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Was ist Erziehung?

Seitdem es Menschen gibt, sind dieselben auch erzogen worden. Gleichwohl hat man noch keinen bestimmten, allgemein angenommenen Begriff von der Erziehung. Fast jeder, der über dieses Geschäft schreibt, gibt davon seine eigene Vorstellung.

Da könnte ich nun alle die Begriffe, die seit Aristoteles bis auf Pestalozzi von der Erziehung sind gegeben worden, anführen, erklären, miteinander vergleichen und den richtigsten heraussuchen. Ich habe aber meine Ursachen, warum ich es nicht tue. Erstlich, weil mir viele davon unbekannt sind, zweitens, weil ich es für zweckwidrig halte. Wozu würde es nützen, wenn ich die Leser mit den verschiedenen Vorstellungen, die man sich in verschiedenen Zeitaltern von der Erziehung machte, aufhielte? Am Ende komme ich doch mit meinem eigenen Begriffe hervorgetreten und suche ihnen denselben zu empfehlen. Da ist es ja kürzer, wenn ich sie sogleich, ohne alle Umschweife, damit bekannt mache. Nach meiner Meinung ist Erziehung: Entwickelung und Übung der jugendlichen Kräfte.

Erzieht man das Kind zum Menschen, so werden alle seine Kräfte entwickelt und geübt; erzieht man es aber für ein gewisses Geschäft, so hält man es oft für nötig, daß man nur diejenigen, die zur Verrichtung desselben erforderlich sind, in Tätigkeit setze und andere, die der Wirksamkeit derselben nachteilig sein können, schlummern lasse oder gar lähme, so wie man den Stier entmannt, der zum Zuge bestimmt ist. Hier rede ich nur von der ersten Art der Erziehung.

Um die Gehkraft der Kinder zu entwickeln und zu üben, steckte man sie ehedem in Laufbänke oder legte ihnen Laufzäume an, und sie wurden oft krummschenklig und hochschultrig, und wenn man ihnen den freien Gebrauch ihrer Glieder zuließ, hatten sie dieselben nicht in ihrer Gewalt, strauchelten oft, zerschlugen sich die Köpfe oder bekamen andere Beschädigungen. Jetzt sind Laufbänke und Laufzäume aus allen Kinderstuben verbannt, wohin das Licht der besseren Erziehung gedrungen ist. Man sieht da die Kinder wie junge Tiere herumkriechen; fühlen sie mehr Kraft in ihren Schenkeln, so richten sie sich empor und treten an Stühle. Man setzt nun mehrere Stühle in kleine Entfernung voneinander hin, legt Bilder und Spielwerk darauf, um sie zu reizen, von einem Stuhle zum anderen zu wandeln. Nach einigen Tagen lassen sie die Stühle stehen und wandeln, ohne sich an etwas zu halten, durch das Zimmer. Verlieren sie das Gleichgewicht, so setzen sie sich gewöhnlich auf den Hintern. Bei dieser Übung bleiben die Glieder gesund und unverletzt. Wie lange währt es, so sieht man die nämlichen Kinder, die erst krochen, laufen und springen.

Diese Behandlungsart enthüllt uns das ganze Geheimnis einer vernünftigen, der menschlichen Natur angemessenen Erziehung.

So wie man bei dieser Anleitung zum Gehen die Gehkraft nicht eher zu üben sucht, bis die Kriechkraft hinlänglich geübt ist und jene hinlänglich sich äußert, so darf man auch nicht andere Kräfte zu entwickeln suchen, bis sie wirklich da sind, und diejenigen, aus welchen sie hervorzugehen pflegen, hinlängliche Übung bekommen haben. Ferner, so wie die Laufbänke und Laufzäume entfernt sind und die Kinder gereizt werden, aus eigenem Entschlusse fortzuschreiten und so ihre Gehkraft zu üben, so muß auch der Erzieher bei Übung der übrigen Kräfte alles Laufzaumähnliche zu entfernen suchen; er darf nicht sowohl die jugendlichen Kräfte üben, als vielmehr den Kindern Gelegenheit und Reiz verschaffen, diese Übungen selbst vorzunehmen. Das Kind empfängt ohne Zweifel alle seine Kräfte durch die Erzeugung und bringt sie mit, wenn es sich seinem pflanzenähnlichen Zustande entwindet und in das Tierreich übergeht. Die meisten aber schlummern noch wie der Keim im Weizenkorne, wenn es in die Erde geworfen wird; sie sind nur noch Vermögen und entwickeln sich, mit dem Fortgange der Zeit, in folgender Ordnung.

Zuerst die meisten Kräfte des Leibes. Das neugeborene Kind atmet, schreit, schluckt, verdaut usw. Die äußerlichen Dinge machen auf dasselbe Eindrücke, aber das Vermögen, sie zu empfinden oder sich davon Vorstellungen zu machen, äußert sich in seinen ersten Lebenstagen noch nicht. Nach und nach fängt es an, die äußerlichen Dinge sich vorzustellen, diese Vorstellungen aufzubewahren, sie von Zeit zu Zeit wieder hervorzubringen: die Kräfte der Sinnlichkeit, des Gedächtnisses, der Einbildungskraft entwickeln sich.

In der Folge äußert sich der Verstand durch Urteile, die er über Gegenstände fällt, die in die Sinne fallen. Zugleich fangen die in den Händen befindlichen Kräfte an, ein Streben nach Tätigkeit zu äußern. Das Kind greift nach allem, betastet alles, wirft es von einem Orte zum anderen. Gibt man ihm in der Folge ein hölzernes Pferd, so bauet es von Büchern oder Stühlen einen Stall, legt ihm Futter vor, zieht es heraus, bindet es an einen Stuhl oder sonst etwas, das des Pferdes Wagen sein und von ihm fortgezogen werden soll u. dgl. Erst bei dem Austritte aus dem Stande der Kindheit fängt die Vernunft an, durch Vorstellung von übersinnlichen Gegenständen sich tätig zu beweisen.

Hierdurch hat uns die Natur die Ordnung vorgezeichnet, in welcher wir ihr bei Entwickelung der jugendlichen Kräfte behilflich sein müssen.


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