George Sand
Lavinia – Pauline – Kora
George Sand

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3.

Ein Jahr war seit dem Besuche Laurentia's in Saint-Front verflossen, und noch immer sprach man dort von der denkwürdigen Soirée, bei welcher die berühmte Schauspielerin mit so viel Glanz unter ihren Mitbürgern erschienen war. Denn man würde sich gewaltig täuschen, wenn man annähme, daß die vorgefaßten Meinungen der Provinz schwer zu überwinden und zu beseitigen sind. Was man auch in dieser Hinsicht sage, nirgends ist das allgemeine Wohlwollen leichter zu erwerben, wie es auch nirgends leichter zu verlieren ist. An andern Orten sagt man, die Zeit sei eine gewaltige Herrin, in der Provinz muß es heißen: die Langeweile, denn sie modificirt und rechtfertigt alles. Der erste Ansturm, den irgend eine Neuerung gegen den hergebrachten Schlendrian in einer kleinen Stadt versucht, ist ohne Zweifel fürchterlich, wenn man am folgenden Tage daran denkt; aber schon am nächstfolgenden erkennt man, daß es eigentlich nichts war, und tausend Neugierige warten nur auf ein erstes Beispiel, um sich auf den Tummelplatz der Neuigkeiten zu stürzen. Ich kenne einige Provinzial-Hauptstädte, in denen die erste Frau, welche sich herausnahm, in einem englischen Sattel durch die Stadt zu galoppiren als Kosak im Unterrock angesehen wurde, und wo im folgenden Jahre alle Damen eine Amazonenausrüstung bis einschließlich der Reitpeitsche besitzen wollten.

Kaum war Laurentia abgereist, als sich plötzlich ein allgemeiner Umschwung in den Ansichten vollzog. Jeder wollte den Eifer, den er gezeigt hatte, sie aufzusuchen, nun auch rechtfertigen, indem er den Ruf der Schauspielerin vergrößerte oder wenigstens nach und nach über ihr wirkliches Verdienst die Augen öffnete. Allmählich gelangte man dahin, daß man sich gegenseitig die Ehre streitig machte, am ersten mit ihr gesprochen zu haben, und diejenigen, welche sich nicht hatten entschließen können, sie zu besuchen, behaupteten nun, daß sie die andern nach Kräften dazu angetrieben hätten. Im selben Jahre wurde eine Postverbindung zwischen Saint-Front und Mont-Laurent eingerichtet, und mehrere bedeutende Persönlichkeiten der Stadt, Leute, die fünfzehntausend Francs Rente im Jahre besitzen und nicht leicht ihren Wohnsitz verlassen, weil, wenn man sie reden hört, ohne sie das Land in Barbarei zurücksinken würde – wagten endlich die Reise nach der Hauptstadt. Sie kehrten zurück, erfüllt von dem Ruhme Laurentia's und stolz, während vom Sturm des Beifalls das Haus erbebte, wie man zu sagen pflegt, ihren Nachbarn auf dem Balcon oder der ersten Galerie haben sagen zu können:

»Mein Herr, diese große Actrice hat lange Zeit in der Stadt gewohnt, in der ich lebe. Sie war die intime Freundin meiner Frau. Sie speiste, beinahe alle Tage bei uns im Hause. O, wir hatten ihr Talent wol errathen! Ich versichere Sie, daß wir, wenn sie uns Verse recitirte, unter uns sagten: Das ist ein junges Mädchen, die es weit bringen kann.«

Wenn dann diese Personen nach Saint-Front heimgekehrt waren, erzählten sie mit Stolz, daß sie der großen Schauspielerin ihre Aufwartung gemacht, daß sie an ihrer Tafel gespeist, daß sie den Abend in ihrem prächtigen Salon zugebracht hätten ... Ach! was für ein Salon! was für Möbel! was für Gemälde! und was für eine amüsante, anständige Gesellschaft! Künstler, Deputirte ... Herr So und So, der Porträtmaler, Frau So und So, die Sängerin! Und dann die Spiegel, und dann die Musik! ... was weiß ich! Der Kopf wirbelte allen, die diese wunderbaren Berichte hörten, und jeder rief:

»Ich hatte es immer gesagt, daß sie reussiren würde! Kein anderer als ich hatte es vorhergesehen.«

Alle diese Kindereien hatten nur das eine ernste Resultat, daß sie den Geist der armen Pauline in Aufruhr versetzten und ihre innere Mißstimmung bis zur Verzweiflung steigerten. Ich weiß nicht, ob am Ende einige Wochen mehr nicht ihren Zustand in dem Grade verschlimmert hätten, daß eine Vernachlässigung ihrer Pflichten gegen die Blinde eingetreten wäre. Diese aber verfiel in eine schwere Krankheit, die Pauline wieder zum Bewußtsein ihrer Pflicht brachte. Sie erlangte plötzlich ihre gesammte physische und moralische Kraft wieder und pflegte ihre unglückliche Mutter mit bewunderungswürdiger Hingebung. Doch ihre Liebe und ihr Eifer konnten die Blinde nicht retten. Madame D ... verschied in den Armen ihrer Tochter, ungefähr fünfzehn Monate nach jener Zeit, in welcher Laurentia durch Saint-Front gekommen war.

Seit jenem Tage hatten die beiden Freundinnen einen beständigen Briefwechsel unterhalten. Während Laurentia inmitten ihres thätigen, bewegten Lebens gern an Pauline dachte, und gern im Geiste in ihre friedliche und düstere Behausung trat, um dort neben dem Sessel der Blinden und den Geraniums des Fensters vom Lärm der Welt auszuruhen, empfand Pauline, von der Eintönigkeit ihrer Lebensweise erschreckt, ein unüberwindliches Bedürfniß, die tödtliche Langeweile abzuschütteln, die sie umringte, und sich wenigstens im Traume in den Wirbel zu stürzen, der Laurentia fortriß. Nach und nach machte der Ton moralischer Überlegenheit, den die junge Kleinstädterin in Folge edlen Stolzes in ihren ersten Briefen an die Komödiantin beibehalten hatte, dem Ausdrucke schmerzlicher Resignation Platz, der, weit entfernt, die Achtung ihrer Freundin zu verringern, dieselbe vielmehr tief berührte und ergriff. Endlich strömte das Herz Pauline's in Klagen ans, und Laurentia mußte sich mit einer Art Bestürzung gestehen, daß die Ausübung gewisser Tugenden die Seele einer Frau entnervt anstatt sie zu stärken.

»Wer ist denn eigentlich glücklich?« sagte sie eines Abends zu ihrer Mutter, indem sie einen Brief, der die Spuren der Thränen Pauline's trug, auf ihren Schreibtisch legte, »und wo muß man die Seelenruhe suchen? Diejenige, welche mich bei meinem Eintritt in das Künstlerleben so sehr beklagte, beklagt heute in herzzerreißender Weise sich selbst und ihre Abgeschiedenheit und entwirft mir ein so entsetzliches Bild von den Schrecken der Einsamkeit, daß ich beinahe versucht bin, mich unter der Last der Arbeit und der Aufregungen glücklich zu schätzen.«

Als Laurentia die Nachricht vom Tode der Blinden erhielt, berieth sie sich mit ihrer Mutter, einer sehr verständigen und liebreichen Frau, die in Folge ihres guten Gemüthes die beste Freundin ihrer Tochter geblieben war. Sie wollte Laurentia von einem Plane abbringen, dem dieselbe seit einiger Zeit mit Vorliebe nachhing, nämlich: sich der Existenz Pauline's anzunehmen und dieselbe mit der eigenen zu verschmelzen, sobald Pauline erst unabhängig sein würde.

»Was soll jetzt aus dem armen Kinde werden?« sagte Laurentia. »Die Pflicht, durch die sie an ihre Mutter gefesselt wurde, ist erfüllt. Kein Märtyrerthum wird jetzt mehr ihr Leben veredeln und verklären. Der unausstehliche Aufenthalt in einer kleinen Stadt paßt nicht für sie. Sie empfindet lebhaft, ihr Geist sucht sich zu entwickeln. Sie soll daher zu uns kommen. Da sie das Bedürfniß empfindet, zu leben, wird sie leben.«

»Ja, aber nur mit den Augen,« antwortete Madame S ..., Laurentia's Mutter. »Sie wird die Wunderwerke der Kunst sehen, aber ihre Seele wird dabei nur noch ungeduldiger, verlangender, lüsterner werden.«

»Nun gut,« erwiderte die Schauspielerin, »leben mit den Augen, wenn man wirklich zum Geständniß dessen gelangt, was man sieht – heißt das nicht auch mit dem Geiste leben? und wird Pauline nicht von der Sehnsucht nach diesem Leben verzehrt?«

»Sie sagt es, aber sie täuscht dich, täuscht sich selbst,« entgegnete Madame S ... »Mit dem Herzen will sie leben, das arme Mädchen!«

»Wird ihr Herz nicht Nahrung an meiner Zuneigung zu ihr finden?« rief Laurents. »Wer würde sie in ihrem kleinen Städtchen lieben, wie ich sie liebe? Und wenn die Freundschaft nicht genügt, um sie glücklich zu machen – wird sie nicht in unserer Umgebung einen Mann entdecken, der ihrer Liebe würdig ist?«

Die gute Madame S ... schüttelte den Kopf.

»Sie wird nicht wie eine Schauspielerin geliebt werden wollen,« sagte sie mit einem Lächeln, dessen Melancholie ihre Tochter wohl verstand.

Das Gespräch wurde am folgenden Tage wieder aufgenommen. Ein neuer Brief Pauline's meldete, daß das bescheidene Vermögen der Mutter durch alte Schulden aufgezehrt würde, die ihr Vater hinterlassen hatte, und die sie um jeden Preis und ohne Zögern bezahlen wollte. Die Nachsicht der Gläubiger hatte dem Alter und dem Siechthum Madame D ...'s Schonung gewährt, ihre junge, arbeitsfähige Tochter jedoch hatte kein Anrecht auf gleiche Rücksichten. Man konnte sie ohne zuviel Scheu ihres kleinen Erbtheils berauben. Pauline wollte weder Bedrohungen abwarten, noch das Mitleid anrufen. Sie verzichtete auf den Nachlaß ihrer Eltern und schickte sich an, ein kleines Atelier für Stickarbeiten anzulegen.

Diese Nachrichten hoben alle Bedenken Laurentia's, und legten der klugen Vorhersicht ihrer Mutter Schweigen auf. Beide begaben sich auf die Reise und kehrten acht Tage später mit Pauline nach Paris zurück.

Nicht ohne einige Verlegenheit hatte Laurentia ihrer Freundin das Anerbieten gemacht, mitzukommen und bei ihr zu leben. Sie erwartete noch immer einen Rest von Voreingenommenheit und Frömmelei zu finden. Aber in Wirklichkeit war Pauline gar nicht fromm. Sie war eine stolze, auf ihre eigene Hoheit eifersüchtige Seele. Sie fand im Katholicismus die Nuance der Frömmigkeit, die ihr zusagte, denn in den alten Religionen finden sich am Ende alle möglichen Nuancen; soviel Jahrhunderte haben an ihnen gemodelt, soviel Menschen haben dabei Hand ans Werk gelegt, soviel geistige Kräfte, Leidenschaften und Tugenden haben ihnen ihre Schätze, ihre Irrthümer und ihre Kenntnisse zugeführt, daß sich am Ende tausend Lehren in der einen vereinigt finden und tausend verschiedene Naturen daraus die entschuldigende Ausflucht oder den treibenden Sporn schöpfen können, der ihnen zusagt. Aus diesem Grunde erheben sich jene Religionen zu so stolzer Höhe, aus demselben Grunde stürzen sie aber auch vernichtet zusammen.

Pauline besaß nicht die Gaben der Milde, der Nächstenliebe und der Demuth, welche die wahrhaft frommen Gemüther charakterisirt. Sie neigte so wenig zur Selbstverläugnung, daß sie sich immer unglücklich und hingeopfert gefühlt hatte, so lange sie ihrer Pflicht lebte. Sie bedurfte der eigenen Achtung, und vielleicht auch der anderer, weit mehr als der Liebe zu Gott und des Glücks des Nächsten. Während Laurentia, weniger starkherzig und weniger stolz, sich über jede Entbehrung und jedes Opfer tröstete, wenn sie nur ihre Mutter lächeln sah, machte Pauline der ihren im Innern des Herzens unbewußt einen Vorwurf aus dem dauernden Behagen, das jene auf ihre Kosten genoß. Nicht im Gefühle religiöser Strenge zögerte sie daher, das Anerbieten ihrer Freundin anzunehmen, sondern aus Furcht, bei derselben nicht würdig genug gestellt zu sein.

Anfangs verstand Laurentia sie nicht und glaubte, daß nur die Befürchtung, von rigiden Geistern getadelt zu werden, sie noch immer zurückhielte. Aber das war durchaus nicht der Beweggrund Pauline's. Die Ansichten ihrer Umgebung hatten sich geändert: die Freundschaft der großen Künstlerin war keine Schmach mehr, sondern eine Ehre. Es war jetzt ein gewisser Ruhm, sich ihrer Aufmerksamkeit und ihrer Erinnerung zu erfreuen. Ihr zweiter Besuch in Saint-Front war ein Triumph, der den ersten weit überragte. Sie war gezwungen, sich die ungelegenen Huldigungen zu verbitten, die jeder ihr darzubringen strebte, und die ausschließliche Bevorzugung, die sie Pauline zu Theil werden ließ, erregte einen Neid und eine Eifersucht, auf welche Pauline stolz sein konnte.

Nach einer mehrstündigen Unterhaltung sah Laurentia ein, daß nur Bedenklichkeiten des Zartgefühls Pauline abhielten, ihre Wohlthaten anzunehmen. Laurentia begriff dies Uebermaß eines Hochmuths, der die Last der Dankbarkeit auf sich zu nehmen fürchtet, nicht recht, aber sie respectirte ihn und ließ sich zu Bitten, ja zu Thränen herbei, um diesen Stolz der Armuth zu überwinden, der die größte Abscheulichkeit auf der Welt sein würde, wenn nicht soviel unverschämt anmaßende Gönnerinnen ihm zur Rechtfertigung dienten. Hatte Pauline eine solche Insolenz von Seiten Laurentia's zu befürchten? Nein, aber sie konnte ein leises Zagen nicht unterdrücken, und Laurentia, obgleich ein wenig von diesem Mißtrauen verletzt, versprach und schmeichelte sich, dasselbe bald zu besiegen. Dank jener Beredtsamkeit, die aus dem Herzen stammt, und welche ihr eigen war, triumphirte sie auch wenigstens für den Augenblick über dasselbe, und so setzte Pauline, ergriffen, neugierig und fortgezogen, zitternd den Fuß auf die Schwelle eines neuen Lebens, indem sie sich versprach, bei der ersten Täuschung, die ihr begegne, wieder umzukehren.

Die ersten Wochen, welche Pauline in Paris zubrachte, waren ruhig und voll stillen Zaubers. Laurentia hatte schon vor zwei Monaten in Folge einer ernstern Kränklichkeit Urlaub erhalten, den sie gewissenhaft neuen Studien widmete. Sie bewohnte mit ihrer Mutter ein reizendes kleines Hans inmitten blühender Gärten, wohin nur selten der Lärm des Tages drang, und wo sie nur wenige Personen empfing. Man befand sich in jener Jahreszeit, wo die feinere Welt auf dem Lande weilt, die Theater leer stehen und die wahren Künstler nachzudenken und sich zu sammeln lieben. Dies reizende, einfache, aber im ausgezeichnetsten Geschmack ausgestattete Haus, die elegante Lebensart, das friedliche, mit geistigen Genüssen gewürzte Leben, welches Laurentia sich in einer Welt der Intrigue und sittlicher Verderbniß zu schaffen gewußt hatte, straften trefflich alle die Befürchtungen Lügen, mit denen Pauline sich früher betreffs ihrer Freundin getragen hatte. Allerdings war Laurentia nicht immer so verständig, nicht immer so gut berathen, nicht immer so trefflich gestellt gewesen in ihrem Leben als jetzt. Auf ihre eigenen Kosten hatte sie Einsicht und Erfahrung erworben, und, obgleich noch jung, waren ihr doch Erfahrungen der Undankbarkeit und Bosheit nicht erspart geblieben. Nachdem sie viel gelitten, ihre Illusionen viel beweint und die muthige Schwungkraft ihrer Jugend bedauernd zurückgewünscht hatte, hatte sie sich gefaßt und entschlossen, das Leben zu ertragen, wie es ist, die öffentliche Meinung weder zu fürchten noch zu reizen, den kurzen Rausch eines flüchtigen Glücks oft der Befolgung eines weisen Rathes und die Erbitterung gerechten Zorns dem erhabenen Vergnügen des Verzeihens zu opfern. Kurzum, sie begann in der Kunst wie im häuslichen Leben die Lösung eines schwierigen Problems zu suchen. Sie war milder geworden, ohne zu erkalten, sie beherrschte sich, ohne ihren Charakter zu verwischen.

Ihre Mutter, deren praktischer Verstand sie zuweilen erzürnt, deren Seelengüte sie aber immer wieder unterjocht hatte, war ihr eine zweite Vorsehung gewesen. Wenn sie auch nicht stark genug gewesen war, um ihre Tochter vor Irrungen zu bewahren, so war sie doch klug genug gewesen, sie zu rechter Zeit denselben zu entreißen. Laurentia hatte sich zuweilen verirrt, aber nie verloren. Madame S ... hatte es verstanden, ihr anscheinend gelegentlich ihre Grundsätze zum Opfer zu bringen, und was man auch sage, was man auch meine, dies Opfer ist das erhabenste, zu welchem die Mutterliebe begeistern kann. Schmach der Mutter, die ihre Tochter verläßt aus Furcht, für ihre Vertraute oder Mitschuldige zu gelten! Madame S ... hatte dieser furchtbaren Beschuldigung getrotzt, und dieselbe war ihr nicht erspart geblieben. Das edle Herz Laurentia's hatte das begriffen, und seitdem sie von ihr gerettet und dem Taumel, der sie einen Augenblick an den Rand des Verderbens geschleudert hatte, entrissen worden war, hätte sie alles, selbst die glühendste Leidenschaft, selbst die berechtigste Hoffnung geopfert, aus Furcht, ihrer Mutter eine neue Schmach zuzuziehen.

Was in dieser Hinsicht in der Seele der beiden Frauen vorging, war so zart, so wunderbar und so von keuschem Dunkel umhüllt, daß Pauline, mit fünfundzwanzig Jahren noch unwissend und unerfahren wie eine Fünfzehnjährige, es weder verstehen noch ahnen konnte. Anfangs dachte sie auch nicht daran, das Geheimnis zu lösen. Sie wurde nur ergriffen von dem Glück und der vollkommenen Eintracht, die in dieser Familie zwischen der Mutter, der Tochter und den beiden jüngern Schwestern herrschte, die sowol Lanrentia's Schüler als auch Kinder waren, denn im Schweiße ihrer edlen Stirn sorgte dieselbe für ihr Wohlergehen und widmete ihrer Erziehung ihre schönsten freien Stunden. Ihre Zutraulichkeit, ihre Heiterkeit unter einander, bildeten einen seltsamen Contrast mit jener Art von Haß und Furcht, die das gegenseitige Band zwischen Pauline und ihrer Mutter bezeichnet hatten. Pauline machte diese Wahrnehmung mit innerm Schmerze, der zwar nicht Reue war – sie hatte hundert Mal der Versuchung widerstanden, sich von ihrer Pflicht loszusagen – aber der Scham glich. Mußte sie sich nicht gedemüthigt fühlen, mehr Hingebung und wahre häusliche Tugend in der eleganten Behausung einer Komödiantin zu finden, als sie daheim am sittenstrengen Herde hatte üben können? Was für wilde Gedanken hatte ihre Stirn roth übergossen, wenn sie in der Nacht beim Scheine der Lampe allein in ihrer keuschen Zelle wachte! Und jetzt sah sie, wie Laurentia, in ihrem Künstlerboudoir auf einer türkischen Ottomane liegend, ihren kleinen, aufmerksam lauschenden Schwestern mit lauter Stimme Shakespeare'sche Verse vorlas, während die Mutter, immer noch rege, frisch und geschmackvoll gekleidet, ihre Toilette für den nächsten Tag in Ordnung brachte und verstohlen ihren glückstrahlenden Blick auf der schönen Gruppe ruhen ließ, die ihrem Herzen so theuer war. Künstlerische Begeisterung, Seelengüte, Poesie und Zuneigung fanden sich in diesem Bilde vereint, und über demselben schwebte die Weisheit d. h. das Gefühl für das sittlich Schöne, die Achtung vor dem eigenen Selbst, der Heldenmuth der Seele. Pauline glaubte zu träumen; sie konnte sich nicht entschließen, für wahr zu halten, was sie sah. Vielleicht auch kämpfte sie dagegen an aus Furcht vor der Erkenntniß, daß sie Laurentia untergeordnet sei.

Trotz dieser Zweifel und geheimen Schmerzen war Pauline in ihren ersten Beziehungen zu dem neuen Leben bewundernswerth. Stolz bei all ihrer Armuth, besaß sie die Seelengröße, sich mehr nützlich als kostspielig zu machen. Mit einem für ein junges Mädchen aus der Provinz unerhörten Stoicismus schlug sie die hübschen Toiletten aus, zu deren Annahme Laurentia sie bewegen wollte. Sie verblieb bei ihrem gewöhnlichen Traueranzuge, dem kleinen, schwarzen Kleide, dem schmalen, weißen Kragen, dem Haar ohne Bänder und Juwelen. Freiwillig befaßte sie sich mit der Führung des Hausstandes, von dem Laurentia, wie sie sagte, nur die Synthese verstand, und dessen Einzelheiten der braven Madame S ... etwas zu schwer wurden. Sie führte ökonomische Reformen ein, ohne dadurch die Eleganz und den Comfort zu beeinträchtigen. Zu Zeiten nahm sie auch ihre Stickereien wieder auf, um mit geschickter Hand die Anzüge der beiden kleinen Mädchen zu verschönern. Sie wurde auch Hilfslehrerin und Repetitor bei denselben, in der Zeit, welche der Unterricht Laurentia's ihnen frei ließ. Dieser selbst half sie beim Einstudiren ihrer Rollen, indem sie ihr dieselben abhörte; kurzum, sie wußte sich eine zugleich bescheidene und wichtige Stellung in dieser Familie zu schaffen, und ihr gerechter Stolz wurde von der Ehrerbietung und der Zuneigung befriedigt, die man ihr entgegenbrachte.

Diese Lebensweise dauerte ohne Störung bis zum Eintritt des Winters. Laurentia sah täglich zwei oder drei alte Freunde bei Tische, und Abends erschienen sechs bis acht intime Bekannte, um in ihrem kleinen Salon den Thee einzunehmen und in anmuthiger Weise über Kunst und Literatur, wol auch ein wenig über Politik und Social-Philosophie zu plaudern. Diese Unterhaltungen, die unter geistreichen Menschen immer von Reiz und Interesse sind, konnten in Bezug auf guten Geschmack, Geist und Gewandtheit an die Soiréen der Mademoiselle Berrière erinnern, welche im letzten Jahrhundert in dem kleinen Pavillon an der Ecke der Rue Caumartin und des Boulevard's stattfanden. Aber sie zeigten mehr wirkliche Belebtheit als jene, denn der Geist unseres Zeitalters ist eingehender, und selbst zwischen beiden Geschlechtern können jetzt ziemlich ernste Fragen ohne Lächerlichkeit und Pedanterie verhandelt werden. Der Geist der Frauen wird allerdings noch lange Zeit darin bestehen können, daß sie zu fragen und zu hören verstehen, es ist ihnen jedoch bereits gestattet, auch zu verstehen, was sie hören, und eine ernste Antwort zu verlangen, wenn sie fragen.

Der Zufall fügte es, daß während dieses ganzen Herbstes die vertraute Gesellschaft Laurentia's nur aus Frauen und Männern von gewissem Alter bestand, denen jede Ueberhebung oder Eitelkeit fern lag. Fügen wir bei dieser Gelegenheit gleich hinzu, daß nicht der Zufall allein diese Wahl getroffen hatte, sondern daß auch der Geschmack, den Laurentia mehr und mehr für ernste Dinge und in Folge dessen auch für ernste Personen empfand und zeigte, seinen Theil daran hatte. In der Umgebung einer bedeutenden Frau strebt alles, sich harmonisch zu verbinden und den Ausdruck ihrer Gedanken und Empfindungen anzunehmen. Pauline hatte daher noch nicht Gelegenheit gehabt, nur eine einzige Person zu sehen, welche die Ruhe ihres Gemüthes hätte stören können; und seltsamer Weise, seltsam sogar in ihren eigenen Augen, begann sie bereits, dies Leben eintönig, diese Gesellschaft matt und farblos zu finden und sich zu fragen, ob das Bild, das sie sich von dem bewegten Dasein Laurentia's entworfen hatte, sich nicht greifbarer realisiren würde. Sie erstaunte, sich in die Erschlaffung zurücksinken zu fühlen, gegen die sie in ihrer Einsamkeit so lange angekämpft hatte, und um diese Unruhe sich selbst gegenüber zu rechtfertigen, überredete sie sich am Ende, die Einsamkeit habe einen Hang zum Spleen bei ihr erweckt, der unheilbar sei.

Aber die Verhältnisse sollten nicht so bleiben. Welchen Widerwillen die Schauspielerin auch dagegen empfand, sich wieder in den Lärm der Welt zu stürzen, welche Mühe sie sich auch gab, von ihrem vertrauten Kreise jeden leichtfertigen Charakter, jede gefährliche Galanterie fern zu halten, der Winter nahte heran. Die Landsitze traten ihre Gäste den Pariser Salons ab, die Theater frischten ihr Repertoire auf, das Publicum reclamirte seine bevorzugten Künstler. Aufregung, hastige Arbeit, Besorgniß und der Reiz des Erfolgs durchwühlten das friedliche Innere Laurentia's. Sie mußte andere Leute, als die alten Freunde, die Schwelle ihres Heiligthums überschreiten lassen. Schriftsteller, Kunstgenossen, Staatsmänner, die durch die Subventionen mit den großen Stätten der dramatischen Kunst in Verbindung standen, die einen bemerkenswerth durch ihr Talent, die andern durch ihr Gesicht und ihre Eleganz, noch andere durch ihren Einfluß und ihr Vermögen, zogen, anfangs einzeln, dann in Menge vor dem farb- und bilderlosen Vorhang vorüber, wo Pauline stand und vor Begierde brannte, die Welt ihrer Träume sich endlich vor ihren Augen entrollen zu sehen. Laurentia, die an dies Gefolge des Ruhms gewöhnt war, fühlte dabei ihr Herz nicht schneller schlagen. Nur ihre Lebensweise änderte sich nothgedrungen, ihre freie Zeit wurde mehr beschränkt, ihr Gehirn mehr vom Studium absorbirt, ihre Künstlerfibern durch die Berührung mit dem Publicum mehr erregt. Ihre Mutter und ihre Schwestern folgten ihr wie friedliche, treue Trabanten in die glänzende Bahn. Pauline aber ... Jetzt endlich begann das Leben in ihrer Seele zu keimen und das Drama ihres Lebens sich zu entwickeln.


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