie dann in ihrem Gedicht »Ein Sommertagstraum« höchst originell-poetisch zu verwerthen gewusst.

Sie ging noch in Kinderschuhen, als sich der » afflatus divinus« in ihr schon zu regen begann. Ebenso heimlich als idyllisch gab die Kleine dem Anhauche nach, denn die gestrenge Mutter wollte vom Versemachen nichts wissen und auch später konnte Annette den Widerwillen und Widerstand der Familie gegen ihr dichten – und vollends gegen ihr in die Öffentlichkeit tretendes dichten! – nur sehr allmälig besiegen. Idyllischer Natur aber war die erste Hervorbringung der Dichterin, indem sie einen jungen Hahn besang, und heimlich ging es dabei her, indem sie besagtes »Lied vom Hähnchen« sorgsam ins reine schrieb, in Goldpapier einschlug und unter dem Firstsparren vom Berchfrit des väterlichen Schlosses verbarg. Welche Stadien der Entwickelung hatte Annette zurückzulegen von dem Tage dieses kindisch-schamhaften versteckens ihres ersten Reimversuches bis zu dem Tage, wo sie, ihres »Berufes« klar und sicher geworden, ausrief:

»Was meinem Kreise mich enttrieb,
Der Kammer friedlichem Gelasse?
Das fragt ihr mich, als sei, ein Dieb,
Ich eingebrochen am Parnasse.
So hört denn, hört, weil ihr gefragt:
Bei der Geburt bin ich geladen
Mein Recht, soweit der Himmel tagt,
Und meine Macht von Gottes Gnaden.«

Warum die Dichterin unvermählt geblieben? Ich weiß es nicht. Ob sie nie geliebt hat? Doch! Wie hätte ein so voll und kräftig pulsirendes Frauenherz liebelos bleiben können? Wir begegnen ja in Annette's Gedichten einem heißen Geständniß (»Junge Liebe«) und einem innigen Sehnsuchtslaut (»Brennende Liebe«). Beidemal hat zwar die Dichterin die Situation objektivirt, aber mag sie immerhin in der dritten Person von sich sprechen, aus diesen glühenden Zeilen spricht doch nur eigenes Ich und Selbst. Die »junge Liebe« muß das »schlanke Mädchen mit dem blonden Haar« beschlichen haben, als es »kaum fünfzehn Jahr'« alt war. Die »brennende Liebe« loht von einer reiferen, tieferen, gewaltigeren Leidenschaft. Ich vermuthe, Schücking hätte uns darüber Bescheid geben können, so er gewollt. Gewiß ist nur, daß diese schlanke, blonde, blauäugige Tochter der rothen Erde in ihrer Mädchenseele das Liebesfeuer barg, wie die Frühlingswolke den Blitz birgt.

In Krankheit und krankhafte Schwermuth warf Annette der Tod ihres geliebten Vaters und ihres noch geliebteren jüngeren Bruders. Der Arzt forderte eine Ortsveränderung und so lebte die Dichterin mehrere Winter in Köln und Bonn. Am letzteren Orte erhielt ihre Lernzeit den Abschluß, so zu sagen den letzten Schliff durch den Umgang mit zwei geistvollen und hochgebildeten Frauen: Johanna Schopenhauer, Mutter des Buddhisten Schopenhauer, und Sibylle Mertens-Schaffhausen. In den Kreisen dieser Damen kam sie nun auch den literarischen Strömungen und Strebungen von damals näher, lernte die Hervorbringungen der Früh- und Spätromantik genauer kennen und empfing die Wirkungen der Literaturtendenzen, wie sie in der sogenannten Restaurationszeit verworren genug durcheinandergingen. Vor allem hat Scott mächtig auf sie gewirkt, dann Irving, später Byron. Dieser ebenfalls tief, aber im Grunde doch mehr nur formal als substanziell. Wenn sie, die Frau, dem Einfluß eines Scott und Byron soweit zu widerstehen vermochte, daß sie ihre dichterische Eigenart unbeschädigt bewahrte – und sie vermochte es – so gibt das sicherlich einen sehr kräftigen Beweis für die Ursprünglichkeit ihrer Begabung ab.

Das stille Ruschhaus unweit Münster und die alte Meersburg am Bodensee, deren Burgherr, der Freiherr Joseph von Lassberg, den Germanisten als »der Meister Sepp von Eppishusen« wohlbekannt, Annette's ältere Schwester im Jahre 1834 geheiratet hatte, das waren die Stätten, wo weitaus die meisten der Dichtungen entstanden sind, welche wir von unserer Westphalin besitzen. Die westphälischen Haiden und Moore, sowie das schwäbische Meer, über dessen Spiegel die Ferner Tirols und die Firnen der Schweiz silbern herüberschimmern, sind die landschaftlichen Hintergründe von Annette's Schöpfungen. Die Welt hat denselben anfänglich nur wenig oder gar keine Beachtung geschenkt. Als unsere Dichterin nach mühsälig erlangter mütterlicher Erlaubniß im Jahre 1837 zum erstenmal in die Oeffentlichkeit hinaustrat (»Gedichte von A. E. v. D. H«, Münster 1837), musste sie ihren Zeitgenossen als eine Fremde erscheinen, welche auch nur flüchtig anzusehen sich kaum der Mühe lohnte. Die Menschen glaubten ja damals noch an den alleinseligmachenden französischen Liberalismus, an die Julitrikolore, wie hätte ihnen eine Vollblutromantikerin von dichtendem Edelfräulein Aufmerksamkeit oder gar Theilnahme abgewinnen können? Annette ließ sich das keineswegs verdrießen. Sie fuhr ruhig zu dichten fort, weil sie musste, weil eben für den echten Poeten athmen und dichten dasselbe ist.

In ihrem alterthümlichen Thurmzimmer der von den Merovingern gegründeten Meersburg, allwo der Staufer Konradin hofgehalten, bevor er die unglückselige Heerfahrt gen Italien antrat, sind die reifsten Gedichte Annette's ausgedacht und ausgeführt worden. Sie hat ihre letzten Lebensjahre fast ausschließlich in der alten Bischofsresidenz am Bodensee verbracht. Die seeherüber kommende reine Alpenluft that ihrer kranken Brust wohl. Sie war leidend und wurde immer leidender. Mit jener stillen Gefasstheit, zu welcher nur entweder eine tiefgläubig-hoffende oder aber eine tiefskeptisch-resignirte Weltanschauung führen kann, trug sie ihr Loos. Der »Völkerfrühling« von 1848 brachte ihr keine Lebensblüthen mehr, sondern nur neue Schmerzen. Auch seelische, denn sie konnte der ganzen Anlage ihrer Persönlichkeit zufolge in dem Märzsturm nur einen zerstörenden Orkan sehen. Am 24. Mai von 1848 nahm ein Herzschlag sie hinweg und auf dem Friedhofe zu Meersburg ruht ihr sterbliches ...

Es war ein geräuschloses deutsches Frauenleben, das da, kaum wahrgenommen von den Zeitgenossen, an uns vorübergegangen ist. Nichts excentrisches und sensationelles, keine gewaltsamen Emotionen, Passionen, Eruptionen in diesem Lebenslauf, keine »liebenswürdige« Sünde und kein »anbetungswürdiges« Skandal. Kein Roman, wie ihn Aurora Dudevant mit dem schließlich schnöde von ihr verrathenen Alfred de Musset durchgespielt hat. Keine Ehetragödie, wie Felicia Hemans und Karoline Norton sie durchgelitten, und auch keine Bußkomödie, wie die Gräfin Hahn-Hahn nach langer Lärmjagd auf den »Rechten« sie aufführte. Alles maßvoll, still, schlicht-vornehm. Das ganze Dasein ein Beweis, daß man nicht den stets eiteln, allzeit entweder schmerzlich oder lächerlich ausgehenden Versuch, Poesie leben zu wollen, anzustellen braucht, um ein Poet oder eine Poetin zu sein.

Der schriftliche Nachlaß Annette's zeigte, daß in ihren letzten Lebensjahren ihr Talent nicht gerastet, nachdem die reiche Sammlung ihrer Gedichte im Jahre 1844 (Stuttgart, Cotta) erschienen war und ihren Ruf begründet hatte. Ihr religiöser Liedercyklus »Das geistliche Jahr« wurde bald nach dem Tode der Dichterin veröffentlicht, eine Nachlese von Gedichten und Skizzen unter dem Titel »Letzte Gaben« im Jahre 1860 (Hannover, Rümpler). Ich kann nicht finden, daß in den hier gebotenen Gedichten ein Vorschritt bemerkbar wäre. Dagegen gebührt der Erzählung »Die Judenbuche« als einer westphälischen Sittenschilderung von markigster Zeichnung aufrichtiges Lob. Was »Das geistliche Jahr« angeht, so hat sich damit die katholische Dichterin in vielen und dankbaren katholischen Herzen ein katholisches Denkmal errichtet. Es ist auch ganz wahr, daß Annette in diesen Liedern mitunter Töne religiöser Erhabenheit gefunden hat, erschütternd wie der Klang der » Tuba mirum spargens sonum« im Weltgerichtsliede des Thomas von Celano, und ebenso Hauche religiöser Innigkeit, wie sie im » Stabat mater« des Jakobonus wehen. Aber man braucht doch wahrhaftig kein solcher Pfaffenfeind zu sein, wie ich einer bin Aber beileibe kein einseitiger! Heiden-, Juden- und Christenpfaffen sind mir gleich lieb und ich will meine Unparteilichkeit beweisen, indem ich hier gelegentlich in Erinnerung bringe, daß unser christlich-germanisches Kernwort: »Der Pfaffensack hat keinen Boden« – sich schon beim hellenischen Heiden Sophokles findet, nur etwas höflicher ausgedrückt: »Το μαντιχον γαρ παν φιλαργυρον γενος« (Antigone 1040.), um zu finden, daß ein ganzer Band voll Kirchenluft, Glockengeläute, Orgelklang, Litanei, Weihwassergespritze und Weihrauchsqualm für einen modernen Menschen zu viel sei, viel zu viel.

Die Stellung unserer Dichterin in der deutschen Literatur beruht auf ihrer Gedichtesammlung von 1844, welche seither wiederholt neu aufgelegt worden ist.

Was ist es nun aber, wodurch diese Aristokratin, diese Katholikin, diese Vollblutromantikerin nicht allein auf naive Gemüther, sondern auch auf welterfahrene, enttäuschte und skeptische wirkt und auch in Menschen von einer ihrer eigenen diametral entgegenstehenden Anschauung ästhetisches Wohlgefallen und herzliche Teilnahme zu wecken weiß? Nichts anderes als die schon oben von mir betonte Ganzheit und Wahrhaftigkeit unserer Dichterin. Man fühlt, hier hat man nichts anempfundenes, gemachtes, erkünsteltes vor sich, sondern eine Natur, nichts gespieltes, sondern gelebtes, ein Dichten, welches nur der naturwahr-logische Ausdruck einer ganzen, vollen, eigenartig auf sich gestellten Persönlichkeit, kurzum die in Versen geschriebene Offenbarung eines Charakters gewesen ist. Wie Annette von Droste war, so dichtete sie. Das ist's, was dieses Weib thurmhoch über eine ganze Legion von Poetastern in Hosen stellt, welche wähnen, sie dichteten, wenn sie sich selbst belügen und andere zu belügen versuchen.

Die Gaben Annette's waren weit entschiedener auf das epische als auf das lyrische gestellt. Daher ist ihr das eigentliche Lied nur selten oder gar nie gelungen. Ihr Gedankenernst war zu schwer, um von den Lerchenflügeln des Liedes getragen zu werden. Ihre Poesie hatte überhaupt viel mehr von der Malerei als von der Musik und wieder viel mehr von der niederländischen und spanischen Malerei als von der italischen und deutschen. Unter ihren Balladen und Romanzen finden sich echte Rembrandts, z. B. »Der Graf von Thal«, »Der Tod des Erzbischofs Engelbert«, »Die Stiftung Kappenbergs«. Andere beurkunden eindringlich die Fähigkeit Annette's, das mystische, unheimliche, dämonische poetisch wirken zu lassen. So »Vorgeschichte«, »Der Graue«, »Das Fräulein von Rodenschild«, »Die Schwestern«, »Der Mutter Wiederkehr«, »Die Vergeltung«, »Der Fundator«. Bei Annette entrollt sich die Handlung nicht in der ruhig- und klarschönen Romanzenweise Uhlands oder in der prächtig-feierlichen Schwabs, sondern in dramatischer Hast und die Beleuchtung wechselt zwischen heißen Schlaglichtern und schroffen Schlagschatten. Die Ballade »Der Geierpfiff« zeigt diese Eigenheiten vielleicht am deutlichsten auf. Daß unsere Dichterin vorzugsweise mit pathetischen Farben malte und daß die Stoffe zu ihren Bildern nicht selten aus der »Nachtseite« des Daseins und der Geschichte geholt waren, entsprach ganz ihrem Wesen. Aber ein auszeichnendes Merkmal dieser Erscheinung war, daß Annette auch ein kräftig entwickeltes Organ für den Humor besaß, eine Himmelsgabe, deren sich bekanntlich Frauen nur selten, sehr selten erfreuen. In mehreren Gedichten spielt der Humor gar hellfarbig, z. B. in »Des alten Pfarrers Woche« und in den »Stubenburschen«. Elegisch und satirisch zugleich klagt und straft Annette's Humor in dem Gedicht »Alte und neue Kinderzucht«, dessen gegen die Resultate der »amerikanischen«, auch in Europa vielfach Mode gewordenen Erziehungsweise gerichtete Spitze meisterlich scharf und blank geschliffen ist. Ein Mahnwort von wahrhaft sibyllinischem Ernste hat die Dichterin »An die Weltverbesserer« gerichtet und nur allzu richtig geschaut und empfunden war es, wenn sie ihre Elegie »Vor vierzig Jahren« mit den Worten beschloß:

»Wir höhnen oft und lachen der kaum vergangnen Zeit
Und in der Wüste machen wie Strauße wir uns breit.
Ist wissen denn besitzen? Ist denn genießen Glück?
Auch Eises-Gletscher blitzen und Basiliskenblick.
Ihr Greise, die gesunken wie Kinder in die Gruft,
Im letzten Hauche trunken von Lieb' und Aetherduft,
Ihr habt am Lebensbaume die reinste Frucht gepflegt,
In karger Spannen Raume ein Eden euch gehegt.
Nun aber sind die Zeiten, die überwerthen, da,
Wo offen alle Weiten und jede Ferne nah.
Wir wühlen in den Schätzen, wir schmettern in den Kampf,
Windsbräuten gleich versetzen uns Geistesflug und Dampf.
Mit unsres Spottes Gerten zerhaun wir, was nicht Stahl,
Und wie Morgana's Gärten zerrinnt das Ideal;
Was wir daheim gelassen, das wird uns arm und klein,
Was fremdes wir erfassen, wird in der Hand zu Stein.
Es wogt von End' zu Ende, es grüßt im Fluge her,
Wir reichen uns die Hände – sie bleiben kalt und leer.
Nichts liebend, achtend wen'ge, wird Herz und Wange bleich,
Und bettelhafte Kön'ge stehn wir im Steppenreich.«

Annette hat unsere Literatur mit vier größeren Erzählungen in Versen bereichert, welche in dieser Reihenfolge von ihr geschaffen wurden: »Das Hospiz auf dem St.-Bernhard«, »Des Arztes Vermächtniß«, »Die Schlacht im Loener Bruch«, »Der Spiritus familiaris des Roßtäuschers«.

Ich sagte, bereichert habe sie damit unsere Literatur. Denn gerade an Dichtungen dieser in der englischen Literatur so glanzvoll vertretenen Gattung ist die deutsche verhältnißmäßig arm. »Das Hospiz« verräth noch deutlich den Einfluß vom Verfasser des » Marmion« und der » Lady of the lake« auf unsere Dichterin, während in »Des Arztes Vermächtniß« ebenso unverkennbar der Einfluß vom Schöpfer des » Giaur« und des »Lara« bemerklich ist. Schücking hat übrigens richtig gesagt, daß Annette's Absicht gewesen, in dieser wilden Rhapsodie darzustellen, welchen ungeheuren Eindruck das Grausen einer Schreckensnacht auf das Gemüth eines phantasiereichen Schwächlings gemacht habe, einen Eindruck, der bis zum Tode währt und den Erzähler des furchtbaren Erlebnisses, eben den Arzt, zu einem zwischen Wahnwitz und Blödsinn schwankenden Seelenzustand herabgebracht hat. Dieses schwanken ist in den Gang und Ton der Erzählung selbst mit virtuoser Kunst hineingebildet. »Die Schlacht im Loener Bruch«, in welcher Tilly den Herzog Christian von Braunschweig, den »tollen Halberstadt«, am 7. August von 1623 vernichtend schlug, muß als ein Originalwerk anerkannt werden. Das Gedicht darf sich kecklich zu dem besten stellen, was im ganzen Umfange der Weltliteratur von Wehr und Waffen singt und sagt. Ganz vortrefflich ist die Gegenüberstellung der beiden scharfgezeichneten und lebenswahr kolorirten Hauptfiguren, des Halberstädters und des Ligagenerals. Auch kam der Dichterin zu baß, daß sie hier auf der heimatlichen rothen Erde stand. Das Düster der westphälischen Haide legt sich als ein passender Rahmen um das Gemälde des erbarmungslosen Mordkampfes. Und wiederum einen Vorschritt markirt »Der Spiritus familiaris des Roßtäuschers«. In dieser poetischen Erzählung, welche für die beste unserer Literatur zu erklären ich kein Bedenken trage, hat Annette die Vollkraft ihres Stils gefunden. Die alte Legende vom »Galgenmännlein« war aber auch ein wie für sie gemachter Stoff. In der Behandlung desselben konnten sich ihre Empfänglichkeit für das dämonisch-unheimliche und ihr gestaltungsmächtiger Realismus aufs glücklichste verbinden. Und so geschah es. Das ganze Gedicht ist von der ersten bis zur letzten Zeile mit unvergleichlichem Feuer durchgeführt, der psychologische Proceß von Schuld und Buße stimmungsvoll zur Anschauung gebracht. Mit besonderer Genialität ist auch das landschaftliche behandelt und namentlich kontrastirt prachtvoll die Schilderung der winterlichen Mondnacht, in welcher der Täuscher den Spiritus familiaris erwirbt, mit der in Hochsommerglut brütenden Waldesöde, durch welche der unglückliche Mann hinirrt, um sich des höllischen Gesellen wieder zu entledigen.

Nun ist es aber überraschend, zu sehen, daß unsere Romantikerin dennoch nicht in der »mondbeglänzten Zaubernacht« der Romantik ihr bestes gesucht und gefunden hat, sondern vielmehr im modernen deutschen Alltagsleben. Dieses beste ist nämlich fraglos ihr Gedicht »Die beschränkte Frau«, eine bürgerliche Romanze, worin mit den allereinfachsten Mitteln die höchste Wirkung erreicht wird – zugleich nach meinem Gefühle das schönste Lob, welches dem deutschen Frauencharakter jemals gespendet worden. Dieses Gedicht, um dessen zwölf Strophen mir alle Faustismen und Byronismen der Madame Dudevant unbedenklich feil sind, muß den Namen Annette's von Droste erhalten, solange es eine deutsche Literatur gibt. Es ist ein wahres Juwel in dem dichterischen Hausschatz unseres Volkes.

Und wie in den Adern der »Beschränkten Frau« deutsches Herzblut kreist, so ist überhaupt die Deutschheit das Gesammtmerkmal unserer Dichterin. Etwas, viel vom guten, vom besten deutscher Nationalität lebte in ihr und dichtete aus ihr: Ehrfurchtsgefühl und Ueberzeugungstreue, Idealität und Vervollkommnungstrieb, Wahrheitsmuth und Anspruchslosigkeit, Begeisterung und Selbstbescheidung. Darum durfte ich sie die deutsche Dichterin nennen: nicht allein um ihres bislang von keiner zweiten erreichten Talentes, sondern auch um ihres Charakters willen. Ein Talent und ein Charakter! Es würde fürwahr dermalen mit unserer Literatur und mit noch vielem anderem besser bestellt sein, als es ist, falls man endlich das Lumpenaxiom von der Unverträglichkeit dieser beiden Begriffe verachtungsvoll beiseite stellte. Das charakterlose Talent bringt es ja in allem und jedem höchstens zum Virtuosenthum, nie aber zur Künstlerschaft. Darum die Unzahl virtuosischer Gaukler in der Gegenwart, wogegen wir nach einem Künstler-Schöpfer vergeblich ausblicken ...

Während ich das vorstehende schrieb, hat sich mir mehrmals die Frage aufgedrungen, wie wohl Annette, so sie noch lebte, die deutschen Dinge ansehen würde. Als Katholikin oder als Patriotin? Traurig genug fürwahr, daß man so fragen muß, weil die Kinder der Mutter Germania mit deutscher Gründlichkeit und Hartköpfigkeit in den alten albernen abscheulichen Zank um Meßbuch und Bibel noch immer so verbissen sind, daß ihrer viele nur allzu große Neigung zeigen, diese Zankgegenstände über das Vaterland zu stellen. Ich bezweifle sehr, daß Annette, so sie das neue deutsche Reich erlebt hätte, sich jenen vaterlandsfeindlichen Demonstrationen von westphälischen Junkerinnen angeschlossen haben würde, welche ihrem Bonzen-Gott zu dienen glaubten und ihren Katholicismus sehen lassen wollten, aber nur den Franzosen dienten und nichts sehen ließen als ihre Bornirtheit und Eitelkeit. So, wie unsere Dichterin war, deutsch in jedem Nerv, hochgesinnt und selbstlos, hätte sie, das ist mit Bestimmtheit anzunehmen, nicht zum Streite gerufen, sondern zum Frieden geredet, wie es einer Frau und wie es einer Poetin ziemt. Nicht zu einem faulen Frieden, sondern zu einer wahren und wirklichen Versöhnung der streitenden Brüder, angebahnt und vollzogen auf Grund der Einsicht und des Bekenntnisses, daß deutschsein mehr ist und heißt als katholisch- oder lutherischsein und daß es fürder nicht mehr für eine nationale Lebensfrage, sondern nur noch für eine persönliche Geschmackssache gelten soll, ob einer lieber in der Bibel oder lieber im Meßbuch oder lieber in keinem der beiden Bücher lesen will.

Ja, unsere Dichterin würde zum Frieden gerathen und zur Versöhnung geredet haben. Hat sie doch ihr Lied, worin sie die Stammeseigenart ihres heimatlichen Westphalens vertheidigte, wie im prophetischen Vorausblick auf die Kämpfe unserer Tage mit der schönen Mahnung beschlossen: –

»Ja, jede Treue sei geehrt,
Der Eichenkranz von jedem Stamme;
Heilig die Glut auf jedem Herd,
Ob hier sie oder drüben flamme;
Dreimal gesegnet jedes Band,
Von der Natur zum Lehn getragen,
Und einzig nur verflucht die Hand,
Die nach der Mutter Haupt geschlagen!«


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