Wilhelm Scharrelmann
Katen im Teufelsmoor
Wilhelm Scharrelmann

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Nachtmusik

In einem der Dörfer im Teufelsmoor war einmal ein Schneidergesell zugewandert, der neben der Nadel, und nicht schlechter als diese, auch die 91 Baßgeige zu regieren verstand, und da es den Dorfmusikanten gerade an einem Spieler für dieses Instrument fehlte, machte es sich beinahe wie von selbst, daß unser Schneidergesell des Sonntags mit auf die Tanzmusik zog und dort seine Sache, wenn auch nicht besser, so doch auch nicht viel schlechter machte, als es sein Vorgänger getan hatte, und er sich zu dem kärglichen Lohn, den ihm sein Meister zahlte, noch einen Groschen nebenbei verdiente. So hätte der Schneider der glücklichste Mensch von der Welt sein können, wenn er nicht auf jeder Tanzmusik hätte zusehen müssen, wie sich sein Mädchen, in das er sich gleich in den ersten Wochen verliebt hatte, mit anderen Burschen des Dorfes vor ihm im Tanze drehte und er dazu noch den Verdruß hatte, ihr dabei aufspielen zu müssen. Aber noch bedrückender war es für ihn, daß er, sobald Feierabend geboten war und er sich anschickte, sein Instrument wieder nach Hause zu tragen, sein Mädchen selten mehr im Saale fand und ihm nach der Mühe des Abends ein anderer auch noch die Freude genommen hatte, seine Erwählte nach Hause begleiten zu dürfen, um sich so für das, was er den ganzen Abend über schmerzlich entbehrt hatte, ein wenig entschädigt zu sehen.

Das ging so den Herbst und Winter hindurch und wäre auch wohl noch eine Weile so weiter gegangen, wenn er nicht in einer Frühlingsnacht, als er wiederum einsam und bedrückt nach Hause stapfen mußte, auf den Gedanken verfallen wäre, seiner Liebsten vor ihrem Kammerfenster ein Ständchen auf dem Brummbaß zu bringen, um sich ihr vor 92 dem Einschlafen noch einmal in Erinnerung zu bringen – hatte er doch diesmal den ganzen Abend kaum einen Blick aus ihren schönen Augen erhascht, wenn sie im Arm ihres Tänzers an ihm vorübergeschwebt war. Dazu kam, daß der Garten bei ihrem Hause mit seinen blühenden Apfelbäumen so zauberhaft still und unbewegt im Schein des Mondes lag, daß sich der verliebte Schneider keine günstigere Gelegenheit zu denken vermochte. Er schlich sich also auf Zehenspitzen unter das Fenster seiner Verehrten, nahm sein Instrument vom Rücken und hatte eben, nachdem er die Saiten gestimmt hatte, mit seinem Konzert begonnen, als eine bezaubernd feine, wehmütig schöne Melodie sich zu der seines Basses gesellte und sie in kunstvollen Figuren zu begleiten und zu umspielen begann, ohne daß der verdutzte Schneider im ersten Augenblick hätte sagen können, woher die Töne kämen. Trotzdem unterbrach er sich nicht in seinem Spiel und meinte zuerst nicht anders, als daß der Klarinettenbläser seiner Kapelle, auf den er seit langem eifersüchtig war, seinem Mädchen ebenfalls ein Ständchen bringen wolle . . . Wütend fuhr er darum so energisch mit seinem Bogen los, daß des Basses Grundgewalt die Luft erschütterte. Nach einigen Augenblicken aber sah er plötzlich den ungebetenen Mitspieler unter den blühenden Apfelbäumen auf sich zukommen, ein silberblinkendes Horn an seinem Munde, einen nebelweißen hellen Mantel, der ihm fast bis auf die Füße ging, über den Schultern. Verwirrt brach der Schneider mit seinem Spiele ab und starrte verwundert den Fremden an, der im Gehen lächelnd weiterspielte und 93 geradewegs auf ihn zukam, bis auch er, mit einer lieblichen Kadenz, sein Spiel abbrach und die Hand zum Gruße erhob.

»Noch eines?« fragte der Mond und lächelte von neuem.

»Selbstverständlich!« antwortete der Schneider, nun gleichfalls lächelnd. »Denn darum bin ich hier!«

»Nun, dann spiel nur«, flüsterte der Mond, »ich finde mich schon hinein!« und hatte kaum die ersten Takte vernommen, als er sein Horn wieder an den Mund hob und den Schneider zu begleiten begann und diesmal noch schöner und hingebender als vorher, so daß das Mädchen jetzt ohne Frage hinter die Vorhänge ihres Fensters getreten wäre und in ihrer Freude vielleicht auch das Fenster geöffnet und den Schneider über den verlorenen Abend getröstet hätte, – wenn sie nur bereits in ihrer Kammer gewesen wäre! Aber das Unglück hatte es gewollt, daß sie sich von dem Burschen, der den letzten Walzer mit ihr gedreht hatte, noch ein wenig durch die Frühlingsnacht hatte führen lassen, darum erst jetzt mit ihrem Begleiter heimkam und nun bestürzt den Schneider erkannte, der ihr eine so schöne Nachtmusik brachte.

Was nun geschah, ging so schnell, daß man kaum Atem dagegen kriegen könnte, wollte man es ebenso schnell erzählen.

Kaum hatte der Schneider nämlich die Treulose erblickt, für die er so nutzlos gespielt hatte, und seine erste Verblüffung überwunden, als er sein teures und mühsam erspartes Instrument mit beiden Armen über den Kopf schwang und es unfehlbar auf 94 dem Schädel seines Nebenbuhlers zertrümmert hätte, wenn dieser nicht im selben Augenblick zurückgesprungen wäre und vor dem wütenden kleinen Schneider Reißaus genommen hätte. Aber als das Mädchen, nun gerührt von der Liebe seines Anbeters und bezwungen durch seinen unerwarteten Mut, sich jetzt entschuldigen und ihm in die Arme sinken wollte, verbeugte sich der Schneider, frostig wie einer der Eisheiligen, und sagte nur ein Wort: »Danke!« und das war deutlich genug und sagte alles. Eilig stopfte er sein Instrument mit vor Ärger bebenden Händen in den Überzug, hob es auf den Rücken, drehte sich um und ging.

»Etwas stürmisch«, sagte der Mond, der ihm nachkam. »Aber recht hast du!«

»Nicht wahr?« sagte der entrüstete Schneider, der mit seinem Packen auf dem Rücken an einen Apfelbaumast gestoßen hatte und nun von herabrieselnden Blütenblättern überschüttet weiterstapfte. »Das muß doch jeder sagen!«

»Durchaus! Und wohin nun?«

»Das soll mir gleich sein!« sagte der Schneider. »Hier bleibe ich jedenfalls nicht mehr, das steht fest!«

»Wie wär's, wenn du mit mir reisest?« fragte der Mond. »Das ist in solchen Fällen ein erprobtes Mittel. Ich habe freilich schon einen Mann in meinem Wagen, aber wenn ihr euch beide ein wenig einrichtet –«

Aber so hoch wollte der Schneider nicht hinaus. Er stammelte darum nur einen Dank und zog höflich seine Mütze. Am anderen Morgen aber sagte er 95 seinem Meister auf und verschwand nach einigen Tagen ohne Abschied zu nehmen aus dem Dorfe. Wohin er sich gewandt hat, ist nicht bekannt geworden, auch nicht weiter wichtig. Es bleibt nur zu hoffen, daß ihm an einem anderen Orte das Glück zuteil geworden ist, das er sich im Teufelsmoor solange vergeblich ersehnt hatte.

 

St. Nikolaus und sein Esel

Zu der Zeit, als der gute St. Nikolaus noch alljährlich in den Tagen vor Weihnachten mit seinem Eselchen durch die Dörfer und Städte zog, war er einmal in einer dunklen Dezembernacht zu einem der verlassensten Dörfer im Teufelsmoor unterwegs. Wie er dabei über den Berg nach Worpswede und auf die gepflasterte Dorfstraße kommt, merkt er, wie das Tier, das ihn schon auf so mancher Fahrt begleitete, auf einem Fuße lahmt, und wie er nachschaut, was es damit für eine Bewandtnis hat, sieht er, daß sich eins der silbernen Hufeisen gelockert hat, die es trägt.

Wie er nun vor die Schmiede zieht, um den Schaden wieder gutmachen zu lassen, liegt der Schmied zu der späten Stunde schon längst im Schlaf, will auch wegen einer solchen Kleinigkeit und einem unbekannten Laufkunden zuliebe, nicht wieder aus dem Bett, so daß der Alte unverrichteter Dinge weiter muß.

Besorgt um das Tier, das unter seinen Säcken lahm und müde hinter ihm hertrottet, achtet der Alte wenig auf den Weg, und kaum, daß er eine 96 Viertelstunde weit ins Moor hinausgewandert ist, verirrt er sich dort in der rabenschwarzen Nacht so sehr, daß er zuletzt weder vorwärts noch rückwärts weiß.

Nun hat er wohl ein Laternchen bei sich gehabt, aber so hoch er es auch hebt, findet er sich doch in dem engen Lichtkreis nicht zurecht und kann hinterher noch von Glück sagen, daß er nicht unversehens in einen Moorgraben geraten ist, der so breit und finster vor ihm liegt, daß ihm nichts anderes übrigbleibt, als daran entlang zu wandern und zu sehen, wohin er kommt.

Das wäre nun alles weiter nicht so schlimm gewesen, wenn nicht der Esel bei jedem Schritt in den weichen Moorgrund gesunken wäre und zuletzt fast nicht mehr weiter kann. Aber so einem Freudenbringer wie dem Alten muß auch das Abwegigste noch irgendwie zum Guten geraten, und er wundert sich darum gar nicht, als er bald darauf ein leeres Torfschiff auf dem Wasser liegen sieht. Zufrieden steigt er darin ein, zieht das erschöpfte Tier nach sich und beginnt in der Freude, seinem Weggenossen eine Ruhepause gewähren zu können, den Graben hinunterzufahren.

Nach einer traumstillen Fahrt, zuletzt über überschwemmtes Land hinweg, kommt er so an einen Moordamm und in ein Dorf, das so weltverlassen unter dem Schein der Sterne liegt, daß er meint, er habe es noch nie gesehen. In den Häusern ist freilich nirgends mehr Licht, und als er doch versucht, an den Türen Hilfe für sein Tier zu erbitten, meint man in den dumpfen Schlafbutzen, daß sich jemand einen 97 Scherz machen will, dreht sich auf die Seite und schläft weiter. Ist jemand vielleicht schon mit einem Esel durchs Moor gezogen, noch dazu bei dunkler Nacht?

Beim zweiten und dritten Hause geht es dem Alten um nichts besser, aber im letzten, der kleinsten Kate, ist noch Licht, und als er dort an die Tür klopft, steckt eine junge Frau den Kopf heraus. Die hat am Abend eine frischmilchende Kuh bekommen und muß nun während der Nacht noch wieder melken, wenn alles seine Richtigkeit kriegen soll.

Als ihr der Alte nun seine Not mit dem Esel klagt, meint sie, daß es ein reisender Händler ist, der da draußen steht, läßt ihn darum nach dem ersten Erschrecken über den späten Besuch auf die Diele, sucht auch einen Hammer und ein paar Hufnägel herbei, damit der Alte am Herde den Schaden notdürftig bessern kann, und hält ihm bei der ungewohnten Arbeit die Laterne.

Froh über die Hilfe, klopft der Alte denn auch den Beschlag wieder fest, kühlt dem Esel das geschwollene Gelenk, will aber nicht wieder gehen, ohne sich in seiner Weise dankbar erzeigt zu haben, und fragt sie, womit er ihr eine Freude machen könne, er habe so vielerlei in seinen Säcken, daß sie nur zu wünschen brauche.

Die junge Frau meint, daß es nur ein Scherz ist, was der Alte da redet, bietet ihm eine Tasse warme Milch an und fragt, er komme wohl weit her, ganz von Bremen vielleicht?

»Nein, ein Stück weiter noch«, antwortet er und lächelt in seinen Bart. 98

»Dann vielleicht gar von Hamburg?«

Nun, er kann ihr das nicht so genau sagen, es ist ja auch nicht weiter wichtig, sie soll nur anfangen, sich etwas zu wünschen.

Ach, meint sie, nun will er mir etwas verkaufen, aber ich habe kein Geld und mag es ihm nicht einmal sagen. Dabei denkt sie an die Tasse auf der Wandbort und die paar Groschen, die sie darin verwahrt.

Der Alte aber, der ihre Gedanken errät, sagt ihr, daß sie sich keine Sorge machen soll, denn alles was er bei sich führe, habe er nur mitgenommen, um es zu verschenken.

Aber das glaubt sie nun erst recht nicht, nein, will ihn aber auch nicht kränken und steht nur und lächelt.

Da bleibt ihm denn nichts anderes, als einen seiner Säcke vor ihr aufzutun und sie hineinschauen zu lassen.

Aber so weihnachtlich ihr über dem Anblick auch wird und soviel Glanz sich vor ihr auftut, daß ihr fast der Atem darüber vergeht, – es ist doch alles nicht das, was sie sich im stillen wünscht. Denn wenn sie es verlauten lassen darf, wäre ihr ein Kleidchen für ihr Kind und ein paar Schuhe, wenn es im kommenden Jahr nun laufen lernen wird, noch lieber als die schimmernde Herrlichkeit da vor ihren Augen.

Aber so große Dinge kann sie nicht erwarten, nein, und sie hat es nur so hingesagt, und er solle nur um Gotteswillen nicht denken, daß sie so unbescheiden sei.

Aber der Alte lächelt nur und knüpft dafür nun den anderen Sack auf, – ein richtiger Segeltuchsack 99 ist es gewesen, der jedes Wetter hat vertragen können, und nimmt heraus, was sie sich wünscht: ein Kleidchen, rot gewürfelt und mit einer silbernen Litze am Halsausschnitt, und ein paar Erstlingsschuhe aus blankem Leder und mit goldenen Knöpfen, und legt ihr die Sachen hin, als müßte das so sein.

»Ach, das träume ich ja bloß«, sagt sie und weiß nicht, ob sie lachen oder weinen soll. Gibt es auch jemand, der bei dunkler Nacht stundenlang durchs Moor läuft, nur um den Leuten unter ihren Strohdächern etwas zu Weihnachten zu schenken? Und nun gar so schöne Dinge? Aber ansehen muß sie die Sachen wieder und wieder und kann sich von dem Anblick so wenig trennen, daß sie sich erst abwendet, als der Kleine in der Wiege neben dem Herde zu weinen beginnt und sie ihn herausnehmen und an die Brust legen muß. Dann setzt sie sich auf den Binsenstuhl am Herde, und der Alte, der ihr zusieht, weiß nicht, ist es ein Glanz von innen her oder ist es nur der Widerschein des Herdfeuers, der aus ihrem Gesichte erstrahlt? Aber wie er so steht, kommt es wie ein Erinnern über ihn, ein Erinnern an eine der Kammern seiner ewigen Heimat, in denen die Ereignisse der Welt aufbewahrt werden, so wie die Himmlischen sie sehen – und er kann nicht anders, er muß seinen Mantel, blau wie der nächtige Himmel über der Hütte, der jungen Frau über die Schultern legen und vor ihr das Knie beugen, die hier in Armut und Einsamkeit ihr Kind nährt.

Dann tappt er leise, den Esel hinter sich, ins Freie hinaus, und die junge Mutter, eingesponnen in lauter Traum, hört kaum, daß die Tür geht. 100

Draußen aber ist nun der Mond aufgekommen und legt einen breiten Streifen von Licht über das überschwemmte Moor, als ginge eine Straße geradewegs von der nachtdunklen Erde zu den Sternenwiesen des Himmels hinauf, auf der der Alte, nun wieder auf gewohntem Wege, aufwärts zu steigen beginnt, seinen Esel, der immer noch ein wenig hinkt, am Zaume mit sich führend.

 

Der Bauer und der Tod

Einmal war ein Bauer, mißmutig und verdrossen über die Arbeit, die ihm bevorstand, aufs Feld gegangen, um sein Korn zu mähen, traute aber seinen Augen nicht, als ihm auf dem sonnenheißen Wege unvermutet der Tod entgegenkam. Er erschrak nicht wenig, wollte dem Knochenmann aber auch nicht ausweichen und sich feige und ängstlich zeigen, tat darum so, als ginge ihn der Kommende nichts an und begann, wenn auch mit heimlich bebenden Knien, seine Arbeit.

»Heda!« rief der Tod ihn vom Wege aus an und hob seine Sense.

»Was soll's?« rief der Bauer zurück, ohne sich zu unterbrechen.

»Das ist wohl nicht schwer zu erraten«, antwortete der Tod. »Gerufen hast du mich ja oft genug. Nun bin ich da!«

»Dich gerufen? Daß ich nicht wüßte«, entgegnete der Bauer verwundert.

»Hast du nicht noch vorhin gewünscht, daß es mit der Plackerei in deinem Leben ein Ende haben möge?« 101

Betroffen schwieg der Bauer einen Augenblick.

»Das ist allerdings richtig«, antwortete er dann, »wenn ich dabei auch nicht gerade daran gedacht habe, auf diese Weise Feierabend zu bekommen! Aber nun bist du da und wirst wohl schwerlich umkehren wollen«, setzte er treuherzig hinzu.

»Nein, umkehren ist meine Sache nicht«, antwortete der Tod.

»Dann hältst du es damit wie ich. Etwas halb zu machen ist auch meine Sache nie gewesen«, nickte der Bauer, und wenn ihm auch der kalte Schweiß auf die Stirn trat, verließ ihn doch der Mut nicht, setzte darum den Stiel seiner Sense auf die Erde und begann sie zu wetzen, als wäre das jetzt das Wichtigste auf der Welt und alles andere kümmerte ihn nicht einen Deut.

»Mein Korn läßt du mich doch wenigstens noch abmähen, nicht wahr?« fragte er. »Meine Frau liegt im Kindbett, und eine Hilfe haben wir nicht.«

»Dann beeile dich«, sagte der Tod. »Ich habe nicht viel Zeit und muß weiter.«

»Schon gut, aber jedes Ding will seine Zeit«, entgegnete der Bauer. »Komm lieber und hilf mir, so geht es schneller, und du brauchst nicht müßig dazustehen, wenn deine alte Sense für eine so rechtschaffene Arbeit noch zu brauchen ist.«

Das wollte der Tod sich nicht gern sagen lassen, trat also vom Wege auf das Feld hinüber und begann hinter dem Bauern her zu mähen, daß es nur so rauschte.

»Den Teufel auch, du verstehst deine Sache!« rief der Bauer. »Aber wer am besten mäht, muß 102 vorangehen. Das ist schon immer so gewesen. Sonst mähst du mir am Ende noch in die Hacken. Nur tue mir den Gefallen und knacke nicht so mit deinen Gelenken, wenn es möglich ist.«

Also schritt der Tod dem Bauern voran, und der Bauer mähte hinter ihm her und überlegte, ob sich nicht eine Gelegenheit böte, seinem Schicksal noch einmal zu entgehen.

»Nun wollen wir sehen, wer stärker ist, du oder ich«, rief er im Mähen seinem Vormann zu und biß die Zähne zusammen. »Wer zuerst müde wird, hat verloren!«

»Topp«, rief der Tod zurück, denn er hatte es eilig.

Da riß der Bauer alle Kraft zusammen und begann zu mähen, wie in seinem ganzen Leben nicht. Wohl hatte er schon an den ersten Schwaden, die der Tod auf das Feld gelegt hatte, gemerkt, was für einen Vormann er da hatte. Aber er ließ den Mut nicht sinken, rückte vielmehr mit jedem Schritte weiter auf, so daß sich auch der Tod mächtig daran halten mußte, wenn ihm die Sense des Bauern nicht ins Gebein fahren sollte. Erschöpft mußte er zuletzt an die Seite springen. So ein Tagewerk Korn umzulegen und dabei mit einem Hintermann wie diesem Bauern Schritt zu halten, war doch eine saurere Arbeit, als er gemeint hatte.

»Du hast deine Sache besser gemacht, als ich angenommen habe«, lobte er. »Aber nun ist es genug. Laß den Rest stehen und komm mit. Deine Zeit ist um.«

»Wie?« schalt der Bauer, dem selber von der Anstrengung die Knochen zitterten, wenn er sich auch nichts davon merken ließ. »Hab ich jemals einen 103 solchen Schmachtlappen auf dem Felde zu Hilfe gehabt wie dich? Menschenleben mähst du wie Gras – aber hier, wo es darauf ankommt, ein Stück Arbeit zu tun, das mit Heimtücke und einem Sensenhieb nicht zu schaffen ist, wirfst du den Kram hin und tust, als wäre Bauernarbeit ein Narrenspiel? Nein, so einen wie dich wollte ich nicht einmal zum Jungknecht haben!«

»Ist das der Dank dafür, daß ich dir Frist gelassen und dir zum Überfluß noch geholfen habe?« antwortete der Tod. »Darum spare deine Worte und komm mit!«

»Was?« verhöhnte ihn der unerschrockene Bauer. »Dank willst du für das bißchen Arbeit nun auch noch haben? Ich meinte, du machtest keine Arbeit halb? Und hast du mir vorhin vielleicht nicht zugesagt, daß ich mein Feld noch abmähen könne vorher?«

»Es dauert länger damit, als ich angenommen habe«, erwiderte der Tod.

»Das ist doch nicht meine Schuld!« antwortete der Bauer. »Wer von uns beiden hat schlapp gemacht, du oder ich? Und also hab ich die Wette gewonnen!«

»Von der Wette wollen wir nicht weiter reden«, antwortete der Tod.

»Weil es dir nicht paßt!« trumpfte der Bauer auf. »Aber versprechen und halten, steht gut bei Jungen und Alten, meine ich.«

»Das hat seine Richtigkeit«, sagte der Tod. »Dazu habe ich gemerkt, wie sauer es so einer hat wie du. Und unerschrocken bist du auch und hast dich selbst vor mir nicht gefürchtet, vor dem schon mancher in 104 die Knie gebrochen ist, wenn er mich nur von weitem kommen sah. So will ich diesmal Gnade vor Recht ergehen lassen.«

»Nichts davon«, beharrte der Bauer, »die Gnade ist bei mir, daß ich dich so laufen lasse, du Halbgesell!« Aber im stillen war ihm mehr als ein Stein vom Herzen gefallen, als er den Tod davongehen sah, und mit bebenden Händen strich er sich den Schweiß vom Gesicht.

»Auf Wiedersehen denn – später einmal!« rief er ihm nach.

Aber der Tod hörte es nicht mehr.

 

Der Mond hilft einer Sterbenden

Einmal ist der Mond in der Nacht durchs Teufelsmoor gekommen, und wie er durch das kleine Fenster in eine der engsten Katen hineinguckt, sieht er in den blaukarierten Kissen der Schlafbutze ein junges Mädchen liegen. Das hält die Augen geschlossen, hebt aber im Traum den Arm, als wolle es ihm winken. Wie er aber ihre bleiche Stirn berührt und ihr mit seiner Laterne recht ins Gesicht leuchtet, merkt er ja, wie es mit dem Mädchen steht, nimmt ihre Hand in die seine und setzt sich zu ihr. Sie ist aber schon so tief in ihren letzten Traum gesunken, daß sie nicht weiß, wer sie berührt.

Wie der Mond nun dasitzt, geduldig und still, und darauf wartet, daß er sie, wenn sie ihren letzten Atemzug getan, mit sich nähme in die blaue Unendlichkeit, aus der er kommt, fängt plötzlich das Kleine, das sie neben sich in der Wiege hat, an zu weinen. 105 Da beginnt der Mond es sacht zu schaukeln, so sanft und leise, daß es darüber wieder ruhig wird und einschläft.

In der plötzlichen Stille aber öffnet die Kranke die Augen, schreckhaft und groß, sieht den Mond vor ihrem Bette sitzen, meint, daß es ihr Liebster ist und sagt:

»Wo swoar is de Welt, wo düster de Straten, –
wat hest mi vergeten, wat hest mi verlaten!«

Da will der Mond sie trösten, zieht ihre Hand an sich und flüstert:

»Ick bin ja nu kamen, ick bin ja nu dor,
dat Düster is lecht nu, de Weg nich mehr swoar.«

Da muß sie lächeln in der Freude, die unter seinen Worten in ihr Herz kommt, und antwortet:

»Giw mi dat Kind nu, denn willt wi gahn,
So witt liggt de Straten, so hell schient de Moan.«

Wie nun der Mond das Kind aus der Wiege hebt und es ihr in den Arm legt, beginnt es darüber von neuem zu weinen und will auch an der Brust der Mutter nicht still werden. Da nimmt der Mond es zu sich herüber, merkt aber, daß es der helle Schein aus seiner Laterne ist, der es nicht einschlafen läßt, blendet darum das Licht mit der Hand ab und wiegt das Kind auf seinen Knien wieder in Schlaf. Weil es aber nun für ihn Zeit wird, weiter zu wandern, und er sich nicht länger aufhalten darf, bettet er es still wieder in seine Kissen, beugt sich über die Sterbende und legt ihr leise und kühl seine Hand aufs Herz. Mit der anderen aber deutet er zum sternenschimmernden Nachthimmel hinauf und flüstert: 106

»So hell is de Kark all, un hell is de Saal,
nu fierst du din Hochtied, nu hoolt wi dat Mahl.«

Da kann sie nicht anders und erhebt sich, und er nimmt sie mit sich hinaus in die Nacht. Draußen aber ist ein Glanz auf ihrem Wege, daß sie die Hände vor die Augen legen muß, als schritte sie in die helle Sonne hinein, und lehnt sich an ihn, der sie führt, und flüstert:

»Wat lücht us de Hewen, wat glinstert de Feern?«

antwortet der Mond:

»Sind teindusend Lüchten, sind teindusend Steern!«

Dann aber fließt aller Glanz, der vor ihren Augen ist, zusammen in einen, daß ihr ist, als wäre sie aus ihrer Kate mit einem einzigen Schritt in das unerschaffene Licht Gottes getreten, und alles was hinter ihr liegt, wird rein und gut in seinem Schein.

Vom Monde aber sagt man noch heute im Teufelsmoor, wenn jemand auf Sterben liegt und ist zu matt, die letzte Pforte vor sich aufzutun: Lat't man erst den Moan upkamen, de will em woll helpen!

 

Die drei Birken

Vielleicht waren sie wirklich einmal aus den Samen eines Baumes erwachsen, so nahe standen sie beieinander. Das Merkwürdige aber war, daß sie in ihrer Jugend ihre Stämme wie in schwesterlicher Liebe umeinander geschlungen hatten und sich erst in Manneshöhe wieder voneinander trennten und ihre Kronen in die Luft erhoben.

Hell und schimmernd stand ihre Rinde vor dem 107 dunklen Geäst des Föhrenschlages, der sich hinter ihnen erhob, und in Mondnächten sah es aus, als wären ihre Stämme drei menschliche Leiber, die sich in dumpfer Sehnsucht und bleich und wie versteint aus dem moordunklen Boden emporhoben. Darum war es auch ganz recht, wenn die Leute sie »die drei Schwestern« nannten und jeder von ihnen einen besonderen Namen gegeben hatten.

Die höchste und stärkste hieß die Stolze, die mittlere, die ein wenig schwächer geblieben war, die Zarte, und die dritte, die ihre Krone tief auf den Spiegel des alten Moortümpels herabsenkte, hatte man die Demütige genannt.

An einem frühlingsjungen Pfingsttage, als der Kätner, dem die Bäume gehörten, seinen drei kleinen Töchtern einen Pfingstbusch von den Bäumen schnitt, sagte er ihnen die drei Birken für ihre Aussteuer zu, wenn sie einmal erwachsen seien und heiraten sollten.

Das war eigentlich nur ein Scherz gewesen, und der Bauer hatte sein Versprechen lange vergessen, bis ihn die älteste, als sie nach Jahren heiratete, daran erinnerte. Da er aber an den drei Bäumen mit besonderer Liebe hing, wäre er gern mit einer Ausrede über die Sache hinweggekommen, konnte aber seiner Tochter nur so wenig in die Ehe geben, daß er ihr die Bitte nicht abschlagen mochte und zusagte, einen der drei Bäume für sie zu fällen.

Als er am anderen Morgen in aller Frühe hinging, um sein Wort wahr zu machen, und die Axt mit dumpfem Schlage der ersten der drei Birken in die silberblanke Rinde fuhr, meinte er einen Seufzer aus dem Baume zu vernehmen, und da er noch 108 verwundert und betroffen innehielt, hörte er eine Stimme flüstern:

»Wi sind dree Süstern,
und hüt is nich gistern,
sleist du us dot,
fritt di Kummer und Not!«

Verstört konnte der Alte sich nicht entschließen, noch einen einzigen Hieb auszuführen, nahm die Axt vielmehr auf die Schulter und kehrte unverrichteter Dinge nach Hause zurück. Dort vertröstete er seine Tochter damit, daß er es nicht übers Herz gebracht habe, einen der Bäume zu schlagen. Wenn aber die jüngste ihrer Schwestern heirate, wolle er die drei Bäume auf einmal fällen, und dann solle auch sie ihr Recht bekommen. Als nun nach Jahr und Tag auch die beiden anderen Töchter, und zwar beide an einem Tag, Hochzeit machten und ihn alle drei an sein Versprechen erinnerten, ging er wiederum hin, die Bäume zu fällen. Aber kaum hatte er die Axt erhoben, hörte er dieselbe Stimme wieder und die gleiche Warnung wie vor Jahren, erschrak darüber noch stärker als das erstemal und war von diesem Tag an fest entschlossen, die Bäume in seinem ganzen Leben nicht anzurühren, ließ sich auch von seinen Töchtern versprechen, sie selbst nach seinem Tode noch zu schonen.

Die drei, die wohl merkten, wie sehr ihr Vater an den Bäumen hing, wollten ihn nicht länger drängen, trösteten sich auch im stillen, daß ja später immer noch Zeit sei, über die Sache zu reden, und begnügten sich, wenn auch mit einiger Unzufriedenheit, ihre 109 Bettladen und Schränke statt aus flammendem Birkenholz, wie sie es sich gewünscht hatten, aus schlichtem Tannenholz machen zu lassen. Als aber der alte Kätner, der in den letzten Tagen seines einsamen Lebens kindisch und wunderlich geworden war, starb, besannen sich ihre Männer bei der Teilung der Erbschaft auch auf die drei Birken, die ihren Frauen schon seit so langer Zeit zugesprochen waren, und kamen überein, die Bäume nunmehr selbst zu schlagen und sich das Holz zu teilen.

Kaum aber hatte der Mann der ältesten den ersten Hieb mit der Axt getan, hörte er dieselben Worte, die früher, ohne etwas davon zu verraten, auch der Alte vernommen hatte, und ließ, wunderlich berührt, in scheinbarer Gleichgültigkeit von der Arbeit ab.

Dem zweiten ging es nicht anders, und auch der jüngste, als er seinem Vorgänger die Axt aus den Händen genommen hatte, stutzte einen Augenblick, hieb aber dann nur desto entschlossener auf die Bäume ein, bis sie mit dumpfem Krachen zu Boden stürzten.

Als nun die drei sich daran machten, die Stämme untereinander zu verteilen, bestand der jüngste, weil er die Bäume geschlagen hatte, darauf, für seine Arbeit den stärksten der Stämme zu erhalten. Da aber keiner der beiden anderen damit einverstanden war und sich weder mit dem Holz der Zarten, noch mit dem der Demütigen begnügen wollte, gerieten sie in einen so hartnäckigen Streit, daß sie dabei nicht nur mit Worten aufeinander eindrangen, sondern auch miteinander zu raufen begannen und zuletzt in Wut und Zorn auseinandergingen. 110

Grollend saßen sie von da ab jeder in seinem Dorfe, und einer sah den andern nicht an, wenn er ihm durch einen Zufall wirklich einmal begegnete, und so unglücklich ihre Frauen auch darüber waren und einmal über das andere seufzten und heimlich ihre Tränen vergossen, fanden nun auch sie nicht mehr den Weg zueinander.

Zugleich wollte es in keinem Hause mit der Wirtschaft mehr recht vorangehen, und Gift und Galle in den Herzen der sechs, die lange ein Herz und eine Seele gewesen waren, wuchsen mit jedem Tage wie Unkraut nach dem Regen. Zuletzt wurde es so schlimm damit, daß die jüngste der drei Schwestern, die von den dreien immer die anfälligste gewesen war, über all dem heimlichen Ärger und Kummer, der sie bedrängte, erkrankte und einem Siechtum verfiel, das keinem ärztlichen Mittel weichen wollte. Ja, mit der Zeit verschlimmerte sich ihr Zustand so, daß sie im Verlauf einer Aussprache zu ihrem Manne sagte: Was ist Recht und was ist Unrecht? Mich dünkt, ihr seid alle drei schuld an eurer Zwietracht. Darum, wenn ich leben und nicht sterben soll, so gehe hin und vertrage dich mit den Männern meiner Schwestern. Nimm aber zugleich drei junge Birken mit und pflanzt sie gemeinschaftlich an die Stelle der alten, die ihr gefällt habt, damit wieder Friede sei zwischen uns allen.

Ihr Mann hörte ihre Worte mit Seufzen an, und wenn er ihr auch im stillen recht gab, konnte er sich doch lange nicht entschließen zu tun, was sie von ihm wünschte. Aber eben vor dem nahen Pfingstfeste überwand er sich, reichte den beiden, deren Schwelle 111 er so lange gemieden hatte, die Hand zur Versöhnung und schlug ihnen vor, nach den Worten seiner jungen Frau zu tun und drei junge Birken an die Stelle der alten zu setzen.

Damit waren die beiden anderen, denen der Streit, ebenso wie ihm selber, längst leid geworden war, gern genug einverstanden. Als sie aber am Pfingstmorgen gemeinsam hinkamen, sahen sie zu ihrem Erstaunen, daß aus den Stümpfen der geschlagenen Bäume je zwei junge Ruten wieder emporzuschießen begannen. Die flochten sie nun zum Zeichen ihrer Versöhnung alle sechs ineinander.

Die alten Stämme aber blieben liegen, wie sie vor Jahren gefallen waren, nur daß der dunkle Boden des Moores, aus dem sie einst erwachsen waren, sie langsam wieder in sich einzusaugen begann, als wolle auch er dem Streite seinen Anlaß nehmen und alle Zwietracht zwischen ihnen auslöschen helfen.

 

Heimkehr

Im Saal der ewigen Freude war einmal ein Kind, das sehnte sich so sehr, noch einmal, wenn auch nur für eine einzige Stunde, zu den Seinen auf der Erde zurückkehren zu können, daß es sich zuletzt vor Heimweh nicht mehr zu lassen wußte. Da es nun keiner zu trösten vermochte, brachte man es zuletzt zu der Jungfrau Maria. Die strich ihm mit ihrer engelgleichen Hand über das Haar, sah es aus ihren himmlischen Augen so liebreich an und begann ihm mit so sanften Worten zuzureden, daß es wohl dadurch hätte getröstet werden können. Es ließ aber 112 nicht ab zu bitten, ihm doch nur für eine einzige armselige Stunde seinen Wunsch zu erfüllen, und wenn Maria auch immer von neuem versuchte, ihm seine Bitte auszureden, gab sie ihm doch zuletzt nach und sagte: »Nun, wenn du es denn durchaus willst, so mag es für dies eine Mal sein. Hüte dich aber wohl, den Deinen das Herz schwer zu machen, und achte auch auf die Frist, die ich dir gebe. Es könnte sonst sein, daß du den Weg zu uns nicht wieder zurückfändest und niemand da wäre, ihn dir zu zeigen.« Das versprach das Kind, und alsbald erlosch das himmlische Licht vor seinen Augen, und es sank in einen tiefen Schlaf.

Als es daraus erwachte, sah es sich wieder in seinem Dorfe und vor der Kate seiner Eltern stehen.

Es war aber eine tiefe Winternacht und alles umher so still und einsam, als wäre das Dorf seit langer Zeit verlassen, und war nichts zu hören noch zu sehen als das leise Rieseln der Schneeflocken, die vom dunklen Himmel herabsanken und alles in Traum und Stille versenkten.

So vertraut nun dem Kinde auch alles erschien und es alles wiedererkannte, das Haus und den Brunnen und die kleine Scheune im Garten und den Ziegenstall daran, erschien ihm doch alles zugleich merkwürdig fremd, als wären die Dinge, so nahe sie ihm nun auch wieder waren, doch wunderlich weit von ihm entfernt. Benommen und still faßte es sich aber zuletzt ein Herz, pochte an das Kammerfenster seiner Eltern und rief:

»Makt up, makt up de Butendör,
'n arm' lütt' Seel, de steit dorvör!« 113

Aber so sehr es auch horchte, vernahm es von drinnen keine Antwort, ja, nicht einmal einen Laut, und wie es darauf wieder an die Tür lief und durch das Fenster daneben auf die Diele blickte, sah es seine Eltern drinnen noch beim Schein einer Kerze am Herde sitzen, erschrak aber bei aller Freude, die es darüber empfand, plötzlich so sehr, daß ihm der Atem stillstehen wollte. Denn der Vater saß da, wie es ihn früher nie erblickt hatte, mit langem eisgrauen Haar und so gebückt wie ein steinalter Greis, und die Mutter saß an ihrem Spinnrade, wie es in seiner Erdenzeit früher zuweilen die alten Frauen im Armenhause hatte sitzen sehen. Darüber stieg eine Ahnung in ihm auf, daß wohl schon viele Jahre darüber hingegangen sein mußten, seitdem es von hier fortgenommen worden war, ihm selber aber in der Ewigkeit, aus der es kam, die Zeit wie im Traum und Schlaf vergangen sein mochte.

Wie es noch dastand, atemlos und mit pochendem Herzen, sah es seine Schwester aus der Kammer auf die Diele treten. Die war um drei Jahre jünger gewesen, nun aber längst erwachsen, trug ein Kind auf den Armen und legte es soeben an ihre Brust. Da verwunderte es sich noch mehr, und seine Befangenheit wurde so groß, daß ihm fast die Stimme versagen wollte, als es nun von neuem rief:

»Makt up, makt up de Butendör,
'n arm' lütt' Seel, de steit dorvör!«

Aber auch diesmal waren seine Worte, als wären sie nicht gesprochen, und weder der Vater noch die Mutter hoben auch nur den Kopf, und das 114 Spinnrad ging weiter wie vorher, und auch der Vater, der an einem Holzlöffel schnitzte, unterbrach seine Arbeit nicht. Da stemmte es sich mit aller Kraft gegen die Tür, ob es sie vielleicht aufdrücken könne, merkte aber im selben Augenblick, daß es durch das Holz hindurchglitt, ohne einen Widerstand zu spüren. Wie es aber nun zum Herde lief und in den Lichtschein der brennenden Kerze trat, war wiederum nicht eines unter den Seinen, daß auch nur den Kopf zu ihm wendete, und taten alle, als wäre es überhaupt nicht da. Nur über die Mutter schien ein Erschauern zu gehen, als wäre ein Schimmer des ewigen Lichts auf sie gefallen, denn für einen Augenblick hielt sie mit ihrer Arbeit inne, hob den Kopf und sagte leise:

»Wat brust de Wind, wat lücht de Snee?
Is mi nu woll, or is mi blot weh?«

Da ließ das Kind in seiner Verlassenheit seine Arme sinken und begriff in einem jähen Erschrecken, daß es, so nahe es nun auch den Seinen war, doch immer noch so tief von ihnen geschieden war wie vorher und daß es keine Brücke mehr gab von ihm zu ihnen und aller Schmerz, den die Seinen um es erlitten, längst ausgeglichen und still geworden war.

Wohl hätte es alle gern noch einmal umarmt, bezwang sich aber und verließ das Haus so still, wie es gekommen war, und glitt wieder in den Garten hinaus.

Draußen hatte das Schneien jetzt aufgehört und der Himmel wieder seine stillen Lampen herausgehängt, und so heftig es vorher von seinem 115 Heimweh gequält worden war, stand es nun da und empfand, daß es wohl jetzt erst recht gestorben und verwandelt sei, und sah nun auch die Erde und seine frühere Heimat anders als vorher. Wie es aber noch dastand und nicht wußte, wohin es sich wenden sollte, wurde es von einer Sehnsucht erfaßt, wieder dahin zurückkehren zu können, von woher es gekommen war, und die Jungfrau Maria um Verzeihung zu bitten. Kaum aber hatte es das gedacht, als der Mond aufkam und eine silberne Bahn über das verschneite Feld legte, und es brauchte nur darauf entlang und bis an eins der sieben Tore des Himmels zu gehen, um dort anzuklopfen und die Worte zu wiederholen, die auf der Erde niemand gehört und verstanden hatte:

»Makt up, makt up de Butendör,
'n arm lütt' Seel, de steit dorvör!«

worauf sich die himmlische Pforte sogleich wieder vor ihm öffnete und es wieder in das ewige Licht treten ließ, aus dem es gekommen war.

 

Zum Ausklang

Am Rande eines Moores, umrauscht von alten Eichen, steht das Stammhaus meiner Väter. Geschlechter auf Geschlechter sind darin geboren, sind über Diele und Flett gegangen, haben draußen dem kargen Boden seine Ernten abgewonnen, sich in langen, einsamen Schneewintern am niedrigen Herde versammelt, haben geschnitzt und gesponnen und gewirkt und geschafft, so lange es Tag war für sie. 116

Uralt ist das Haus. Niemand erinnert mehr, wer von den Vätern es erbaute, und lange ist es her, daß ich es betrat.

Aber ich brauche nur die Augen zu schließen und ein wenig tiefer in mich hinabzusteigen, so hebt es sich aus den Erinnerungen meiner Kindheit empor, als hätte ich es nie verlassen.

Schwer lastet das Dach über den niedrigen Wänden, und dunkel lagert der First aus trockener Heide darauf. Leere Ackerwagen stehen vor dem Hause und glühen in der Sonne. Ihre Speichen sind so heiß, daß man sie kaum berühren mag. Aber auf der Diele ist es schattig und kühl. Stallpfosten stehen in langer Reihe im Dämmerlicht des langen Raumes. Mitten im Kopfsteinpflaster des Fletts raucht der niedrige Herd. Dort steht der Ahn', den Kopf über das Feuer geneigt, und kocht seinen Honig. Süß und würzig duftet es vom Herde her. Blauer Torfrauch erfüllt das ganze Haus und beizt die Augen, daß sie zu tränen beginnen.

Der Apfelhof liegt wie verzaubert in der Glut der Nachmittagssonne. An den Bäumen regt sich nicht ein einziges Blatt. Hinter den Obstbäumen aber beginnt die Heide, reckt sich, von dunklen Fuhren beschattet, der »Krähenberg« empor, liegt das »witte Meer«, weidet die Heidschnuckenherde, flammen Brambüsche in gelbem Feuer, trauern Machandeln in schwermütiger Versunkenheit, schwingt sich die Ebene wie ein ungeheures Rad um Hof und Haus, hängen regungslos und müde verlorene Wolken am Himmel, als hätten sie es aufgegeben, die grenzenlose Ebene, die sich unter ihnen weitet, zu überfliegen . . . 117

Und dann der alte Zaun rings um das Gehöft. Eichenkratt wuchert auf dem Erdwall, den die Väter um ihren Besitz gezogen, und hoch reckt sich der Arm des alten Ziehbrunnens, den sie sich gruben. Blick hinunter, wenn es dich nicht durchschauert, in sein dunkles Auge zu sehen, das zwanzig Klafter tief zu dir heraufblinkt.

Sein Wasser ist kühl wie Eis. Es brennt vor Kälte, brennt wie die Nesseln, die am Brunnenrande wuchern.

Märchen gehen hier um und treten aus allen Winkeln, Märchen und alte Geschichten . . .

»Brennettelbusch,
Brennettelbusch so kleene,
Wat steist du hier allene?
Ik hef de Tyt geweten,
Da hef ik dy ungesaden
Un ungebraden eten.«

O ja, der Hof hat auch die Not gekannt, so stattlich er auch unter seinen Eichen liegt! Langsam, unter Mühen und Plagen ist er gewachsen. Jahrhunderte sind über ihn dahingegangen, Krieg, Entbehrung, Mißwachs, böse Zeit und Not. Aber seine Menschen haben sie nicht zu entwurzeln vermocht.

Wie der Pirol flötet! Sein gelbes Gefieder leuchtet im Sonnenschein, nun er hastig und scheu durch den Garten streicht.

»Kiwit, kiwit – wat förn schö'n Vagel bin ick.«

Eben kommt die Jungmagd vom Felde heim. Kaum, daß sie in ihre Kammer getreten ist, hör ich sie singen: 118

»Halt ein, halt ein, o Jägersmann –«

Hell klingt ihre Stimme bis in den Garten hinaus.

»Trina!« ruft der Ahn', »help mi is den Ketel von't Für.«

Jäh verstummt das Singen, und eilige Holzschuhe klappern über den steinernen Boden im Flett.

Dann kommt sie aus der niedrigen Seitentür, die Melkeimer am Joch über den jungen Schultern, und geht durch den Apfelhof zur Kuhweide im Moorbruch hinüber.

Leise blüht das abgebrochene Lied wieder auf ihren Lippen auf:

»O junger Jäger, laß mich gehn,
Mein Mutter tät's verdrießen,
Sie sah uns wohl beim Brunnen stehn« – –

Oh, sie hat gut singen! Ist sie nicht jung und frisch wie eine? In wenigen Tagen ist Pfingsten, und in der Frühe des Morgens wird vor ihrem Kammerfenster der Pfingstbaum prangen. Eine junge Birke wird es sein mit silbernem Stamm, flirrend im Frühlingswind. Heute steht sie noch am Rande der alten Torfkuhle draußen im Moor und beugt ihre helles, zitterndes Laub über das dunkle Wasser. Aber in einer der nächsten Nächte wird ihre Stunde kommen und ein Axthieb sie treffen, daß sie erschauernd niederbricht. Doch in der Frühe des Pfingstmorgens wird sie vor dem Fenster der Jungmagd stehen und leise im Winde erbeben, und am Abend, wenn das erste zage Welken über ihre Blätter und eine fremde, süße Müdigkeit über ihre Zweige kommt, wird sich jemand durch den 119 Apfelhof an das Haus schleichen und leise an das Fenster pochen, vor dem sie steht und ihr Haupt demütig zur Erde neigt.

Dazu wird der Nachtwind in den alten Eichen hinter dem Hause rauschen, und Haus und Hof werden im Lichte des Mondes liegen, wie sie Jahrhunderte überdauerten, vom mütterlichen Boden der Erde getragen, fest und geruhsam in sich selber.

O Haus meiner Väter! . . . Wenn in verworrenen und ruhelosen Nächten selbst der Glanz der Sterne hoffnungslos versinkt, geh' ich im Traum oft sacht durch deine kühlen Räume, wie ich's als Kind in kurzen Ferientagen tat. Ich höre deine Eichen wieder rauschen und atme deinen Frieden wie in alten Tagen. So still und schwer wie deine Ackerbreiten liegen . . . Noch immer steht der Ahn' im Haus und lächelt leise, wie er zu meinen Kinderfragen lächelte. Ich gehe mit ihm durch den abendstillen Garten. Geheimnisvoll und schweigend sinkt der Tag, Lupinen duften süß vom Felde her, und wieder ist die Nacht mir tief und kühl – und Erd' und Himmel sind mir wieder eins.

 

Ende

 


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